„Sag es nicht.“ von Alaiya ================================================================================ Teil 1: Einsamkeit ------------------ Jayala war überrascht, als sie die Hütte nicht verlassen wiederfand. Mitesh, der Kater, saß auf dem Schoß der so vertrauten, dunkelhäutigen Frau und schnurrte, offenbar ganz ungestört davon, dass ein notdürftiger Verband ihren linken Arm beinahe komplett verhüllte. Jayala sah zu der anderen Frau, die mit der unverletzten Hand müde durch das Fell des jungen Katers strich. Sie lehnte mit dem Rücken an die alte Backsteinmauer, die nicht bemalt war und einzig durch einen Wandbehang geschmückt wurde. Der Wandteppich, der eine Szene aus dem Ramayana darstellte, war etwas ausgebleicht und hing nicht einmal bis zum Boden. Manjira öffnete die Augen und sah zu Jayala. Ein erschöpftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Bist du da, um Mitesh zu füttern?“ Jayala nickte. Sie hatte es ihrer „Nachbarin“ versprochen: Sie fütterte Mitesh, während Manjira tat, was auch immer es genau war, das sie tat. „Danke“, flüsterte die Frau, deren Gesichtszüge von einer feinen und unmenschlichen Schönheit geprägt wurden, die trotz Erschöpfung und Schmerz noch immer zu erkennen war. Es war nicht das erste Mal, dass Manjira verwundet von ihren Ausflügen zurückkam. Nein, es war beinahe schon normal. Mindestens nach jedem zweiten Auftrag, wie Manjira sie nannte, war sie verletzt. Jayala ließ die schmucklose Plastiktüte, die sie aus der kleinen benachbarten Stadt mitgebracht hatte, zu Boden sinken. „Was ist passiert?“ Noch immer lächelte Manjira matt. Eine dünne Schweißschicht schien ihr Gesicht zu bedecken. Hatte sie Schmerzen? „Das übliche.“ „Du solltest besser aufpassen“, meinte Jayala. Sie runzelte die Stirn. Dann wandte sie sich ab. Sie nahm eine der metallenen Schüsseln, die von einem Haken an der Wand hingen, und ging damit hinaus. Manjiras Haus war weder an die Wasserversorgung, noch an das Stromnetz angeschlossen. Nicht, dass es ungewöhnlich war. Jayala schätzte sich glücklich, dass die kleine Farm, auf der sie mit den anderen Mädchen und jungen Frauen lebte, Strom und fließendes Wasser hatte – selbst wenn die Stromversorgung nicht verlässlich war. Hinter Manjiras Haus gab es einen Brunnen mit einer einfachen metallenen Pumpe. Das Metall war bereits angerostet, die einstmals grüne Farbe zu großen Teilen abgeblättert, aber sie funktionierte. Mit ein paar Pumpenschüben beförderte Jayala Wasser aus der Tiefe hinauf, ließ es in den Topf plätschern, ehe sie sich samt vollem Topf auf den Weg zurück ins Haus machte. Irgendwie schaffte sie es, im Haus anzukommen, ohne die Hälfte des Wassers zu verschütten. Drinnen setzte sie den Topf über die Feuerstelle und begann Holzscheite herbeizutragen, um ein Feuer zu entfachen. „Was machst du?“, fragte Manjira schwach. „Das weißt du genau.“ Jayala zog die Lippen hoch. Sie hatten das Spiel schon so oft gespielt, seit Manjira hierher gekommen war. Manjira kam verletzt zurück, sie umsorgte sie. Weil Manjira sonst niemanden hatte – abgesehen von Mitesh, der sich allerdings um wenig sorgte, außer um das Futter in seiner Schale. Er konnte sie schwer umsorgen. Jayala hatte sich manch einmal gefragt, was Manjira getan hatte, bevor sie hierher gekommen war. Hatte sie jemand anderen gehabt, der sich um sie gekümmert hatte? Oder hatte sie damals noch nicht getan, was auch immer sie genau tat? Das Wasser kochte. Jayala ging zu dem Küchenschrank – wenn man den Holzverschlag in der Zimmerecke so nennen wollte – und suchte eine Tüte heraus. Im Inneren des nur durch ein paar ungleichmäßig hineingeschlagene Nägel zusammengehaltenen Schrankes waren nur Tüten. Manjira war viel, aber nicht ordentlich. Doch Jayala fand, was sie suchte: Kräuter und Gewürze. Etwas, das die Wunde säubern konnte; etwas, das die Heilung förderte. Mit zwei Tüten kam sie zurück, rührte einen Teil der Kräuter ins kochende Wasser und nahm dann – nicht ohne sich die Finger zu verbrennen – den Topf vom Feuer, das noch immer brannte. „Hast du überhaupt schon etwas gegessen, getrunken?“, fragte sie dann, während sie sich auf die Suche nach sauberen Tüchern machte. „Nein.“ Jayala seufzte. Sie machte sich daran, ein Tuch – eigentlich war es ein sauberer Stofffetzen – im Wasser zu tränken und ging damit zu Manjira. „Zeig deine Wunde.“ Manjira sah sie an. Ihre Augen hatten einen seltsamen, goldlichen Farbton. Sie waren hübsch, unmenschlich. Sie streckte ihren Arm aus und ließ es wortlos geschehen, dass Jayala den notdürftigen Verband abwickelte. Abgesehen vom Verband trug Manjira nur ein altes Tanktop und eine Militärhose. Noch immer lag der Kampfgürtel mit Taschen, Holster und Messerscheide um ihre Hüfte. Sie war wirklich noch nicht zulange zurück. „Was war es dieses Mal?“, fragte sie. „Wieder ein Rakshasa?“ Manjira nickte. „Was sonst?“ Sie brummte missmutig. Was anderes tat sie kaum. Sie jagte Rakshasa, manchmal auch andere Dämonen, die den Menschen das Leben schwer machten. Jedenfalls sagte sie das. Jayala hatte noch nie eins dieser Monster gesehen, nur Manjiras Magie. Manchmal wünschte sie sich selbst magische Fähigkeiten – es hätte so vieles in ihrem Leben leichter gemacht, doch was brachte ihr dieser Wunsch? Sie konnte nur mit dem Arbeiten, was sie hatte. Und so machte sie sich daran, die Wunde, die eindeutig von einem Paar Klauen hinterlassen worden war, auszuwaschen. Manjira ließ es über sich ergehen, die Augen geschlossen und die Katze auf dem Schoß. Sie schien beinahe zu schlafen. Die Wunde blutete noch immer, wie es Manjiras Wunden so oft taten. „Du solltest vorsichtiger sein“, seufzte sie leise und holte Honig, um damit einen Verband zu machen. „Das bin ich schon“, murmelte Manjira müde. Sie öffnete die Augen und legte eine Hand in Jayalas Haar. „Glaub mir, Jala, ich tue mein Bestes, um mich nicht umbringen zu lassen.“ Ein zynisches, aber noch immer von Müdigkeit geprägtes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich meine es ehrlich.“ Jayala legte die Hände in die Seiten. „Was würdest du machen, wenn ich dich nicht so finde? Wenn ich mal nicht rüberkomme?“ Manjira seufzte. „Dasselbe, was ich getan habe, bevor ich hierher gekommen bin. Mich hinlegen, schlafen und warten, dass sich die Wunden schließen.“ Sie lehnte sich zurück. „Aber ich bin froh, dass du da bist, Jala, wirklich.“ Jayala sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Hast du sonst noch Wunden?“ Dabei wusste sie die Antwort schon. Sie konnte noch immer den Schmerz auf Manjiras Gesicht sehen – ein Schmerz, der mit jeder Bewegung kam. Ihre Augen wanderten über den athletischen und gleichzeitig doch zierlich wirkenden Körper der Frau, blieben schließlich an einem feuchten Fleck oberhalb des Waffengurts hängen. Den Blick bemerkend, lächelte Manjira. „Ja ja …“ Das war eine Antwort auf eine nicht ausgesprochene Frage. Mühsam rückte sie von der Wand weg und verscheuchte damit Mitesh, der sich missmutig neben das Feuer verzog. „Soll ich dir helfen?“, fragte Jayala. Sie wartete nicht auf eine Antwort, machte sich daran, vorsichtig das Tanktop von Manjiras Hüfte zu schälen. Sie hatte die Wunde nicht einmal notdürftig versorgt. Manjira gluckste und zog gleich darauf schmerzerfüllt die Luft ein. „In jedem anderen Kontext könnte man sonst was denken.“ Jayala sah sie nur an. „Und?“ Im Moment hatte sie anderes im Kopf als dreckige Witze. Manjiras blutige Seite wirkte alles andere als aufreizend. „Leg dich auf die Seite.“ Während Manjira vollkommen still, beinahe als wäre sie ohnmächtig, halbnackt auf ihrer Seite lag, machte sich Jayala daran, auch diese Wunde zu reinigen, so, wie sie es gelernt hatte. Sie wusste, dass irgendjemand in den Städten, wo es richtige Krankenhäuser gab, es weit besser gekonnt hatte. Immerhin wusste sie nur, was ihr einst die Großmutter beigebracht hatte. Doch Manjira weigerte sich, zum Krankenhaus zu gehen. Immer sagte sie, dass man dort zu viele Fragen stellte, doch Jayala glaubte, dass sie es sich einfach nicht erlauben konnte. Immerhin: Hätte Manjira Geld, würde sie nicht in dieser halben Ruine leben, oder? Das Haus war, von allem, was sie wusste, schon länger hier gewesen. Manjira hatte sich nur Unterschlupf gesucht. Sie seufzte. Fragen stellen war sinnlos. Manjira beantwortete sie nicht. Deswegen schwieg sie nur, strich auch Honig auf diese Wunde und legte dann ein Tuch darauf, da sie keinen Verband hatte, der lang genug war, als dass er um Manjiras Hüfte reichen konnte. Doch der Honig würde den Verband schon halten und der Wunde bei der Heilung helfen. „Danke, Jayalakshmi“, meinte Manjira, als Jayala den Topf wegstellte. Jayala seufzte. Ihr richtiger Name war so lang. Niemand rief sie dabei, außer Manjira, wenn sie sie triezen wollte. „Du solltest wirklich aufhören, immer solche gefährlichen Sachen zu machen.“ „Ach was.“ Manjira lächelte, wenngleich das Lächeln noch immer müde und matt war. „So gefährlich ist es nicht. Sonst wäre ich schon lange tot.“ „Sag so etwas nicht.“ Jayala wollte sich abwenden, um den Topf mit dem nun rot verfärbten Wasser auszuleeren und die benutzten Tücher in frischem Wasser zu reinigen, doch Manjira hielt ihren Arm fest. „Das hat Zeit.“ Sie wusste offenbar, was Jayala machen wollte. „Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, Blutflecken nach einer Weile rauszubekommen?“, meinte Jayala und zog die Augenbrauen zusammen. Manjira deutete ein müdes Schulterzucken an. Sie hatte sich auf den Rücken gedreht. „Es ist bei den Fetzen doch egal.“ „Dir vielleicht …“ Manjira sah sie an. „Leg dich ein wenig zu mir“, forderte sie dann auf einmal. Jayala erwiderte ihren Blick. Sie spürte ein Kribbeln in ihrem Bauch und wusste, dass es doch nicht das Richtige war, wenn sie der Aufforderung nachkam. Sie zögerte. Sie schob den Topf etwas zur Seite, während Manjira noch immer ihren Arm hielt. „Ich sollte wirklich …“ „Jala“, flüsterte Manjira. Ihre Blicke trafen sich. Wieso fiel es ihr nur immer schwer, nein zu sagen? „Ich bin noch immer dreckig von der Arbeit im Feld“, meinte sie schließlich. „Ja, und?“ Manjira lächelte. „Du hast die Wunden schon verbunden.“ Sie seufzte. „Bitte.“ Noch einige Sekunden zögerte Jayala. Was, wenn eine ihrer „Schwestern“ vom Hof herkam? Sie würden etwas sagen. Vielleicht nicht zu viel, aber doch etwas. Jayala wusste nicht was. Sie fürchtete sich davor. Und doch krabbelte sie an Manjiras rechte Seite und legte sich neben sie. Zu ihrer rechten, um keinen Druck auf die Wunden zu bringen. Sie legte ihren Kopf vorsichtig an Manjiras Schulter an und fühlte sich dabei so seltsam. Sie wusste nie, was sie über Manjira denken sollte, die eines Tages plötzlich hier gewesen war. Manjira, die so einsam schien. „Ich habe gelogen, weißt du?“, flüsterte Manjira. Jayala seufzte leise. „Wieso?“ Manjira küsste ihre Stirn. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.“ Ein seltsamer Ton schwang in ihrer Stimme mit. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Die grünen Augen Miteshs verharrten auf ihnen beiden. Auf leisen Pfoten kam er zu ihnen hinüber und legte sich auf Manjiras nackten Bauch. Sie ließ einen knappen Schmerzenslaut hören. „Ich weiß aber, was ich ohne dich tun würde.“ Sie schob den Kater etwas weiter in Richtung Hüfte. „Kannst du nicht ein wenig Rücksicht nehmen?“ Ein Gähnen war die Antwort, ehe der Kater seinen Kopf auf den Vorderpfoten bettete. Vorsichtig legte Jayala ihren Arm um Manjira. So, dass ihre Hand auf der linken Schulter ihrer Freundin – konnte man es so nennen? – lag. „Manjira“, begann sie, doch Manjira ließ nur ein leises „Sch“ hören. „Sag es nicht“, flüsterte sie und küsste Jayala noch einmal auf die Stirn, ehe sie den Kopf auf dem Boden ablegte. „Sag es nicht.“ Jayala schwieg. Wie immer schwieg sie und sagte es nicht. 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