Ein Bett gemacht aus Schweigen von CaroZ ================================================================================ Kapitel 1: Egal --------------- -- dude1996: hi bro Torte: moin dude1996: sag ma was hast n du alles von subway Torte: alles Torte: wieso? dude1996: auf festplatte Torte: ja dude1996: ich hab das ganze alte zeug nicht mehr . kannst du mir die ersten 3 alben schicken Torte: nope. ich mag die band. kauf dir die dude1996: ich mag subway auch alter dude1996: das ist es ja dude1996: wie lange wird es die band wohl jetzt noch geben?? Torte: hä? wollen die sich auflösen? dude1996: ey du weißt es noch nicht?? dude1996: du weißt nicht was bei denen passiert ist?? Torte: ich weiß gar nix … was denn passiert? dude1996: alter halt dich fest dude1996: der sänger i dude1996: s tot Torte: WAS? Torte: eric fish? dude1996: ja der eric fish alter dude1996: der ist tot Torte: ey, verarschst du mich jetzt? dude1996: nein mann! das stand heute in der lokalzeitung von dem kaff wo der gewohnt hat dude1996: nine hat mir den artiekl abfotografiert dude1996: ich schicks dir Torte: mann. ooooooh MANN. ich kann es grad nicht glauben dude1996: ich schick dir den artikel du schickst mir die alben dude1996: ok?? Torte: warte Torte: lass mich das erst mal nen moment verarbeiten … das ist ja echt krass dude1996: pass auf bald berichten alle hps aus der schwarzen szene darüber Torte: das tut mir total leid … dude1996: mir auch dude1996: RIP eric fish - - 13. Oktober, 12.05 Uhr Alea starrte auf seine Hände, die leicht zitternd vor ihm auf der kühlen hellen Tischplatte lagen. Ich kann das nicht glauben, dachte er. Erwarten die jetzt wirklich von mir, dass ich das glaube? »Könntest du bitte mal was sagen? Irgendwas?« Lasterbalk lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der zitronengelben Wand, die einen hässlichen Kontrast zu seinem beigefarbenen T-Shirt bot, und seit fast vier Minuten ruhte sein Blick unverwandt auf Alea, darauf fixiert, eine erste Regung in dessen starrem Gesicht sofort zu registrieren. Lasterbalk war ein scharfäugiger Beobachter. Und jetzt genoss Alea seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. »Was soll ich denn sagen?«, gab Alea lahm zurück, die Stimme so teilnahmslos wie seine Miene. »Du hast mir gerade sagt, dass einer meiner besten Freunde …« Es sollte leicht sein, diesen Satz zu beenden. In Filmen schafften sie es nie, dieses eine einfache Wort auszusprechen, verschluckten sich nur an ihrer Zunge und ließen stattdessen ihre großen, feuchten Augen die Botschaft tragen. Aber es stimmte. Es war tatsächlich unmöglich, das Wort laut zu sagen. Das hätte Alea nicht gedacht. »Du könntest mir sagen, dass du’s verstanden hast. Wenigstens nicken.« »Ich hab es verstanden.« »Na gut. Ich brauch dir nicht zu sagen, wie ich mich dabei fühle, oder?« Lasterbalk klang gestresst und müde, ein Umstand, der Alea erst jetzt auffiel. »Muss ich mir Sorgen um dich machen?« Nein, wollte er sagen. Aber sein Mund öffnete sich nicht. Träge blieben seine Lippen, wo sie waren. »Das heißt ›Ja‹, oder?« Lasterbalk entknotete seufzend seine langen, muskulösen Arme, schob sich nachlässig das Haar hinters Ohr und kam in zwei langen Schritten zu dem Tisch, an dem Alea saß, dem einzigen verdammten Tisch im Aufenthaltsraum jener Karlsruher Jugendherberge, in der sie Station machten. Seit gestern. Zum Feiern. »Hör mal … Ich kann dich entweder nach Hause bringen oder du kommst mit zu mir. Aber alleine hierlassen werd ich dich jetzt nicht.« Lasterbalk sah ihn abwartend an. »Ist mir egal«, hörte Alea sich sagen. »Ehrlich, ist mir total egal.« Es stimmte. »Na, dann hol deinen Kram.« Nach einem ungewohnt vorsichtigen Schulterklopfen stellte sein langjähriger Freund die räumliche Distanz zwischen ihnen, die er eben so kühn überbrückt hatte, wieder her. »Ich warte am Auto auf dich. Trödel nicht rum, bitte. Das bringt nichts.« Alea nickte stumpf. Gott, war ihm das egal. Es war alles so egal. 12.21 Uhr »Wer war das?«, fragte Alea träge und nickte mit dem Kopf zur offenen Autotür, durch die Lasterbalk gerade einstieg. »Der Typ, mit dem du eben noch gesprochen hast.« Der große Mann musterte ihn eingehend, während er seine langen Beine unter dem Lenkrad zusammenfaltete. »Gut zu sehen, dass du doch noch an deiner Umwelt teilnimmst.« Er startete den Motor. »Das war Olaf Knussen von der KriPo. Der bearbeitet … den Fall.« »Du meinst, den …« Schon wieder. Das Wort wollte schon wieder nicht heraus. »Mord«, sagte Lasterbalk gefasst. »Ja. Der soll gefälligst rausfinden, wer Eric erschossen hat.« Alea schluckte. »Wieso hab ich …« Und noch mal schlucken. »… das nicht mitgekriegt? Wo war ich denn …« »Keine Ahnung«, fiel sein Freund, der nun auf die Hauptstraße abbog, ihm auffallend schnell ins Wort. »Aber das tut auch wenig zur Sache. Keiner von uns hat es mitgekriegt, wir waren im ganzen Gebäude verteilt, die Party war gut, wir hatten alle viel getrunken … Es macht keinen Sinn, sich Vorwürfe zu machen. Dich wird der Knussen erst befragen, wenn du dich ein bisschen erholt hast.« Alea vermied es noch immer, ihn anzusehen; es war auch unnötig, Blickkontakt zu halten, während Lasterbalk fuhr. Zum Glück. Sein forschender Blick war für Alea im Moment schwer zu ertragen. »Wieso tust du eigentlich so, als wär ich der Einzige, der sich erholen muss? Was ist denn mit den anderen? Mit dem Rest von Subway? Ist von denen keiner … irgendwie … in Betreuung?« »Doch«, war Lasterbalks simple, ausweichende Antwort. »Alle.« »Und wieso werde ich mit Samthandschuhen angefasst, sogar von der Polizei?« Wieder ein Seufzen. »Ganz einfach. Du bist mein Freund. Ich kenn die Leute, und ich hab ja eine gewisse … Autorität, sag ich mal vorsichtig. Wenn ich denen sage, dass du gerade noch nicht vernehmungsfähig bist, dann glauben die mir das schon.« »Ach, und du kannst das beurteilen?« »Ja. Ja, kann ich.« »Aber –« »Diskutier jetzt bitte nicht mit mir, ja? Bitte. Ich mach das für dich. Ich weiß, wie gut du mit Eric befreundet warst. Mehr als mit mir – nein, widersprich nicht«, sagte Lasterbalk streng, als Alea erneut den Mund öffnete. »Ich will jetzt nur, dass es dir gut geht.« Alea machte den Mund wieder zu, und sein Blick glitt zurück zum Fenster. Dort huschte Karlsruhe unter einem mit grauen Wolken verhangenen Himmel an ihm vorüber. Schließlich sagte er leise: »Und ich will nur, dass sie ihn kriegen.« Er meinte den Mörder, doch das musste er Lasterbalk nicht erklären. »Ich wünschte, ich könnte irgendwas dafür tun, dass sie den Arsch erwischen.« Mit welchem Recht nahm ein Fremder ihm einen seiner engsten Freunde? Alea spürte Wut im Bauch, eine kalte, ohnmächtige Wut, die sich jedoch sofort zu Hilflosigkeit und dann zu Lethargie weiterentwickelte. Es gab nichts mehr, das er für Eric tun konnte. »Aber nicht jetzt«, sagte Lasterbalk ruhig. »Jetzt kümmerst du dich erst mal um dich selbst. Denn du lebst noch.« »Mmmmh.« Alea lehnte den Kopf schwer gegen die Scheibe. Sie war innen leicht beschlagen und befeuchtete die rotgefärbte Haarsträhne, die ihm seitlich ins Gesicht fiel. Es gab nichts mehr zu sagen. 18.23 Uhr Das Aufflackern von Interesse und das Bedürfnis nach emotionaler Auseinandersetzung mit dem Verlust, das Alea auf der Autofahrt verspürt hatte, waren von kurzer Dauer gewesen. Unmittelbar danach war er in seine Apathie zurückgesunken, und er wusste, dass sie sich seither nur verschlimmert hatte. Den gesamten Rest des Nachmittags hatte er in einem Zustand geistiger Lähmung verbracht. Lasterbalks Bemühungen, ihn zu umsorgen und von dem klaffenden Loch in seinem Inneren abzulenken, waren offenkundig, aber nicht von Erfolg gekrönt. Eigentlich müsste Lasterbalk ihm Leid tun. Eigentlich müsste Alea sich dafür schlecht fühlen, ihm für seine Zuwendung keine Resonanz zu geben. Aber er konnte nicht. Sein Gefühlsleben war wie betäubt. Hatte sich abgeschaltet, um die Reizüberladung abzuwehren. Bis zum Abend dämmerte er vor sich hin, während sie in Lasterbalks Wohnung fernsahen und etwas spielten – absurd, dass der andere ernsthaft Konzentration von ihm verlangte –, und die ganze Zeit herrschte in seinem Inneren eine gespenstische Stille, wie in einem fremden Haus, dessen Besitzer verreist waren. Es kann einfach nicht wahr sein. Das war der einzige ausgeformte Gedanke, der hin und wieder an die Oberfläche stieg. Es ist unmöglich. Ich hab ihn gestern noch gesehen. Wir haben getrunken. Und gelacht. Laut und viel. Und dann: Wie kann jemand einfach in die Jugendherberge kommen und Eric erschießen? Wieso hat es keiner gemerkt? Wieso habe ICH es nicht gemerkt? Warum – Sein Blick glitt zu Lasterbalk, der lang auf seiner Couch lag, mit darüber hinausragenden Füßen, und dort eingenickt war. – Warum musste mich erst jemand wecken und mir sagen, dass Eric seit Stunden … Alea blinzelte. Seine Augen brannten, so unausgesetzt hatte er Lasterbalk angestarrt. Diese plötzliche Feuchtigkeit, das waren nicht etwa Tränen. Zu weinen hätte bedeutet, Erics Tod zu begreifen und zu akzeptieren. So weit war er noch nicht. Noch war der Schock nicht überwunden, die Erkenntnis nicht eingesunken. Noch leugne ich es. Weil ich es nicht glauben kann. Lasterbalk sah so friedlich aus, wie er hingegossen auf seinem Sofa lag, das viel zu kurz für seinen hochgewachsenen, sehnigen Körper war. Seine Brust hob und senkte sich sanft. Mit intuitiver Gewissheit wusste Alea, dass Eric nicht so ausgesehen hatte. Wahrscheinlich hatten sie ihn so gefunden, wie es im Fernsehen immer aussah: mit weit offenen, starren Augen, die helle Jacke rotfleckig vom eigenen Blut. Vielleicht die Finger noch zuckend. Vielleicht die Zunge zwischen den Zähnen. Vielleicht mit einem frischen Blutrinnsal im Mundwinkel. Nein. Nein. Er war doch noch lebendig, als ich … als wir … Schlagartig sah Alea ihn vor sich, als sie beide, im Nachtdunkel vor der Herberge sitzend, über irgendetwas halbernst diskutierten. Auf dem Tisch flackerte ein Windlicht mit dickem Docht, aus dem Boden stieg die Herbstkälte langsam in die klare Luft hinauf. Ganz in der Nähe rauchten Elsi und Luzi, zwei rotglimmende Punkte markierten ihre Standorte. Eric sagte irgendetwas, während das orange Licht seine Züge beschien, und Alea hörte seine helle, durchdringende Stimme mit dem schnoddrigen Brandenburger Regiolekt. Dieser Moment, der sich ihm eingeprägt hatte, war noch keinen Tag her. Keine vierundzwanzig Stunden. Bereits um zwölf am nächsten Vormittag danach würde Lasterbalk Alea in seinem Bett aufwecken, in dem kleinen gelbgestrichenen Zimmer, das er mit Luzi für den kurzen Aufenthalt bezogen hatte, würde ihn in den kargen Gruppenraum bitten und ihm dort ruhig mitteilen, dass Eric Fish von einem Unbekannten ermordet worden war. Direkt ins Herz geschossen. Aus wenigen Metern Distanz. So kurze Zeit … So kurze Entfernung … Etwas polterte und ließ Alea zusammenzucken. Er fuhr herum; Lasterbalk hatte sich geregt und dabei die Fernbedienung von seinem Bauch gewischt, die lautstark auf dem Laminat aufgeschlagen war. Augenblick schlug sein langjähriger Freund die Augen auf. Sein Blick richtete sich schuldbewusst auf Alea. »Ach, fuck. Bin ich eingepennt? Hatte ich nicht vor. Tut mir Leid. Ist der Rest vom Hangover.« Alea quittierte die Bemerkung nur mit einem schwachen Kopfnicken. Er verstand ohnehin nicht, wie Lasterbalk schlafen konnte. Er selbst konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch das ehrwürdige Oberhaupt von Saltatio Mortis hatte den Schicksalsschlag – das Attentat, den schrecklichen Verlust – bemerkenswert gut verkraftet. Um nicht zu sagen: professionell. »Echt, tut mir Leid«, wiederholte Lasterbalk und rieb sich energisch die Augen. »Ich will ja fast behaupten, dass dir ein bisschen Schlaf auch ganz gut tun würde. Aber ich kann nicht von dir verlangen, dass du dich in mein Gästebett legst und die Augen zumachst, oder?« Die Frage klang hoffnungsvoll. »Ist mir egal«, gab Alea nuschelnd zur Antwort. Und das war es auch. Scheißegal. Ob er nun im Bett lag und ins Dunkel starrte oder hier auf den leise quakenden Fernseher, während Lasterbalk ohnehin nichts mitbekam – welche Rolle spielte das schon? Eric und die Unglaublichkeit des Geschehenen würden seine Gedanken ohnehin beherrschen. 21.27 Uhr Aus Lasterbalks Schlafzimmer drang nichts als Stille. Alea hätte viel dafür gegeben, irgendein lebendiges Geräusch zu hören. Er hatte das kleine Fenster angekippt, in der Hoffnung, noch einen Vogel singen zu hören, doch es war dunkel und noch dazu Mitte Oktober, und die gefiederten Sänger schwiegen. Es gab keinen Grund mehr zu singen. Wir werden nie wieder singen, er und ich. Keine gemeinsamen Auftritte und feuchtfröhlichen Backstagepartys mit Subway To Sally mehr. Ganz sicher nicht. Nie wieder. So unglaublich. Noch immer war diese neue Zukunft einfach unvorstellbar. Ich muss schlafen. Ich muss das verarbeiten. Ich komm nicht klar, so wie es jetzt ist. Er wünschte, er könnte beim ersten Sonnenschein erwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Einer von diesen Scheißträumen, bei denen man, wenn man sie am Morgen als solche erkannte, am liebsten vor Erleichterung laut lachen wollte. Doch tief im Innern wusste er, dass die Wahrheit zu grausam war, um ein Traum zu sein. I saw your life through a photograph I thought it up, but it brought up the past Once you know you can never go back I got to take it on the otherside – Eric Fish – Otherside (Red Hot Chili Peppers Cover) 14. Oktober, 08.02 Uhr »Magst du irgendwas anderes haben?« Lasterbalk nickte zu dem Korb mit den frisch aufgebackenen Mehrkornbrötchen. »Du scheinst ja nicht gerade wild auf die zu sein, obwohl ich die nur wärmstens empfehlen kann. Warte mal, ich hab noch … Müsli. Aber da sind Rosinen drin. Oh, du kannst auch richtiges Brot haben, muss ich nur auftauen.« Richtiges Brot, wiederholte Alea im Geiste. Er hatte auch schon mal bei Eric auf der Terrasse gefrühstückt, irgendwann im Juli vor ein oder zwei Jahren, und der hatte ihm dasselbe angeboten, nur mit weniger Worten: »Schrippe oder Stulle?« »Danke«, sagte er phlegmatisch, »ich will echt nichts. Bin noch nicht so weit.« Lasterbalk hob eine Augenbraue, für gewöhnlich eine Geste, die zeigte, wie unbeeindruckt er war. »Glaubst du, Eric kommt wieder, wenn du nichts isst?« »Was?« »Das ist hart, ich weiß, aber glaubst du, er würde wollen, dass du dich fertig machst?« »Er würde mir überhaupt nicht sagen, was ich machen soll.« Und DU machst das immer, fügte Alea in Gedanken hinzu, nicht nur bei Saltatio, sondern dauernd. Hör doch einfach mal auf mit dem Scheiß. Mit gesenktem Blick nippte er an seinem Kaffee. Er war köstlich, doch auf Aleas Zunge wurde er zu bitterem Abwaschwasser. Lasterbalk gab sich geschlagen, seufzte und zog den Brötchenkorb beinahe grob auf seine Seite des Tisches. »Okay«, sagte er ruhig. »Mach, was du willst. Ich weiß, du willst nicht umsorgt werden. Ist angekommen. Tut mir Leid. Ich lass dich jetzt in Ruhe.« »Ich will’s jetzt nicht«, zwang Alea sich zu korrigieren. Er wollte im Grunde nicht barsch zu seinem Freund sein. Schließlich war er hier nicht der Einzige, der unter Erics Verlust litt. Oder doch? »Ich glaub, ich fahr erst mal nach Hause.« »Und dann?« Lasterbalk zersägte das Brötchen sichtlich niedergeschlagen. »Dann warte ich auf Nachricht. Ich meine, wir werden doch bestimmt … eingeladen.« Der andere begriff. »Geh ich mal von aus.« »Oder … behalten sie ihn noch, um …?« »Nein, nein. Ganz sicher nicht. Die Sache ist ja klar.« »Wirklich? Die haben schon … alles rausgefunden?« »Naja, was man eben so rausfinden kann. Den … Einschusskanal und so, das haben die ja schon gecheckt. Wie weit der Typ mit der Waffe entfernt war und wie er gestanden haben muss.« Alea zwang sich, einen weiteren Mundvoll Kaffee zu schlucken. »Und wann haben die das gemacht?« »Na, gestern noch.« »Während wir hier rumgesessen haben?« »Jap. Und Bodi hat mich noch angerufen, als du schon im Bett warst«, schickte Lasterbalk prompt als Erklärung hinterher. »Ich dachte, ich muss dir das nicht jetzt erzählen, aber nun hast du ja danach gefragt.« Er verteilte die Butter ziemlich lieblos auf der unteren Brötchenhälfte und klatschte zwei Löffel selbstgekochte Pfirsichmarmelade oben drauf. »Und wieso hat er mich nicht angerufen?«, fragte Alea, der dabei ein merkwürdiges Gefühl hatte. »Hast du’s irgendwie hingekriegt, dass gar keiner mit mir reden darf?« »Hmm – ja, so in etwa, ja.« »Ah, na schön. Ich will mit Bodenski reden. Wenn schon nicht mit allen von Subway, dann wenigstens mit dem.« »Okay.« Lasterbalk zuckte die Achseln. »Mach ich klar für nachher.« Alea nickte bedeutungsvoll. Die Begegnung mit einem Leidensgenossen war ihm jetzt wirklich wichtig. Wenn er diese Sache irgendwie verdauen wollte, dann brauchte er den Austausch mit Menschen, denen es mit Sicherheit gerade genauso beschissen ging wie ihm. Und zu denen Lasterbalk offenbar nicht gehörte. 11.33 Uhr Zuerst wusste Alea nicht, wo Lasterbalk mit ihm hinfuhr. Der Weg durch die Stadt war ihm nicht vertraut, aber zumindest war er dankbar dafür, dass es nicht zurück zur Jugendherberge ging. Er wollte diesen Ort, an dem sie das Ende ihrer gemeinsamen Herbsttournee begossen hatten, nie wieder sehen. Die Durlacher Straße kannte er inzwischen, und dass sie auf das Polizeipräsidium zuhielten, wunderte ihn wenig, obgleich er sich dunkel erinnerte, dass die Kriminalpolizeidirektion irgendwo in der Hertzstraße ansässig war. »Hältst du mich jetzt für vernehmungsfähig?« »Wir gehen nicht zu dem Knussen«, antwortete Lasterbalk ruhig. Alea hatte keine Lust, ihn weiter zu fragen. Er wollte eigentlich mit niemandem reden – jedenfalls mit niemandem, der nicht selbst betroffen war. Und zunächst wurde das auch nicht von ihm verlangt. Lasterbalk verlor ein paar Worte an der Rezeption, während Alea mit hängenden Schultern im nüchtern gehaltenen Wartebereich saß und das ausliegende Infomaterial zu Einbruchsicherung, Kinderschutz und sexueller Nötigung keines Blickes würdigte. Keine Minute später holte sein alter Freund ihn wieder ab und führte ihn einen Gang mit abzweigenden Türen hinunter, bis sie vor einer geöffneten ankamen, hinter der sich eine Art geräumiger Schulungsraum auftat, durch dessen große Fenster milchiges Tageslicht hereinflutete. Vor einem dieser Fenster stand, ihnen den Rücken zukehrend, Bodenski. Alea erkannte ihn augenblicklich, auch wenn im Gegenlicht kaum mehr als seine Silhouette zu erkennen war. Der Mann mit dem langen blonden Pferdeschwanz wandte ihnen langsam das Gesicht zu. Er trug ein schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck, dessen Ärmel die Tätowierungen auf seinen kräftigen Oberarmen nur zum Teil bedeckten. Zweifellos hatte er sich die letzten zwei Tage nicht rasiert. Als sein Blick auf Alea fiel, holte er tief Atem, den er in einem kaum hörbaren Seufzen herausließ, machte zwei große Schritte auf den Kleineren zu und legte wortlos einen Arm um ihn. Er tat das mit derselben Forschheit wie sonst, aber gleichzeitig so vorsichtig, als wäre Alea aus Glas. Lasterbalk kam langsam in den Raum getrottet, ebenfalls den Mund haltend und mit vor der Brust gekreuzten Armen. Alea hörte seine langsamen Schritte hinter sich. Leise fragte er, während Bodenski immer noch seltsam unbeholfen seine Schulter tätschelte: »Gibt es … irgendwas … Neues?« »Nee.« Bodenskis Stimme klang heiser. »Nee, nicht so wirklich.« Dann trat er von Alea zurück und nahm dieselbe distanzierte Haltung ein wie Lasterbalk. »Und es sieht so aus, als werden wir nicht zur Beerdigung eingeladen. Gar keiner von uns, nur die engste Familie.« »Na toll«, murrte Lasterbalk. »Es wird aber einen Termin geben, wo auch Freunde Abschied nehmen können. Es ist noch nicht raus, wann das sein wird. Sorry.« Alea spürte wieder nichts als Leere in sich. Eben gerade, bei der etwas zurückhaltenden Umarmung, hatte er kurz die Empfindung gehabt, nicht allein mit seinem Schmerz zu sein, doch der Moment war vorbei. Jetzt wurde er das Gefühl nicht los, dass der Gitarrist von Subway To Sally ihn genauso forschend musterte wie Lasterbalk. Und das gefiel ihm nicht. Dieser scharfe Blick, der nunmehr aus zwei Paar Augen auf ihm ruhte, wirkte beinahe voyeuristisch. Was wollen die von mir? Was ist denn bloß los hier? Er bekam beinahe eine Gänsehaut. Die sind so gefasst … Zwei unbehagliche Sekunden später steckte eine uniformierte Polizistin den Kopf zur offenen Tür herein. »Möchten Sie jetzt zu Frau Sabelke? Die könnte jetzt ein paar Minuten für Sie einschieben.« »Ja!«, sagte Lasterbalk entschieden und griff nach Aleas Schulter, ehe er fast schuldbewusst zurückzuckte und seinen Freund stattdessen sanft von hinten anschob. »Komm. Das wird dir helfen, ich versprech’s dir.« »Wer ist die?«, fragte Alea unglücklich. »Eine alte Freundin von mir.« Er verstand. »Du meinst, eine alte Kommilitonin von dir.« »Ja, stimmt«, räumte der Hüne ein. »Tut mir Leid, aber … echt. Du brauchst das.« »Er hat Recht«, sprang Bodenski ihm in ruhigem Ton bei. »Ich war vorhin bei der drinnen. Ich muss echt mal wieder schlafen. Vielleicht geht das ja jetzt endlich.« Alea sträubte sich nicht länger. Das kurze Aufwallen von Widerstand machte der dumpfen Lethargie Platz, die er schätzen gelernt hatte. Ihr nachzugeben war bequem. Sie verlangte kein Nachdenken von ihm. »Okay, ich geh hin«, murmelte er tonlos. 11.52 Uhr »Nehmen Sie ruhig Platz«, wies die Polizeipsychologin ihn lächend an und wies auf einen der mit schwarzem Kunstleder bespannten Stühle, die um einen niedrigen Holztisch gruppiert waren. »Ich bin sofort bei Ihnen.« Alea fand, dass ihre Augen auf seltsame Weise viel zu groß für ihr schmales Gesicht wirkten, beinahe eulenhaft. Ihr Haarschnitt war furchtbar altmodisch, mit geraden Kanten und vollkommener Symmetrie, und dies ließ die Frau, die wahrscheinlich noch keine vierzig war, hundert Jahre älter aussehen als Lasterbalk, dessen Kommilitonin sie angeblich einst gewesen war. Als sie sich ihm kurz darauf gegenüber setzte, war ihr Blick analytisch und durchdringend, und während sie ihn so betrachtete, nickte sie immer wieder wie als Bestätigung für sich selbst. Auf dem dienstlichen Namensschildchen, das in Brusthöhe an ihre Bluse gesteckt war, stand ›Dr. Marianne Sabelke‹. Alea fühlte sich durchleuchtet und unbehaglich. »Was?«, fragte er schließlich, dem starren Blick ausweichend. »Wie fühlen Sie sich?«, war ihre unverblümte Frage, als säßen sie bei einer alljährlichen Routinebesprechung. »Na, nicht so wirklich toll.« Blöde Frage. Warum stellen die immer so blöde Fragen? »Und warum nicht?« »Warum nicht?«, wiederholte er fassungslos. Sie machte eine beschwichtigende Geste. »Abgesehen von dem Verlust. Was wissen Sie über die Umstände der Tat?« Ihre Stimme war weich und freundlich, aber der Ton bestimmt. Sie wollte diese Frage wirklich beantwortet haben. »Na, nichts«, gab Alea also missmutig zu Protokoll. »Er wurde erschossen, hat man mir gesagt.« »Sie können darüber reden«, stellte sie fest. Aber ich WILL nicht, dachte er. »Und wozu? Ich hab’s gestern erst erfahren, ich bin noch nicht so weit, dass ich mich damit abfinden will. Ich will, dass man den Kerl fängt.« Und ihm wehtut. So, wie mir das jetzt wehtut. Scheißkerl. »Und falls mein Freund – … unser Freund Ihnen gesagt hat, dass er nicht will, dass ich befragt werde, dann sag ich dazu, dass ich das selber entscheiden kann.« »Das hat er nicht«, beruhigte sie ihn. »Und?« »Sie wissen nichts darüber, wie es passiert ist.« »Nein, irgendwie erinnert sich anscheinend keiner von uns dran. Was ich ziemlich komisch finde.« Ihre Eulenaugen blinzelten, und das Nicken setzte wieder ein. »Es ist nicht so überraschend, wie Sie denken. Eine etwas wilde Feier – …« »… Mit Schnaps, der anscheinend bei uns allen das Gedächtnis gelöscht hat …« »Das Opfer war wohl mit dem Täter allein, da ist es nicht ungewöhnlich, dass niemand etwas bemerkt.« Wieder nickte sie in schneller Folge, während sie nachdachte. »Darf ich Ihnen ein paar allgemeine Fragen stellen? Wir werden nicht über die Tat sprechen.« Seltsam, dass sie nicht ›Mord‹ sagte, denn genau das war es doch gewesen. »Ja, okay«, antwortete Alea widerwillig. »Fragen Sie mich irgendwas.« Das tat Dr. Sabelke. Sie befragte ihn nach seinem Befinden vor dem vergangenen Tag, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war, dann nach seiner Familie, seinem Freundeskreis und sehr allgemein nach seiner Lebensweise. Er gab sehr knapp, aber halbwegs vollständig Auskunft und ließ sich durch die Denkanstöße sogar zeitweise von der Leere in seiner Körpermitte ablenken, die sich dort mehr und mehr auszubreiten drohte. Nach einer guten halben Stunde lenkte die Ärztin das Thema behutsam wieder zurück auf das jüngste Ereignis. »Ich möchte«, sagte sie deutlich und hielt ihren staunenden Eulenblick fest auf ihn gerichtet, »dass Sie ganz zur Ruhe kommen, bevor Sie bei der Aufklärung des Falls als Zeuge herangezogen werden. Ich bitte Sie, vorerst auf eine Aussage zu verzichten.« Alea hob die Augenbrauen. »Wieso?« »Weil unser gemeinsamer Freund ganz Recht damit hat, dass Sie noch nicht vernommen werden sollten.« »Aber ich will, dass das Schwein geschnappt wird!« Er war lauter geworden als beabsichtigt und staunte nun, wie schwer es ihm fiel, seine krampfenden Finger wieder von den Armlehnen zu lösen. »Ich will nur das im Moment, sonst nichts!« »Dann lassen Sie mich Ihnen eine kleine Kur verschreiben.« Sie griff nach dem karierten Block, auf dem sie sich während der Unterhaltung stichpunktartig Notizen gemacht hatte, riss das oberste Blatt ab und begann aufs Neue zu kritzeln. Ihre Schrift war klein, eng und zackig. »Ziehen Sie sich an einen möglichst einsamen Ort zurück, an dem keine aufwühlenden Reize auf Sie einwirken. Eine Empfehlung gebe ich Ihnen mit. Meiden Sie die Gesellschaft anderer.« Alea spürte einen Stich von Angst, beinahe Entsetzen. Allein sein? Jetzt? Mit dieser Katastrophe, dieser Leere, dieser Traurigkeit, die er gar nicht bewältigen konnte? Wollte sie etwa, dass er ganz in diesen Abgrund stürzte und sich in der Einöde an irgendeiner Tür erhängte? Seine Hand zitterte leicht, als er die beschriebene Seite von ihr entgegen nahm. Er warf keinen einzigen Blick darauf, als er sie in die Hosentasche steckte. 12.32 Uhr »Du hast was vergessen«, sagte Lasterbalk, als sie sich wieder im Schulungsraum trafen. Alea stand am Fenster und starrte hinaus auf die gelb verfärbten Alleebäume. Bodenksi war schon nicht mehr da gewesen, als er wieder hereingekommen war. Einige Minuten hatte der Sänger somit schweigend und mit sich allein verbracht. Ein guter Auftakt für die Kur, dachte er bitter. »Hey«, versuchte Lasterbalk es noch einmal von der Tür aus. »Du hast was vergessen.« »Was denn bitte?« Alea drehte sich nicht um. Er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Kurz nachdem er Dr. Sabelkes Gesprächszimmer verlassen hatte, war Lasterbalk an ihm vorbei in selbiges abgebogen und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Sie hatten miteinander geredet. Zweifellos über ihn. Alea hatte ihre Stimmen gehört, und worum sonst sollte es dabei gegangen sein? Endlich war wieder ein Gefühl in ihm aufgeflackert: jähe Wut. Lasterbalk mischte sich immer und überall ein und hatte zu allem eine Meinung. Jetzt musste er wieder ungefragt seine Expertise beisteuern, weil er Alea so gut und lange kannte. Nun redeten sie also über ihn wie über eine aktuelle Studie und beschlossen, was das Beste für ihn war. Aleas Kiefer verkrampften sich kurz, als er seinen Freund hinter sich traurig seufzen hörte, und dann verflog die starke Emotion in ihm wieder genauso plötzlich wie zuvor. Da war sie erneut, die Passivität, die Lähmung. Was er dachte oder fühlte, hatte ohnehin keine Bedeutung. Sollten Lasterbalk und diese Ärztin doch planen, was sie wollten. Alea würde es einfach mit sich machen lassen. Es war doch sowieso egal. Mit gebrochenem Widerstand drehte er sich um. »Was hab ich denn vergessen?« Lasterbalk stand im Türrahmen und hielt eine kleine Schachtel hoch. »Deine Tabletten.« »Was … Tabletten? Ihr gebt mir Medis? Einfach so?« Es hätte ihn überraschen müssen, aber irgendwie tat es das nicht. Nicht wirklich. »Ja. Du nimmst vorläufig je morgens und abends eine.« »Und dann?« »Dann beruhigst du dich.« So funktioniert das nicht, dachte Alea, so funktioniert gar nichts davon. Aber er sagte lahm: »Okay.« Eine Minute später waren sie wieder im Freien. Lasterbalk zog seine Jacke gegen den Wind hoch, und Alea folgte ihm im Trott zum Auto. »Bringst du mich jetzt nach Hause?« »Ja«, antwortete Lasterbalk, »aber nur kurz. Damit du ein paar Sachen mitnehmen kannst. Dann fahren wir weiter.« »Aha. Das Ziel?« »Hast du in der Hosentasche.« Alea verstand. Es sollte schnell gehen. Zum ersten Mal verspürte er Misstrauen, empfand echten Zweifel gegen das Verhalten des Älteren, das seit Erics Tod so seltsam war. Lasterbalk hatte es wirklich eilig damit, ihm zu helfen: Schutz vor Polizei und Presse, intensive persönliche Betreuung, Tabletten, Kur in Abgeschiedenheit … Alles so bald wie möglich. »Kommst du mit?«, fragte er argwöhnisch. »Wohl kaum. Du sollst alleine sein«, erinnerte ihn Lasterbalk. »Keine Leute treffen, möglichst nicht rausgehen. Aber ich bin in der Nähe, wenn du mich brauchst. Hörst du? Das muss dir klar sein. Ich bin immer da.« Die Eindringlichkeit seiner Worte und auch seines Blickes irritierte Alea. Und wenn ich nicht will? Er dachte es nur ganz kurz. Es gab kein ›Nein‹. Alea war zu gebrochen, um Widerstand zu leisten. Und Lasterbalk wusste das. 18.56 Uhr Ich frage nicht, warum wir so weit fahren. Ich will es nicht wissen. Sie hatten zuletzt um kurz nach drei eine Pause eingelegt, um alle Bedürfnisse zu stillen. Lasterbalk war ein ausdauernder Fahrer, aber um den Schein zu wahren, war er auf dem Parkplatz zweimal um das Auto gerannt. Alea schenkte dem Straßenverkehr zu keiner Zeit Beachtung. Nach der durchwachten Nacht, die er hinter sich hatte, interessierten ihn weder das Ziel noch die Strecke, und so hatte er nicht gegen den Schlaf angekämpft, sondern sich einfach seinem Schicksal überlassen. Lasterbalk versuchte dankenswerter Weise nicht, sich mit ihm zu unterhalten oder ihn zu typischen Beifahrertätigkeiten zu motivieren; das Navigationssystem war programmiert, eine offene Tüte mit gerösteten Nüssen lag griffbereit. Für Alea gab es nichts zu tun. Gut so. Nur jetzt öffnete er einmal kurz die Augen und sah die blauen Autobahnschilder über der Fahrbahn heranrauschen. A113. Gerade passierten sie die Ausfahrt Lübbenau. Der Spreewald. Alea zuckte innerlich zusammen. Er würde doch fragen. Er musste fragen. Es brannte in ihm. 19.07 Uhr »Wir fahren doch nicht zu … zu seinem Haus, oder?«, fragte Alea mit dünner Stimme. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es absurd. Lasterbalk schüttelte den Kopf. »So weit nördlich wollen wir nicht. Dann wären wir auch über die A10 gefahren. Wir fahren Teupitz runter.« »Aber warum so in der Nähe …?« »Weil es ruhig ist.« »Aber – ! Scheiße, aber dann muss ich dauernd dran denken! Guck dir doch mal die Umgebung an! Nix, keine Häuser, Kiefern, Sand, alles flach, Rieseneinöde …« »Brandenburg eben«, stellte Lasterbalk stumpf fest. »Aber wie soll mich denn das von Eric ablenken, verdammt noch mal? Da, wo er wohnt – … gewohnt hat, sieht’s doch genauso aus!« »Das ist schon okay.« »Ach ja?« »Ja. Bitte, mach keinen Terz. Vertrau mir einfach.« Das war schwer in diesem Moment. Alea konnte sich Lasterbalks einerseits aufopferndes, andererseits distanziertes und seltsam unbeteiligtes Verhalten nicht erklären. Sein langjähriger Bandkollege und Freund war schon oft an seiner Seite gewesen, wenn er einen geliebten Menschen verloren hatte, und deshalb wusste Alea, was er in solchen Ausnahmesituation von Lasterbalk zu erwarten hatte. Und das hier, was seit Erics Ermordung passierte, war es nicht. Zwar war es offensichtlich, dass der Ältere versuchte, Trost zu spenden, aber es wirkte so unbeholfen, so unbetroffen, als hätte Lasterbalk selbst Eric Fish überhaupt nicht gekannt und stünde seinem Tod deshalb so ratlos gegenüber wie dem eines völlig Fremden in einem anderen Land. Alea fühlte sich mehr und mehr wie der Mittelpunkt einer Studie, beobachtet und ausgewertet. Vertrauen. Lasterbalk bat ihn um Vertrauen. Und ja, nach den vielen mitunter schwierigen Jahren ihrer engen Freundschaft verdiente er dieses auch. »Ist gut … Bring mich hin, wo du willst.« Lasterbalk wirkte unglücklich. »Es ist wirklich zu deinem Besten«, sagte er leise. Dann nahmen sie die Ausfahrt nach Teupitz, Halbe und Märkisch Buchholz. Kapitel 2: Einsam ----------------- 14. Oktober, 19.23 Uhr »Hier ist nichts«, stellte Alea ohne große Anteilnahme fest, als sich endlich wieder Zeichen von Zivilisation auftaten. Sie hatten den ohnehin schon winzigen Ort Märkisch Buchholz, der seinen Status als Stadt nicht verdiente, lediglich durchquert und waren wieder in den Wald abgebogen. In der Dämmerung folgten sie der Landstraße mit ihren Kurven und Hügeln und ohne jede Art von Straßenbeleuchtung für etwa sechs Kilometer, ehe wie aus dem Nichts ein Ortsschild auftauchte: Willkommen in Köthen. Ein Storch prangte darauf. »Gehört noch zu Märkisch Buchholz«, erklärte Lasterbalk. »Wir sind gleich da.« »Das kann ich mir denken.« Kummervoll nahm Alea die Einsamkeit in sich auf, die der still daliegende Ort ausstrahlte. Alles wirkte in der heranflutenden Dunkelheit wie verlassen; keine Geräusche drangen aus den Häusern hervor, die meisten Fenster waren dunkel. Kein Mensch war zu sehen. Es dauerte keine Minute, Köthen zu durchqueren. Es gab nur eine einzige Straße, die in einem Rondell endete und auf demselben Weg wieder aus dem Ort hinausführte. Dunkle Häuser flankierten sie mit stummen Gärten, in denen verblühte Blumen auf braunen Stielen starben. »Richtig freundlich«, kommentierte Lasterbalk. »Da hat Marianne sich ja was Nettes ausgedacht.« Er schenkte Alea ein kummervolles Lächeln, während er die scharfe Wendung nahm. »Und hier soll ich mich erholen?« Alea war fassungslos angesichts einer so deprimierenden Umgebung. »Ist ein schöner Urlaubsort, so viel ich weiß«, sagte Lasterbalk vorsichtig. »Ah ja? Im Sommer vielleicht, wenn man nur zum Schlafen herkommt und sonst Boot fährt, wandert oder sonst was. Aber wenn ich deine Freundin richtig verstanden habe, dann soll ich hier nicht rausgehen und mit keinem reden! Ich meine … Hallo? Was? Was sollen denn das für Tabletten sein, die mich daran hindern sollen, hier von irgend’nem Dach zu springen?« Lasterbalk stieg sanft auf die Bremse, bis der Wagen kurz hinter der Kurve stand, die zurück zum Ortsausgang führte. Er holte tief Luft und sagte sehr ernst: »Hör mal … Mir gefällt das auch nicht. Gar nicht. Noch weniger, wenn ich das hier sehe. Aber es muss sein. Ich kann es nicht ändern. Es ist der einzige Weg, dich irgendwie … schnell wieder hinzukriegen. Glaub mir, ich würde gerade am liebsten wieder voll aufs Gas treten und dich ganz weit von hier wegbringen … weil ich weiß, dass es … hart für dich wird.« Er seufzte schwer. »Du musst jetzt wirklich stark sein. Denn es wird noch schlimmer.« Er sah Alea von der Seite an; seine Stimme war fest, doch seine Augen glitzerten kaum merklich. »Du bist noch in der ersten Phase … Ich weiß, du willst das nicht hören, aber so ist es. Du leugnest, du bist gelähmt, du empfindest nichts. Du bist innerlich erstarrt. Aber das bleibt nicht so. Das bricht ein. Und wenn das passiert, dann … dann bin ich noch nicht mal bei dir, verfickt noch mal, dann bist du alleine hier.« Kurz war seine Stimme gebrochen, und er presste die Lippen aufeinander. Lasterbalk war sehr gut darin, sich zu beherrschen. »Aber …« Er zwang sich sichtbar zurück zur Gefasstheit. »… es wird alles gut. So beschissen plakativ das klingt, aber genauso ist es. Das geht vorbei. Und was wir machen, das hilft dir.« Alea hatte gehofft, er möge irgendetwas empfinden können, jetzt, da er sogar Lasterbalks Fassade bröckeln sah. Er wollte das zurückgeben, wollte, dass sie sich gegenseitig trösten konnten, hier in diesem Scheißkaff in dieser Scheißsituation. Aber er konnte nicht. Erst fühlte er Scham, als er die verräterischen Tränen in Lasterbalks Augen sah, dann sogar eine unterschwellige Abscheu. Er war so schwach. Und er, Alea, starrte nur vor sich hin, weil ihn nichts von alldem berührte. Er schämte sich nicht nur für Lasterbalk, er schämte sich auch für sich selbst. Eric war tot. Ja, und? Vielleicht stimmte das ja wirklich. Was bedeutete das eigentlich? Wieso entfaltete diese Nachricht nicht die Wirkung auf ihn, die er erwartet hatte? Es war gar nicht Lasterbalk, der sich hier seltsam benahm. Alea war es selbst. Er konnte nicht trauern. Er wollte nicht trauern. Und noch weniger wollte er in dieser Einöde eingesperrt werden und untätig herumsitzen. Es war an der Zeit, wieder aufzuwachen. Zeit, die Lethargie abzuschütteln. Zeit, nicht länger passiv zu sein. »Ganz ehrlich«, sagte Alea emotionslos, »ich glaub nicht, dass das irgendwas bringt. Mich hierher zu schleppen, das war doch totale Scheiße. Und unnötig. Ich hab’s doch geschnallt. Eric ist tot. Ich werd nicht mehr mit ihm feiern. Subway sind im Arsch. Wir treten nie wieder zusammen auf. Bist du zufrieden?« Er erwiderte Lasterbalks Blick kühl und herausfordernd. Wozu einfühlsam sein? Wozu? Lasterbalk betrachtete ihn schweigend. Seine Miene war jetzt so unleserlich wie ein Buch in einer fremden Sprache. Schließlich sagte er ruhig: »Steig aus.« 19.49 Uhr Es war egal, dass Lasterbalks Auto verlassen in der Kurve stand. Niemand außer ihnen war hier unterwegs. Das Haus war eins von dreien, die mit ihren vermutlich roten Ziegeln und schwarzbraunen Dächern einander ähnlich sahen und das Ende des Ortes Köthen markierten. Lasterbalk klopfte an die Tür, während Alea, seine Reisetasche unter dem Arm, in einiger Entfernung lustlos wartete. Keine Menschen treffen zu dürfen bedeutete, dass er die Inhaber seines neuen Gefängnisses nicht kennen zu lernen brauchte. Er sah, wie eine alte Frau mit weißem Haar, die eine Schürze trug, die Tür öffnete und ihren krummen Hals reckte, um Lasterbalk in die Augen sehen zu können. Ein paar Worte genügten, und sie watschelte gebeugt davon, um kurz darauf mit einem kleinen Schlüsselbund zurückzukehren. Sie gab einige Erklärungen, die Alea nicht verstehen konnte, die Lasterbalk jedoch geduldig nickend zur Kenntnis nahm. Schließlich ging die mit einem herbstlichen Kranz geschmückte Haustür wieder zu. Mit wenigen großen Schritten war Lasterbalk zurück bei Alea und führte ihn schweigend zum Nachbarhaus. Drinnen war es dunkel. Es roch nach Holz und auch muffig, wie ein Berg alter Decken. Die Lampe über ihren Köpfen, die ein Schalter zum Leben erweckte, spendete ein nicht sehr helles, gelbes Licht. Geheizt war nirgends. »Ich geh mal gucken, ob ich die Heizung ankriege. Du kannst dir ja schon mal ein Bett suchen. Es gibt mindestens drei.« Lasterbalk machte eine vage Geste zur Treppe, die sich düster am Ende des Flurs auftat. Es ist eher unheimlich als heilsam, dachte Alea matt. Er fühlte sich furchtbar erschöpft und wusste nicht, warum. Etwas zu fühlen war so anstrengend geworden. Das ganze Haus zeigte den typischen staubig-antiquierten Einrichtungsstil alter Leute: Naturholzschränke, Blumentapeten, samtbraune Polstermöbel, anlaufende Lampenschirme, schnörkelige Ziselierungen, Kissenbezüge und Deckchen aus Häkelspitze. Es war nicht wirklich charmant, aber auch nicht eintönig, allenfalls ein bisschen langweilig. Eben … nett. Normal. Ganz wie erwartet, ohne Überraschungen. Alea öffnete die letzte Tür oberhalb der Treppe und fand dahinter ein sehr kleines Zimmer, in dem ein sauber gemachtes, blau bezogenes Bett und ein Schränkchen standen. Es wirkte wie die Kammer eines Hausmädchens. Prima. Er warf seine Tasche neben das Bett. »Na?« Lasterbalk streckte den Kopf hinein. »Heizung läuft. Musst du dir aufdrehen, wo du’s brauchst. Du hast einen Gasherd in der Küche, hast du gesehen?« »Ich hab Hunger.« Das war die Wahrheit. Alea merkte es erst, als er es sich sagen hörte. »Wundert mich nicht. Der Rest von der Gemüsesuppe ist in der Plastikdose neben dem Herd. Mach dir das warm.« »Hmm.« »Mach es wirklich.« »Jaa.« »Ich hau jetzt ab.« Alea hob den Kopf. »Du willst mich hier wirklich alleine lassen?« »Ich muss«, erwiderte Lasterbalk gequält. »Mach’s nicht schlimmer, als es ist.« »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es mir gerade echt egal ist?«, schnaubte Alea. »Jetzt noch.« Der große Mann streckte die Hand aus. Alea war klar, dass Lasterbalk ihm nicht die Hand geben wollte, und als er widerwillig näherkam, fasste sein Freund ihn an der Schulter und zog ihn in eine feste Umarmung, die Alea ohne Gegenwehr über sich ergehen ließ. »Mach keinen Scheiß, Kleiner. Hast du gehört? Ich ruf dich jeden Tag an. Nimm deine Tabletten. Nimm die erste heute nach der Suppe. Versprich’s mir.« »Mach ich«, gab Alea fügsam zurück. Lasterbalk ließ ihn los und schob ihn ein wenig von sich, um ihn noch einmal mustern zu können. »Eins noch«, sagte er bedeutsam. »Wir werden ab jetzt nicht mehr über die Umstände von Erics Tod reden.« »Wie?« Alea verstand nicht. »Wir wissen, dass er tot ist. Ich weiß das, du weißt das. Der Mord … wie der passiert ist … darüber reden wir jetzt nicht mehr.« »Aber warum nicht?« »Weil es besser ist.« »Aber die Polizei muss das Arschl–« Lasterbalk legte ihm seinen langen Zeigefinger an die Lippen, eine ziemlich bevormundende Geste, die Alea provozierte. »Sag mal, spinnst – !« »Bitte«, sagte Lasterbalk, so eindringlich er konnte, und umfasste seine Schultern. »Bitte mach, was ich dir sage. Es wird sich um alles gekümmert, auch um den Mörder, es kommt alles in Ordnung, ich versprech’s dir. Aber solange du hier bist, meiden wir dieses Thema, ja? Nur für diese Zeit.« Missmutig machte Alea sich von ihm los. Diesmal fiel er nicht zurück in die Leere. Er war wütend, das alles hier machte ihn wütend. Es war eine Farce, dieses bescheuerte Kurprogramm. Dieses Loch hier sollte ihn dazu bringen, Erics Verlust schneller zu verwinden? Pah, aber nur, wenn die Tabletten sein Gedächtnis löschten. »Du kannst fahren«, befand er kühl. »Ich komm klar.« »Ich hoff’s.« Lasterbalk wandte sich zum Gehen, und als Alea sich nicht anschickte, ihm zu folgen, warf er einen letzten Blick in das Zimmer, nickte einsichtig und schloss dann die Tür hinter sich. 20.16 Uhr Alea hielt Wort. Er beschloss, sich zu entspannen. Zumindest körperlich. Kein Sport, auch wenn das willkommene Ablenkung und Routine bedeutet hätte. Nein, er musste sich mit ganzer Aufmerksamkeit diesem seltsamen, dunklen Knoten in seiner Brust zuwenden, der dort saß, wo früher seine Gefühle gewesen waren. Er musste hinhorchen und verstehen. Dies war eine Wunde, die offen gehalten werden musste, um heilen zu können. Er würde schon noch herausfinden, wie er diese immer noch schwellende Pestbeule aufstechen konnte. Zuerst widmete er sich gehorsam dem Aufwärmen seiner Mahlzeit. Lustlos, aber gewissenhaft rührte er in der Gemüsesuppe, ehe er sie ziemlich lieblos direkt aus dem Topf löffelte. Sie war gut, wie immer, viel zu gut für ihn, sie schmeckte nach etwas, das er nicht verdient hatte, während er damit im staubigen Wohnzimmer vor den schweren Gardinen saß. Wie mechanisch tauchte er den Löffel immer wieder in das sämige, fast schon ekelhaft köstliche Gemisch und starrte dabei auf die Wand gegenüber, an welcher Bilder hingen, die Jagdszenen zeigten. Er kaute, obwohl es nichts zu kauen gab, während er zusah, wie vor ihm auf Hasen und Rehe geschossen wurde. Danach nahm er die erste Tablette. Sie war rund und gelb und fiel von ganz allein aus dem metallbeschichteten Plastik in seine Hand. Er schluckte sie mit einem Glas Wasser. Dann starrte er wieder auf die Bilder mit den Tieren. Wie war wohl Eric erschossen worden? Was hatte er gefühlt? War er überrascht gewesen? Hatte er Zeit dafür gehabt, überrascht zu sein, oder war er sofort tot gewesen? Alea glaubte nicht daran. Niemand war sofort tot. Auch wenn es das oft in den Presseberichten hieß. Eric würde, wenn er schon den Mörder nicht gesehen hatte, doch zumindest den Einschuss gespürt haben. Sicher ein kurzer, alles zerreißender Schmerz, der sein Herz zersprengte und in seiner Brust ausbluten ließ. Er war zu Boden gegangen, vielleicht gesunken, vielleicht gestürzt, vielleicht schnell, vielleicht langsam. Steckte nicht auch eine enorme Wucht hinter so einem Schuss? Schlug es einen nicht gegen die Wand, wenn man getroffen wurde? Vielleicht hatte Eric sogar noch eine Weile gelebt. Hatte gewusst, dass er sterben musste, und das Ende auf sich zukommen sehen. Hilflos, weil niemand dabei gewesen war. Weil es keine Zeugen gab. Wie fühlte sich das wohl an, zu sehen, wie das eigene Herzblut aus dem Körper herausfloss, und zu wissen, dass gleich alles vorbei war? Verfiel man in Panik? Oder wurde man ganz ruhig, wie manche berichteten, die es überlebt hatten? Hatte Eric seinen Tod akzeptiert? War er bereit gewesen, alle seine Pläne – für Subway To Sally, für sein eigenes Projekt, für seine Freunde, für seine Familie – aufzugeben, weil seine Zeit abgelaufen war? Oder hatte er noch gekämpft, um jede Sekunde gerungen, hatte gesagt: Nein, nein, verpiss dich, Tod, auch dann noch, als der Atem ihm schon im Hals stockte? Spürte man es eigentlich, wenn das Herz zu schlagen aufhörte? War man danach noch bei Bewusstsein, bis das Hirn den verbliebenen Sauerstoff aufgezehrt hatte? Aleas Mund war trocken wie Sand. Sein Herz klopfte in seiner Brust, ganz fest, ganz schnell, wie ein Vogel in einem Käscher zappelt, ein entsetztes Flattern, und seine Hände auf seinem Schoß zitterten unkontrolliert, während er noch immer das Bild anstierte. Er sah es nicht mehr. Es war verschwommen, die Farben liefen ineinander, die Konturen waren aufgeweicht. Immer mehr zergingen die vorher klaren Umrisse. Bis, endlich, die warme Feuchtigkeit, die sich angestaut hatte, überlief und Wege nach unten fand, über beide Wangen bis zum Kinn hinab rollend. Eric war tot. Er war wirklich tot. Einer seiner besten Freunde, mit dem ihn so viel verbunden hatte, mit dem er so viel hatte teilen können und mit dem er so viele gute und schlechte Tage verlebt hatte. Eric war nicht immer in Reichweite, aber trotzdem für ihn da gewesen, und wenn sie zusammen gewesen waren, hatte es stets eine Menge bedeutet. War das jetzt wirklich vorbei? War Eric Fish, der kein Blatt vor den Mund nahm, der seine Fans auf der Bühne zurechtwies, der besserwisserisch und viel zu oft unfreundlich war, der ein beachtlicher Künstler und kluger Gefährte mit wenig Bescheidenheit und viel zu viel Leidenschaft war … einfach für immer fort? Dieses verdammte Arschloch, dachte Alea. Und dann: Es tut mir so Leid, Eric. Es tut mir so Leid. Wir waren besoffen und du wurdest erschossen. Oh, Scheiße. »Es tut mir Leid«, sagte er laut, und seine Stimme schwankte unter der Tränenlast. »Ich würde alles tun, um es zu ändern. Ich wünschte, ich hätte es gemerkt. Ich wünschte, ich hätte irgendwas tun können. Du bist mein Freund … Ach, Scheiße … Ich hab dich doch lieb, Mann … Ich werd dich vermissen …« Alea machte die Augen zu, blendete das Bild aus, ließ den Kopf auf die Brust sinken. Und dann weinte er. This is a weeping song A song in which to weep While all the men and women sleep This is a weeping song But I won’t be weeping long – Eric Fish – Weeping Song (Nick Cave & The Bad Seeds Cover) 15. Oktober, 05.16 Uhr »Wieso weinen die alle?« Alea starrte auf den sonnenbeschienenen Fluss hinunter, auf dessen leicht erhöhtem Uferdamm einsam der Saltatio-Mortis-Tourbus stand, und fragte sich, warum die vielen Leute, die dort mitsamt ihrer Kleidung ins Wasser wateten, so tränenüberströmt waren. Er hatte das vage Gefühl, irgendein Unglück sei passiert, doch er erinnerte sich nicht an Einzelheiten. Verwundert beobachtete er die Menschen, Kinder, alte Leute und alles dazwischen, während sie im seichten Wasser herumirrten und dabei stetig schluchzten und wimmerten. Lasterbalk stand im Schatten des Tourbusses und rauchte. Er machte das nicht oft, eigentlich nur, wenn er entspannt und guter Stimmung war, aus einer Genusslaune heraus. »Frag dich das doch mal selbst«, war seine lapidare Antwort, nach der er an der Kippe zog und sich neben dem stummen, hochaufragenden Fahrzeug ins Gras setzte. Alea sah wieder die Leute an. So viele Menschen, die er nicht kannte und die er nicht verstand. »Ich hab echt keine Ahnung.« »Du bist also nicht traurig?« »Nein, wieso?« Das stimmte. Zurzeit konnte er gar kein Gefühl in sich ausmachen, nur Verwunderung. Sein Freund deutete nachlässig aus der Ferne auf Aleas Gesicht. »Und wieso weinst du dann?« »Ich?« Alea stutzte, und seine Hand flog zu seiner Wange hoch. Da spürte er die warme Feuchtigkeit unter den Fingern. Scheiße, Lasterbalk hatte Recht – er war genauso verheult wie die anderen da unten, es war alles voller Tränen. Aber wieso? Er wischte die Nässe weg, erst vorsichtig, dann heftiger, doch sie verschwand nicht. Es liefen sofort neue Sturzbäche nach, rannen über sein Kinn und tropften aus seinem Bart auf sein T-Shirt wie Regen. »Das kapier ich nicht.« »Bist du wirklich nicht traurig?« Lasterbalk blies entspannt den Rauch aus. »Nein!« Es war die Wahrheit. Alles war in Ordnung, da war kein Kummer, das Herz tat ihm nicht weh – es gab nicht den kleinsten Anlass zum Weinen. »Dann weiß ich auch nicht, was mit dir nicht stimmt«, stellte Lasterbalk achselzuckend fest und schnippte den Zigarettenrest ins Gras. 07.03 Uhr Licht fiel durch den schweren Fenstervorhang ins Wohnzimmer. Draußen schien die Sonne – blass, jung, kaum über den Horizont gestiegen, doch sie schien. Alea lag nicht in dem blaubezogenen Bett in der kleinen Kammer, sondern auf dem altmodischen braunen Sofa. Vor ihm auf dem Tischchen stand auf einem gefalteten Geschirrtuch der Topf mit dem kaltgewordenen Rest der Suppe. Alea wusste nicht, warum er sich so schämte, aber er tat es. Offenbar hatte er keine Kraft gefunden, ins Bett zu gehen, sondern hatte hier herumgesessen und geheult, bis er eingeschlafen war. Gott. Ich bin so eine Memme. Als er sich hochrappelte, tat ihm die Schulter weh. Besonders bequem war das durchgesessene Polstermöbel nicht gewesen. Ihm fiel der seltsam nichtssagende Traum wieder ein, dem er irgendwann am frühen Morgen nachgespürt hatte und der nun langsam wieder verblasste. Fast sehnte er sich nach der unberührten Stimmung, mit der er die Szenerie betrachtet hatte. Ja, er hatte sich über seine eigenen Tränen gewundert und sie nicht erklären können, aber er hatte dabei weder Trauer noch Angst empfunden. Gern wäre er wieder so gefühllos. Doch er wusste, dass das vorbei war. Er hatte diese Phase hinter sich. Seit gestern Abend hatte er aufgehört zu leugnen und zu verdrängen, hatte die Erkenntnis zugelassen, dass er einen Freund für immer verloren hatte. Jetzt musste er trauern und den Schmerz besiegen. Aber nicht so. Er kämpfte sich hoch. Es war ein Armutszeugnis, hier tatenlos und zerschlagen auf einer fremden Couch zu liegen und sich selbst zu bemitleiden. Er würde jetzt eine Dusche nehmen – hoffentlich war das Wasser warm –, sich etwas Sauberes anziehen, und dann würde er hinausgehen. Auch wenn es dort nichts zu sehen geben würde. Er musste irgendetwas tun. 08.14 Uhr Im kleinen weißgefliesten Badezimmer schien die Heizung nicht angesprungen zu sein, doch immerhin war das Wasser warm gewesen. Alea fühlte sich besser in einem frischen T-Shirt und seinem schwarzen Kapuzen-Sweater darüber, als er es erstmals wagte, die Haustür zu öffnen. Es war erstaunlich, wie viel freundlicher der Ort bei Tageslicht aussah. Fast schon niedlich. Reizend. In den Vorgärten blühten noch vereinzelt Rosen nebst Astern und Dhalien, leuchtende Tupfer hinter den gelbgrünen Gräsern, die die Straße säumten. Als Alea über die Schwelle trat, wäre er fast über eine Papiertüte gestolpert, die er auf dem ebenfalls hellen Stein übersehen hatte. Ein Blick hinein offenbarte drei Brötchen: ein helles, ein dunkles und eins mit Sonnenblumenkernen. Unsicher, wem er die Gabe zu verdanken hatte, schaute Alea sich um, und eine Bewegung hinter der Scheibe des Nachbarhauses entpuppte sich als die schon bekannte alte Dame, die ihm freundlich zuwinkte. Mit einem zaghaften Lächeln erwiderte er den Gruß und zog sich mit den Brötchen wieder in sein Refugium zurück. Lasterbalk hatte gesagt, er bliebe in der Nähe. Wahrscheinlich bedeutete das, dass er bei Bodenski in Potsdam war; jedenfalls war er nicht zurück nach Karlsruhe gefahren. Nicht einmal Lasterbalk war es zuzutrauen, zweimal hintereinander siebenhundert Kilometer zu fahren, schon gar nicht nachts. Alea hatte nach seinem Brötchenfund den Eindruck gewonnen, dass die Hauseignerin angewiesen worden war, ihn in gewissem Rahmen zu betreuen, und so öffnete er den Kühlschrank mit der Erwartung, dort eine Grundausstattung vorzufinden, und wurde hierin nicht enttäuscht. Was das für ein merkwürdiges Kurprogramm war, in dem er sich hier befand, würde er nicht hinterfragen; noch nicht. Noch reichte das allmählich zurückkehrende Interesse an seiner Umwelt nicht aus. Noch hatte er mit sich selbst genug zu tun. Also stellte er sich der nächsten Herausforderung des Tages: Frühstück. Sich dem Essen zu widmen bedeutete, sich für das Leben zu entscheiden, es wieder anzunehmen. Was er gestern mit der Suppe gemacht hatte, war nicht Essen gewesen, sondern stumpfe Pflichterfüllung ohne echte Wahrnehmung; er hatte nur sein Versprechen gegenüber Lasterbalk eingelöst, mehr nicht. Er hatte es nicht für sich getan. Jetzt aber schob er die Gardinen beiseite, öffnete das Küchenfenster, sodass die Sonne hereinscheinen konnte, setzte sich mit dem Brötchengeschenk an den Tisch, verteilte sorgsam und ordentlich alles auf selbigem, was dazugehörte, und – – aß. Er tat es ganz bewusst, kaute aufmerksam jeden Bissen und ließ sich sehr viel Zeit bei der Mahlzeit, und dies führte tatsächlich dazu, dass sich das Loch in ihm nicht mehr ganz so hohl und schwarz anfühlte wie am Abend zuvor. 09.24 Uhr Fast hätte er die Tablette vergessen. Er dachte gerade noch rechtzeitig daran, dass er sie auch morgens nehmen sollte, und tat es gewissenhaft. Dabei fragte er sich, ob diejenige vom Vorabend vielleicht schon wirkte, oder ob es doch nur das gute Wetter war, das ihn animierte, wieder mehr am Leben teilzunehmen. Später ging er durch die hintere Tür in den Garten hinaus und fand dort einen Apfelbaum, der nicht mehr trug, sowie zwei Beete mit Küchenkräutern. Ein kleiner Schuppen stand dicht beim Jägerzaun, der das Grundstück einfriedete, und als Alea ihn neugierig öffnete, schlug ihm der würzige Geruch lagernder Äpfel entgegen. Dicht an dicht lagen die Früchte auf Zeitungspapier ausgebreitet, beschienen von der goldenen Herbstsonne, die durch das Fenster hereinfiel. Diese ländliche Idylle tat im ersten Moment etwas sehr Angenehmes mit ihm. Im zweiten jedoch gab sie ihm einen Stich ins Herz. Ohne einen Blick zurück ließ er die Holztür hinter sich zufallen. 09.38 Uhr Als Alea sich gerade wieder trübsinnig auf das Sofa hatte sinken lassen, gab sein Handy Alarm. Damit hatte er am allerwenigstens gerechnet. Zuerst reagierte er gar nicht, weil er nicht wusste, was zu tun war; dann erst stellte sein Hirn die Verknüpfung zu diesem Teil des Alltags wieder her. »Ja?« »Ich bin’s. Alles klar bei dir?« Lasterbalk. »Ich lebe noch.« »Hast du was gegessen? Und an die Pille gedacht?« »Mann, was bitte soll das?« »Sorry. Ich mach mir Sorgen.« Eine Pause. »Warst du draußen?« Bei dieser unbedarften Frage spürte Alea wieder das Kitzeln von Zorn im Magen. »Ja, war ich. Ein Apfelbaum. Eric hat auch einen.« Er wählte absichtlich das Präsens. »Ich weiß. Er hat die Dinger nie geerntet.« »Ich hab da mal geerntet.« »Nee. Du bist im Baum rumgeturnt wie ein Schimpanse, bis die Äpfel von alleine runtergefallen sind und alle Stellen hatten.« Alea erinnerte sich mit Bitterkeit daran. Es war falsch gewesen, das Thema darauf zu lenken. »Ich darf wahrscheinlich nicht fragen, ob’s bei der Suche nach dem Mörder was Neues gibt.« »Es gibt nichts Neues. Und nein, mehr sag ich dazu nicht.« »Das ist Scheiße. Ehrlich.« »Setz dich lieber hin und mach einfach gar nichts. Wir reden später wieder, ja?« »Ja«, zwang Alea sich zu antworten, aber dachte: Lass mich doch einfach in Ruhe. Elender Besserwisser. Einen Tastendruck später war er wieder mit sich allein. 13.03 Uhr Brüten. Stumpfes Nichtsdenken, Nichtreden, Nichtrausgehen. Irgendwie bewirkte die Tablette, dass Alea sich leicht im Kopf fühlte. Er hatte es geschafft, viele Stunden des sonnigen Herbsttages mit Nichtstun zuzubringen, einfach, indem er lang auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und zur Decke starrte. Es war gar nicht so schlimm gewesen. Tatsächlich hatte es ihn nicht nur körperlich, sondern auch geistig irgendwie entspannt. Eine wunderbare Erfindung, diese Psychopharmaka. Obwohl er immer noch nicht begriff, warum er sie nehmen musste. Als Einziger. Gut, vielleicht auch nicht – darüber, was mit dem Rest von Subway oder mit Erics Familie unternommen wurde, hatte man ihn schließlich im Unklaren gelassen. Was ebenfalls seltsam war. Alles war seltsam. Vor allem Lasterbalk, aber auch Bodenski, deren Betroffenheit Alea nicht voll überzeugte; entweder waren sie innerlich genauso gelähmt wie er und fingen auch jetzt erst an, sich mit der neuen Situation wirklich zu arrangieren, oder … Nein. Sie hätten anders reagiert. Es war nicht nur seine eigene verzerrte Wahrnehmung, die das Verhalten der beiden Männer bedenklich fand. Es war eine Feier gewesen. Beide Herbsttourneen waren beendet, man hatte sich in Karlsruhe getroffen, Lasterbalk hatte gesagt: »Wie wär’s, wenn wir zum Abschluss mal wieder in richtigen Betten pennen? Ich kenn da jemanden mit ’nem Hostel, deren Saison ist auch vorbei, keine Sau da, wir könnten da so richtig ordentlich …« Ich hab erst viel später als alle anderen erfahren, dass Eric den Morgen nicht mehr gesehen hat. Noch zweimal weinte er. Aber nur kurz. Oberflächlich. Es war plötzlich nicht mehr so schwer, den Gedanken zu ertragen. 14.06 Uhr Erschossen, hatte man ihm gesagt. Präzise ins Herz. Eigentlich waren die wilden Schreckensvorstellungen, die Alea sich zu Erics Todeskampf ausgemalt hatte, völlig ohne Bestand, wie ihm nun klar wurde. Wenn der Schuss sein Herz perforiert hatte, dann war es mit Sicherheit in Sekunden vorbei gewesen. Die Frage war nun: erschossen von vorn oder von hinten? Wo hatte der Mörder gestanden? Lasterbalk hatte angedeutet, dass die KriPo um Olaf Knussen das alles längst rekonstruiert hatte. Wie konstruierte man so was eigentlich? Wahrscheinlich, indem man in der Wunde der Leiche herumstocherte und den Einschusskanal untersuchte. War das größere Loch vorne oder hinten, gab es überhaupt zwei davon, also war die Kugel wieder ausgetreten oder stecken geblieben? Alea war selbst erstaunt, wie nüchtern er darüber nachdenken konnte. Wie wenig es ihm ausmachte, vor seinem geistigen Auge Eric Fish auf einem Obduktionstisch zu sehen. Ich HABE ihn tot gesehen, oder? Hab ich das vielleicht? Abwesend rieb er sich die Stirn. Nein, unmöglich, ich war nicht dabei … Wie könnte ich …? Und doch war da ein klares Bild, wie er Eric auf dem Boden liegen sah. Halb auf dem Bauch, halb auf der Seite. Und dieser Boden war der in der Jugendherberge. Aber … wie? Gott, das waren mit Sicherheit diese Tabletten. Sie legten nicht nur Aleas Zeitgefühl lahm, sie setzten ihm auch Dinge in den Kopf, die es nie gegeben hatte. Halluzinationen waren eine Nebenwirkung starker Psychopharmaka, das wusste er, und hinzu kam, dass er sich in den letzten Tagen intensiv mit Erics Tod beschäftigt hatte. Wenn er weiter über dieses Bild nachdachte, das kurz vor ihm aufgeflackert war, dann gab es da nichts drumherum: kein Davor, kein Danach. Keine zeitliche Abfolge, keine zusammenhängende Szene. Nein, er hatte Erics Leiche nicht gesehen, nicht mal im Suff, sonst wäre mehr davon in seinem Gedächtnis erhalten geblieben. Nein, sein Gehirn setzte einfach nur die Informationen, die es gehört hatte, zu visuellen Eindrücken zusammen, um sie besser speichern zu können. Auch das war ein normaler Vorgang. Es kam ihm nur so besonders vor, weil er dröge durch die Medikamente war. Vielleicht sollte er einfach aufhören, sie zu nehmen. Nur für einen Tag … Aber nein. Er brauchte sie. Sie hatten dafür gesorgt, dass er den Schmerz, der in ihm tobte, aushalten konnte, sogar deutlich weniger spürte. Wenn er an den Abend dachte, der ihm in wenigen Stunden bevorstand – allein im dunklen, einsamen Köthen –, dann wollte er doch lieber gleichgültig und ein bisschen benebelt sein statt klar und elend. 17.30 Uhr Alea döste vor sich hin, während die Stunden wie Sand zerrannen, und vergaß, dass er einen Rundgang durch das Dorf hatte machen wollen. Seine bleischweren Gedanken kreisten um die eine zentrale Frage, wieso jemand Eric Fish umbringen sollte, wieso bei einer privaten Feier in Karlsruhe, wieso nicht irgendwo, wo es mehr Wellen schlug, wieso einen harmlosen Menschen wie Eric überhaupt umbringen? Wieso? Irgendwann machte er sich ein Abendbrot, das aus dem Rest der Gemüsesuppe und dem einen verbliebenen Brötchen vom Frühstück bestand; danach nahm er die nächste Tablette ein. Diesmal betrachtete er sie lange in seiner Handfläche, wo das Sonnenblumengelb mit seiner Haut zu verschmelzen schien, ehe er sie sich in den Mund steckte und ein Glas Wasser hintererkippte. Einnahme wie verordnet. Gehorsam und brav. Warum rief eigentlich Lasterbalk nicht an und bevormundete ihn ausführlich? Alea hätte ihn auch selbst anrufen können, doch er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Lasterbalk würde mit ihm nicht über Eric reden. Nun, nein, Lasterbalk nicht. Aber vielleicht jemand anders. Alea reckte sich auf dem Sofa nach seinem Handy, das auf dem Tisch lag. Er packte es – und griff in leere Luft. Fuck. Beim zweiten Mal konzentrierte er sich besser und fasste nicht daneben. Warum fühlte er sich bloß so schlaff? Das musste auch das Medikament sein. Aber besser das als endloses Flennen. Gut, wen also anrufen? Er staunte, dass ihm die Idee an sich noch nicht früher gekommen war. Er scrollte durch die Kontaktliste und blieb unversehens an Erics Eintrag hängen. Unsicher starrte er auf das Display. Würde irgendjemand den Anruf annehmen, wenn er die Nummer wählte? Seine Frau, sein Sohn, ein Freund? Nicht. Mach es nicht. Er machte es. Öffnete den Eintrag – – und er war leer. Es war keine Nummer verzeichnet, die er hätte wählen können. 18.11 Uhr Alea begriff nicht, wie er Erics Nummer hatte verlieren können. Seit fast fünf Minuten stierte er auf das Handy, grübelnd, wann er sie versehentlich gelöscht haben könnte. Alle anderen waren doch da – oder? Er öffnete Lasterbalks Eintrag, dann auch noch Bodenskis, weil es die ersten waren, die ihm einfielen. Alles da. Er fühlte sich seltsam. Allein und verwirrt. Wie ein siecher Demenz-Patient, der nicht begreifen kann, wo er ist und wozu. Im Moment war er einfach nur. Erneut von tiefer, unbegreiflicher Trauer ergriffen, legte er das Handy wieder auf den Tisch und ließ sich lang auf das Sofa sinken. Er wusste bereits, dass er wieder hier schlafen würde statt in dem blauen Bett, das für ihn vorbereitet worden war. Es tat ihm Leid, dass er die Mühe nicht wertschätzen konnte. Jetzt gerade tat ihm alles Leid. So lag er wieder da, blickte geradeaus auf die Jagdszenen an der Wand und wusste nicht, wohin mit all den zerrüttenden Empfindungen. 23.03 Uhr Alea fragte sich, wann er sich zum letzten Mal so einsam gefühlt hatte. Das Gefühl der Verlassenheit folgte ihm hinein in den Dämmerschlaf und schließlich auch in den Traum, der sich daraus erhob. Nicht schon wieder, dachte er, als er die Bäche aus Tränen sah, die er nicht zurückhalten konnte und die kein Ende zu nehmen schienen. Was soll das? Lasterbalk saß neben ihm und streichelte seine Schulter. Er rieb sie ihm so mitfühlend und zärtlich wie ein Vater seinem Kind und sagte in einer ungewohnt sanften, tröstenden Stimme: »Bitte nicht mehr weinen. Hörst du? Bitte. Wein doch nicht mehr.« Streicheln, Tätscheln, Streicheln. »Ich kann nicht aufhören … Es tut mir Leid …« »Ich wusste nicht, dass es so weh tut. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.« Alea schwieg. Er fürchtete, wenn er sich zu sehr bewegte, würde er aufwachen und wieder allein sein. »Geh nicht weg, okay? Bitte.« »Ich gehe nicht, wenn du weinst. Aber du musst aufhören.« »Wie?« Er sah zu, wie das Wasser von seiner Nasenspitze tropfte. »Ich hab alles falsch gemacht. Ich bin ein mieser Freund.« »Hör auf zu weinen.« Das Streicheln fühlte sich so verdammt realistisch an. Alea schniefte. Der Bach hörte langsam auf zu fließen. »Ich wünschte, ich könnte …« Aber er wusste nicht, was er sagen wollte. Langsam löste sich der Traum auf; alle Farben tauchten in dämmriges Grau ab. Sehnsüchtig spürte Alea dem Gefühl nach, jemanden bei sich zu haben. Lasterbalk sprach nicht mehr, doch seine Hand streichelte ihn bis zuletzt. 23.14 Uhr Während er erwachte, nahm er Abschied von der Nähe seines Freundes. Ein Teil von ihm hatte gehofft, Lasterbalk wäre wirklich da, aber natürlich war er es nicht. Er war nicht nachts einfach ins Haus gekommen, um nach ihm zu sehen. So was machte er nicht. Es war auch albern, sich das zu wünschen, eigentlich, das war Alea vollkommen klar, aber im Traum hatte er sich so allein gefühlt, wirklich wie ein Kind, und es war schwer, dieses Gefühl wieder abzustreifen. Besonders, da er in ein dunkles, fremdes Zimmer blickte, an einem Ort, den er kaum kannte. Er atmete tief durch und setzte sich auf. Langsam wurde es besser. Keine Spur mehr von Lasterbalk, nur die verblassende Erinnerung an sein Zureden und Streicheln, das in Wirklichkeit nicht gerade typisch für ihn war. Lasterbalk war kein väterlicher Typ; weder streichelte er andere Leute noch sprach er jemals in einem solch liebevollen Ton. Alea begriff, dass sein Unterbewusstsein sich mit diesem Traum selbst Trost gespendet hatte. Er hatte diese Zuwendung benötigt, also hatte er sie geträumt. Und es hatte funktioniert. Er fühlte sich besser, stärker, auch wenn er wusste, dass er allein war. Diesem Alleinsein konnte er sich jetzt stellen. Er würde das schaffen. Ich bin keine verdammte Heulsuse. Er stand auf, wanderte durch den dunklen Raum und betätigte den Lichtschalter an der Wand. Sofort ging die gelbe Lampe an der Decke an und blendete ihn für einen Augenblick. Sobald er alles sehen konnte, fühlte er sich klar. Seine Sinne waren nicht mehr getrübt wie vorhin, sie waren scharf und aktiv. Und er sah etwas, das er vorher nicht gesehen hatte. Unter dem Rand des dicken graublauen Plüschteppichs, der großflächig den Fußboden bedeckte, ragte eine Spalte in den Dielen hervor. Eine rechtwinklige Scharte, vielleicht die Ecke einer Bodenklappe. Alea ging auf die Knie. Den schweren Teppich umzuschlagen war nicht gleich einfach, dann aber machbar, und tatsächlich gingen die schwarzen Linien weiter, verliefen dorthin, wo der Tisch auf dem Teppich stand. Aleas Neugier war geweckt, und er machte sich daran, den Tisch zu verschieben, um den Teppich weiter umklappen zu können. Was er auf diese Weise mit einiger Mühe zum Vorschein brachte, war in der Tat das Erwartete: Eine Bodenklappe. Eine Falltür. Und sie ließ sich öffnen. 23.39 Uhr Alea hatte keine Taschenlampe, also streckte er den Arm in das quadratische Loch, um das Leuchtdisplay des Handys sein mattes Licht auf die Wände werfen zu lassen. Er konnte eine stabile Stiege sehen und einen Raum, in den sie hinabführte. Gut. Das sah in Ordnung aus. Er folgte der massiven Holzleiter, die in der Tat nicht wackelte und sichere Schritte zuließ, hinunter ins Dunkel. Dort entdeckte er mithilfe des Handys schnell einen eigenen Lichtschalter, und als er ihn drückte, sprang das helle Licht mehrerer wattstarker Leuchtstoffröhren an. Alea stand wie erstarrt. Er befand sich in einem geräumigen Keller, der weder eng noch niedrig war. Gegenüber zweigte eine geschlossene Tür ab. Der Raum war hell und sauber, dabei größer als erwartet, und noch faszinierender war seine Einrichtung: In der Ecke links gegenüber stand eine Ledercouch, davor ein niedriger Glastisch, beides etwas staubig; an der rechten Seite stand ein großer Schreibtisch, wie er in ein Büro gehörte. Er war leer, doch Staubränder zeigten, wo eine Art Kasten gestanden hatte, sicher der Fuß eines Monitors. Auch der zugehörige Drehstuhl sah modern und gepflegt aus. An der linken Wand, gegenüber dem Schreibtisch, prangte ein Regal – doch vollgestopft war es nicht mit Büchern. Sondern mit CDs. Und viele davon erkannte Alea schon aus der Distanz. Unmittelbar vor ihm, die Mitte des Raumes einnehmend, stand ein leeres Notenpult. Darübergestülpt hing ein Paar Muschelkopfhörer von Sennheiser, deren Anschlusskabel zum Schreibtisch führten und dort ins Leere liefen, da kein Computer da war. »Was zum Teufel«, hörte Alea sich selbst murmeln, indes er immer noch keinen Muskel rührte. Er stand in einem einfachen, aber brauchbaren Tonstudio. Kapitel 3: Verirrt ------------------ 16. Oktober, 00.01 Uhr Ehrfürchtig hatte Alea die Kopfhörer und das Notenpult berührt, wie etwas, das er zum ersten Mal in seinem Leben sah. Diese Dinge gehörten nicht hierhin. Es war, als hätte er mit der Falltür ein Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen. Zu jener Welt, in die er einst gehört hatte. Zu seinem Alltag. Er verstand nicht. Warum war er hier? All das hatte einen Grund. Es war kein Zufall, dass man ihn hierhergeschickt hatte. Sein Blick fiel auf das CD-Regal, und er zwang sich, tief durchzuatmen, ehe er langsam darauf zuging. Die allermeisten der Tonträger sagten ihm nichts, doch die oberste Reihe – genau auf seiner Augenhöhe – kannte er umso besser. Album 1994. MCMXCV. Foppt den Dämon. Bannkreis. Hochzeit. Herzblut. Engelskrieger. Nord Nord Ost. Bastard. Kreuzfeuer. Schwarz in Schwarz. Mitgift. Es fehlte kein einziges Studioalbum von Subway To Sally. Wie ergeben glitt Aleas Blick zur weißen Zimmerdecke. Was wollt ihr von mir? Er konnte kaum denken in diesem Moment. Nichts schien plötzlich mehr einen Sinn zu ergeben. Wie in Trance nahm er das Handy zur Hand und bediente es, fast ohne hinzusehen. Geh ran, bat er inständig, nachdem er Lasterbalk angewählt hatte. Das Freizeichen erklang viele Male. Alea wartete. Er wusste, dass Lasterbalk sein Handy nachts nicht ausmachte, wie es die meisten Leute tun würden. Nein, er wollte immer und überall erreichbar sein. Geh schon ran. Endlich wurde abgenommen. »Ja?«, meldete sich Lasterbalk nicht gerade überfreundlich. »Sorry, war grad im Bad, wollte jetzt ins Bett gehen. Was ist denn los?« »Was zur Hölle ist das hier für ein Haus, in dem ich bin?« Alea verlor keine Zeit mit Beschwichtigungsversuchen. Lasterbalk sagte nichts, und Alea fragte sich, ob sein Schweigen ertappt klang. »Ich hab unter dem Teppich einen Keller gefunden – mit einem Tonstudio!«, fuhr er fort. »Und es sind alle Alben von Subway da! Kann sein, dass ich gerade durcheinander bin, aber … Damit stimmt doch irgendwas nicht!« Lasterbalk stritt das nicht ab. Nüchtern erwiderte er: »Du hast Recht. Damit stimmt was nicht.« »Kannst du mir erklären, was ich hier soll? Was ich hier wirklich soll?« »Nicht richtig.« Lasterbalk wand sich. »Es ist schwierig. Ich kann dir nur wieder raten –« »Oh, ich weiß schon: Ich soll dir vertrauen.« »Genau.« Er seufzte. »Ich weiß, das ist unbefriedigend, aber …« »Sag mir wenigstens etwas! Irgendwas, damit ich weiß, was ich zu tun habe!« »Na schön. Ich komm dich besuchen. Morgen Vormittag. Wollen wir zusammen kochen? Haben wir lange nicht mehr gemacht.« Das Unterhaltungsprogramm war Alea herzlich egal. »Von mir aus. Ich hab ein paar Sachen hier, aber nichts Ausgefallenes.« »Ich weiß, was du da hast.« Das hatte Alea sich schon gedacht. »Also gedulde dich bis morgen. Mach keinen Quatsch, okay?« »Nein.« Was auch immer mit ›Quatsch‹ gemeint war. »Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht.« Alea murmelte seinerseits einen letzten Gruß und beendete das Gespräch. Erstaunlich, dass er hier unten überhaupt Empfang gehabt hatte. 00.22 Uhr Alea nahm die CDs von Subway To Sally alle mit nach oben ins Wohnzimmer und breitete sie auf dem Tisch aus. Die älteren wiesen Kratzspuren auf, sowohl die Plastikhüllen als auch die Tonträger selbst, aber keine schien ernstlich beschädigt zu sein. Nach einer Weile hatte er sich endlich zu dem Entschluss durchgerungen, sich eine anzuhören. Egal welche, es ging nur darum, Erics Stimme zu hören und sich damit auseinander zu setzen, dass es sie nicht mehr gab, genau wie es die Band schon bald nicht mehr geben würde. Alea spürte das Bedürfnis, sich diese Tatsache, den Verlust, zu vergegenwärtigen – und sich gleichzeitig der schönen Zeiten zu entsinnen, die Saltatio Mortis und Subway To Sally wie eine große Familie zusammen verbracht hatten. Er wollte diese Vergangenheit noch einmal aufleben lassen und sich danach zurücksehnen. Es würde heilsam sein. Ganz bestimmt. Doch schon das erste Omen traf ihn. Die CD, die er zufällig aus dem Stapel zog, war Mitgift. Ein Album, das nur von Morden und Grausamkeiten handelte. Sofort, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte, spielte sich ein Kehrreim in seinem Kopf ab, deformiert und widerwärtig: Armer, armer Eric Fish, Ein Schuss ins Herz, und du warst tot. Armer, armer Eric Fish, Sie fanden dich im Morgenrot … Aleas Hand wurde zur Faust und ließ die Plastikhülle des Tonträgers scharf knacken. Nein. Fuck. Lass das, du Arsch! Er stopfte sie grob wieder in den schiefen Turm aus CDs, der dabei bedrohlich schwankte, und war froh, das Cover nicht mehr sehen zu müssen. Nein, er würde nicht diese CD hören. Jede andere, aber nicht diese. Also griff er einfach nach der obersten. Jede außer Mitgift war in Ordnung. Diese andere würde er jetzt hören. Als er endlich drauf und dran war, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, musste er enttäuscht feststellen, dass es keine Stereo-Anlage gab. Nichts, kein Gerät, mit dem man eine CD oder auch nur eine Kassette hätte abspielen können. Fuck, dachte er bitter, ich hab mich mal wieder nur selbst verarscht. Hätte es mir irgendwas gebracht, ihn singen zu hören? Ich hätte nur wieder geflennt. Das ist doch alles Scheiße! Der ganze Mist wird NIE wieder gut werden! Er ließ die CD – es war Herzblut – ziemlich unsanft zurück zu den anderen auf den Tisch fallen. Dann saß er wieder auf seinem Sofa und starrte dumpf vor sich hin. Irgendwann, eine gefühlte Ewigkeit später, zog er sich geistesabwesend um und rollte sich mit der blaubezogenen Bettdecke aus der Schlafkammer, die er sich zu nutzen weigerte, auf der Couch zusammen. 07.16 Uhr Der Morgen war grau und trüb. Wieder fühlte Alea sich seltsam losgelöst von seinem Körper, als er sich von der unbequemen Unterlage aufrappelte. Vielleicht sollte er sich doch auf das Bett einlassen. Er wusste selbst nicht, warum er sich ausschließlich im Wohnzimmer aufhielt. Ruhe fand er jetzt nicht mehr, es gab zu viel, das ihn verwirrte. Lasterbalk musste Antworten liefern, er musste. Sonst werde ich noch verrückt. Warum hab ich nicht darauf bestanden, dass er schon zum Frühstück kommt? Falls sein Freund weiterhin so vornehm die Klappe hielt, würde er zum Nachbarhaus gehen. Das hatte er bereits beschlossen. Er würde die Anweisung missachten, keinen Kontakt zu anderen zu suchen, und würde die alte Dame – sie war ja die Besitzerin des Hauses, in dem er wohnte – fragen, was es mit dem Tonstudio auf sich hatte. Wem auch immer es gehörte, war offenbar ein Fan von Subway To Sally, und sicher nicht nur, weil sie aus Brandenburg kamen. Nach dem üblichen morgendlichen Ritual, das ihm heute schon bedeutend leichter fiel als am Tag zuvor und zu dem diesmal auch notwendigerweise das Rasieren gehörte, trat Alea nach draußen in den sehr kalten und nebligen Vorgarten, um die Brötchen von der Türschwelle zu holen. Wieder waren es drei, die gleichen wie gestern. Er dachte daran, die Tablette zu nehmen, und fragte sich, ob sie ihn heute wieder so benebeln würde. Vielleicht war es ganz gut so, wenn er wieder lahm und grüblerisch wurde. Nach dem Frühstück jedoch wurde er zunächst noch unruhiger. Es gab praktisch nichts, das er hier tun konnte, um sich die Zeit zu vertreiben – dafür war gründlich gesorgt worden. Keine Bücher, kein Fernseher, so gut wie keine anderen technischen Geräte. Er sollte hier wirklich ganz und gar auf sich selbst zurückfallen und in seinem eigenen Saft köcheln, bis … … Ja, bis was eigentlich? Bis Lasterbalk ihn für geheilt befand? Hör doch bitte auf zu weinen. Ja, natürlich. Wie musste Alea sich wohl verhalten, damit die anderen sagten: ›Okay, du hast lange genug in diesem Loch gehockt, du darfst wieder unter Menschen‹? Fröhlich lachend herumspringen? Sich beklagen, dass es langweilig war? Er hätte versuchen können, zu so etwas wie Alltag zurückzukehren. Da wären etwa seine Übungen, für die er keine Hilfsmittel brauchte. Doch er hatte nicht einmal daran gedacht. Dafür, das wurde ihm jetzt bewusst, stand er noch immer zu sehr neben sich. Er war im Moment nicht dieser Mensch. Here I am, on the road again Here I am, up on stage There I go, playing star again There I go to turn the page – Eric Fish – Turn the Page (Bob Seger Cover) 10.17 Uhr Bleiche Sonnenstrahlen fielen durch das Wolkennetz, doch sie waren nicht stark genug, die Erde zu wärmen. Alea spürte den feuchten und kühlen Wind auf seinen nackten Armen, als er zum zweiten Mal seit seiner Ankunft die Hintertür zum Garten öffnete. Der Apfelbaum grüßte ihn mit sachtem Rauschen seiner Blätter, als die Finger einer zarten Bö hineingriffen und damit spielten. Alea schaute den Baum hinauf. Er war demjenigen in Erics Garten nicht unähnlich, mit knorrigen und krummen Ästen, die man gut erklettern konnte. Wehmütig erinnerte Alea sich an den goldenen Herbsttag, an dem er das Gehölz erklommen hatte, um die Äpfel zu ernten, weil Eric keine Lust dazu hatte. Es war ein ziemlicher Balanceakt gewesen, sich auch nach den dünneren Ästen zu recken, um alle Früchte irgendwie zu erreichen, doch Körperbeherrschung war kein Problem für ihn; er war darin geschult, sich im Gleichgewicht zu bewegen, und nur kleineren Ungeschicklichkeiten und seinem eigenen Gewicht war es zuzuschreiben, dass recht viele Äpfel ihren Weg zur Erde fanden, ohne dass er sie erhascht hätte. Aber der Lohn war die Mühe wert gewesen. Frische, ungespritzte Äpfel, die man sich selbst erarbeitet hatte und in die man einfach so hineinbeißen konnte. Sie waren herrlich würzig und säuerlich, ganz anders als die fad schmeckenden, hochglänzenden Exemplare aus dem Supermarkt. Er könnte herausfinden, ob diese Äpfel hier auch so schmeckten. Sie lagerten im Schuppen, nur wenige Schritte weiter. Dicht an dicht. Vermutlich hatte niemand etwas dagegen, wenn er sich einen nahm. Was wollte die alte Dame schon mit so vielen Äpfeln anfangen? Backen? Einkochen? Als Futter zu einem Bauernhof bringen? Letzteres hatte Eric mit den heruntergefallenen meistens gemacht. Alea wollte gerade losgehen, als ihm wieder ein Bild in den Kopf schoss, das ihn zum Innehalten zwang. Jenes Bild. Eric auf dem Boden. Er lag halb auf dem Bauch, und plötzlich streckte er eine Hand aus – sie schoss vor wie eine Speikobra, knapp über dem Boden, um verzweifelt irgendetwas zu packen. Etwa Aleas Knöchel. Rasch machte er einen taumelnden Schritt zurück. »Nein!«, sagte er laut. »Das – ist – nicht – passiert!« Verdammt noch mal, was sollte denn das? Diese Nebenwirkung wurde langsam wirklich gruselig. Wenn das so weiterging, würde er die Pillen absetzen, scheißegal, was Lasterbalk darüber dachte. Alea hatte nicht vor, sich wegen solcher medikamenteninduzierter Verarbeitungsfehler seines Gehirns verrückt zu machen. Das brauchte er jetzt wirklich nicht! Unwillig machte er kehrt und ging zurück zum Haus, ohne nach den Äpfeln zu sehen. Keine Lust mehr. Heute sollte aber auch gar nichts gutgehen: keine Musik, keine Äpfel. Fehlte nur noch, dass Lasterbalk auch nicht kam. 11.02 Uhr Lasterbalk kam. Alea hörte sein Auto heranfahren und auch, wie es vor dem Haus abgestellt wurde. Daraufhin öffnete er die Haustür und blieb ungeduldig auf der Türschwelle stehen. Lasterbalk kam herauf, packte ihn an der Schulter und zog ihn in eine knappe, beinahe linkische Umarmung, ehe er ihn wieder von sich wegschob. »Und?«, fragte er. »Wie geht’s dir heute?« »Läuft«, antwortete Alea spröde. Er hatte sein Kapuzen-Sweatshirt wieder angezogen, weil er nicht unnötig heizen wollte, und stellte fest, dass sein Freund das offenbar geahnt hatte, denn auch er trug eine langärmlige Strickjacke. »Komm rein.« »Hast dich ja richtig breitgemacht«, kommentierte Lasterbalk ironisch den Umstand, dass Alea rein gar nichts ausgepackt hatte. »Gefällt dir hier wohl nicht.« Alea setzte sich auf das Sofa, wofür er zunächst die zurückgeschlagene Bettdecke beiseite schob, die er aus dem Schlafzimmer angeschleppt hatte, und kreuzte die Arme vor der Brust. »Wir sind nicht zum Labern hier.« »Stimmt«, stellte Lasterbalk fest und ging dann geschickt darüber hinweg, dass er genau wusste, was Alea wirklich von ihm wollte: »Wir sind zum Kochen hier. Ich hab gedacht, wir machen uns Zanderfilet auf Gemüsebett. Dazu kann man prima diese kleinen Kartoffelbällchen, die man mit einem Löffel aus der fast garen –« »Hey!« Alea war lauter geworden als beabsichtigt. Tatsächlich hatte er fast geschrien. Lasterbalk war verstummt, sah aber nur einen kurzen Augenblick verblüfft aus; dann bedachte er seinen Freund mit einem forschenden Blick. »Du wirkst ganz schön instabil.« »Hör auf mit dem Scheiß. Ich will nichts davon hören, nichts, okay? Du wolltest mit mir über Eric reden.« Lasterbalk ließ die Schultern fallen. »Herrgott, wie oft denn noch? Wir können nicht über –« »Warum denn bitte nicht? Ist es dir lästig? Ich hab nicht das Gefühl, dass du trauerst. Du siehst nicht so aus, als wärst du so im Arsch wie ich. Zumindest bist du nicht auf Drogen.« Lasterbalk machte noch immer keine Anstalten, sich neben ihn zu setzen, sondern nahm nun eine noch abweisendere Haltung ein. »Jetzt wirst du aber wirklich unfair. Das alles hier passiert, um dir zu helfen.« »Es würde mir helfen, wenn mir jemand sagen würde, was Sache ist. Muss ich dir das Tonstudio erst zeigen? Du wusstest doch, dass es hier ist, oder nicht?« Lasterbalk zögerte, und Alea deutete dieses Zögern richtig. »Ja, natürlich wusstest du es. Und dass die Besitzer offenbar Fans von Subway sind –« »Ja«, fiel der große Mann ihm endlich ungehalten ins Wort, »ja, du hast Recht. Glückwunsch. Es ist Absicht, dass du hier bist. Könnten wir es dabei belassen? Der Fisch ist auf der Fahrt schon halb aufgetaut –« Alea packte die CD, die auf dem Tisch ganz oben lag, und schleuderte sie aufgebracht gegen die Wand. Lasterbalk zuckte zusammen. Die Hülle blieb aufgeschlagen liegen, die CD ein Stück daneben, ihre bunt glänzende Unterseite zeigte nach oben. »Es gibt gerade nur einen verfickten Fisch, der mich interessiert«, zischte Alea, »und du weißt es! Warum haltet ihr irgendwas vor mir geheim? Eric ist tot, verdammt noch mal, wieso ist das allen egal, wieso starrt ihr mich an, bringt mich in diese Einöde, versucht krampfhaft, nicht drüber zu reden, während ich mich hier offenbar in meinem Kummer wälzen soll, bis ich bekloppt werde?!« Er sprang auf die Füße, stand nun genau vor Lasterbalk und machte sich groß, um ihm fest in die Augen sehen zu können. »Du kannst dir dein ganzes Psychogequatsche sparen! Ich steige aus, sofort, wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, wozu ich hier bin! Sag es, oder ich –!« Und jetzt reagierte Lasterbalk. Er packte Alea hart am Kragen und zog ihn zu sich. »Begreifst du es denn nicht?«, knurrte er. »Immer noch nicht? Niemand kann hier irgendwas für dich tun, niemand außer dir selbst!« Dann ließ er ihn los, wandte sich mit einem gequälten Seufzen ab und begann sich die Schläfen zu massieren. »Oh Mann. Tut mir Leid.« Alea war völlig perplex. Sein Halsansatz schmerzte, wo der Stoff hineingedrückt hatte, aber er nahm es kaum wahr. »Was soll das heißen?« »Ach, nichts. Vergiss es einfach. Bitte.« Als Lasterbalk ihn wieder ansah, glitzerten Tränen in seinen Augen. »Du bist eben doch nicht der Einzige, den das hier mitnimmt.« Schuldbewusst wich Alea vor ihm zurück. »Das wollte ich nicht.« »Ich doch auch nicht. Passiert. Wir sind alle in einer Krise, im Moment. Aber du besonders. Und du musst mir einfach glauben, dass nur du dir da raushelfen kannst. Wir haben dir die idealen Umstände geschaffen … den Rest musst du selber hinkriegen.« Alea sah zu, wie Lasterbalk sich energisch die Nässe aus den Augen wischte. Dann sagte er leise: »Ich seh immer wieder Bilder.« »Von Eric?« Alea nickte. »Das wird noch eine Weile so bleiben.« Es klang unsicher, als wüsste Lasterbalk nicht, was er dazu sagen sollte. »Aber es ist … auf jeden Fall kein schlechtes Zeichen.« Er blinzelte, um sich zu vergewissern, dass seine Augen wieder trocken waren. »Nimmst du die Tabletten?« »Ja, klar.« »Gut.« Lasterbalk nickte, wie zu sich selbst, dann musterte er ihn wieder prüfend. »Hast du geweint?« Die Frage überraschte Alea. »Nein«, log er. »Gar nicht? Seit du hier bist?« »Nein.« Es war räudig, so zu lügen, aber aus irgendeinem Grund wollte Alea vor Lasterbalk nicht zugeben, dass er fast zwei Drittel des ersten Tages nur geheult hatte. »Ging irgendwie ohne.« »Ah, okay. Ich meine, es gibt verschiedene Arten der Trauerbewältigung. Aber … eigentlich bist du immer der Wein-Typ gewesen.« »Hör doch bitte mal auf, mich zu analysieren«, sagte Alea matt. »Ja, natürlich. Sorry.« Jetzt endlich kam Lasterbalk zum Sofa und setzte sich, und auch Alea ließ sich wieder darauf sinken, und so saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander. 13.31 Uhr Am Ende kochten sie nicht. Nachdem sie eine Weile lang nichts anderes getan hatten, als stumm auf der Couch zu sitzen, hatte Lasterbalk zögerlich begonnen, von den anderen zu berichten. Fast jeder war zu Hause bei seiner Familie und bewältigte die schwierige Zeit dort in Ruhe und fern vom Trubel der Musikszene. Letztere war aufgewühlt; Erics Tod war ein großes Thema in Internetforen und Online-Magazinen, auch der Wikipedia-Eintrag war bereits angepasst und um die jüngsten Informationen ergänzt worden. Dazu gehörte auch, dass Subway To Sally in der Tat ihre Auflösung planten. »In anderen Bands wäre das vielleicht gegangen«, sagte Lasterbalk. »Es ist ja schon oft mal ein Musiker gestorben, dann wurde der nach einer gewissen Trauerzeit halt ersetzt. Klar kann man theoretisch auch einen neuen Sänger suchen. Aber Fakt ist, dass Eric einfach schon zu lange bei Subway war und zu tief mit drinnen steckte. Ohne ihn kann es eben nicht weitergehen wie vorher, und Bodenski und die anderen haben auch gar keine Lust darauf. Ist eben nicht mehr Subway ohne Erics markante Stimme. War ja ein Wiedererkennungsmerkmal von denen.« Unglücklich wälzte Alea diese schwermütigen Gedanken im Kopf umher. Er wusste, dass nicht nur er, sondern viele, viele, viele Menschen um Eric trauerten, und ein kleines bisschen tröstete ihn diese Gewissheit. Eric würde von Millionen vermisst werden. »Es ist so krass, dass es dazu kommen konnte«, fuhr Lasterbalk leise fort. »Ich meine, die Entfernung war so klein …« Alea horchte auf. Ohne dazu aufgefordert zu sein, sprach sein Freund jetzt über genau das Thema, das er bis jetzt vehement abgelehnt hatte. »Der Schuss ging glatt durch das Herz, weißt du. Die Schussdistanz war so gering, dass sie nicht mal sicher sagen können, ob von vorne oder von hinten. Es war wohl einfach ein … so großes Loch …« Wieder hob Lasterbalk die Hand, um sich die Augen zu reiben. »Ich höre im Moment von nix anderem. Meine Freunde bei der Polizei versuchen jetzt, mich auf dem Laufenden zu halten, und ich hör mir diese Scheiße jeden Tag an. Ohne dass es was Neues gibt.« »Und der einzige Hinweis auf den Mörder …« »Na, die Entfernung. Das ist alles. Eric muss den Typen gut gekannt haben, und wir wahrscheinlich auch – wie sollte er sonst so dicht an Eric rankommen? Das ist das wirklich Grauenhafte, das Perfide, das Widerliche daran. Wir suchen nach jemandem, den wir kennen.« Alea merkte, dass er fror. Vorsichtig zog er seine Hände in die Ärmel des Sweaters zurück. »Es waren so viele Leute da.« »Eben. Und keiner fehlte hinterher.« »Wenn den Täter alle kannten …« »Wahrscheinlich war es jemand wirklich Enges. Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war, jemand, bei dem keiner so was in der Art vermuten würde. Ist der Gedanke nicht widerwärtig?« Alea konnte nur schlucken. Ihm war richtig übel geworden. In seinem Hals kratzte es. »Du … Ich glaube, wir kochen heute besser nicht mehr.« »Hmmm, ich hab’s mir fast gedacht. Gut, dann mach ich mir das Zeug zu Hause fertig und tu was für morgen zurück. Kommst du denn klar?« »Schlimmer als bisher wird es nicht mehr, glaub ich.« »Okay. Wir telefonieren. Bitte sei nicht böse wegen vorhin.« »Nein. Du auch nicht.« Lasterbalk erhob sich schwungvoll von der Couch und streckte sich. »Gut, ich … werd dann mal wieder fahren.« »Grüß die anderen von mir«, bat Alea. »Sag ihnen, mir geht’s gut und ich pack das.« »Prima. Mache ich.« Sie gingen gemeinsam zur Tür. Die Sonne stand bereits schräg am Himmel, aber immerhin hatten sich die dräuenden Wolken weitgehend verzogen. Lasterbalk umarmte Alea fester als bei seiner Ankunft und ehrlich liebevoll. Einen Moment lang ließ Alea die Wange an seiner Brust liegen, dann hob er den Blick und rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Ich bin froh, dass du da warst.« »Dito. Dann sieh mal zu, dass du wieder ein bisschen zur Ruhe kommst.« Lasterbalk wandte sich um und ging zum Auto, und nachdem er in diesem verschwunden war, fuhr es los und wurde auf der Straße, die aus Köthen hinausführte, immer kleiner. 14.50 Uhr Die Übelkeit wurde nur langsam besser. Alea fragte sich, welche der vielen Neuigkeiten ihm so arg auf den Magen geschlagen war, und hatte schnell einen Verdacht: Er muss ihn gut gekannt haben. Und wir auch. Jemand richtig Enges, der bei allen Subway-Produktionen dabei war. Sämtliche Subway-Produktionen lagen noch immer auf dem Tisch neben dem Sofa, bis auf Herzblut, die Alea in seinem Zornausbruch an die Wand geworfen hatte. Das bereute er jetzt. Allein der Titel – Herzblut. Davon war bei Erics Ermordung eine Menge vergossen worden. Eine tödliche Menge. Er muss ihn gut gekannt haben. Alea bückte sich und hob die CD auf, und seine Finger waren so schlaff, dass er sie fast nicht festhalten konnte. Herzblut. Rot auf Weiß. Das Blut sickerte auf den hellen Boden, breitete sich lautlos aus, ein tiefroter, warmer Fleck. Er hörte Erics Keuchen. Sah, wie er die Hand ausstreckte, blitzartig, um sich an ihm festzuhalten. Alea zuckte zusammen und ließ die CD fallen. Sie schlug kaum hörbar auf dem Teppich auf. Gott, Eric sah so verwirrt aus. Seine Augen waren schreckgeweitet, verständnislos, fixierten Alea mit aufgeregt zuckenden Iriden. Hinter ihm war der Raum hell erleuchtet, jeder Umriss war klar zu erkennen, und beinahe überrealistisch grell leuchtete das Rot, das unter Eric hervorquoll … Nein. Nein. Hör auf. HÖR AUF! Alea ließ die CD liegen, wo sie war, drehte um und sprang auf das Sofa. Ich will davon nichts sehen. Nichts nichts nichts NICHTS! Heftig atmend presste er sich die Hände auf die Augen. Nahmen diese Halluzinationen denn gar kein Ende? Das konnte doch nicht gesund sein! Dieser verfickte Scheiß wird mich noch wahnsinnig machen … Er zitterte jetzt, weil ihm wirklich kalt war. Sein Schweiß verdunstete an der Luft und ließ ihn frösteln. Rasch griff er neben sich, zog sich wieder das Sweatshirt über. Gott, was für eine Scheiße. Er musste unbedingt wieder runterkommen. Fest auf eine langsame und tiefe Atmung konzentriert, gewann er allmählich seine Fassung zurück, und schließlich nahm er die Hände von den Augen und sah sich im Zimmer um, das düster, milchig und verschwommen wirkte. Alles gut … Das ist nicht passiert. Plötzlich durchschnitt ein Geräusch die Stille und ließ ihn zusammenfahren. Sein Handy. Da wollte jemand mit ihm reden. Wer denn, wenn nicht Lasterbalk? Wer wusste denn nicht, dass er hier war? Noch immer unruhig hob er das Gerät ans Ohr. »Ja?« »Hallo, ich bin’s nur. Der Thorsten.« Alea entspannte sich. Das war Thorsten Raeth, der gewissermaßen zur Crew von Subway To Sally gehörte. Seine Funktion war irgendwie, das Mädchen für alles zu sein und ihnen Dinge hinterherzutragen, die keiner machen wollte. Alle kannten ihn, zwar nicht besonders gut, aber es war klar, dass er über die Jahre immer loyal und fleißig gewesen war. Er hing einfach irgendwie mit drin. »Tut mir echt Leid, dass ich dich jetzt mit was belästigen muss«, fuhr Thorsten fort, Aleas Schweigen missdeutend, »aber du kanntest Eric in vielen Dingen besser als ich, und, naja, ich will jetzt nicht die Großen nerven, die haben echt genug um die Ohren.« Mit ›die Großen‹ meinte er Subway. »Schon gut«, antwortete Alea milde. »Worum geht’s?« »Um so ’ne Nachlasssache.« Das Thema war dem Mann sichtbar unangenehm. »Eric hat natürlich kein Testament gemacht, deshalb wird gerade privat geklärt, wie mit dem ganzen Zeug, das der arme Kerl so hier und da gesammelt hat, verfahren werden soll. Oh, Mann. Sorry. Ich bin auch noch voll neben mir. Geht’s dir gut?« »Es geht so.« Irgendwie tat es Alea gut zu hören, dass auch andere wegen des Geschehenen litten. »Du willst jetzt also meine Beratung bei … manchen Sachen?« »Ja, genau. So ein … Vorsortieren. Ich weiß auch nicht, wieso ich immer ›Hier!‹ schreie, wenn’s so unangenehme Sachen zu tun gibt.« »Genau deshalb bist du aber verdammt nützlich«, sagte Alea in aufmunterndem Ton. »Jede Band braucht eigentlich so jemanden wie dich. Also, pass auf, falls ich irgendwo hinkommen soll: Ich kann hier gerade nicht weg. Ich bin in Köthen, einem Vorort von Märkisch Buchholz – Kaff im Kreis Spreewald – und mache hier eine … Kur.« »Ah … okay.« Thorsten ahnte wohl, dass es besser war, nicht nachzuhaken. »Gut, dann will ich dich da nicht stören. Machen wir das ein andermal.« »Das wär besser, ja.« »Ich hab leider noch was Unangenehmes für dich.« Der andere gab ein kurzes gequältes Lachen von sich. »Also, da brauche ich jetzt nicht zu heucheln, wir sind uns wohl einig, dass das unangenehm ist: Du sollst Hubi anrufen. Frag mich nicht, wegen was.« »Oh.« Auch das noch. »Hat sicher auch mit Eric zu tun.« »Na, die will bestimmt nicht fragen, wie’s dir geht.« »Ich kümmere mich drum. Immerhin ein bisschen was zu tun. Halt die Ohren steif, Thorsten.« »Du auch. Gute Besserung auf deiner Kur.« Sie verabschiedeten sich, und danach begann Alea missgestimmt, im Nummernspeicher nach Hubi zu suchen. Hubi hörte auf den wenig klangvollen Namen Huberta Dralle, war Anfang fünfzig und betreute Subway To Sally beim Plattenlabel Universal. Sie war bekannt für ihren außerordentlichen Geschäftssinn und ihre Taktlosigkeit. Im Grunde war sie nicht wirklich unfreundlich, nur immer sehr frei heraus, und sie vertrat die Interessen ihrer Firma äußerst gewissenhaft. Echte Gefühlsregungen zeigte sie selten, dafür war sie nicht der Typ; sie war durch und durch ein Businessmensch. Und ja, Thorsten hatte ganz Recht, wenn er vermutete, dass sie nicht mit Alea sprechen wollte, um ihn zu trösten. Bringen wir’s hinter uns, dachte Alea und wählte die Nummer. »Dralle«, meldete sich Hubis energische Stimme fast sofort. »Ich bin’s, Sänger von SaMo. Du wolltest was von mir.« »Richtig, richtig«, antwortete sie geschäftig, und er hörte ein Papier rascheln. »Erst mal: mein Beleid. Wir sind alle erschüttert. Damit hat wohl niemand gerechnet.« Es klang sachlich wie immer, aber wenigstens sagte sie überhaupt etwas Höfliches. »Naja, du kannst dir denken, dass es nicht nur darum geht. Eric hat sich einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um zu sterben.« »Oh, wirklich.« »Subway hatten viel vor im nächsten Jahr. Wir müssen eine ganze Menge Pläne über den Haufen werfen. Hier geht’s drunter und drüber, sag ich dir.« »Schon klar. Was willst du von mir?« »Deine Zuarbeit. Bodenksi und seine Truppe haben gerade keine Lust, sich mit der Zukunft der Band auseinander zu setzen. Siehst du, einfach Auflösen wird nicht gehen, der Vertrag ist da ziemlich eindeutig. Ich will jetzt nicht taktlos erscheinen, aber das ist nun mal Fakt: Wir müssen uns zusammensetzen, und zwar bald.« »Hubi …« Alea unterdrückte ein schweres Seufzen. »Bist du sicher, dass das nicht warten kann, bis Eric unter der Erde ist?« »Leider sieht es so aus, als würde er nicht so bald unter die Erde kommen.« »Was? Ich denke, die Gerichtsmedizin hat die L– … hat ihn freigegeben.« »Oh nein, mein Lieber. Unser Eric liegt immer noch bei denen in irgendeinem Kühlfach.« Ungeduldig begann sie, mit ihrem Kugelschreiber zu klicken. »Kannst du Bodenski vielleicht mal daran erinnern, dass er mit mir reden soll? Er geht nicht mehr ran, wenn ich anrufe.« »Überrascht mich irgendwie nicht.« Immerhin konnte man ehrlich zu ihr sein, daran war sie gewöhnt. »Ja, ich weiß, ich bin jetzt die Böse, die mit dem Geschäft nervt. Aber das ist nun mal mein Job. Tu mir den Gefallen und rede ihm gut zu, damit er seinen Hintern in Bewegung setzt. So schlimm es auch ist, die Welt dreht sich noch und wir müssen sehen, wie’s weitergeht.« Alea zögerte. »Ich kann nichts versprechen.« »Versprich mir, dass du mal mit ihm redest.« »Na schön.« »Ich danke dir. Erhol dich gut. Bis die Tage.« Klick. Mit einem Stirnrunzeln ließ Alea das Handy neben sich aufs Polster fallen. Da hatte ihn der Alltag plötzlich wieder schneller am Wickel als erwartet. Aber eine Unstimmigkeit galt es da noch zu klären – und das musste sofort sein. 16.36 Uhr »Na, du hast es ja nicht lange ohne mich ausgehalten«, begrüßte ihn Lasterbalk in neckendem Ton. Viel zu gut gelaunt, fand Alea. »Ich hab ’ne halbe Stunde versucht, dich zu erreichen.« »Ich war einkaufen. Was gibt’s denn?« »Warum hast du mir erzählt, Eric wäre zur Bestattung freigegeben, wenn das gar nicht stimmt?« Der andere schwieg überrascht. »Ähm … Ist er nicht?« »Behaupte nicht, du hättest es nicht gewusst! Was soll das? Hast du mir das erzählt, damit ich die Klappe halte?« Wieder antwortete Lasterbalk nicht sofort. »Also, wie kommst du überhaupt darauf, dass Eric noch in der Forensik ist?« »Hubi hat mir das gesagt.« »Hubi? Wieso hast du mit der geredet?« »Ich kann reden, mit wem ich will«, entgegnete Alea trotzig. Dann erklärte er ruhiger: »Thorsten hat mich angerufen …« »Wer?« »Thorsten Raeth.« »Ach, der. Und?« »Wollte irgendwas wegen Erics Nachlass besprechen, aber ich hab ihm gesagt, wo ich bin und dass das warten muss. Dann sollte ich noch Hubi anrufen.« »Und was hat die so geblubbert?« »Patziger Ton wie immer. Als wäre ich an allem Schuld. Und dann wollte sie ernsthaft, dass ich den Rest von Subway dazu bringe, mit ihr über den laufenden Vertrag zu reden.« »Dumme Nuss. Dabei sollte die sich denken können, wie scheiße es dir geht. Wahrscheinlich hat sie jetzt Stress von oben, weil Subway künftig nix mehr abwerfen. Wenn’s um Geld geht, hört die Freundschaft bekanntlich auf.« »Das muss sie aber nicht auf mich abwälzen, ich hab Eric nicht auf dem Gewissen.« Alea knirschte mit den Zähnen und atmete tief durch. »Zurück zum eigentlichen Thema. Wieso hast du mich angelogen?« »Oh je.« Lasterbalk sprach sanft, als er zugab: »Um dich zu beruhigen. Damit du aufhörst zu fragen, ja. Es war besser so.« Ich hab’s geahnt. »Oh, super. Bodenski hat das auch noch bestätigt, als wir auf der Wache waren. Ihr steckt unter einer Decke, oder?« »Tun wir das jemals nicht?« »Gibt’s sonst noch Lügen, von denen ich wissen sollte?« »Nein.« »Schwörst du das?« »Ja. Bei meiner Ehre.« Alea ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. »Gut. Aber … Eins muss ich noch wissen.« »Und was?« Lasterbalk wartete. »Die Tabletten. Haben die Nebenwirkungen?« »Oh … Nun … manchmal, ja, ein bisschen. Beobachtest du welche an dir?« »Ich hab Hallus.« »Soso. Stimmen, Geräusche?« »Bilder.« »Ah. Das kommt vor. Du bist in einer Phase, in der du viel verarbeiten musst. Dein Unterbewusstsein ist wie ein aufgewühlter Tümpel, an dem Dinge, die auf dem Boden liegen, hin und wieder an die Oberfläche treiben. Die Tabletten machen, dass du das sehen kannst. Weiter ist das nichts. Nichts Schlimmes.« »Und wenn …« Alea ertappte sich dabei, wie er seine Unterlippe zwischen die Zähne klemmte. »… wenn mir mein Unterbewusstsein damit irgendwas … sagen will?« Lasterbalk dachte darüber nach. »Hast du denn eine Idee, was das sein könnte?« »Nicht so richtig.« »Dann würde ich mich deshalb nicht verrückt machen.« Er klang vorsichtig, als wäre er auf der Hut, etwas Falsches zu sagen. Alea erkannte das, auch ohne sein Mienenspiel zu sehen. »Beobachte es einfach und finde raus, wo es herkommt. Es ist jedenfalls nichts Gefährliches.« »Okay …« »Denk in Ruhe drüber nach. Ich muss jetzt erst mal weitermachen. Wir reden morgen wieder, ja?« »Hmmm.« 18.05 Uhr Unschlüssig machte Alea sich etwas zum Abendbrot und nahm danach die Tablette. Lasterbalk hatte ihm indirekt geraten, er solle sich die Bilder in seinem Kopf genauer ansehen. Was es mit Erics Sterbeszene auf sich hatte, leuchtete ihm im Grunde ein – Verarbeitung des Gehörten, und so –, ihn störte nur, dass jedes Mal, wenn er sie erlebte, alles vollkommen gleich war. Das Licht, die Perspektive, die Abfolge. Es änderte sich nicht das kleinste Detail. Als er die Augen schloss, konnte er die Bilder klar heraufbeschwören. Nur zögerlich ließ er das zu, da sich alles in ihm dagegen sträubte, seinen alten Freund kurz vor dessen Tod zu sehen. Dann aber war alles sehr deutlich, wie in einem HD-Film. Eric starrte zu ihm auf, blass, blutend, verstört, und dann griff er hilflos nach Aleas Knöchel, und Alea wich zurück. Er öffnete die Augen. Und blickte geradewegs auf die Jagdszene an der Wand. Ist das, was ich sehe, vielleicht die reale Vergangenheit? Der Gedanke kam ihm plötzlich und unverhofft. Hab ich vielleicht wirklich gesehen, wie er gestorben ist? War ich dabei – und hab es nur verdrängt? Er hatte davon gehört, dass so etwas vorkam. Menschen vergaßen ein Erlebnis, das sie traumatisiert hatte. Und wahrscheinlich hätte ihn Erics Tod, wäre er Zeuge davon gewesen, durchaus traumatisiert … Aber warum weiß ich dann nicht, wer es getan hat?, fragte er sich mit wachsender Nervosität. Warum erinnere ich mich nicht daran? War dieser Teil so schlimm, dass ich ihn gar nicht zurückbekomme? Geistesabwesend griff er neben sich, nach der blauen Bettdecke. Schon wieder waren seine Bewegungen seltsam unkoordiniert. Die Tablette wirkte mit jeder Einnahme schneller. Er zog die wärmende Decke über sich und versuchte, nicht mehr zu frösteln, doch es ging nicht sofort. Zu kalt war es in ihm geworden, während er sich nicht bewegt hatte. Es tut mir so Leid, Eric, dachte er und fühlte sich mit einem Mal unendlich schlecht. Vielleicht hätte ich sehen können, wer dir das angetan hat. Aber nicht mal DAS hab ich hingekriegt. Ich bin ein mieser Freund. Es tut mir Leid … Er rollte sich unter der Decke zusammen wie ein kleines, frierendes Tier. 20.00 Uhr Der Apfelbaum bewegte sich leicht im Wind, und im prallen Sonnenlicht malte sein Blattwerk Schattenbilder ins satte Grün des Rasens. Er trug leuchtend weiße Blüten und starke rote Äpfel, beides zugleich, und Alea genoss den Anblick ebenso wie das raschelnde Geräusch der Brise. Neben ihm am Gartentisch saß Eric und musterte ihn versonnen. Er trug ein Shirt ohne Ärmel, also musste es Sommer sein. Alea war fasziniert. Das hier war ein Traum, und trotzdem fühlte sich alles so realistisch an. Als er seine Hand auf die Tischplatte legte, spürte er die raue Beschaffenheit des Holzes, und genauso konnte er das Gras unter seinen Füßen spüren, jeden einzelnen Halm. Als er einen Finger vor die Augen hob, sah er die feinen Linien der Haut in aller Klarheit. »Das ist krass«, murmelte er. »Nö, das Hirn kann mehr, als man denkt«, sagte Eric lapidar. Alea hob den Kopf und sah ihn an. Während alles andere so überdeutlich wirkte, sahen die Züge seines Freundes verschwommen aus, nicht richtig greifbar. »Ich bin in einem alten Haus in Märkisch Buchholz«, hörte er sich sagen. »Ja, ich weiß.« »Alles macht mir Angst. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht. Ich bin hier in einem alten Haus, alleine, und keiner spricht mit mir wirklich über dich.« Er bewegte die Hand vor seinen Augen. Es war, als zöge sie einen Schleier nach sich. »Eric, warum bin ich hier?« Eric hielt den Kopf schräg. »Das weißt du doch.« »Nein.« »Doch, na klar.« »Nein! Ich bin in einem alten Haus, in dem eure CDs liegen, aber das ich nicht kenne – warum?« Sein toter Freund beugte sich zu ihm vor und sagte leise: »Na, um dich zu erinnern.« 20.10 Uhr Da waren sie wieder, die weinenden Menschen. Ein ganzer Fluss, voll mit ihnen. Männer, Frauen, Kinder. Am Ufer stand der Tourbus, dort saß Lasterbalk und rauchte, und unten, im Wasser, weinten die Leute. »Nein, nein, ich will nicht!«, rief Alea verzweifelt aus, als er die Szenerie wiedererkannte. »Ich will nicht mehr weinen!« Hektisch fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es war nass, klebrig, trocknete einfach nicht. »Hör auf!« Lasterbalk schnippte die Zigarette weg und sah ihn von seinem Schattenplatz aus mitleidig an. »Du kriegst es echt nicht auf die Reihe, oder?« »Was denn?« Alea wischte und wischte. Es blieb alles nass. »Na, dich zu erinnern.« Lasterbalk machte eine lässige Geste in seine Richtung, und Alea begriff, dass sie seinen Händen galt. Er nahm sie herunter und betrachtete sie. Und war entsetzt. »Nein …« »Wenn du dich nicht erinnerst, kann dir keiner helfen«, sagte Lasterbalk achselzuckend, während Alea auf seine Hände starrte. »Das musst du alleine machen.« Alea spürte eine Mischung aus endlosem Kummer und würgender Verzweiflung in der Brust. Seine beiden Hände zitterten, während er sie anstarrte, das anstarrte, was er für seine Tränen gehalten hatte. Alles voller Blut. Es war überall, rot, klebrig, unsäglich nass. Und noch immer kam immer und immer mehr davon aus seinen Augen. Sturzbäche aus Blut fluteten seine Wangen hinab, benetzten seine Brust, seinen Bauch, wurden von Shirt und Hose aufgesogen und flossen weiter zur Erde. Alea warf den Kopf in den Nacken und schrie. 20.20 Uhr »Erinnern? Woran erinnern?!«, keuchte er heiser in die Dunkelheit, als er wieder wusste, wo er war. Er lag mitsamt der zerwühlten Decke auf dem Teppich neben dem Sofa, unweit von der Falltür. Sein ganzer Körper schlotterte wie im Fieber. Blut, so viel Blut, Gott, wo kam das alles her?! Ich muss hier raus. Ich muss hier SOFORT raus. Hastig rappelte er sich auf die Füße, wobei seine Gliedmaßen zunächst nicht gehorchen wollten. Seine Knie waren so weich, dass sie sein Gewicht nicht trugen, also kroch er halb aus dem Zimmer, während sich noch immer alles drehte. »Woran soll ich mich erinnern«, schnaufte er angestrengt, »ich kann mich an nichts mehr erinnern …« Plötzlich war er auf der Bodenklappe, die das Tonstudio verbarg. Sie knirschte gefährlich unter ihm, und er zuckte zurück. »Woran«, schluchzte er zornig, nach dem Tisch greifend, um sich daran hochzuziehen, »woran soll ich mich –« Und dann, mit einem Mal, wusste er es. Seine eben noch krampfenden Hände erschlafften. Fielen zu Boden wie erschossene Vögel. Er wusste es. Die Waffe. Jetzt sah er sie. Eine kleine Pistole, glänzend schwarz, mit kurzem Lauf und abgewetztem Griffstück, kalt und tödlich. Sie tauchte wie aus dem Nichts auf, und dann richtete sie sich auf Eric, der im hellen Licht des Aufenthaltsraums stand und sie nicht sah. Keine Sekunde später fiel der Schuss. Blut spritzte auf, eine kleine hellrote Fontäne. Eric wurde nach vorn geworfen und stürzte hart auf den Bauch, und sein Aufschrei ging in einem erstickten Keuchen unter. Als er den Kopf hob und die schreckgeweiteten Augen auf Alea richtete, perlte ein rotes Rinnsal aus seinem offenen Mundwinkel, und sein Blick, der seinen Freund erkannte, war ungläubig, entsetzt, fassungslos. Seine Hand schoss vor und bekam Alea nicht zu fassen. Kurz knirschte er mit den Zähnen, dann fielen die sinnlos ins Leere greifenden Finger schlaff zu Boden. Jemand, der ihn gut kannte. Alea spürte ein eisiges Erschauern, als ihm der Schweiß ausbrach. Er würgte und spuckte aus, unfähig, irgendeine koordinierte Bewegung zu tun. Nein. Nein. Nein. NEIN. Die Waffe. Da war sie. Er sah sie … NEIN. Endlich bekam er seine schlotternde Hand unter Kontrolle. Sie ergriff die Tischkante und zog seinen Körper daran hoch; dann patschte sie auf die Tischplatte nach den CDs. Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war. Fahrig riss er das erste Booklet aus der Plastikhülle und schlug es auf. Das Licht war schummrig, seine Sinne getrübt, und doch konnte er alles lesen. Er griff zum nächsten. Dann zum dritten. Hektisch blätterte er ein Heft nach dem anderen durch, starrte benommen auf die letzten Seiten. Der einzige Name, der bei jedem Album auftauchte, war sein eigener. Überall sprang er ihm entgegen. Auf jeder Seite. Selbst auf dem Cover. ICH habe Eric umgebracht. Ja, es stimmte. Endlich stand die ganze Szene kristallklar vor seinen Augen. Die Waffe, der Schuss, Erics Erkennen, seine Verwirrung und sein Entsetzen, als er starb. Es war alles wieder da. Ich hatte es nur verdrängt. Weil es zu schrecklich war, um es zu begreifen. Und jetzt erinnerte er sich. All das hier hatte dazu geführt, dass er sich erinnerte. Das allein war der Sinn gewesen von Isolation und Medikamenten. Sie hatten ihn hierher gebracht, um ihn zu bestrafen. Er sollte sich erinnern und an dieser Erinnerung zugrunde gehen. Weil er es verdiente. Warum? Warum hab ich es getan? Die Frage brannte ein Loch in sein Inneres, höhlte es aus mit Schwärze. Ich weiß es nicht. Er wusste nur eins: Er konnte nicht damit leben. Die Waffe. Ich muss die Waffe finden. Mit aller Kraft zwang er sich auf die Füße. Er konnte jetzt nicht mehr schwach sein. Jetzt würde er tun, was getan werden musste. Ich brauche die Waffe. Sofort. Wie betäubt schleppte er sich zur Haustür und riss sie auf. Es war an der Zeit, auch seinem eigenen Leben ein Ende zu machen. Kapitel 4: Klar --------------- 16. Oktober, 20.41 Uhr »Warum tragen wir dieses Böse in uns?« Diese Frage hatte Bodenksi in einem Interview, das Alea gelesen hatte, in den Raum gestellt. »Eine frühere Liebe schlägt in Hass um. Wann überschreitet der Mensch diese dunkle Grenze? Wann setzt er seine mörderischen Fantastereien in der Wirklichkeit um?« Ohne Gefühl in den Gliedern taumelte er Schritt für Schritt durch die Dunkelheit, schniefend und zitternd. Bodenksi hatte auch von einem tatsächlichen Fall gesprochen, bei dem ein Mann seine Ehefrau getötet hatte, ohne später davon wissen. »Er schubste sie gegen die Wand und verließ darauf sein Haus. Als er zurückkam, wartete schon die Polizei auf ihn. Der Mann hatte einen Filmriss und fragte die Polizisten, was sie denn hier machten. Die Polizisten aber wollten von ihm wissen, was das Letzte war, an das er sich erinnern konnte. Er antwortete nur, dass er Streit gehabt hatte. Später stellte sich heraus, dass die Frau beim Schubsen gestorben war. Der Mann hatte sie danach noch ins Schlafzimmer gebracht und sie ins Bett gelegt. An diesen Teil konnte er sich nicht mehr erinnern. Sein Gehirn hatte alles nach dem Streit komplett ausgeblendet.« Und genau das hatte Aleas Hirn auch getan. Ich habe Eric getötet, und ich weiß nicht einmal, warum. »Wahrscheinlich war es jemand wirklich Enges. Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war, jemand, bei dem keiner so was in der Art vermuten würde. Ist der Gedanke nicht widerwärtig?« Das hatte Lasterbalk gesagt. Lasterbalk, der es die ganze Zeit gewusst hatte. »Begreifst du es denn nicht? IMMER noch nicht? NIEMAND kann hier irgendwas für dich tun, NIEMAND außer dir selbst!« »Du bist hier, um dich zu erinnern.« »Eric muss den Typen gut gekannt haben, und wir wahrscheinlich auch – wie sollte er sonst so dicht an Eric rankommen? Das ist das wirklich Grauenhafte, das Widerliche daran. Wir suchen nach jemandem, den wir KENNEN.« »Wenn du dich nicht erinnerst, kann dir keiner helfen.« Stimmen. So viele Stimmen, die das wiederholten, was er in den letzten Stunden gehört hatte. Alea erreichte die Pforte des Vorgartens und schob sich hindurch, ohne es am Leib zu spüren. Plötzlich war er auf der Straße, allein in der kalten, einsamen Dunkelheit dieses beinahe menschenleeren Dorfes, und folgte ihr zum Ortsausgang. Immer in Richtung Hölle. Er musste die Waffe finden. Da klingelte sein Handy. Wie im Traum langte er in die Tasche und hob es im Gehen ans Ohr. »Hey, bist du dran?« Lasterbalk klang aufgeregt. »Ja«, antwortete Alea teilnahmslos. »Puh, Gott sei Dank. Bist du in Ordnung? Hör zu, du darfst auf keinen Fall –« Doch Alea fiel ihm mechanisch ins Wort: »Es ist egal. Ich weiß jetzt wieder, was passiert ist.« »Ja? Na endlich! Also, dann –« »Ich habe Eric umgebracht.« »WAS? Nein nein nein, hör mir zu –« »Ich muss gehen.« Er ließ die Hand mit dem Telefon sinken. Am anderen Ende protestierte Lasterbalk, immer leiser werdend: »NEIN, verlass auf keinen Fall das –« Dann hatte Alea ihn weggedrückt und das Handy an Ort und Stelle auf den Schotter fallen lassen. 20.55 Uhr Der Weg war lang, dunkel und kalt. Die asphaltierte Straße wand sich auf und ab durch den Köthener Wald, und keine Straßenlaterne spendete irgendeine Art von Licht. Durch das schwarze Blattwerk sickerte nur spärlich der fahle Glanz eines sichelförmigen Mondes, der den Weg, dem Alea folgte, nicht erhellen konnte. Ich muss die Waffe finden. Taumelnd setzte er einen Fuß vor den anderen, während das Gebüsch zu beiden Seiten raschelte, als kleine Nachttiere in ihre Verstecke flohen. Ich muss sie finden … Aber er wusste nicht, wo er suchen sollte. Dieser Teil seiner Erinnerung fehlte noch immer. Dort, wo er die kleine, glänzende Pistole suchte, klaffte ein schwarzes Loch. Aber ich brauche sie … Minute um Minute verstrich außerhalb seiner Wahrnehmung, während er wanderte und wanderte, ohne Ziel, nur voran, bis in alle Ewigkeit, ins Dunkel. 21.46 Uhr »Es tut mir Leid«, murmelte er immer noch wie ein Mantra. »Es tut mir Leid.« Der Schweiß auf seiner Haut schien gefroren, ebenso wie die Tränen auf seinen Wangen, die jetzt auch in Wirklichkeit ohne Unterlass geflossen waren, ohne dass er den Schmerz spürte. Alles war nass. Nass und kalt. Und er hatte die Waffe noch immer nicht. In der Ferne geriet Licht in sein Sichtfeld, erst schwach, dann deutlicher. Es war eine Laterne. Er hatte den Ort Märkisch Buchholz erreicht, der in der nächtlichen Finsternis genauso still und leblos dalag wie Köthen. Nicht einmal ein Fenster war erhellt. Er schleppte sich die Straße hinunter, immer geradeaus, bis zu einer zementierten Brücke, auf deren Mitte er innehielt. Unter ihm rauschte leise die Dahme dahin, ein schwarzes, im bleichen Mondlicht funkelndes Band. Alea verließ die Brücke, und dann stiegen seine Füße ans Ufer des kleinen Flusses hinunter. Schlamm gab unter seinen Sohlen nach, das Gras, schwer von Tropfen, wurde weggedrückt. Ein Schritt, dann noch ein Schritt. Bis zu den Knöcheln stand Alea schon im braunen, gluckernden Wasser, als er stehen blieb. Keine Waffe. Vielleicht geht es auch so … Der Fluss rauschte weiter, gleichgültig, unbeteiligt. Kein anderes Geräusch erfüllte die eisige, neblige Luft. Aber die Dahme war zu flach. Im Vergleich zur Elbe oder zum Rhein war sie nur ein Bachlauf, kaum tief genug, um die Hüfte eines Mannes zu erreichen. Damit war endgültig alles zerstört. Ich kann nichts mehr tun. Gebrochen sank Alea in den Matsch hinab, auf Hände und Knie, und sah zu, wie seine Tränen in die Schwärze tropften. »Es tut mir so unendlich Leid …« Seine Stimme war kaum mehr als ein dünnes Wispern. Nur noch ein Schatten. »Es gibt nichts mehr, das ich tun kann …« Die Qual in seinem Inneren umfasste sein Herz mit nasskalter Faust und drückte unaufhaltsam zu. 22.03 Uhr Ein leises Geräusch erhob sich hinter ihm. Es kam von der Straße und näherte sich der lichtlosen Uferstelle, an der Alea im Schlamm kauerte und litt. Die Schritte hielten dicht hinter seinem Rücken an, und auf einmal glaubte er, die Wärme eines Körpers zu spüren, ehe sich aus dem Nichts eine Hand auf seine Schulter legte und ihn mit sanftem Nachdruck zwang, sich umzudrehen. Willenlos gab Alea nach, und auf einmal lag sein Kopf an der Brust des anderen, und zwei kräftige Arme zogen ihn näher heran und umschlangen ihn, um ihn festzuhalten. Alea zitterte fiebrig. Seine Tränen durchnässten den schwarzen Stoff, an den er gedrückt wurde. Als er den Mund öffnete, konnte er kaum verhindern, dass seine Zähne klapperten. Er kannte diesen Menschen. Alles an ihm. »Du bist nicht tot.« Kaum mehr als ein gespenstischer Lufthauch kam über seine klammen Lippen. »Natürlich nicht«, war die ruhige Antwort. »Ich … Ich hab dich nicht umgebracht …« »Nein. Und auch kein anderer, wie du siehst.« Alea machte sich ungeschickt los, um Eric Fish ins Gesicht sehen zu können, das schummrig, aber klar erkennbar vor seinem schwebte. »Aber … Du wurdest …« »Ich hab’s überlebt.« Eric ließ ihn los, griff nach dem Saum seines Shirts und zog es unter der Jacke vorsichtig hoch, sodass Alea den Verband über der linken Brustseite sehen konnte. »War ’n schlechter Schuss. Hat die Lunge angekratzt, aber auch das war halb so wild. Nur meine Zunge ist noch ’n bisschen dick.« Er leckte sich über die Zähne. »Da hab ich beim Fallen ziemlich tief reingebissen.« Alea war hin- hergerissen zwischen überschäumender Erleichterung und grenzenloser Verwirrung. In seinem Kopf herrschte ein dröhnendes Chaos. »Aber warum«, begann er in schwachem Protest, »warum tun dann alle so, als wärst du …« Eric brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und tätschelte ihm die Schulter. »Ich erklär’s dir. Scheiß auf die Anweisungen. Komm mit.« Er griff nach Aleas Hand und zog ihn mit sich nach oben, sodass sie beide dicht beieinander im Schlamm standen. Wieder legte er einen Arm um Aleas Schultern und führte ihn behutsam zurück auf die Straße. »Mann, du zitterst ja. Hast du keine warmen Sachen? Ich mach dir erst mal ’nen Tee.« Mit wackeligen Schritten, fest an Erics rechte Seite geklammert, folgte Alea ihm zurück Richtung Ortskern. Die winzige Stadt war so still wie ein Friedhof. »Ich konnte immer nur spät abends rausgehen«, erklärte Eric. »Ich hab die Anweisung, mich nicht zu zeigen, genau wie du. Wir sind in einem Safehouse, wegen des Mörders – ah, Mörder in spe, meine ich. Falls er’s doch noch schafft.« Eric war entspannt und trotz der Umstände offenbar guter Laune, und Alea ließ sich beinahe dazu hinreißen, die ausgestandenen Ängste und Depressionen zu vergessen. All das, was er sich zusammengereimt hatte, das war in Wirklichkeit nie passiert … »So wie du da unten gehockt hast, hatte ich schon Angst, du würdest dich gleich selbst verletzen«, fuhr Eric fort. »Dich ertränken, oder sonst was. Da konnte ich nicht zugucken. Wahrscheinlich kriegen wir jetzt Ärger, aber egal.« Alea bekam sein Zittern langsam unter Kontrolle. Seine Schritte wurden sicherer. »Ich bin in einem alten Haus in Köthen«, murmelte er. »Da im Keller … da ist ein altes Tonstudio … und die haben da alle Alben von euch …« »Ich weiß. Das Haus gehört einer alten Freundin. Da unten in der Bude haben wir 1994 aufgenommen. Danach hat sie unsere Karriere immer verfolgt. War Bodenskis Idee, dich dahin zu bringen.« Eric dirigierte ihn sanft auf eine Reihe ebenfalls alt aussehender Häuser neben der Straße zu. Deswegen wusste ich nicht, wo die Waffe ist, dachte Alea benommen. Ich brauche sie nicht zu finden. Ich habe keine. Hatte nie eine … »Da vorne gehen wir rein«, sagte Eric ruhig. »Die Besitzer nutzen das nur als Sommerhaus, also konnte man mich da einquartieren, solange der Kerl frei rumläuft. Bin ziemlich sicher, dass der uns hier nie finden wird.« »Warte, ich …« Unbehaglich machte sich Alea los, als sie in die dunkle Seitengasse zu einer Einfahrt abbogen. »… Ich habe es gesehen, verstehst du … Ich habe gesehen, wie man auf dich …« »Ja, das weiß ich d–« 22.21 Uhr Alea hörte das Klicken dicht hinter sich, und sein Nacken prickelte. Eric hatte es auch gehört, und beide Männer waren auf der Stelle zu Salzsäulen erstarrt. »Dreht euch um«, knurrte jemand. »Ich will es sehen.« Als nicht gleich eine Reaktion kam, setzte er ein ungeduldiges »Macht schon!« hinterher. Wie in Zeitlupe wandte Alea sich um und spürte, wie Eric neben ihm es ihm gleich tat. Er hatte das Gefühl, sein Atem sei in seiner Kehle erfroren, so unbeweglich war er. Vor ihnen stand, das Straßenlicht im Rücken, eine dunkle Silhouette, die eine Waffe auf sie richtete. Es war die kurzläufige Pistole mit dem zerkratzten Griff aus Aleas Erinnerung. Und der Mann war Thorsten Raeth. »Du?«, hörte er Eric ungläubig murmeln. »Ja, ich!« Raeth fuchtelte mit der Waffe; auch er zitterte wie Espenlaub. »Ich muss sagen, es hat wirklich funktioniert … dich für tot zu erklären und deine Spuren zu verwischen … Ich hab bis eben gerade wirklich gedacht, du wärst verreckt! Wie konnte ich so dicht dran sein und daneben schießen? Ich hätte …« Seine Stimme brach. Dann, nach einem kurzen Moment, fing er sich. »Egal. Egal. Diesmal ist alles perfekt. Gott sei Dank. Ich hab euch beide. Und du –« Fahrig richtete sich der Waffenlauf auf Alea. »– konntest mich nicht verpfeifen, weil du an traumatischer Amnesie leidest. Wenn das kein Wink des Schicksals ist!« Er stieß ein leises, hysterisches Lachen aus, und seine Schultern bebten heftig. »Da renne ich kopflos weg, als Eric umfällt, anstatt dich einfach auch über den Haufen zu schießen! Wir waren beide nicht die Hellsten in dem Moment, was? Egal … Zwei Fehler, die mir nicht noch mal passieren werden. Nicht noch mal.« Er grinste widernatürlich, überwältigt von der geradezu absurden Gelegenheit, die sich ihm bot. Und in diesem Augenblick kam endlich alles zurück. Alea wurde abwechselnd heiß und kalt, und seine Knie drohten nachzugeben, als die Erinnerung seinen Verstand flutete. Jetzt, in diesem Moment, konnte er alles erklären. Thorsten hatte die Waffe gehabt. Eric hatte in der Mitte des Raumes gestanden, in vollem Licht, und Alea war ihm durch die Tür entgegen gekommen, als er über Erics Schulter hinweg den anderen vertrauten Mann gesehen hatte. Thorsten stand hinter Eric, hob zitternd und mit verzerrtem Gesicht die Pistole. Alea öffnete den Mund, schockiert, mit der plötzlichen, klaren Erkenntnis, was passieren würde – doch es war schon zu spät. Der Schuss warf Eric vornüber. Er keuchte und spuckte Blut; er hatte sich auf die Zunge gebissen, und gleichzeitig begann auch aus seiner Brust Blut hervorzuquellen, wo die Kugel in das empfindliche Gewebe eingedrungen war, das die Lungen umgab. Im selben Moment war Alea fassungslos zurückgewichen. Er war bei allen Subway-Produktionen dabei, dachte er, wir alle kennen ihn, er war einer von uns – Eric, vor ihm auf dem Boden, rang um Bewusstsein, starrte ihn an, das einzige vertraute Gesicht im Umkreis, den Einzigen, der ihm helfen konnte, und in Panik warf er die Hand nach vorn, um sich an Alea festzuhalten. Hilf mir! Doch Alea wich zurück, schaudernd, von Entsetzen geschüttelt. Plötzlich war Thorsten bei ihm und stieß ihn beiseite, um durch die Tür zu entkommen. In einem Sekundenbruchteil war er fort. Eric dort unten zuckte und atmete schwer und röchelnd, und dann sah Alea, wie bei ihm die Lichter ausgingen, sein Körper erschlaffte und er in der wachsenden Lache seines eigenen Blutes reglos liegen blieb. Und in Alea setzte etwas aus. Völlig von Sinnen warf er sich auf dem Absatz herum und rannte. »Eric ist tot!«, schrie er, wollte er schreien, doch heraus kam nur ein Wimmern und Würgen, und dann … war es vorbei. Ein schwarzer Vorhang fiel herunter. Aleas Hirn, von den Eindrücken überladen, schaltete sich ab wie ein Computer, in den der Blitz einschlägt. Sorry, Mister, that you’re dying I didn’t know he had a gun Such a shame to leave you lying But you know I’ve got to run – Eric Fish – Partners (The Brandos Cover) 22.23 Uhr »Also hast du von hinten auf mich geschossen«, stellte Eric nüchtern fest. Seine Stimme schwankte kaum merklich. »Warum?« »Ach, wozu ist das wichtig?«, spie Raeth ihm entgegen. »Ich war doch immer nur eure Bühnenschlampe. Ihr habt mich ausgenutzt, wo es nur ging, ich hab alles für euch gemacht, alles, was ihr wolltet, und nie hab ich auch nur den kleinsten Funken Ruhm abgekriegt. Verdammt, ich wurde nicht mal bei irgendeiner Danksagung in euren Alben erwähnt!« Aleas Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Er wusste, dass das stimmte; Thorstens Name hatte dort nicht gestanden. Genauso wenig wie sein eigener. Das war eine Halluzination gewesen, die einzige, die er je durch die Tabletten gehabt hatte. Nur das. Denn er, Alea, hatte nicht bei allen Subway-Alben mitgewirkt. Natürlich nicht. Eric versuchte, Ruhe zu bewahren, und seine Stimme war heiser, als er vorsichtig einwandte: »Wir dachten, du machst das, weil du … uns magst.« Es klang lahm, wie eine schlechte Ausrede. Raeth lachte wild auf. »Ja, ja, genau, deshalb trage ich euch auch jeden verdammten Scheiß hinterher! Weißt du was, Eric – ich mochte euch. Am Anfang. Wirklich. Aber dann wurdet ihr immer bekannter. Immer arroganter. Und ihr habt angefangen, alle auszunutzen, die für euch arbeiten. Weil ihr ja so großartig seid, die großen Künstler, die alle anderen mit Füßen treten können …« »Thorsten, wir haben dich nicht –« »Halt die Klappe!« Raeth hielt wieder die Waffe auf ihn, und schaumiger Speichel quoll zwischen seinen angespannt zusammengebissenen Zähnen hervor. »Halt endlich einmal die Klappe und hör auf, über andere herzuziehen! ›Du machst das nicht richtig, du machst jenes falsch …‹ Ich will das nicht mehr hören. Nie wieder!« »Thorsten …« »Nein. Es ist genug.« Raeths Finger spannten den Hahn der Pistole. Seine sich wahnhaft überschlagene Stimme kündigte die Tat an: »Ich werde das alles hinter mir lassen. Alles.« Alea schauderte. Er spürte, wie seine Züge sich in Horror verzerrten, und kniff die Augen zusammen, den Schuss erwartend. 22.24 Uhr Eine grausame Sekunde verstrich. Dann fiel der Schuss. Es war ein Knall, der die Stille regelrecht zerriss wie einen alten Vorhang. Die Nachtluft schien zu bersten, und der Hall schwebte über der Straße, ehe das Leichentuch des Schweigens langsam wieder auf sie niedersank. Aleas ganzer Körper bebte unkontrolliert. Er wusste nicht, was er sehen würde, wenn er die Augen jetzt öffnete. Dann umfasste jemand seine Schulter. »Hey«, sagte Erics belegte, aber gefasste Stimme. »Es ist vorbei.« Ein Hund bellte. Alea schlug die Augen auf. Thorsten Raeth lag auf dem Boden, bäuchlings, wie auch Eric vor vier Tagen, und in der Dunkelheit war sein Blut nicht zu sehen. Eilige Schritte näherten sich, und plötzlich kamen drei Gestalten von der Straßenecke aus ins Licht gestürmt. Vorn lief ein aufgeregter Hund, der direkt auf Raeths Leiche zuhielt. Ihm folgte ein stämmiger Mann in kurzer Jacke, der soeben beherrscht seine eigene Pistole zurück ins Holster an seinem Gürtel schob. Und dahinter … »Oh, mein Gott!«, stöhnte Lasterbalk auf, als sein schreckverzerrter Blick auf Alea und Eric fiel. Ungestüm sprang er an dem Polizisten und dem Leichnam vorbei und riss mit einem Arm Alea, mit dem anderen Eric fest an sich. Auf dem Fuß folgte ihm Bodenski, der gleichfalls mit einem tiefen Aufatmen die Arme um alle schlang wie ein Koala. Da standen sie zu viert, zitternd und heftig atmend, während zwischen ihnen und dem Gartentor Olaf Knussen neben dem toten Körper kniete und der Hund anstellig bellte. 22.36 Uhr Sirenengeheul wurde in der Ferne lauter, als die Vier es endlich wagten, sich wieder voneinander zu lösen. »Gehen Sie bitte ins Haus«, sagte Knussen ruhig. »Es wird gleich jemand kommen und Sie betreuen.« »Sie haben einen tollen Job gemacht!«, sagte Lasterbalk unerwartet emotional. Die Erleichterung war ihm noch immer anzumerken. Der Polizist nickte lächelnd, aber glücklich sah er nicht aus. »Einen Mann zu töten ist keine schöne Sache, und es wird ein Ermittlungsverfahren gegen mich geben. Ich denke, Sie werden bezeugen, dass ich keine Wahl hatte.« »Ich glaube nicht, dass Thorsten ein zweites Mal daneben geschossen hätte«, sagte Eric zittrig. Er war noch immer blass wie ein Laken, und Alea wusste, dass er selbst nicht besser aussah. »Okay, kommt rein … Ich setz dann mal Tee auf …« 22.41 Uhr Als Alea in der hellen Küche am Tisch saß und auf seine Hände starrte, musste er feststellen, dass sie noch immer kaum merklich zitterten. Nur langsam flutete das Adrenalin in seinem Blut wieder ab. Neben der Spüle begann der Wasserkocher leise zu zischen. Lasterbalk griff nach Aleas Hand drückte sie abwesend. »Ich schulde dir eine Erkärung.« »Allerdings.« »Also … Du hast sicher schon erkannt, dass wir Erics Tod inszeniert haben.« Ruhig ruhten Lasterbalks Augen auf seinen; jetzt war keinerlei Fassade mehr darin zu entdecken. Er war offen wie ein aufgeschlagenes Buch. »Alle denken, er wäre gestorben. Eingeweiht sind nur wir und die Polizei – inklusive Dr. Sabelke, die Psychologin. Die ich übrigens nicht kenne, das haben wir nur gesagt, damit du ihr vertraust.« Ein leises Seufzen hob die Brust des großen Mannes. »So viele Lügen, ich weiß.« »Du hast mir geschworen, es gäbe keine Lügen mehr«, sagte Alea matt. »Ah, nein.« Lasterbalk hob einen Finger. »Du hast mich schwören lassen, dass es keine Lügen mehr gibt, von denen du wissen solltest. Das ist ein Unterschied.« Bodenksi, der mit verschränkten Armen neben ihm saß, schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf. Alea biss sich auf die Lippe. »Du Arsch. Wäre es nicht anders gegangen?« »Nein. Glaub mir, es hat uns allen das Herz zerrissen, dir das antun zu müssen. Aber du warst der Einzige, der gesehen hat, wer auf Eric geschossen hat – und du hattest einen richtig schlimmen Blackout. Als ich dir vor drei Tagen sagte, Eric wäre tot, da wusstest du von nichts mehr.« »Ich … ja.« »Als wir dich unmittelbar nach der Tat gefunden haben, hattest du dich in deinem Bett zusammengerollt und fest geschlafen. Du hast alles, was passiert ist, komplett ausgeblendet.« Jetzt musste Alea gegen aufkeimende Tränen anschlucken. »Ich … Ich bin einfach weggerannt. Ich hab Eric liegen lassen, weil ich überfordert war. Ich hab ihn im Stich gelassen …« »Und das«, sagte Lasterbalk fest und hob Aleas Kinn, um ihn ansehen zu können, »ist eine völlig normale menschliche Reaktion. Niemand kann dich dafür verurteilen. Das war Selbstschutz, eine Instinkthandlung, damit dein Hirn nicht den Verstand verliert. Helden gehören in Filme, verstehst du … Die Realität sieht anders aus.« Er ließ ihn los und erklärte ihm dann: »Ich kann dir im Nachhinein auch sagen, warum die Sache in deinem Kopf so ausgeartet ist. Du hast das alles nur deshalb verdrängt, weil du mit deinem schlechten Gewissen nicht fertig wurdest. Ja, du hast Eric verletzt liegen gelassen, und keiner macht dir einen Vorwurf deswegen – außer dir selbst. Dein Unterbewusstsein hat daraus massive Schuldgefühle entwickelt. Deshalb ist es dir auch so leicht gefallen zu glauben, dass du selbst der Mörder warst – weil du unterschwellig noch wusstest, oder glaubtest zu wissen, dass du was wirklich Schlimmes gemacht hast.« »Oh, Scheiße«, murmelte Alea, als diese Erkenntnis einsank. »Natürlich.« »Schwer zu glauben, aber das waren alles normale Vorgänge.« Wie um das zu bestätigen, legte Eric wieder lässig einen Arm über Aleas Schulter und drückte ihn kurz. »Ist ja alles gut gegangen.« »Jedenfalls«, fuhr Lasterbalk fort, »war allen klar, dass der Mörder die nächste Gelegenheit nutzen würde, um dich zu töten, den einzigen Zeugen. Er wusste ja nicht, dass Eric überlebt hat – das war ja unser Plan, er sollte nicht weiter Jagd auf ihn machen. Also musste Eric weg. Und du musstest weg, weil du den Anschlag gesehen hattest. Also haben wir euch beide in Sicherheit geschafft. Aber du hast noch eine besondere Behandlung bekommen … denn du musstest dich so schnell wie möglich erinnern, damit der Täter gefasst werden konnte.« Alea begann zu verstehen. »Ich sollte das Werkzeug sein, um ihn zu überführen.« »Traurigerweise, ja. Der Plan war radikal. Du hattest keinen Zugang zu der entscheidenden Erinnerung, also musste alles unternommen werden, um den wiederherzustellen. Wir durften dich nicht einweihen oder bedrängen, das hätte dich unter Druck gesetzt und den Prozess nur noch verzögert. Stattdessen haben wir dich in einer möglichst reizlosen Umgebung isoliert. Dadurch warst du gezwungen nachzudenken. Das Hirn braucht immer Reize, und wenn die fehlen – Langeweile kann richtig schädlich sein, weißt du –, dann fängt es an, aus sich selbst zu schöpfen. Deshalb durften wir dich auch nicht ewig allein lassen und mussten dich gut überwachen. Ich hab Erics Nummer aus deinem Handy gelöscht, damit du nicht auf die Idee kommst, ihn anzurufen … denn er hatte es ja immer noch, um mit uns in Kontakt zu bleiben.« Natürlich. Alles ergab Sinn. »Die Tabletten …«, begann Alea leise. »Richtig. Das war natürlich kein Antidepressivum, sondern ein Medikament, das dein Unterbewusstsein stimulieren sollte. Damit alles Verschüttete wieder hochkommt.« Alea stieß ein bitteres Lachen aus. »Oh ja, das hat funktioniert! Am Ende war ich komplett durch … Ich hab gedacht, ich hätte Eric erschossen … Ich wollte auch mich erschießen.« Lasterbalk atmete zitternd ein und nickte mitleidig. Seine Augen wurden ein wenig feucht. »Tja«, sagte er, mühsam gefasst, »das hat allerdings keiner kommen sehen, dass du derartige Wahnvorstellungen entwickeln würdest. Dein Gewissen hat das verursacht. Wir hätten damit rechnen müssen.« »War nicht geplant«, sagte nun auch Bodenksi entschuldigend. Und, an Eric gewandt: »Gut, dass du ihn aufgesammelt hast.« »Ich konnte mir das echt nicht angucken«, murrte Eric. »Ich dachte, der Kleine ersäuft sich in der Dahme.« Er ließ Alea los und stand auf, um das inzwischen kochende Wasser in die Teetassen umzufüllen. »Aber wie … wie konntet ihr schnell genug hier sein?«, fragte Alea, als er feststellte, dass dieses Puzzleteil immer noch fehlte. »Woher wusstet ihr, dass …?« »Ganz einfach«, antwortete Lasterbalk. »Wir haben so ziemlich allen Leuten gesagt, dass sie dich nicht anrufen sollen. Nur an Thorsten haben wir natürlich nicht gedacht. Ich glaube, niemand hat an Thorsten gedacht …« »Niemand hat jemals an Thorsten gedacht«, ergänzte Bodenski düster. »Das ist leider die Wahrheit. Wir haben ihn nie wirklich mit an den runden Tisch geholt, obwohl er immer dabei war. Von Anfang an. Aber eben irgendwie nur im Hintergrund. Er war einfach da, hat alles gemacht, was man ihm gesagt hat, aber … keiner hat viel über ihn gewusst. Wir haben auch nicht gefragt. Es ergab sich irgendwie nie.« »Tja.« Lasterbalk rieb sich die Hände auf dem Tisch. »Jedenfalls hattest du mir gegenüber beiläufig erwähnt, dass du Thorsten gesagt hast, wo du bist. Ich hab danach mit den beiden reden wollen, um ihnen scharf klarzumachen, dass sie dich bitte in Ruhe lassen sollen. Wollte ihnen den Plan auch erläutern. Hubi hab ich gekriegt, die hat versprochen, dich nicht mehr zu nerven, aber Thorsten … war nicht zu erreichen. Niemand wusste, wo er war, er ging nicht ans Telefon, nicht ans Handy …« »Und das war auffällig«, übernahm Bodenksi, »denn Thorsten stand immer wie ’ne Eins bereit, wenn wir was von ihm wollten. Egal wo, egal wann. Und da war uns klar, dass wir sofort herkommen mussten.« »Als du dann nicht mit mir reden wolltest«, fuhr Lasterbalk an Alea gewandt fort, »und mir gesagt hast, du hättest Eric getötet und dass du aus dem Haus gehen würdest, da waren bei uns alle Alarmglocken an. Der Knussen hat einen Spürhund geholt, wir sind zum Haus gefahren und haben von da deine Spur verfolgt. Nur so haben wir euch noch rechtzeitig gefunden.« »War knapp«, stimmte Eric zu. »Gute Arbeit.« Alea sagte mit dünner, belegter Stimme: »Du hättest es mir glauben können.« »Was?« »Dass ich es war.« Lasterbalk verzog das Gesicht, als hätte er einen schlechten Witz gehört. »Das, mein Lieber, hab ich keine Sekunde geglaubt.« Eric kehrte an den Tisch zurück und verteilte die dampfenden Tassen. »Du hättest doch gar kein Motiv gehabt«, sagte er wie beiläufig zu Alea. »Außerdem standest du mir gegenüber, also wenn du auf mich geschossen hättest, wäre ich nach hinten auf den Rücken gefallen, nicht nach vorne auf den Bauch. Klare Sache, oder?« Er zuckte die Achseln. »Aber jetzt können wir uns mal wieder einkriegen und froh sein, dass alles gut gegangen ist.« Er hatte völlig Recht. Mit schwachem Nicken zog Alea seine Tasse zu sich heran; es war eine bauchige weiße mit der irischen Flagge auf der Außenseite. »Das mit Thorsten tut mir Leid.« »Das tut uns allen Leid. Aber nichts rechtfertigt, dass er mich töten wollte. Da bin ich leider knallhart. Keiner konnte seine Gedanken lesen.« Die Männer starrten in ihre Tassen, und langsam fiel die Anspannung von ihnen ab. Draußen vor dem Haus bellte der Hund auf, und jemand lobte ihn in unverständlichen Worten. Das Stimmgewirr drang nur gedämpft herein; der Vorgarten wimmelte von Polizisten, die den Fall in gemeinsamer Arbeit zu einem Abschluss brachten. Olaf Knussen würde, sobald das Verfahren gegen ihn zu Recht eingestellt wurde, als Held gefeiert werden. Der Hund vermutlich auch. »Eigentlich«, sagte Lasterbalk mit schiefem Lächeln und legte Alea seine große Hand auf die Schulter, »hast du eine Tapferkeitsmedaille verdient.« »Bin dafür«, stimmte Eric zu. Alea blickte unbehaglich beiseite. »Ich bin beinahe wahnsinnig geworden. Mehr hab ich nicht gemacht, außer erst Eric verletzt liegen zu lassen und dann … beinahe durchzudrehen und euren Plan zu ruinieren.« »Nee.« Eric warf wieder seinen Arm um ihn. Es war auch jetzt der rechte, da ihn links die verbundene Schussverletzung noch behinderte; doch das machte nichts, denn Wunden heilten. »Ich sag dir, was du gemacht hast: Du hast uns beiden das Leben gerettet. Dir und mir.« »Oh, Mann«, ächzte Alea. »Ich müsste sauer auf euch alle sein. Es war die Hölle. Aber jetzt bin ich zu müde.« Er versuchte zu lächeln. »Also werde ich einfach morgen auf euch sauer sein … wenn ich wieder Kraft habe.« Eric knuffte ihn freundschaftlich, und Lasterbalk streckte die Hand aus, um ihm auf den Kopf zu patschen. »Es tut uns Leid, das weißt du hoffentlich«, sagte er ehrlich. »Ich hoffe, wir können das verlorene Vertrauen wiederherstellen.« Alea atmete tief und nickte ihm zu. Dann begannen sie langsam und in Ruhe, ihren Tee zu trinken, der ihre Glieder wärmte und sie wieder klar und vernünftig werden ließ. Für Alea endete ein tagelanger Alptraum. Eric saß neben ihm, halbwegs gesund und auf jeden Fall munter, und immer noch lag sein Arm locker über Aleas Nacken, als dachte er gar nicht daran, ihn in nächster Zeit dort wegzunehmen. Gerade nahm er einen Schluck Tee, leckte sich die Lippen und warf Alea unter seinem weißblonden Haarschopf einen aufmunternden Blick zu. Alea schaute zurück, und er brauchte nichts zu sagen. Sie verstanden sich auch so. Er war sich ganz sicher, dass seine zerrüttete Welt jetzt langsam wieder in Ordnung kommen würde. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)