[Volatile] - Inception von -Amber- (‚What if I fall?‘ ‚Oh, Darling! What if you fly?‘) ================================================================================ Kapitel 43: FML --------------- *Yusuf* In der letzten Woche hatte Yusuf auf Kunden verzichtet. Durch Arthur hatte er bereits einen Teil seiner Vergütung für den Jobs Fall erhalten und konnte dadurch seine Miete und Nachschub an Substanzen bezahlen. Was ihn belastete, war der Zustand seines Freundes. Sowohl psychisch als auch körperlich. Eames stand unter ständiger Beobachtung, seine Vitalwerte wurden spätestens alle zwei Stunden überprüft. Außerdem war es jederzeit möglich, dass er aufwachte und dann wäre er sicherlich dankbar über eine Erklärung und ein bekanntes Gesicht. Nun war der Supergau eingetreten. Der Fall den man sich ausmalte, wenn man die schlimmst möglichen Szenarien im Kopf durchging: Eames war mitten in der Nacht aufgewacht, ohne jemanden an seinem Bett. Noch schlimmer: er war auf und davon. Es war diese eine Nacht in der Yusuf einen Termin mit einem neuen Geschäftspartner hatte und nicht zuhause war. Ausgerechnet diese paar Stunden in denen weder er, noch Arthur da waren. Irgendwann zwischen 2 und 3 Uhr nachts; kurz nachdem Hassim seine Werte das letzte mal überprüft hatte. Natürlich hatte er nach ihm gesucht, er hatte alle Kontakte spielen lassen. Es grenzte an Zauberei, wie schnell er untergetaucht war, ohne Erklärung, ohne Nachricht. Nur drei Stunden nachdem er in Yusufs Laden das erste mal seit einer Woche die Füße auf den Boden gestellt hatte, war er wie vom Erdboden verschluck. Er hatte Arthur natürlich umgehend eine SMS geschrieben: „Er ist weg, er hat Hassim mit einer Waffe bedroht und ist verschwunden. Bin an ihm dran...“ Nun saß er neben dem leeren Bett im Behandlungsraum und wackelte nervös mit dem Zeigefinger auf und ab, als Arthur durch die Tür kam. Er stand auf, als wäre es die höflichere Art und Weise ein solches Gespräch zu führen. »Bei dir ist er also auch nicht aufgetaucht?« *Arthur* Arthur knallte die Akte mit den Fotos auf den Küchentisch, dann zündete er sich auf dem Weg zum Balkon eine Zigarette an. Die leere Zigarettenschachtel landete zerknüllt ebenfalls auf dem Tisch. Kalte Nachtluft schlug ihm entgegen, als er auf den Balkon trat. Sie tat gut, ließ ihn etwas nüchterner werden. Erst jetzt merkte er, dass seine Wohnung nach abgestandenem Whiskey und Zigaretten stank. Arthur inhaliert tief den Rauch, der orangeglühende Punkt war in der Dunkelheit des Balkons das einzige was man sah. Einen Moment betrachtete er diesen, ging seinen Gedanken nach. Ihm war schlecht. Vermutlich lag es an der Situation, dem Tag - oder daran, dass er in letzter Zeit nicht wirklich viel gegessen hat. Er trat vorsichtig ans Geländer, beugte sich etwas vor. Er musste aufpassen, der viele Alkohol ließ ihn schwindeln. Das Auto stand noch immer gegenüber dem Hauseingang. Ein Handydisplay leuchtete darin. Vor einigen Tagen war es ihm das erste Mal aufgefallen. Arthur trat zurück an die Hauswand, so dass er nicht gesehen werden konnte. Er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe, zog erneut an der Zigarette, inhalierte tief den Rauch. Seit fast vier Wochen war Eames nun spurlos verschwunden. Mittlerweile wertete er das Auto als Indiz dafür, dass jener noch lebt und die Italiener ihn nicht in die Finger bekommen hatten. Sonst würden sie ihn nicht beschatten. Offenbar glaubten sie, dass sie in Kontakt miteinander standen. Dummerweise wartet er selbst auch noch immer auf ein Lebenszeichen von Tom. Seit ein paar Stunden wusste er, wie die Italos ihn gefunden hatten. Das Fragezeichen war geklärt worden: die Wanze. Er war ein Idiot gewesen, dass er das vergessen hatte. Aber im Trubel nach dem Job hatte er nicht mehr daran gedacht. Nun, jetzt war es so. Noch wusste er nicht, wie er sie wieder loswurde. Vielleicht würde er auf sie zugehen. Vielleicht könnte er Toms Probleme ja lösen. Es ging doch angeblich nur um Geld. Allerdings war die italienische Mafia schlichtweg unfassbar gefährlich. Jobs war mittlerweile nicht mehr CEO. Soweit er wusste, war jener in Philadelphia im Elternhaus. Seine Position war sogleich aufgefüllt worden. In den Zeitungen schrieb man von internen Umschichtung. Fakt war, dass Jobs rausgeflogen ist. Klar, wenn plötzlich ziemlich viel Geld verschwindet, für das er verantwortlich war. Der, der davon profitierte war Paolo Beretta, der Neffe von niemand geringerem als Silvio Berlusconi. Nun, Berlusconis Vater hatte schon Geld für die Mafia gewaschen. Offenbar wird das Erbe weitergereicht. Welcher Mafia-Clan davon profitierte, durchschaute Arthur noch nicht ganz. Dass es vermutlich der war, zu dem der Herr im Auto dort unten gehörte, war sehr wahrscheinlich. Mittlerweile wusste er, welcher Frage er vergessen hatte im Vorfeld nachzugehen: Wer profitierte davon, wenn Jobs fiel? Ob es etwas geändert hätte, wenn er vor der Durchführung das noch hinterfragt hätte? Nein. Vermutlich nicht. Momentan vermied er es, von den Italienern gesehen zu werden. Gut, dass sein Keller mit dem des Nachbarhauses verbunden war. So konnte er es durch den 24h Waschsalon von nebenan betreten, ohne gesehen zu werden. In der Arbeit hatte er noch nichts von seinen Verfolgern gemerkt. Hoffentlich blieb es so. Und das alles nur wegen Eames. Anfangs war Arthur wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Als die SMS von Yusuf kam, hatte er es kaum glauben wollen. Er war so müde gewesen, wollte nur ein wenig in seinem Bett schlafen. Ausgerechnet da musste Eames aufwachen, allein, vermutlich irritiert wegen der Situation. Ausgerechnet der Araber, der am arabischsten aussah, war da gewesen. Wenn Tom während des Komas weiter durch seine persönliche Hölle geschritten war, dann war es kein Wunder, dass er ihn mit der Waffe bedroht hatte und er sich irgendwie erstmal verstecken hatte wollen. Arthur hatte sich Vorwürfe gemacht. Und er hatte Verständnis gehabt dafür, dass Eames erst mal nur weg wollte. Aber warum war er nicht zu ihm gekommen? Er hatte noch immer seinen Schlüssel, er wusste, wo er wohnte, er könnte doch einfach zu ihm kommen. Er hatte Tom gesucht, auf alle möglichen Arten, die er kannte. Sogar eine Anzeige in der Times, wie sie es vor langer Zeit einmal besprochen hatten, hatte er geschaltet. Das Resultat war gewesen, dass Dom ihn besorgt angerufen hatte. Irgendwann hatte er die Suche nach ihm aufgegeben. Hatte aufgehört zu versuchen die Flut an Bildern und Videos zu durchsuchen. Es war wie die Nadel im Heuhaufen. Zudem war Eames verdammt gut darin, nicht gefunden zu werden. Die Hoffnung, dass jener sich bald melden würde, war jedoch nicht so bald erloschen. 'These cigarettes won't stop me wondering where you are Don't let go, keep a hold If you look into the distance, there's a house upon the hill Guiding like a lighthouse to a place where you'll be Safe to feel at grace 'cause we've all made mistakes If you've lost your way... I will leave the light on…' Er hatte Cobb erklärt, was geschehen war - was den Job betraf zumindest, ein wenig - und ihn gebeten, sich bei ihm zu melden, wenn er etwas von Tom hörte. Er hatte auch Yusuf eingetrichtert, dass er ihn sofort anrufen solle, wenn er etwas hörte. Er hatte Jesse gebeten, nach ihm Ausschau zu halten. Er war bei Candela gewesen, hatte auf ihrem Platz gesessen, hatte sich in seinen kreisenden Gedanken gewunden. Wieder und wieder - Lebte er noch? Was war passiert? Was trieb ihn zu dieser Flucht? Der Job war geglückt, Jesse hat überwiesen. Wieso verdammt noch mal musste Eames untertauchen?! Oder hatte er etwas übersehen? Hätte er etwas finden, etwas tun müssen, was er nicht getan hatte? Wie sollte er sich verhalten? Was könnte er noch machen? Aber auch: Warum tat er ihm das an!? War es so schwer, ihm irgendeine Nachricht zukommen zu lassen? Es war die einzige Bedingung gewesen, die er an ihr fragiles something gestellt hatte: eine Verabschiedung. Hatte er etwas falsch gemacht? Zum Beispiel als er bei ihm im Koma gewesen war? Mittlerweile, etliche Tage später, hatte er sich letztere Fragen beantwortet. Er hatte es in Thomas Koma bereits gemerkt, jetzt war es deutlicher denn je: sie würden nie eine Beziehung führen können. Denn Tom hatte kein Interesse daran, ihn an seinem Leben wirklich teilhaben zu lassen. Er traute ihm nicht zu, Teil davon zu werden. Aber er wollte nicht in einer Illusion verharren, die nie Wirklichkeit werden würde. Damals hatte er das nicht so klar gesehen. Damals war er nur verletzt und traurig. Jetzt hatte er einen andren Standpunkt eingenommen. Die Wut, die er in Toms Koma begonnen hatte zu spüren, war nicht mehr gewichen und ernährte sich von jeder Minute. Candela hatte ihm damals Mut gemacht, ihm gesagt, was er so dringend hatte hören wollen. Dass er sich melden wird. Dass sich das alles aufklären wird. Und so weiter. Lauter Müll. Auch ihr hatte er seine Nummer gegeben, sie gebeten, ihn anzurufen, wenn sie etwas von ihm hören würde. Sie hatte sich seitdem nicht gemeldet. Er vermied es dorthin zurückzukehren, wo er einmal die Illusion von Glück empfunden hatte. Arthur blies langsam Rauch in den schwarzen Nachthimmel, drückte dann seine Zigarette aus, öffnete die nächste Schachtel. Es hatte drei Wochen gedauert, bis er begriffen hatte, dass Eames nicht mehr kommen würde. Zwei Wochen lang hatte er sich noch alles schön geredet hatte. Er war bestimmt nur unterwegs, um seine Sachen zu regeln. Er würde sich melden, wenn er alles erledigt hatte. Er würde bestimmt bald einfach in seiner Wohnung stehen, einen seiner Sprüche loslassen und dann war alles wieder gut (nach einem darauffolgenden heftigen Streit vermutlich). Seit damals konnte er kaum schlafen, lag er wach, schlief wenn nur oberflächlich und lauschte auf die Geräusche des Schlüssels, die nicht kamen. Tagsüber plante er in der Arbeit alles so, dass er zwischendurch nach Hause kam, um zu schauen, ob er da war. Er hatte in ihrem Bett geschlafen, in seinem Geruch, hatte alles so gelassen, wie es war. Sogar das letzte Whiskyglas, das Chaos im Badezimmer, die Klamotten, die nach ihrem Essen an ihrem letzten Abend zu Boden gegangen waren. 'I didn't hear you leave I wonder how am I still here And I don't want to move a thing It might change my memory Oh I am what I am I'll do what I want But I can't hide And I won't go, I won't sleep I can't breathe Until you're resting here with me And I won't leave, and I can't hide I cannot be until you're resting here with me I don't want to call my friends They might wake me from this dream And I can't leave this bed, Risk forgetting all that's been' Nach zwei Wochen wurde er unsicher. Nach drei Wochen hatte er es endlich begriffen, dass Tom weg war - ohne sich zu verabschieden, ohne ihn mitzunehmen, ohne zurückzukehren. Die Erkenntnis war schmerzhaft. Vermutlich saß Eames bereits in Mombasa, trank auf seiner Dachterrasse einen Drink und genoss sein unbeschwertes Leben, wie er es ihm bei ihrem Essen so anschaulich beschrieben hatte. Arthur hatte seit dieser Erkenntnis seine Wohnung nur zum Umziehen und duschen betreten – mittlerweile war eine Woche vergangen. Er war ins Büro gezogen, um endlich wieder schlafen zu können, um nicht mehr ständig erinnert zu werden. Er wollte nicht mehr dessen Sachen sehen, die noch da waren. Er wollte ihn nicht mehr riechen müssen. Er wollte Abstand. Die Wohnung einfach aufzuräumen brachte er aber auch nicht fertig. Das würde sich morgen ändern. Es musste sich morgen ändern. Dringend. Seit der Erkenntnis hatte Arthur so getan, als ob ihn das nicht berühren würde. Alles war gut. Alles war wieder wie vorher. Das viele Arbeiten half. Was brauchte er mehr? Er war doch vorher auch glücklich gewesen! '…But stressed all day So what I'm living out my dreams Like every night I love my life But when I open up my blurry eyes It's not as nice Fuck my life I love my life Fuck my life I love my life Fuck my life…' Vorhin hatte er sich dabei erwischt, wie er nach Indizien für seine Rückkehr in seiner Wohnung gesucht hatte. Das Herz war ein dreckiger Verräter. Arthur stieß sich vom Geländer ab, drückte die Zigarette aus, betrat die dunkle Wohnung. Er ging ins Wohnzimmer, füllte sein letztes sauberes Whiskeyglas, dann setzte er sich im Dunklen aufs Sofa. Es gab keinen Grund, weshalb die Männer dort unten wissen sollten, dass er zu Hause war. Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass dieser unsägliche Tag zumindest schon seit ein paar Stunden vorbei war - sein Geburtstag, der fast jeden bisherigen an Scheiße übertroffen hat. Zeit, ins Bett zu gehen und zu versuchen, ein wenig Schlaf zu bekommen. Er stürzte das Glas hinunter. Der Alkohol half, dass sein Kopf zumindest etwas schneller abschalten konnte. Arthur inhalierte den Geruch von Tom, den er sich noch immer in seinem Bett einbildete. Nur noch diese eine Nacht würde er ihn sich gönnen. Nur diese eine Nacht. Seine Träume waren heftig, wirr, voll Verzweiflung und Sehnsucht. Geprägt durch das, was er im Koma erlebt hatte. Es ging ihm ziemlich nach. Besonders da er glaubte, immer deutlicher auch Eames sehen zu können. Das, was jener nie direkt über sich verriet. Archie, der Krieg, die Todessehnsucht, die Bereitschaft für Risiken, sein Problem, ihm zu trauen und ihn dennoch zu brauchen. Und ständig dieses Lied, das ihn tiefer denn je berührte. 'The world was on fire and no one could save me but you...' Wenn es denn wirklich so wäre. Wenn er ihn doch wirklich retten könnte. Das ging nicht, wenn man sich verschloss und nicht redete. Gerädert und schlecht gelaunt wachte er auf. Genau die richtige Stimmung für das, was er zu tun hatte. Systematisch begann er die Wohnung von allem zu befreien, was an Thomas Eames erinnerte. Alles verschwand: angefangen von seinen Klamotten über seinen Koffer hin zu all den Zeichnungen, die seine Verbindung zu ihm verrieten. Alles verschloss er in dem Panikraum, den er beim Umbau seiner Wohnung einst eingerichtet hatte. Ein Raum, der ursprünglich ein Teil des Flurs gewesen war, abgetrennt, gepanzert, klein, aber für gewisse Dinge ideal. Nur er wusste, wie man hineinkam. Nur er konnte ihn öffnen. Waffen, Akten, Nahrungsmittel, Wasser, Geld, Papiere, Identitäten,... Zumindest ein paar Tage könnte man zur Not darin überbrücken. Wenn er fliehen musste, stand alles dafür bereit. Der Zugang hinter einem Regal war so versteckt, dass es kaum möglich war, den Raum zu finden. Er packte eine Grundausstattung extra, eine neue Identität, eine Waffe, Geld etc. Er würde sie in den nächsten Tagen an einem sicheren Ort deponieren, falls er einmal nicht mehr ins eine Wohnung käme. Zuletzt verstellte er die Uhr, stellte die Uhrzeit von Belfast ein. Den P.A.S.I.V-Koffer würde er morgen zu Yusuf bringen. Er hatte in den letzten Wochen gehadert, ob er sich anschließen sollte. Er dachte an ihr letztes Training in Mombasa, den Gedanken, dass es eine Berechtigung für Yusufs Geschäft gab. Aber er hatte es gelassen. Kalter Entzug. Der Tom in seinem Traum konnte ihm nicht die viel zu vielen Fragen beantworten, die er hätte. Anschließend begann er die Wohnung klinisch rein zu putzen, überall, alles, jede Spur, jeden Fleck, der auf Thomas‘ Anwesenheit in dieser Wohnung hindeuten könnte. Die Bettwäsche kochte er, das Bad putze er sogar mit Chlorbleiche. Diese monotone, stupide Putzerei tat ihm gut, seine Gedanken zu sortieren. Die Wut, die er beim Aufstehen begonnen hatte zu spüren, wich nicht. Seit Toms Verschwinden war einiges durcheinandergeraten, seit seinem Geburtstag noch mehr. Er musste dringend wieder klarer sehen, rationaler. Besonders nach den Ereignissen des vergangenen Tages, seines Geburtstags. Dieser unsägliche Tag „Ich hatte gehofft, dass du nicht allein kommst“, flüsterte Patricia ihm zu, während sie ihn länger als üblich umarmte. Irritiert sah er sie an, als er sich mit Nachdruck von ihr löste. „Ich habe noch vor deinem Haus gewartet, als ich neulich bei dir war“, begann sie zu erklären und schien erst jetzt zu merken, dass ihr Verhalten nicht wirklich richtig gewesen war, weshalb sie fortfuhr: „Ich war so neugierig, wer bei dir war und für wen du dich so hübsch gemacht hast.“ Sie sah ihn abschätzend an, während er noch immer nicht fassen konnte, was sie da offenbarte. „Ihr saht sehr vertraut aus, wie...“ „Das geht dich absolut nichts an“, fuhr er ihr ins Wort. „Er war nur ein Arbeitskollege. Niemand, den ich hierher mitbringen würde. Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich mit einem Mann… Noch dazu hierherbringen? An diesem Tag?“ Er merkte, dass er unruhig war. Hier mit Tom konfrontiert zu werden, kam unerwartet. Der Gedanke an jenen Tag schmerzte so nur noch mehr. Sein Blick glitt zur Wohnzimmertür, dann wieder zu ihr. „Hast du es jemandem erzählt?“, fragte er mit einem gewissen Drohen in der Stimme. Tricias Blick wurde kühl. „Klar!“, sagte sie mit blankem Hohn in der Stimme. „Ich hab‘ gleich in der Familien- WhatsAPP- Gruppe ein Bild von euch gepostet. So wie immer halt.“ Sie schnaubte. „Du bist wirklich ein unverbesserlicher Idiot! Was denkst du denn von mir?!“ Arthur merkte, dass sie sauer wurde. Einen Moment schwiegen sie. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Sein Blick wich dem von ihr aus. Die Stille war bitter. „Entschuldige“, murmelte er schließlich und blickte wieder zur Wohnzimmertür, hinter der sich die Stimmen nach wie vor unterhielten. „Ist grad alles nicht so einfach.“ Patricias Blick wurde nachsichtiger. „Im Grunde genommen wollen wir doch einfach nur, dass es dir gut geht“, sagte sie, „ich und Ma.“ Er nickte. „Mir geht es gut, keine Sorge, mir geht es gut“, log er leichthin und sah sie an. „Alles in Ordnung.“ Erstaunlich, wie leicht er lächeln konnte. Leider war dieses Gespräch noch der angenehmste Teil des Abends gewesen. Es war wie immer seltsam an seine Schwester auf diese Art erinnert zu werden. Wie sein Geburtstag wohl gewesen wäre, wenn diese ganze Scheiße mit dem Koma nicht passiert wäre? Im Grunde unnötig darüber nachzudenken. Jetzt hier zu sein, war in jedem Fall schier unerträglich. 'But really I would rather be at home all by myself Not in this room With people who don't even care about my well-being I don't dance, don't ask, I don't need a boyfriend So you can, go back, please enjoy your party I'll be here Somewhere in the corner Under clouds of marijuana … Oh God why am I here? Oh-oh-oh here, oh-oh-oh here Oh I ask myself, what am I doin' here? Oh-oh-oh here, oh-oh-oh here And I can't wait 'til we can break up out of here' Er hatte das alljährliche Ritual über sich ergehen lassen. Er hatte sich mit seiner Mutter über das Projekt mit Ariadne unterhalten. Sogar mit Collin konnte er etwas reden. Sein Vater und Ted ignorierten ihn weitestgehend - ihm konnte es nur recht sein. Als er später auf der Terrasse stand, um zu rauchen, kam Ted zu ihm. „Ich bin da über etwas Seltsames gestolpert, Arthur“, begann jener direkt und warf eine Polizeiakte auf den Terrassentisch. Arthur warf der Akte einen desinteressierten Blick zu, rauchte weiter seine Zigarette. Ted war damals mit 18 zur New Yorker Polizei gegangen, hatte damit dem Wunsch seines Vaters entsprochen, war in dessen Fußstapfen getreten - braver Sohn, stolzer Vater. Arthur hatte bereits während dessen Ausbildung das Gefühl, dass Ted die Macht und Autorität, die der Beruf vermeintlich mit sich brachte, mehr als zusagte. Mittlerweile war Arthur sich sicher, dass jener ein Grenzgänger zwischen den Welten - der legalen und illegalen - war. Einer jener Cops, die ihre wenige Macht missbrauchten und es mit der Moral und dem, was Recht und Unrecht ist, nicht so genau nahmen. Das Schlimme war, dass er damit großen Erfolg hatte und die Karriereleiter hinaufkletterte ohne Rücksicht auf Verluste. „Da werden wir ins Four Seasons gerufen, weil in einem Zimmer eine Verwüstung stattgefunden hat. Und wen erkenne ich da auf Kamerabildern wieder? Meinen Bruder.“ Das letzte Wort spuckte er mit einem gehässigen Lachen in der Stimme aus. Teds Blick hatte etwas Triumphierendes. Arthur schmunzelte ob einer solchen Naivität. Gleichzeitig filterte er die wesentlichen Infos. Die Suite von Jobs war offenbar nach dessen Abreise durchsucht worden. Ihm wurde klar, dass die Wanze gefunden worden war. Die Fotos in der Akte belegten das. Erst in diesem Moment hatte er begriffen, dass er die noch hätte entfernen müssen. „Ich bin oft im Four Seasons. Ich treffe dort Kunden. Das Restaurant ist hervorragend. Du solltest deine Frau dorthin einladen - falls du es dir leisten kannst.“ Ted stutze, lächelte dann aber bösartig. „Mich hat nur gewundert, dass ich dich in den Aufzug steigen sehe, du aber nie aussteigst. Außerdem hat ein Dienstmädchen berichtet, dass auf der Etage, auf der auch die Verwüstung einige Tage später stattgefunden hatte, ein Mann zusammengebrochen ist. Seltsamerweise findet man auch dafür keine Beweise auf den Videos.“ Arthur blieb regungslos, desinteressiert runzelte die Stirn. „Das ist nicht mein Problem“, sagte er dann und zuckte mit den Schultern. „Was soll ich damit zu tun haben?“ Fragend sah er Ted an. Seufzend zog er die Akte zu sich und öffnete sie. Da war tatsächlich er zu sehen, wie er im Spa Bereich in den Fahrstuhl stieg. Auf einem anderen Bild sah man Eames, der etliche Minuten früher dort eingestiegen war. Er spürte den musternden Blick seines Bruders, der sich eine verräterische Reaktion erhoffte. Aber dafür war Arthur der falsche. Er hatte sehr gut gelernt, nichts preiszugeben, weder körperlich noch mental. „Ist das dein Arbeitskollege?“, hörte er seinen Bruder schier ungeduldig fragen. Anfänger! „Wer ist er? Ward ihr im Wellness-Bereich?“ Arthur betrachtete Eames Foto kritisch. Warum hatten sie eigentlich nicht da schon gemerkt, wie beschissen es ihm gegangen war? „Tut mir leid“, sagte er dann. „Ich kenne den Mann nicht.“ Lügen war ihm noch nie schwer gefallen. Und zum Teil stimmte es ja auch. Er wusste zwar, wie Eames tickte, was er mochte, wie er gerne lebte, was er konnte. Aber er kannte sonst kaum etwas von ihm. Ted schnaubte amüsiert. „Ich werde schon dahinter kommen, was da passiert ist. Und wenn ich dich bei den Eiern habe, dann glaube mir, werde ich lächelnd zudrücken.“ Nun war es an Arthur bösartig zu lächeln. „Tu dir keinen Zwang an. Aber setz deine Karriere nicht aufs Spiel!“ Dann hatte er ihm seine Zigaretten hingehalten. „Auch eine?“ sicher war ab diesem Moment, dass er alles, was mit Jobs oder Eames zu tun hatte, aus seiner Wohnung bringen musste. Sobald sich eine passende Gelegenheit ergeben hatte, hatte er das Haus seiner Eltern verlassen, um im Terra Blues Whiskey zu trinken. Arthur wusste, dass sein Bruder es ernst meinte. Er kannte Ted gut genug, um zu wissen, dass dieser sich auch unerlaubt Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen würde. Er durfte nichts riskieren. Daher verschwanden alle Spuren von Eames aus seiner Wohnung. Alles. Er fühlte sich hinterher so leer wie nie zuvor. Und diese Leere verwandelte sich mehr und mehr in Wut. Man musste jemanden sehr lieben, wenn man so wütend werden konnte, das wusste er. Nun, im Grunde genommen war es ja auch so. Aber damit war jetzt Schluss. Arthur hatte sich die letzten Tage in die Arbeit gestürzt. Ariadne, der Job, die Kunden halfen, dass er nicht an Tom denken musste. Jetzt hier in seiner gereinigten Wohnung fühlte er sich erschöpft, ausgelaugt, leer. Die Hoffnung starb mit jeder Stunde, jeder Minute mehr und mehr. Eames hatte ihn verlassen, zurückgelassen, sein Versprechen gebrochen. Im Nachhinein betrachtet hatte jener es ihm verbal nie eindeutig gegeben, dieses Minimal-Versprechen. Dieser Wunsch, die Hoffnung auf ein WIR hatte es nie wirklich gegeben. Alles war nur Illusion gewesen. Er hätte es wissen müssen. Der Forger hatte ihn einmal mehr geblendet. 'Love is a loaded gun You put it to my head … You're nothing but a traitor You're nothing but a weakling You're nothing but a traitor You're never gonna beat me…' Er war dumm und naiv gewesen. Naiv und dumm. Er hatte sich offenbart, hatte sich verletzbar gemacht und war ausgenutzt worden. Eames hatte seine Schwäche, geboren aus Einsamkeit, ausgenutzt, hatte ihn benutzt. So, wie jener Cobb so oft vorgeworfen hatte, der würde ihn nur ausnutzen. Der Unterschied war nur, dass Dom ehrlich zu ihm war, aufrichtig, ihn niemals enttäuscht oder belogen hatte. Und jetzt? Jetzt hielt er es nicht mehr in seiner Wohnung aus, schlief nur noch im Büro, arbeitete für drei. Und er hatte sie schrecklich vermisst - diese Illusion. Er vermisste die Geräusche des anderen, vermisste sogar das Singen unter der Dusche. Er vermisste es, zu jemandem nach Hause zu kommen. Er vermisste es, dass jemand auf ihn wartete. Er vermisste es, Teil des ganz normalen Alltags zu sein. Er vermisste das Gefühl, gebraucht zu werden, begehrt zu werden, geliebt zu werden. Arthur schenkte sich ein Glas Whiskey ein. Scheiß Einsamkeit. Er hatte recht gehabt. Der Schmerz, den er empfand, weil er von der Frucht gekostet hatte, war wesentlich größer als der, den er beim Zurückweisen verspürt hatte. Er hätte niemals diese Schwäche zeigen dürfen, niemals. Was ihm half war die Wut. Die Wut genau darauf, erneut hintergangen worden zu sein. Noch größer war die Wut auf sich selbst. Wie hatte er nur so blind sein können!!! Sogar seinen Job bei Ariadne hatte er in Frage gestellt gehabt. Er musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Umso wütender wurde er. 'Wenn sich hinterher irgendwie herausstellen sollte, dass du mich mal wieder verarscht hast, dann schwöre ich dir, dass ich dich töte, wenn du mich danach nur noch einmal ansprichst.' Langsam fühlte sich dieser Gedanke gut an. Arthur blickte auf sein iPhone, ließ den Bildschirm kurz aufleuchten. Manchmal, wenn er auf die Uhr blickte, wusste er nicht, ob er es tat, in der Hoffnung, dass dort doch eine Nachricht aufleuchten würde. Einsamkeit. Scheiße. Er musste aufhören zu warten. Dennoch wusste er insgeheim, dass er sein Leben lang auf Eames warten würde. Aber dieses Warten war vergeblich. Und dessen sollte er sich endlich bewusst werden. feels like I'm waiting like I'm watching watching you fall out dreams where I'm fading fading so free my mind all the talking wasting all your time I've given all that I've got… ——— Es waren nunmehr sechs Wochen vergangen, seit Thomas Eames untergetaucht war. Er spürte wieder Boden unter seinen Füßen, fühlte den Willen diese ganzen Dinge hinter sich zu lassen, abzuschließen. An diesem Tag fielen ihm zwei Männer auf, die scheinbar zufällig vor dem Haus herumstanden, in dem sein Büro lag. Sie rückten langsam näher. Arthur sollte möglichst bald - Nein! jetzt handeln, wenn er nicht unangenehme Begegnungen wollte. Ariadne sollte definitiv nicht mit hineingezogen werden. Daher rief er sie an, teilte ihr mit, dass er in der nächsten Zeit nicht ins Büro kommen würde. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie am Telefon. „Das weiß ich noch nicht…“, antwortete er und legte auf, machte ein Backup, richtete ein, dass alle eingehenden Nachrichten ihn auf andere Wege erreichen könnten, setzte das Diensthandy auf Auslieferungszustand zurück, löschte alle Daten. Dann entfernte er die Sim-Karte und zerstörte sie, warf die Karte in den Gulli. Arthur machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung. Er sollte seine Sachen holen und untertauchen. Dann musste er entscheiden, wie es weitergehen würde. Offenbar würde er sich doch noch auf die Suche nach Tom begeben müssen und ihn zur Rede stellen. Offenbar musste er ihn finden, um unter diese ganze Scheiße einen Strich ziehen zu können, um sein altes Leben wieder zurück zu bekommen. Vermutlich würde er erst dann wieder seine Sinne ganz bei sich haben. Vermutlich würde er sich erst dann wieder ganz fühlen können. Vielleicht würde er dann endlich aufhören von Tom zu träumen, ihn zu vermissen. Es ging ihm gut, aber solange er das nicht ganz abschloss, würde es ihn noch verfolgen. Er musste diesen ganzen Müll beenden und hinter sich lassen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)