Irrlicht von Palmira (Das Gute und das Schlechte) ================================================================================ Kapitel 1: Das Gute und das Schlechte ------------------------------------- Man konnte über Gabriel Reyes sagen, was man wollte – aber nicht, dass er es sich immer leicht gemacht hätte. Den Großteil seines Lebens war er sogar ziemlich sicher gewesen, dass er sich alles redlich verdient hatte, was ihm geschah: das Gute und das Schlechte. Das in ihn gesetzte Vertrauen, seine Fähigkeiten, genauso wie die Narben in seinem Gesicht, unter der Uniform, in seinem Kopf. Und wenn er es nicht verdient hatte, hatte er zumindest irgendwo in einem Eid mal erwähnt, sich trotzdem darum zu kümmern. Aber auch er kam an den Punkt, wo es sich anfühlte, als würde niemand das verdienen. Das Gute und das Schlechte. Aufzugeben wäre nur zu leicht, und nein, niemand sagte das über ihn. Also sah Gabriel zu, wie verbeulte Jeeps Teams erschöpfter und verdreckter Soldaten ausspuckten und es immer weniger waren, als ursprünglich losgefahren waren. Manchmal blieben ein paar zurück, um Depots zu sichern oder mit Verwundeten auf den Transport zu warten, weil bestimmtes Gerät benötigt wurde. Doch manchmal waren sie einfach auch tot und man hatte die Leichen noch nicht geborgen, oder es war nicht genug übrig zum Bergen. Die leeren Plätze schienen einen anzustarren, und sich abzuwenden wäre feige. Heute gab es keine leeren Plätze, dennoch war die Anspannung auf dem verschlammten Feld im gottverlassenen Nirgendwo greifbar: ein neuer Stützpunkt wurde aufgebaut, und das verlangte von den Streitkräften, sich weit aufzufächern und große Risiken auf sich zu nehmen, um ein viel zu großes Gebiet einigermaßen zu überwachen, und schließlich waren sie alle bloß Menschen, sie machten automatisch Fehler. Verstärkung war angekündigt, und Gabriel war so ungemein feinfühlig, dass er wusste, was das bedeutete: Wenn ihr lange genug überlebt, dürft ihr uns gerne am Arsch lecken. Und es hing irgendwie an ihm, dass dieser Pessimismus nicht die Soldaten runterdrückte. Gabriel hatte überhaupt nicht vor, ihnen Vertrauen in ihre Regierung einzureden, das er selbst nicht hatte – aber Vertrauen in sich selbst, das konnte nicht so schwer sein. Mit den federnden Schritten eines Mannes, der es nicht einsah, wegen irgendetwas beunruhigt zu sein, marschierte Gabriel über die völlig aufgeweichte Erde, die unter seinen Stiefeln schmatzte und seine dunkle Hose schon bis zu den Oberschenkeln mit Dreck bespritzt hatte. „Morrison! Steht heute Tanzabend mit Damenwahl an, oder was soll der schwarze Anzug und der Scheiß-Blumenstrauß?!“ Köpfe wirbelten herum, verwirrt, beinahe erschrocken von dem plötzlichen harschen Tonfall, der quer über das schlammige Feld schallte und den Mann förmlich am Kopf traf, der gerade ungelenk aus dem Transporter kletterte. Jack Morrison, der feuchte Traum der White Supremacy und doch eine so schreckliche Enttäuschung in dieser Hinsicht, sah aus, als hätte er sich direkt unter ein Raketentriebwerk gestellt. Seine Uniform war angesengt, seine Haut stellenweise gerötet, sein Haar ein Bündel steifer Strähnen und alles, absolut alles an ihm, war ungeheuer dreckig. Erde, Ruß, Blut, Schweiß und Maschinenöl, sogar das wuchtige Gewehr war stumpf von der Schmutzschicht. Und trotzdem war sein blödes Grinsen all die goldenen Weizenfelder von Indiana unter strahlend blauem Himmel, als er die Hand hob, um vor Gabriel zu salutieren. In der anderen hielt er ein Bouquet noch gesicherter Handgranaten. „Ich hab' noch Platz auf der Tanzkarte, Sir,“ erwiderte er in dem knarrenden Schaben aufgerauter Stimmbänder, die über Stunden hinweg Anweisungen gebrüllt hatten. Seine blauen Augen und seine weißen Zähne waren das einzig Helle in seinem Gesicht. Gabriel schnaubte, während er spürte, wie sich der taube Schock ringsum langsam löste. Es brauchte nur noch den entscheidenden Schubs, um ihn auch abzuschütteln. „Dann reservier' den für einen Tango mit dem Latrinenspaten.“ Noch im Gehen erzeugte Gabriel eine extravagante Verbeugung mit auf Gürtelhöhe flatternden Händen, richtete sich fließend wieder auf und blieb vor Jack stehen, dessen Zähne beim Grinsen zwischen seinen bleichen Lippen schimmerten. „Washington braucht neue Poster.“ Endlich breitete es sich aus wie eine Infektion: erst noch langsam, dann schneller, erst mit verhaltenem Schmunzeln, bevor es zu einem Hüsteln wurde und letztendlich zu heiserem Gelächter. Es hielt viel länger an, als es für so eine lahme kleine Provokation gerechtfertigt gewesen wäre, dafür bewegte es mehr Gewicht. Gabriel konnte das Gewicht nicht aufheben, er konnte es bloß verteilen. Auf sich und auf wenige andere, deren Kreuz breit genug dafür war – Jack war einer davon, und wenn es nur bedeutete, sich vor versammelter Mannschaft einen Witz auf seine Kosten gefallen zu lassen, nachdem er gerade Stunden in Wind und Wetter damit zugebracht hatte, sein Team bis zum Limit seiner Fähigkeiten und darüber hinaus anzutreiben. Gabriel betrachtete diesen Mangel an Gerechtigkeit kurz und nüchtern, dann machte er eine knappe Handbewegung. „Rühren.“ Jacks Schultern sackten ein paar Millimeter nach unten, und er zog einen Handschuh aus, um mit einer marginal saubereren Hand über sein schmutziges blondes Haar zu fahren. „Dein Ernst, Gabe?“ „Kommt drauf an, ob mir dein Bericht gefällt, dann überleg' ich's mir.“ Die alte Überheblichkeit, wegen der Jack in ihren Rekrutentagen ständig aus der Haut gefahren war, brachte ihm ein vages Lächeln ein, und fast sah es malerisch aus, bis Jack sich vorbeugte und einen rußigen Rotzklumpen in den Matsch spuckte. Die Etikette des Mittleren Westens. „Der Umkreis ist so weit gesichert, wie das Hauptquartier es will, aber wir können ihn nicht halten, wenn wir angegriffen werden.“ Er benutzte seine einigermaßen sauberen Finger, um sich die Lider zu reiben und den typischen Augenaufschlag der Südstaatenschönheit hinzulegen, für die man ihn vor SEP gehalten hätte. „Der Sektor ist umfangreich ausgekundschaftet. Er gehört dir.“ Sie waren mies dran, und viel länger hielten sie nicht durch. Dennoch sagte Jack nichts dergleichen; sein Vertrauen in Gabriels taktisches Geschick, seine Intuition für Guerilla-Kämpfe und seine Berechnung verbot ihm das. Gabriel hatte ein Recht auf dieses Vertrauen, mit ihrer Freundschaft hatte das nichts zu tun. Aber wenn man im Nirgendwo festsaß, Ressourcen zur Neige gingen und das mechanische Wiederholen von Kundschaftsaufgaben in immer kleiner werdender Mannstärke den Tag bestimmte, gaben die meisten Leute das Konzept von Anrecht ziemlich schnell auf. Und dann war's zum Desertieren zu viel und zum Anstrengen zu wenig. Gabriel wischte den feuchten Film von dickem Nebel aus seinem Bart und brummte nichtssagend. Seine Gedanken pendelten bereits zwischen dem Terrain, das nun großzügig ihres war, bis die Omnics ihren Fuß wieder in der Tür hatten (kam schneller als gedacht) und den Hebeln, die er im Hauptquartier dafür ansetzen konnte, was seine Jungs und Mädels leisteten und welche Forderungen dafür fällig waren. Man kam nicht weit, wenn man darauf vertraute, dass die UN dafür sorgte – Gabriel war ein überzeugter Vertreter der Technik, sich erst das zu nehmen, was man brauchte, und danach zu sehen, was man gezwungenermaßen zurückgeben musste. Als er den Blick wieder in die Gegenwart richtete, stand Jack immer noch vor ihm und sah ihm mit diesem nüchternen Ausdruck an, als hätte er nicht gehört, dass er wegtreten konnte. Als starrte er nicht vor Dreck und wäre nicht ausgebrannt, denn SEP konnte Erschöpfung nicht ausblenden, es verlangsamte es nur. Und man sah weniger danach aus, was mehr ausmachte, als man glaubte, aber... Gabriel täuschte es nicht, er hatte schließlich denselben Mist mitgemacht. „War noch was?“ Gabriel konnte nicht verhindern, dass er schroffer klang als angemessen, doch Jack schien es nichts auszumachen. Er schien... auf etwas zu warten, allerdings wüsste Gabriel nicht, worauf; wenn Jack etwas wollte, fragte er. In unterschiedlicher Deutlichkeit, das war der Unterschied zwischen ihnen, effektiv war beides. „Lass dir nicht zu viel Zeit mit der Planung,“ erwiderte Jack nach einem diese Spur zu langen Moment des Schweigens. „In drei Stunden frage ich dich, wie es weitergeht.“ Drei Stunden Ruhe waren auch mit SEP nicht annähernd genug nach dieser Belastung, aber Jack war schon immer ein ekelhafter Tugendbold gewesen. Gabriel schnaufte spitz und klopfte ihm auf seine dreckige Schulter, einmal, zweimal. „Verkneif' dir mal diesen Eifer, du lässt mich scheiße aussehen, Farmjunge.“ Er betrachtete seinen zuvor auch nicht sauberen Handschuh demonstrativ abwägend, bevor er einen dritten, finalen Klaps auf Jacks Schulter setzte und über dessen respektloses Augenrollen hinwegging wie der gute Boss, der er war. „Trotzdem gut gemacht.“ Jack nickte knapp, und Gabriel ging an ihm vorbei, um den Schaden an den Jeeps zu inspizieren – genug Geplänkel, der graue Alltag rief. Jack schien sich auch wieder auf seine Aufgaben zu besinnen, als solches lächeln, gut aussehen und Omnics mit übertrieben großen Gewehren den Arsch aufreißen. Gabriel hörte seine Stimme, wie sie sich entfernte und zwanglos Grüße mit anderen Soldaten austauschte. Weitermachen wie bisher, so wie immer, über die eigenen Grenzen gehen, blablabla. Dennoch hatte er das dumpfe Gefühl, dieses Etwas getan zu haben, auf das Jack gewartet hatte.   Drei Tage und fünfzehn Stunden später hatte man sich an sie erinnert. 'Retten' nannte Gabriel es nicht, denn er hatte die Situation im Griff gehabt. Das Rationenproblem und die Kälte konnte er nicht beseitigen, deswegen war die Einmischung schon willkommen, doch der Preis war ihm auch absolut klar – jemand anders bekam die Lorbeeren für seinen Job und musste sich dafür nicht in dieser feucht-modrigen Wildnis die Eier abfrieren. Wenn er dadurch wieder an Dinge kam, die seinen vom Serum aus anspruchsvollen Kalorienhaushalt wieder decken konnten, war ihm das allerdings egal. Und die freundliche Übernahme brachte Essen, Brennstoff und sogar eine versiegelte Kiste mit irischem Whisky mit, das versöhnte ihn gerade so eben. „Ich hatte gedacht, du spielst absichtlich auf Zeit, um das Hauptquartier mit deiner Abwesenheit unter Druck zu setzen. Aber deine Resultate sind wirklich nicht beeindruckend.“ Jedes Geschenk war vergiftet, und dieses hier trug prompt den Spott von Ana Amari in sich. Fast beißend genug, um einem den Verpflegungsriegel zu verderben, doch in Anbetracht der Tatsache, dass zum ersten Mal seit Wochen alles an ihm trocken war, ließ Gabriel sie mit einem Heben seiner Augenbrauen davonkommen. „Und ich dachte, sie schicken mir qualifiziertes Personal und nicht wen Entbehrliches.“ „Ich bin auf eigenen Wunsch hier,“ erwiderte Ana würdevoll und trocken zugleich. Die aufschwingende Tür der engen Baracke stieß ihr beinahe in den Rücken, wäre Ana nicht rasch ausgewichen, als Jack im Türrahmen auftauchte – sein Datapad in der Hand und den Mund schon geöffnet, um irgendetwas zu sagen. Er schien sich zu besinnen, als er Ana sah, und sein Gesicht wechselte mit schmerzhafter Offensichtlichkeit von Überraschung zu Freude. Gabriel begriff nicht, wie Jacks militärische Grabesmiene ihn manchmal einfach im Stich lassen konnte, das würde seine Karriere noch ernsthaft dämpfen. Und das hätte er nicht verdient. „Jetzt wird mir einiges klar,“ bemerkte Jack fröhlich und überging damit das Protokoll völlig, um es dann nachträglich mit einem Salut abzuschließen. „Captain Reyes, Agent Amari.“ „Du könntest nicht diskret sein, um dein Leben zu retten, oder?“ Im Gegensatz zu Gabriel versuchte Ana in diesem Fall bloß halbherzig, streng zu klingen, während sie Jack ihren Unterarm reichte und den seinen herzlich umfasste. Der Größenunterschied war fast lächerlich, wenn man über die Schwielen an Anas Abzugsfinger hinwegsähe. Und Gabriel tat das nicht. „Ich kann mich nicht erinnern, etwas Indiskretes gesagt zu haben.“ Jack grinste – ein Freund offener Geheimnisse, immer und immer wieder – und verließ den Türrahmen für eine umgedrehte Kiste, auch wenn er sich nicht setzte, bis auch Ana Platz genommen hatte. Diese Art von Manieren, für die Gabriel weder Geduld noch Verständnis hatte, ließ ihn schnauben, und daraufhin fing er sich eins dieser winzigen, verschwörerischen Lächeln von Jack, bei denen die meisten Menschen vergaßen, was sie gerade hatten sagen wollen. „Das war auch gar nicht nötig.“ Ana glättete ihren Mantel und verschränkte die Finger auf einem Knie. „Wir haben uns gerade darüber unterhalten, welchen Nutzen es hat, wenn Gabriel den Einsatz künstlich in die Länge zieht.“ Da es nur noch wenige Leute gab, die ihm das abkauften, versuchte Gabriel sich nicht an einer unschuldigen Miene und kaute lediglich unbeeindruckt. „Daran ist nichts künstlich, das Terrain ist schwieriger als gedacht.“ Jack bedachte sie mit einem bestimmten Blick, während er abwesend einen eingetrockneten Schmutzfleck von seiner Hose rieb. Seine Nägel waren dunkel vor Erde – Jack hörte es nicht gern, doch in irgendeinem Winkel steckte der Bauernjunge in ihm, und darin seine Tendenz, ohne Rücksicht auf Verluste im Dreck zu wühlen. Das, und er war ein netter Kerl, der vermutlich irgendetwas gefunden hatte, wobei er helfen konnte. „Schwieriger als du dachtest,“ korrigierte Ana ihn sachlich und mit einem unmissverständlichen Seitenblick auf Gabriel. Jacks fragendes Stirnrunzeln überging sie. „Es ist egal. Morgen ist es beendet, und wir verlegen diesen temporären Stützpunkt.“ „Ich wette, dass du ihn verlegst,“ schlug Gabriel mit einer passablen Imitation von Anas Tonfall vor, und sie schnalzte harsch, aber nicht wirklich ärgerlich mit der Zunge. „Ich wette nicht mehr mit dir.“ Bestritten hatte sie es nicht. „Hauptsache, wir kommen aus diesem Loch raus.“ Jack zog eine nicht unbedingt ansehnliche Rationstafel mit Schokolade aus der Tasche und knackte sie mit wenig mehr als einem kurzen Druck seiner Knöchel, bevor er sie auf dem provisorischen Tisch ablegte und öffnete. Die Kakaobutter hatte sich bereits in weißen Flocken abgesetzt, trotzdem angelte Gabriel einen Brocken heraus; er hatte auch schon vor seiner Zeit im Militär schlimmere Dinge gegessen. „Das kann ich nicht versprechen. Es kommt darauf an, was wir finden.“ Ana pickte ein Stück aus der Mitte der Tafel und legte es sich unter die Zunge. „Auf der Karte sind mindestens ein Dutzend weiterer Minenschächte, an die eure Kundschafter nicht nah genug herangekommen sind, um sie zu bewerten. Wenn keine Omnic-Lager unter den markierten Zielen sind, werden wir weitersuchen.“ „Na so was.“ Gabriel knüllte das leere Papier seines Riegels zusammen und zeigte sich ahnungslos gegenüber Anas scharfem Blick. Und das wurde ihr auch bald klar, denn sie suchte sich erbarmungslos das schwächere Ziel aus – wie jeder gute Scharfschütze. „Jack?“ Jack hatte genug von Gabriels Vorstoßbefehlen selbst ausgeführt, um ein gewisses Muster zu erkennen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen: dass die Routen manchen Minenschächten bewusst nicht nahe kamen, um den Eindruck zu erwecken, dass diese ihnen entgangen waren, und das Überwachungsraster gerade so weit zu dehnen, dass man sie noch im Auge behalten konnte. Vielleicht ahnte er sogar, welche Standorte Gabriel wirklich ins Auge gefasst hatte, ohne dass das in einem Bericht aufgetaucht war. Folglich zuckte er unter Anas bohrendem Blick zwar, heuchelte aber so glaubhaft Arglosigkeit, dass Gabriel fast stolz auf ihn war. Wer konnte schon in diese vergissmeinnichtblauen Augen schauen und sie verdächtigen, dass der Kerl sich gerade dümmer stellte, als er war? „Jack, lass diese blöde Grimasse.“ Ana konnte es anscheinend. Jack schmunzelte und zuckte mit den Schultern, fischte sich stattdessen ein Stück Schokolade aus dem Silberpapier. „Ich bin zuversichtlich, dass wir etwas finden,“ begann er in einem halbwegs versöhnlichen Tonfall. „Und wenn es so wäre, würde ich vorschlagen, dass ich den Zug nach hinten absichere.“ Gabriel war noch nicht so weit gekommen, dass er bereits konkrete Planung über die Zusammensetzung der Teams besaß, auch wenn ein paar vage Ideen bereits existierten, so wie immer. Jack ganz nach hinten zu versetzen gehörte eigentlich nicht dazu, eher auf die Flanke oder direkt an die Speerspitze. Es gab allerdings auch keinen Grund, ihm das zu verweigern, und wenn Jack ging, meldeten sich meist noch ein paar andere freiwillig, ohne dass Gabriel sie abkommandieren musste. Er zuckte mit den Schultern und nickte. „Ich dachte, du hättest mal genug von Dreckduschen.“ Denn hinter den schweren Fahrzeugdivisionen waren die einem absolut gewiss. „Hast du eine Ahnung, wie viel Platz einem eine dreckige Uniform auf dem Rücktransport verschafft?“ Jack grinste, und nicht zum ersten oder zum letzten Mal hatte Gabriel das Bedürfnis, ihm mindestens ein Bein unter dem Körper wegzuziehen. „Ich dachte, du kämst mit mir, Morrison. Eine Schneise der Zerstörung schlagen, anstatt sie aufzuräumen – so wie früher.“ Und ja, vielleicht hatte er auch daran gedacht, es so aufzustellen. Wenn es etwas gab, das besser war, als allein zu kämpfen wie ein verdammter Gott, dann war es, zu zweit so zu kämpfen. Jack war der einzige hier, der verstand, wie sich das anfühlte, er war der einzige, der Gabriel an Kraft, Agilität und Schnelligkeit gleichkam, weil er sich auf dieselbe Weise durch das SEP gequält hatte. Er empfand als einziger auch, was für einen irren Spaß es machte, sich ohne Rücksicht ins Getümmel zu werfen und einen Schatten in seinem Rücken zu haben, dem man absolut vertrauen konnte. Für eine kurze Weile weniger Bullshit à la 'für Ehre und Vaterland' und mehr 'Lass uns sehen, wie schnell wir ihnen auf's Maul hauen können', wie damals in den Trainingsmatches. Jack zuckte etwas steif mit den Achseln und lächelte. „Irgendjemand muss es tun, Gabe – hinter dir aufräumen, meine ich. Dein Munitionsverbrauch ist jetzt schon legendär.“ Ana gab ein Husten von sich, das in einer anderen Situation vielleicht ein Kichern gewesen wäre. „Stimmt. Es wundert mich fast, dass man mir keine Munitionskiste mit deinem Namen mitgegeben hat.“ Gabriel wischte seine Enttäuschung mit einem entwaffnenden Heben seiner leeren Hände weg und präsentierte seine Interpretation eines unschuldigen Gesichtsausdrucks, schon aus Rekrutentagen nur als Reyes' wölfisches Grinsen bekannt. „Die halten mich an der kurzen Leine.“ „Schön wär's.“ Bevor Gabriel darauf etwas Spitzes erwidern konnte, wandte Ana sich Jack zu, ein weiteres Projektil auf ihrer Zunge – doch sie wurde vom Abfeuern abgehalten, als Jacks Kommunikator zu plärren begann. Die unsichtbare Vierte Gottheit unter ihnen. „Sollst du mal wieder einen Traktor reparieren, Jack?“ Gabriel hatte nicht vor, den anderen jemals vergessen zu lassen, dass er vor langer Zeit mal behauptet hatte, Militärfahrzeuge seien eigentlich nicht sehr verschieden von landwirtschaftlichen Maschinen und deshalb auch nach derselben Logik zu reparieren. Rein technisch stimmte das vielleicht, aber als geborener Städter und Mechanik-Snob war Gabriel verpflichtet, sich darüber lustig zu machen. Es brachte ihm einen mittelmäßig gut gezielten Tritt in die Wade ein, bevor Jack aufstand und sich ein Stück Schokolade in die Wange schob, wohl wissend, dass nichts mehr da wäre, wenn er wiederkam. „Man sollte meinen, die brächten uns wenigstens funktionierende Panzer für das hier.“ „Sie wollten euch gar keine geben, zwei SEP-Soldaten sollten reichen.“ Es war unmöglich zu sagen, ob Ana das ernst meinte. Der grimmige Zug um ihren Mund blieb jedenfalls, als Jack sich wieder aus der winzigen Kommandozentrale schob und den Geruch von Matsch und nasser Baumwolle zurückließ. Ana zog ihre Handschuhe wieder über, erhob sich jedoch noch nicht, sondern klemmte sie zwischen die Knie. Dass sie fror, war nicht überraschend – es war kalt hier, selbst nach Jacks Empfinden – dass sie es zeigte dagegen schon. Sie sah aus, als kaute sie auf etwas Bittererem als gealterter Schokolade, und Dinge, die Ana Sorgen machten, machten Gabriel meist auch welche. Er beschäftigte sich damit, ihr aufgestocktes Arsenal auf seinem Datapad durchzugehen und erste Entwürfe für dessen Aufteilung anzulegen, als Ana sich wiederfand. Es hatte nur eine halbe Minute gedauert. Gott schütze effiziente Soldatinnen. „Willst du ihn wirklich dort einsetzen?“ Gabriels Finger schwebte über dem Touchscreen. „Reden wir noch von Sam?“ Anas Beziehung zu einem Soldaten seines Trupps war nicht verboten, da sie nicht derselben Division angehörten, wurde aber trotzdem diskret gehandhabt (zumindest wenn sie nicht allein waren). Ana war keine ängstlich-umsorgende Freundin, allerdings war auch nichts Falsches daran, wenn sie wissen wollte, wo genau Gabriel ihren Partner unterbringen wollte. Mochte an ihrer Profession liegen, aber Ana hatte Menschen gern im Auge. „Ich rede von Jack.“ Es war vermutlich Einbildung, dass der dunkle Karamellton ihrer Haut etwas wärmer wurde. „Und das weißt du.“ Gabriel war ausnahmsweise der Meinung, von nichts zu wissen, entsprechend ungeduldig fiel die Geste aus, mit der er sie aufforderte, konkreter zu werden. „Ihn als Nachhut einzusetzen,“ Anas dunkle Augen tasteten sein Gesicht so unnachgiebig ab wie ihr Zielfernrohr, „sieht nicht nach viel aus.“ „Nein,“ stimmte Gabriel ihr knapp zu. „Aber er will es. Und es ist nicht, dass ich ihn da nicht brauchen könnte.“ Mit seiner Vorliebe für schwere Artilleriegeschosse und Raketen war Jack dort sogar gut aufgehoben, denn er konnte Breschen in die Deckung schießen und schnell genug die Reihen schließen, wenn sie wirklich aus dem Hinterhalt attackiert wurden. Was gut möglich war bei der Taktik, die Gabriel verfolgte. Aber ruhmreich war es nicht, nicht auf dem Papier jedenfalls. „Man wird ihn nicht befördern,“ begann Ana langsamer. „Und er weiß das.“ Gabriel ließ das Gerät sinken und musterte sie auf seine eigene, nicht weniger intensive und auch nicht weniger unangenehme Art. Jack war ein wirklich guter Soldat, der sein eigenes Kommando verdient hatte – und er würde eins bekommen, sobald er sich entsprechend profiliert hatte. Er musste sich mehr als die anderen ins Zeug legen, weil er physiologisch besser ausgestattet war und die Beförderungsempfehlung seines besten Freundes nicht viel zählte, auch wenn der Freund sein Vorgesetzter war, und Jack war sehr empfindlich gegen solche Unterstellungen. Hätte er Gabriels Angebot nicht ausgeschlagen, mit ihm an die Front zu gehen, dann ja, niemand könnte da noch behaupten, dass er nicht befördert werden sollte. Hatte er aber getan. „Und nun.“ Das leise Grollen in Gabriels Stimme war immer da, Teil seiner zweisprachigen Herkunft, doch das machte es leicht, ihm keine Bedeutung beizumessen, obwohl es eine hatte. „Was erwartest du von mir?“ Ana starrte ihn an, durchdringend, konzentriert. Was auch immer sie suchte, fand sie nicht. „Kennst du den Grund?“ „Nein.“ Der starrsinnige Teil von ihm wollte es gar nicht wissen. Jack war nicht unvernünftig, warum also sollte Gabriel seine Entscheidungen in Frage stellen? Es brachte ihm ein leises, nicht einmal boshaftes, aber auch nicht besonders amüsiertes Auflachen ein. „Hast du überhaupt eine Ahnung…“ Ana sog leise Luft zwischen den Zähnen hindurch, „wie sehr Jack dich verehrt?“ Für einen Moment blieb Gabriel still und ließ ihre Worte sinken. Dann behandelte er es als Scherz, weil es wirklich das Einzige war, das er tun konnte. Nach einem flüchtigen Zögern tat Ana dasselbe, und sie wechselten das Thema, zurück zu militärischen Belangen, zurück zu Dingen, die nicht so… unberührt waren. Ana irrte sich. Das passierte den Besten unter ihnen.   Krieg gegen Omnics war genauso hässlich wie Krieg gegen alles andere – es gab Menschen, die fanden das erstaunlich. Gabriel konnte zwischen der knochentiefen Erleichterung nach einer gewonnenen Schlacht und der Anspannung auf eine neue nichts feststellen, was anders gewesen wäre. In diesen ewig verregneten Bergen gab es wenigstens keine zivilen Opfer. Solange man nicht von Omnics sprach, die nicht für den Kampf gebaut waren, und für so viel Philosophie war Gabriel zu froh, dass es diesmal keine Toten gegeben hatte. Mal sehen, ob das so blieb, wenn sie von hier abzogen, aber man konnte sich jeden Triumph versauen. Es brachte letztendlich nichts, auch wenn Gabriel den Eindruck haben konnte, man ließe seine Truppe noch eine Weile länger hier schmoren, weil der Informationsfluss so dürftig gewesen war. Wenn sie glaubten, dass solche Disziplinarmaßnahmen ihn wieder auf Linie brachten, hatten sie keine Erfahrung mit Captains außerhalb der Football-Mannschaft. Gabriel hatte schon aus weniger Ressourcen eine Party gemacht, das einzige echte Problem war die Enge in den Baracken und der Geruch von verschwitzten Menschen in bestenfalls klammer, mit Schlamm bespritzter Kleidung. Aber solange Probleme lösten sich meist. Irgendwann im Laufe der Nacht zog Gabriel sich aus der überheizten Konservendose zurück, die sie anstatt einer Messe hatten, und setzte sich auf die Ladefläche eines Pritschenwagens; wie durch ein Wunder regnete es nicht, und der Whisky hielt die Kälte und den nassen Hosenboden, den er sich trotz der übergespannten Plane holte, auf bequemem Abstand. SEP hatte viele Vorteile, unter ihnen eine erheblich beschleunigte Metabolisierung von Giften. Gifte, zu denen Alkohol vernünftigerweise dazugehörte, und es führte dazu, dass man höchstens eine halbe Stunde, eher aber nur zwanzig Minuten betrunken war, bevor man schlagartig wieder ausnüchterte und Hunger hatte. Was für eine verdammte Verschwendung – jetzt musste Gabriel schon ein schlechtes Gewissen haben. Es war nicht der einzige Grund für seinen Rückzug: er hatte wochenlang auf engem Raum mit Soldaten und Soldatinnen unter seinem Kommando gelebt, ihre angespannten, erwartungsvollen Blicke ständig an seinem Rücken gespürt. Das waren ausgebildete Kämpfer, keine Anfänger, dennoch vereinnahmte ihre Aufmerksamkeit ihn. Vielleicht weil er ihnen Hoffnung gab gegen nichtmenschliche Gegner, vielleicht weil der Stress sie hier draußen zu oft einholte, vielleicht war er auch selbst langsam überreizt. Aber Gabriel bevorzugte kleinere Trupps mit unabhängig arbeitenden Teams, die nicht von ihm einforderten, ihnen über die Schulter zu schauen. Leider brachte das Militär ihnen bei, Absegnung ihres Vorgesetzten einzuholen und die Befehlskette in jedem Fall einzuhalten. Wenn Gabriel wollte, dass die Leute ihren eigenen Kopf benutzten, musste er sich wohl oder übel welche beschaffen, die diesen Kopf schon hatten, anstatt ihn sich ständig abzuschrauben. „Ich hätte mir denken können, dass du ein Mauerblümchen bist.“ Nur in Indiana, wo Tanzabende mit Quadrille und Blumenstrauß am Revers nach wie vor als wilde Vergnüglichkeit galten, benutzte noch jemand das Wort 'Mauerblümchen'. „Irgendjemand hatte die idiotische Idee mit dem Tanzen in einer Sardinenbüchse,“ knurrte Gabriel in die Dunkelheit, in der die schmatzenden Schritte unschwer auszumachen waren. „Wollte Ana bei deinem Steh-Tango nicht mehr mitmachen?“ Gabriel war halb fasziniert, dass Jack sie überhaupt dazu hatte bringen können, doch die Erleichterung machte sie alle etwas wirr im Kopf. „Naw.“ Noch so ein Wort, das man nur im Hinterland amerikanischer Bundesstaaten benutzte und das Jack sich normalerweise verkniff, wenn er nicht angetrunken war und daher auch nicht wollte, dass man ihn für ein Landei hielt. „Ist so ein seltsamer Typ aufgetaucht, der behauptet hat, ihr Verlobter zu sein. Dem musste ich dann das Feld räumen.“ Verlobter... Ana musste vergessen haben, das zu erwähnen. Gabriel schnaubte abschätzig und spähte in die Dunkelheit, bis Jacks Silhouette sich umständlich aus ihr herausschälte und sich neben ihn auf die Ladefläche hievte. In der Nacht war er genauso entfärbt wie alles ringsum, auch das Gold seiner Haare und der rosige Farbton seiner Wangen – mit anderen Worten, man verpasste bei seinem Anblick etwas, während Gabriel nicht anders aussah als sonst. Das Schweigen zwischen ihnen war genauso ungezwungen wie sonst. Und es war auch nicht eigenartig, dass Gabriel sich absetzte und Jack ihm irgendwann folgte, um ihn zurückzuholen oder im Prozess des Zurückholens selbst wegblieb. Seine Geselligkeit war wesentlich ausgeprägter als Gabriels, aber nicht zwanghaft; sonst hätten sie es niemals miteinander ausgehalten. Anas Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Er hatte sie tatsächlich wieder vergessen, und jetzt kehrten sie ungebeten zurück und störten den ersten ruhigen Moment seit Tagen. Wochen. „Hey, Rubiecito?“ „Ist das 'ne Beleidigung?“ „Deine Goldlöckchen beleidigen mich schon seit Stunde null, also ja.“ Jack lachte, tief und sorglos. Dieses Lachen konnte die ganze Baracke mit Leben erfüllen. Der Wagen schwankte leicht, als Jack sich anders hinsetzte, die Schemen seines Körpers waren ein heller Umriss neben Gabriel, der manchmal weiße Dampfwölkchen ausatmete, während sie beide die verstreichende Zeit als normale Männer genossen. Jack ließ seine Beine über dem völlig aufgeweichten Boden baumeln, Gabriel schob die Hände unter die Achseln und versuchte träge, in den kleinen Flecken klaren Himmels zwischen den Wolken Sterne auszumachen. Gelang ihm nicht – Regenwolken waren erstaunlich wie Großstadtsmog. Sein Stoffwechsel spaltete den Whisky rigoros auf und hinterließ nur ein hohles Gefühl von Hunger und Durst. Vorbereitet, wie er nun mal war, fischte er ein knisterndes Päckchen Rationsnahrung aus seiner Tasche, nur um zu spüren, wie der Wagen sich erneut schüttelte und Jack näherrutschte. „Hast du nicht einen Walzer zu tanzen, Morrison?“ „Sei jetzt kein Arsch.“ Eine warme Hand, deren Haut durchtränkt war vom Gestank von Pulsgranaten und verbranntem Öl, tastete plump nach seinem Arm, unbeholfen in der Dunkelheit und dennoch durchzogen von einem seltsamen Eigenleben. „Vergiss es und geh zurück auf die Party, Indiana Jones.“ Gabriel hielt das Päckchen außer Reichweite mit der anderen Hand und hielt die Jack zugewandte Seite abwehrend hoch. „Und dich hier beim Schmollen allein lassen?“ Das Lachen schwang noch irgendwo in Jacks Stimme mit. „Niemals.“ Niemals. Gabriels Mund war mit einem Mal trocken. Er war abgelenkt von diesem Wort, mehr als er sollte, sodass Jacks blindes Vortasten ihm einen Stoß gegen die Nase gab. Nicht schmerzhaft, aber sein unerwarteter Treffer brachte Jack zum Lachen und Gabriel dazu, ihn gegen die Schulter zu boxen. „Hol' dir gefälligst selbst was.“ Wie auf ein geheimes Stichwort für So Nicht, Reyes setzte der Regen wieder ein, plätschernd und heftig. Jack zog seine Beine auf die Ladefläche, bevor seine Hose nass wurde, und auch Gabriel rutschte gegen die krude gezimmerte Sitzfläche. Sie bewegten sich nahezu synchron in der Dunkelheit, Schulter an Schulter, im perfekten Winkel für möglichst weite Sicht. Wäre es nicht komplett dunkel gewesen. Wäre das hier nicht eine Situation, die nichts mit Gefecht zu tun hätte. Wäre es nicht demnach... völlig unnötig. Gabriel brach wortlos die Hälfte seiner Ration ab und drückte sie dorthin, wo er Jacks Gesicht vermutete. Dass er tatsächlich relativ gut zielte und seine verhornten Fingerkuppen für einen Moment von trockenen Lippen gestreift wurden war ein weiteres Zeugnis ihrer Synchronisation, die Hitze eines anderen Körpers, der auf ähnlicher Temperatur lief wie sein eigener ein eigenartig natürliches Gefühl. Er verfluchte Ana dafür, dass sie das alles so... seltsam gemacht hatte. Jack war sein Freund. Er hatte irgendwelche wohlerwogenen Gründe, warum er tat, was er tat. Aber in Gabriels Nähe bleiben zu wollen war keiner davon. „Bevor's geregnet hat, wollte ich dich eigentlich wieder reinholen, um dich aufzufordern.“ Jacks Stimme hörte man das Schmunzeln an, jedoch nicht, ob er es ernst meinte. Gabriel entschied sich ohne nachzudenken, dass er es als Scherz behandelte. Wieder. „Nur Loser tanzen. Was habe ich dir am ersten Tag im Programm gesagt?“ „Kann mich nicht erinnern. Nicht in der Dusche zu pinkeln?“ „Sobald du irgendwelche uncoolen Landei-Manöver ziehst, bist du für mich gestorben.“ „Wenn ich mich daran gehalten hätte, hättest du nackt zur Abschlussprüfung auflaufen müssen, weil du keine Wäscheleine effektiv spannen kannst.“ Das... war doch schon alles ewig her und vergessen. Gabriel würgte einen trockenen Brocken Rationsnahrung herunter und runzelte die Stirn bei der Erinnerung. „Wär' nett, wenn du das nicht noch deinen Enkeln erzählen würdest. Oder deinen Rekruten, was auch immer zuerst kommt.“ „Keins,“ erwiderte Jack mit erstaunlich leichter Festigkeit und kaute. „Okay.“ Über Gabriel war jetzt nur noch die Plane, auf die der Regen eindrosch, aber die Sterne waren eh nicht zu sehen gewesen. Er hatte die Wärme auf seiner rechten Seite und den kalten Stahl auf seiner linken, und während Jack und er wieder in zufriedenes Schweigen verfielen, fragte er sich, warum zum Teufel er irgendetwas in Frage gestellt hatte. Es war okay. Das zwischen ihm und Jack brauchte keine Definition, denn es war okay so, und es würde nicht schlechter werden.   Das Leben zeigte eine öfter mal den Mittelfinger – Gabriel war es nicht gewohnt, dass das mal nicht er derjenige war, der ihn zu sehen bekam. Das, oder es gab Karma-Ausgleich, denn dafür, dass Ana ihn seinen Petty Officer kostete (Rückzug ins zivile Leben, wer tat das?!), behielt sie auch nicht Recht. Jack wurde doch befördert. Gabriel auch. Gabriel zuerst, weil man ihn als Vorgesetzten sonst um Erlaubnis hätte fragen müssen – auch wenn er den deutlichen Eindruck hatte, dass Overwatch nicht unbedingt viel fragte. Kein vernünftiger Mensch lehnte ab. Wer es doch tat, wurde auf seine Dummheit hingewiesen. Gabriel tauschte den Traum von den Special Ops gegen das hier ein, wenn auch zunächst zögerlich: die Karriere dort war vorgezeichnet, bei Overwatch war sie es nicht. Keine feste Instanz, wenn sie in der Omnic-Krise versagten, würde man nicht zimperlich mit ihnen umgehen. Aber die kleine, selbstständige Truppe, die er immer gewollt hatte, bestehend aus lauter Wahnsinnigen, großzügigen Ressourcen und keinem, der ihm sagte, was er tun sollte. Für so was konnte man ausgetretene Pfade schon mal verlassen. Außerdem war SEP hier kein extravaganter Bonus mehr, sondern eine Mindestvoraussetzung, um mithalten zu können. Es gab immer Haken. Gabriel durfte selbst entscheiden, musste der UN aber Rechenschaft ablegen, und davon klingelten selbst ihm manchmal die Ohren. Was auch der Grund war, weshalb er bereit war, den Bombenalarm im Gebäude auszulösen, als er das blaue Blinken an der Sicherheitstür seines Büros sah, welches ihm verkündete, dass jemand autorisiert Zutritt erhalten hatte. So was gab es sonst nur bei öffentlichen Toiletten, Ähnlichkeiten nicht ausgeschlossen. Gabriel musste wohl anfangen, da drin Sprengstoff zu lagern, damit er eine höhere Sicherheitsfreigabe bekam. Sein bohrender Blick landete erst auf dem Fixationspunkt des Irisscanners, dann auf dem eischalenfarbenen Besuchersessel vor seinem Schreibtisch, sobald die Tür lautlos zur Seite glitt. Der... leer war. So wie das ganze Büro. Gabriel war nicht unmittelbar besorgt: seine Sorgfalt mit Berichten hatte merklich nachgelassen, je mehr Dinge es gab, die er dort nicht unbedingt aufführen wollte, und er griff auch nicht häufig auf offizielle Datenbanken zu, sodass eine Suche von seinem Computer aus leicht nachzuverfolgen war. Aber trotzdem... Was zur Hölle. „Hier unten.“ Nach wie vor was zur Hölle. Gabriel trat an die Fensterfront gegenüber der Tür und zog sich die Kapuze vom Kopf, um die Aramidfaser seines Handschuhs einen Moment lang gegen sein kurzgeschorenes Haar zu pressen. Nein, keine auffällige Beule. Und keine Sehstörungen. Jack saß mit überkreuzten Beinen unter seinem Schreibtisch, Datapad auf dem einen Knie, Notizblock auf dem anderen, und hatte den Nerv, Gabriel so anzusehen, als sei er der seltsame Besuch in seinem Büro. Sein rechtes Auge wurde beschirmt von dem Plasma-Linse, die wie ein blaues Monokel über der Augenhöhle saß und die Sehschärfe modifizierte. Jack hatte das Ding bekommen, nachdem seine rechte Gesichtshälfte von einem Gasangriff getroffen worden war, der die Netzhaut beschädigt hatte. Gabriel hatte ihn nicht gefragt, wie schwer der Schaden war. Keiner von ihnen hatte Interesse, darüber zu reden. Allerdings trug Jack die Linse nur bei Gefechtseinsätzen, und das hier war... bisher keiner. „Was tust du 'unten'?“ Es gab immer Gemunkel über Gabriel Reyes' lose Moralvorstellungen, aber noch nie hatte ihm jemand unterstellt, er hätte blonde Offiziere unter seinem Schreibtisch, die dort auf seine Ankunft warteten... und nein, er hatte auch nicht mal daran gedacht. „Verstecken,“ erwiderte Jack schlicht, als sei das völlig offensichtlich. Gabriel verschränkte die Arme und ließ sich mit einem Grinsen in seinen Schreibtischsessel fallen, auch wenn er darauf achtete, gleichzeitig zurückzurollen, sodass sie ausreichenden Abstand hatten. Wenn er im Büro war, holte das Sicherheitssystem zwar erst seine Genehmigung ein, bevor es Besucher einließ (deswegen warteten ja gelegentlich Funktionäre auf ihn), aber man musste es ja nicht absurder machen, als es war. „Wenn ich geahnt hätte, dass der kleine Cowboy dir solche Angst macht, hätte ich ihm eine Glocke umgehängt.“ Jack winkte seinen Spott ungeduldig mit dem Stift in seiner Hand beiseite. Auf den zweiten Blick schien er damit weniger manuelle Notizen zu machen und mehr... Formen zu zeichnen. Das wurde ja immer besser, jetzt machte der Kerl Malstunden unter dem Tisch seines Vorgesetzten. Gabriel musste zusehen, dass er Dr. Ziegler wegen dieser Medikamente ansprach, die sie Jack zur Beschleunigung seiner Erholung gegeben hatte, die schienen bedenkliche Nebenwirkungen zu haben. „Vor Pharah.“ Jack sagte das so, als wäre es völlig selbsterklärend, und Gabriel fand, dass es absolut nichts erklärte. „Keine kleinen Cowboys also, sondern kleine Mädchen.“ So viel traf zu, Fareeha kam nicht hierher; Ana hatte unterschwellig ausgedrückt, dass sie ihre Tochter nicht in der Nähe von Dingen haben wollte, die sie nicht hören sollte, und Gabriel hatte es umgesetzt, indem er es dem Mädchen einfach verbot, auf diesen Flur zu gehen. Wenn sie älter war, würde sie sehen, dass es ihrem Besten diente... Bis dahin hatte trotzdem mal eine naive junge Krankenschwester gefragt, ob Fareeha mal Onkel Gabriel besuchen wollte. Die arme Frau wachte mit Sicherheit noch heute schreiend aus Alpträumen von diesem Blick auf. Dafür, dass Gabriel keine Kinder mochte, hätte er stolzer nicht sein können. Jack runzelte die Stirn und blickte wieder auf sein Datapad, dann auf den Notizblock. „Sie will ein Spielzeuggewehr. Ana will das nicht.“ Gabriel erzeugte sein Maximum an Mitgefühl, indem er schnaubte, statt zu lachen. „Dios, Jack.“ Das Stirnrunzeln wurde tiefer, beinahe verstockt, während Jack sich wieder seinem Mandala widmete. Es gab eine Menge Dinge, die der ehemalige Farmjunge gelernt hatte, seit er sich eingeschrieben hatte, doch konsequent gegenüber Kindern zu sein gehörte nicht dazu. Wenn Ana nicht in der Nähe war, schien er nicht in der Lage, Fareeha etwas abzuschlagen – und sie war ein vernünftiges Kind, sie missbrauchte das nicht. Reserviert für Notfälle. Wie anscheinend jetzt. „Und warum unter meinem Tisch?“ „Sieht man nicht unter der Tür hindurch.“ Trotzdem war Jack noch nicht wieder aufgestanden, und es lag wohl kaum daran, dass ihm die Beine eingeschlafen waren. Gabriel wartete noch ein paar Sekunden, dann räusperte er sich. „Jack, ich brauche meinen Schreibtisch.“ „Darauf liegt Staub.“ „Die Reinigungsroboter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Steh auf, ich beschütze dich vor der bösen Fareeha.“ Wenn auch rein aus egoistischen Motiven, um keinen Unfrieden im Team zuzulassen. Sonst hätte er Jack sich winden lassen. Der andere zögerte, allerdings kam das diesmal einem Befehl so nahe, wie es ging, ohne den entsprechenden Tonfall anzuschlagen. Gabriel seufzte und beugte sich vor, um zu sehen, was es war, das Jack beschäftigte – vermutlich etwas, das er auch gut woanders tun konnte. Er zeichnete geometrische, ineinander verschlungene Formen vom Datapad ab. Manchmal wurden die Bleistiftlinien dünn und wirrer an den Knotenpunkten, als seien sie schwer voneinander zu unterscheiden. Oh. Jack wollte nicht, dass ihn jemand dabei sah, wie er mit der Plasma-Linse übte. Wenn er schon riskieren musste, dass jemand diesen Raum nutzte, dann nur Gabriel. Der musste es schließlich für den Notfall wissen, wenn er ihm einen Auftrag zuteilte. Und das war vermutlich der einzige Grund. Jack klappte den Block zu und hakte die biotische Verankerung der Plasma-Linse los. Gabriel löste die Verschränkung seiner Arme und reichte ihm wortlos die Hand. Die Jack nicht brauchte, auch wenn sich an Augen- und Mundwinkeln langsam Falten in die Haut ritzten, und trotzdem waren seine Augen immer noch der wolkenlose Himmel an einem sonnigen Tag, wenn sie lächelten. So wie jetzt, als er Gabriels Hand ergriff und sich beim Aufrichten bewusst schwerer anstellte, als er es war. „Ich bezahl' dich nicht für's Rumsitzen, Morrison. An die Arbeit.“ Jack grinste und salutierte zackig, sobald er Gabriel wieder losgelassen hatte. „Sir, danke, Sir.“ „Soll ich dich wieder den Löwen vorwerfen, Rubiecito?“ „Scheint mir plötzlich verlockender, als hier mit dir zu sitzen.“ Jack legte seinen Schreibkram in die Armbeuge und klopfte unsichtbaren Staub von seiner Hose, bevor seine Miene sich wieder zu dem üblichen, undurchdringlichen Ausdruck von professionellem Ernst verschloss. Trotzdem ging er nicht sofort, und zum ersten Mal seit Jahren hatte Gabriel wieder das Gefühl, dass Jack... auf etwas wartete. Und Gabriel wusste jetzt nicht mehr als zuvor, was es war. Er konnte alles an Jack analysieren, seine Haltung, das Blinzeln seines rechten Auges, die Blickrichtung auf Gabriels Narben. Aber nicht, was in diesem Hirn vorging. Er sollte nur langsam anfangen, es zu wissen. Wie zur Strafe für seine elende Verwirrung erwachte sein Komm-Gerät auf dem Schreibtisch summend zum Leben. „Major Reyes, Sir, erbitte Erlaubnis, Agent McCree umbringen zu dürfen.“ Es war nicht notwendig, darauf zu antworten, und doch öffnete Gabriel den Kanal, bevor sein Verstand das abgesegnet zu haben schien. „Abgelehnt, Shimada.“ Jack, schon halb aus der Tür, brummte dumpf und zog das Schloss hinter sich zu, zweifellos auf dem Weg, um sich zu versichern, dass es auch nicht zu dem Versuch kam, in Mord und Totschlag zu verfallen. Erst jetzt gab Gabriel zu, dass er darüber erleichtert war. Dass der Moment vorbei war, ohne dass er etwas getan hatte; und es war immer noch okay, das war ein Erfolg auf ganzer Linie. Denn es bedeutete, dass es zwischen ihnen in dieser kritischen Phase nicht schlechter wurde.   Es wurde schlechter. Strike Commander Jack fucking Morrison. Und das Beschissene, bei jedem anderen wäre es okay gewesen. Immer noch mies, übergangen zu werden, aber es gäbe immer noch den einen Typen, der genau war wie Gabriel, genauso stark, genauso drauf, der ebenfalls qualifiziert wäre und dann einfach über alles hinwegkam. Doch es war Jack. Der Typ, der Gabriel klar gemacht hätte, dass er diese Position nicht unbedingt wollte, weil er immer noch alles tun konnte, was er wollte, war nicht mehr da. Overwatch hatte ihm wenige Grenzen gesetzt, es sollte nicht wichtig sein, wer offiziell der Boss war. Gabriel hatte das Kommando zuvor gehabt, sich allerdings nie daran gestört, Jack auf die Poster und den ganzen kitschigen Publicity-Müll zu bringen – man brauchte sein Gesicht nicht zu kennen, Jacks hingegen schon. Niemand stellte Gabriels Talent in Frage. Nur, dass er der Richtige für den Job war. Es zweifelte auch niemand an, dass er Charisma hatte, aber Jacks war anders, weniger herausfordernd und unnachgiebig, mehr ermutigend und verbindend. Jack suchte neue, vielversprechende Rekruten und baute sie in all seiner Geduld auf. Gabriel wählte sich gezielt zähe Individuen aus und setzte ihnen wortwörtlich die Pistole auf die Brust. Was er tat, war nicht dazu gedacht, ans Licht zu kommen. Er hatte einen ehemaligen Bandenkriminellen zu einem seiner vertrauenswürdigsten Agenten geformt. Er hatte Moira O'Deorain rekrutiert, als die meisten es nicht mal wagten, ihren Namen auszusprechen, als beschworen sie dadurch Unglück herauf. Er hatte die Spur eines japanischen Verbrecherprinzen gefunden und zog die Schlinge langsam enger. Er hatte es verdient. Das Gute und das Schlechte. Er wollte nicht die Breitband-Poster oder die Medaillen, aber das wollte er zugestanden haben. Stattdessen Blackwatch. Das, was er immer getan hatte, bloß dass es jetzt abgetrennt vom respektablen, weiße-Rüstung-schimmernden Overwatch war wie ein Geschwür, das man noch nicht operieren konnte. Bei dem man auf den Tag wartete, an dem das endlich möglich war. Doch das war nur Gabriels Sicht der Dinge. Und er hatte nicht vor, ewig über dieses Gefühl zu lamentieren; er wusste sogar genau, was er tun musste, sobald er die Mittel dazu hatte. „Damit wir klar sind, jefe – 'später' wie später oder 'später' wie gar nicht? Will mich nich' für dich schämen müssen.“ Ein Vorschlaghammer vor den Schädel könnte keinen Respekt vor Autoritäten in Jesse McCree einprügeln. Respekt vor Stärke, Intelligenz, oder, wie er es nannte, Chuzpe, der war vorhanden, aber Titel waren ihm gleichgültig. Deswegen schien er auch wenig Verständnis für die Distanz zu haben, die Jacks Ernennung zwischen diesen und Gabriel gezogen hatte; das hieß allerdings nicht, dass er nicht wusste, dass es sie gab. Daher sein Nachhaken, ob Gabriel wirklich vorhatte, seine Einladung zur Halloween-Party wahrzunehmen. Overwatch-Veteranen unter sich, Kostüme erwünscht, das ganze Programm, solange man sich gerade auf dem Kontinent befand. Was einige Agenten nicht taten, aber ihre Grüße bestellen ließen. Oder die Einladung ausgeschlagen hatten. „Später,“ wiederholte Gabriel ruhig und richtete den Bügel des Headsets, der sich unter dem Bund seiner Mütze verfangen hatte. „Kay.“ McCree klang weder überrascht noch überzeugt. „Kostüm dabei?“ Die meisten Menschen fanden, dass Gabriel Reyes rund um die Uhr die Ausgeburt eines Horrorfilms war. Seine Freunde nicht, doch anders als Gabriel hatten die auch seltener die Gelegenheit, sich zu verkleiden. „Willst du etwas, Jesse, oder gehst du mir aus Langeweile auf die Nerven?“ Ein paar Sekunden Stille, in denen Gabriel vor sich sah, wie McCree auf dem Stumpen seiner Zigarre herumkaute und seine Brauen die Augen noch weiter überschatteten. „Begleitung dabei?“ McCrees Misstrauen gegen Moira war kein Geheimnis, und Gabriel spielte flüchtig mit dem Gedanken, ihn wissen zu lassen, dass er die Ärztin zwar nicht eingeladen hatte, sie jedoch von der Party wusste. Jemand anders musste es ihr mitgeteilt haben, trotz der Geheimhaltungsstufe, die ein Treffen hochrangiger Agenten immer bedingte. Moira war klug genug (und vermutlich zu desinteressiert), um auch zu erscheinen, aber wenn Gabriel wetten müsste, wüsste er, auf welchen Kontakt er sein Geld setzte. Selbst Angela Zieglers blütenweißer Kittel hatte auf der Innenseite dunkle Flecken. „Vielleicht.“ McCree ließ ein leises, rollendes Halblachen hören, nicht viel mehr als ein Ausatmen. „Sehen uns.“ Er verschwand aus der Leitung und ließ Gabriel mit der lauten, durchdringenden Stille seines eigenen Quartiers allein. Es waren karge Räumlichkeiten; hier lebte jemand, der sich nicht viel aus Luxus oder Status machte, der für seine Arbeit lebte, weil er es so wollte, allerdings auch nicht in das 'normale' Leben zurück konnte. Sein Pflichtgefühl, aber ebenfalls die schiere Belanglosigkeit der Alternative hielten ihn ab. Ob man nicht in die Hochhaus-Schluchten von Los Angeles oder auf eine Farm in Indiana zurückkehren wollte, machte da keinen Unterschied. Wo dieser Spiegel gewesen war, fehlte jetzt ein Stück in Gabriel, und er konnte nicht verhindern, dass der leere Raum sich mit anderem füllte. Und ein rachsüchtiger Teil von ihm wollte es auch gar nicht verhindern, denn irgendwie war es Jacks Schuld. Wie weinerlich das klang. Er hatte zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt und gleichzeitig zu viel gearbeitet. Gabriel zog Mütze und Headset vom Kopf und streckte sich, bis seine Gelenke leise knackten und seine Muskeln sich so sehr dehnten, dass sie sich kühl anfühlten. Sein Datapad summte schon wieder. Gabriel ignorierte das, was vermutlich McCrees 'sanfte Erinnerung' war, um duschen zu gehen und sein Haar weiter abzurasieren. Als er zurückkehrte, blinkte der Bildschirm. Eine Textnachricht und eine Voicemail, verschiedene Absender. Die Textnachricht war kurz und bündig – Moira bat ihn um Rückruf, so bald wie möglich, 'wichtig'. Gabriel kannte genug Wissenschaftler, um zu wissen, dass das oft genug eine Formel war, um Forschungsgelder zu beschleunigen und ein paar Brocken vorzuwerfen, die das Interesse wach hielten, aber Moiras arbeitsethische Arroganz bewertete ihre eigene Zeit als zu kostbar für solche Manöver: wenn sie ihn sprechen wollte, hatte sie etwas Konkretes vorzuweisen, und vermutlich würde es sich lohnen, ihrem Wunsch so bald wie möglich nachzukommen. Die Voicemail war von Jack. Gabriel hörte sie ab, bevor er gekränktem Stolz den Vorzug geben konnte. „Lass uns nicht hängen, Gabe.“ Eine peinlich berührte Pause, in der Jack aufzufallen schien, wie sehr das nach einem Befehl klang, den er Gabriel rein technisch erteilen durfte; Blackwatch hin oder her. „Irgendjemand muss eine halbwegs gute Geschichte erzählen, sonst wird Reinhardt größenwahnsinnig – es ist offiziell, ich brauche dich. Bis später.“ Gabriel starrte für einen Moment auf das bläuliche Display und erlaubte sich, die kurze Nachricht ohne den üblichen Kontext von Vertrautheit zu sehen, der bisher jedes Gespräch von Jack und ihm umgeben hatte. Hier, in aufgenommenen Worten, die nicht mit einer Antwort rechneten, schien alles wesentlich klarer. Zum ersten Mal, seit die Hierarchie zwischen ihnen verändert war. Es war nicht mehr so klar gewesen, seit sie einander als Rekruten gleichgestellt gewesen waren, im selben Elend gefangen, bei dem ihre Muskeln die Knochen zu knacken schienen, bevor sie sich in wabbeligem Matsch auflösten. An einem Tiefpunkt, wo kein Raum mehr für Fassaden war. Gabriel öffnete den Karton, in dem sich sein Kostüm verbarg, und begann es anzulegen. Es fühlte sich an wie die Vorbereitung auf einen Außeneinsatz, nicht auf Halloween, und mit derselben Methodik wählte er die Rolle aus, die dazu passen würde. Er hatte den Elefanten im Raum lang genug ignoriert, doch jetzt waren ihre Positionen nicht mehr so eng verwoben, die Fallhöhe gering. Was gab es zu verlieren, was er nicht schon längst verloren hatte? Zu gewinnen gab's allerdings auch nicht viel.   Und als ich abreiste, hätte ich schwören können, dass mir etwas folgt, und manchmal habe ich das Gefühl, dass mich etwas beobachtet... etwas wie... Wenn Reinhardt wüsste, würde er das nicht als Gruselgeschichte erzählen, sondern als Tatsachenbericht. Insofern war der Schreck, den Gabriel ihm mit seinem plötzlichen Auftauchen als der kürbisköpfige Boogieman, die gnädigere Alternative vor der Wahrheit, die ein längerfristiges Entsetzen nach sich ziehen würde. Gabriel klemmte sich die grinsende Kürbismaske unter den Arm und präsentierte ein nicht weniger breites Grinsen. „Entschuldigt die Verspätung. Habe ich etwa seine tolle Geschichte verpasst?“ „Du hast sie sogar abgekürzt,“ brummte Torbjörn mit einem zufriedenen Seitenblick auf Reinhardts gefällten Körper, und Angela schnalzte der Form halber tadelnd mit der Zunge. „Ich dachte, Jack O'Lantern wäre eher Jacks Stichwort, aber dir steht es fantastisch.“ Gabriel hatte es geschafft, Jack beinahe in dem Gewimmel zerbrochener Dekoration zu übersehen, denn er wrang gerade sein mit Bowle bespritztes Cape aus, während er neben Reinhardt hockte. Sobald er sich aufrichtete, ächzte Gabriel theatralisch vor Schmerz. „Der Südstaaten-Alptraum...!“ Jack quittierte die Reaktion auf sein grauenhaftes Motorrad-Daredevil-trifft-Stars-and-Stripes mit einem würdevollen Stirnrunzeln. „Ist doch Sinn der Sache.“ „Du brennst in den Augen.“ In plötzlicher Ermangelung eines Tisches, auf den er seine Füße legen konnte, schwang McCree die Beine über die Armlehne seines Sessels und zog die Mantelschöße seiner schwarzen Van-Helsing-Bestatterkluft nach. „Wie wär's mit 'ner besseren Geschichte, nachdem du Reinhardts ruiniert hast?“ „Gleich.“ Ana wedelte so viel 'jugendliche Ungeduld' beiseite und hob ihre Kamera. „Angela, Gabriel – ihr gebt zusammen ein gutes Bild ab, stellt euch nebeneinander!“ Noch während er den Kürbiskopf wieder aufsetzte und Angelas Parfüm die Luft erfüllte, als sie nach ihrem 'Hexenstab' griff, um sich in eine angemessene Pose zu werfen, sah Gabriel durch die dreieckigen Schlitze Jacks abwesende Miene; er konnte nicht beurteilen, ob sie schon den ganzen Abend da war, aber seine Gedanken wanderten beinahe sichtbar ab. Er knetete den mit grüner, klebriger Bowle durchweichten Stoff seines Capes, und Gabriel wusste schon, dass er das irgendwann im Laufe des Abends als Ausrede nutzen würde, um zu verschwinden. Mit seiner neuen Position waren zähe weiße Wolken auf dem idyllischen Blau seiner Augen aufgezogen, mehr Geheimnisse, mehr Wissen, mehr Gewicht. So was veränderte Menschen. Aber noch nicht. „Also.“ Gabriel breitete mit großer Geste die Arme aus, sodass sein schwarzer, zerfetzter Umhang sich um ihn herum ausbreitete wie ein Vorhang vor einer Theaterbühne. „Es war auf einem entlegenen Stützpunkt in Schottland, vor vielen Jahren...“ Ob es der ominöse Tonfall war oder ein Stichwort, das Jack aus seinem Grübeln riss, es geschah zuverlässig – er sah von seinem begrünten Cape auf, seine Augen flackerten. „Nicht die Geschichte.“ Gabriel grinste und neigte die Kürbismaske. „Doch, genau die Geschichte.“ Für einen Moment schien es trotzdem, als würde Jack nicht mitspielen, der Stoff in seinen Händen spannte sich zwischen seinen Fingern. Dann zog er die Augenbrauen hoch. „Wir waren uns einig, dass wir niemandem davon erzählen, Gabe.“ „Sie müssen es erfahren,“ erwiderte Gabriel mit einem Maß an Grabesernst, dass McCree unauffällig die Beine von der Sessellehne gleiten ließ, um sich etwas aufrechter hinzusetzen. Selbst Torbjörn sah mittelmäßig interessiert aus. Jack stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ seine Hände zwischen den Oberschenkeln herabhängen, eine Geste widerstrebender Zustimmung. Dann schweifte sein durchdringender Blick vom einen zum anderen: langsam, beinahe gravitätisch. Die ganze fordernde Präsenz eines Strike Commanders. „Schon den ganzen Tag lag da dieses Geräusch in der Luft... Nicht ganz ein Wimmern, nicht ganz ein Flüstern. Gabriel hat es als Erster gehört.“ „Jung und dumm, wie ich war, habe ich das natürlich niemandem gesagt,“ fuhr Gabriel mühelos fort. „Ich wollte nicht, dass mich jemand für einen Schisser hielt, wir waren alle noch grüne Jungs. Aber dann...“   Alles war erstaunlich einfach gewesen. Vom Aufleben der Vertrautheit zwischen ihm und Jack – Gruselgeschichten erzählen oder Gefechtsformation, sie waren in beidem ein gutes Team – bis zur Entspannung der Situation, alte Kameradschaftlichkeit und keine neuen Fragen. Die beklommene Stille rührte diesmal nicht vom eisigen Schweigen bei einer Kompetenzübertretung oder auseinandergehenden Meinungen über das weitere Vorgehen, sondern von dem bis in die Knochen sickernden Gefühls von unterschwelliger Furcht, die rational nicht zu erklären war. Ana hatte neue Bowle zusammengemischt. McCree hatte ausnahmsweise ohne äußere Aufforderung seinen Flachmann reingekippt. „Ich wasche jetzt dieses Zeug ab.“ Jacks unbeteiligte Stimme war fast zu laut in der Stille, als er sich auf die Knie klopfte und aufstand, das fleckige Cape mit dem Arm einklemmend. Gabriel folgte ihm und beantwortete den fragenden Blick mit einem eindrucksvollen Flattern seines Umhangs. „Du solltest besser nicht allein gehen – manchmal werden diese Dinge davon angezogen, dass man über sie gesprochen hat.“ Angela räusperte sich und schob ihre Hutkrempe ein wenig hoch, wie um ihr Sichtfeld zu verbreitern. „Jesse, hast du noch eine Cowboy-Werwolf-Geschichte auf Lager...?“ Klar, warum nicht – klassischen Horror ersticken unter McCrees haarsträubend-zusammengeklauten Hollywood-Plots. Gabriel nahm den Kürbiskopf ab und warf einen betont fröhlichen Blick in die Runde. „Das ist natürlich alles nie passiert,“ fügte er milde hinzu. „Ich kann es nicht beschwören, aber ich rede es mir ein. Sonst wäre ich längst wahnsinnig.“ Torbjörn sah aus, als wollte er sich zu dieser Verfassung äußern, und Gabriel war aus der Tür, bevor es dazu kam – er stieß beinahe gegen Jack, der mit verschränkten Armen auf dem Flur wartete. Das Zucken seiner Mundwinkel verriet seine aufgesetzte strenge Miene, trotzdem bekam er einen passablen Ausdruck von Missbilligung hin. „Glaub' nicht, dass ich nicht gemerkt hätte, wie du mir die Rolle der Jungfrau in Nöten zugeschanzt hast.“ „Hat sich so ergeben,“ log Gabriel ohne größere Bemühung um Glaubhaftigkeit. „Außerdem hattest du die Blendgranaten dabei.“ Jack zog die Badezimmertür des Safehouse auf, nachdem er vielsagend mit den Augen gerollt hatte. „Du hast dir gälische Worte ausgedacht, deren Namen abgewandelte Whisky-Sorten waren. Ich dachte, McCree wird misstrauisch.“ „Meine Geschichten sind gut.“ Er schob die Tür mit der Schulter zur Seite, um in den Raum zu treten, und schloss sie hinter sich, Jacks konsternierten Blick ignorierend. „Und halbwegs ehrlich. Wie steht's da mit dir?“ Jack versuchte im Spiegel die Schließen des Capes zu öffnen, wobei ihm entgegenarbeitete, dass seine Hände sich nun mal entgegen der Reflektion bewegten. „Mit meiner Ehrlichkeit?“ Gabriel hatte den Kürbiskopf neben der Tür abgestellt und durchquerte den kleinen Würfel der grauen Kacheln, um die behandschuhten Hände zu heben und Jack zu sich zu drehen. Er ließ bewusst einen Moment verstreichen, bevor er sich daran machte, die Schließen zu öffnen. „Mhm.“ Jack sah ihn an, den genauen Ausdruck konnte Gabriel nicht sehen; er konzentrierte sich auf den Verschluss, beiläufig fixiert auf die Feinarbeit trotz der steifen, letztlich nicht für Gebrauch geeigneten Handschuhe. „Was meinst du damit?“ „Spiele ich eine Rolle bei deinen Entscheidungen?“ Eine dieser dämlichen Schließen war offen und rutschte von der Schulter. Vermutlich so verarbeitet, damit nicht jeder Zug es abriss, aber ein echtes Sicherheitsrisiko für einen betrunkenen Partygänger. „Natürlich.“ Jacks ungeduldiges Ausatmen traf Gabriel als warmer Wind am Kinn. „Ohne Blackwatch-“ „Deine Entscheidungen. Nicht Commander Morrison.“ „Tut mir leid, ich bin Commander Morrison,“ erwiderte Jack amüsiert. Wie viele hundert Mal war Jack ihm schon unbemerkt so ausgewichen – gerade so nah, dass es ihn zufriedenstellte, ungefährliche, freundschaftliche Distanz immer in Reichweite, um sich dorthin zurückzuziehen? Und Gabriel hatte nie daran gerührt. Je länger es ging, desto bewusster hatte er es vermieden. Doch nun gab es kein Porzellan mehr zu zerbrechen. „Ich mach's dir jetzt leicht, Jack.“ Die zweite Schließe war fast offen, und Gabriel grub seine Finger hinein statt in den extravaganten Kragen des Kostüms, der besseren Halt versprochen hätte. Jack spannte sich an, wachsam, gereizt, das Erweitern seiner Pupillen konnte zehn vernünftige Gründe haben. Ärger und Vorsicht waren die einfachsten. Der Stoff ächzte unter Gabriels Fingern. „Willst du, dass ich dich küsse?“ Der blaue Himmel von Indiana brach beinahe unter der schwarzen Gewitterwolke in dessen Mitte ein, die Jacks Pupille war. „Nein.“ Und dennoch war seine Antwort erstaunlich fest und knapp. Gabriel lockerte seinen Griff und zog die Lasche des Capes auf. Der synthetische Stoff rutschte langsam genug über das Schulterpolster, um ihn festzuhalten, auch mit normalen Reflexen; und Jacks waren wesentlich schneller. Trotzdem ließ er ihn fallen, während er Gabriel anstarrte: verwirrt, überrascht, verletzt. Sein scharfes Profil, Gegenstand so vieler Fotos, war angespannt und offener, als es sein sollte. Gabriel trat zurück und hob den Kürbiskopf wieder auf. „Wollte ich nur wissen.“ „Warum?“ Die Frage kam so prompt, dass sie Jack schon die ganze Zeit auf der Zunge liegen musste. Er sollte lächerlich aussehen mit seinem zerzausten blonden Haar, der schwachen grünlichen Spur auf den Lippen von der Lebensmittelfarbe und in diesem unmöglichen Kostüm – jeder Mensch sähe da lächerlich aus. Gabriel hatte es selbst schon gedacht, als er seinen alten Freund heute Abend gesehen hatte, aber jetzt fand er da nichts Lächerliches mehr. Er zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, du willst vielleicht.“ Er grinste; es kam ihm unbeholfen und lapidar vor. „Zum ersten Mal seit zwanzig-nochwas Jahren dürften wir das nämlich.“ „Und deswegen...“ Jacks Stimme versagte – Zorn oder Schmerz schienen naheliegende Gründe, doch seiner Miene nach war es schlichtweg Fassungslosigkeit. Er fing sich rasch. „Deswegen fragst du mich das?“ „Und weil ich dachte, du willst es. Jemand meinte mal, du hättest was übrig für mich.“ Vor Jahren, also war die Aktualität auch nicht das, was man erwarten dürfte. „Das denkst du? Wie lange schon?“ Jack schien sich an das Cape zu erinnern und hob es auf. Die Röte auf seinen hohen Wangenknochen war vermutlich auch eher Wut und Aufregung als Freude. „Ist doch egal!“ Gabriel hob entwaffnend die Hände, oder eher eine Hand und einen grinsenden Kürbis. „Bevor ich dumm sterbe – ich dachte, wir wären lange genug Freunde, dass man darüber reden kann.“ Etwas Rachsüchtiges, enorm Flinkes schnellte aus den Tiefen seines Verstandes empor und reihte noch schneller Worte aneinander. „Und wo wir dabei sind, auf einer Skala von eins bis zehn... Wie froh bist du, dass du den Posten bekommen hast, wenn dir wirklich mehr an mir liegt?“ Es war unfair. Es war kleinlich. Aber es war es wert, als die Farbe aus Jacks Wangen sickerte und er zum ersten Mal so alt aussah, wie er war, nicht mehr der unberührbare goldene Soldat. Als er sprach, war seine Stimme klein. Nicht verzagt, bloß leise, wie aus einem Winkel von ihm, und immer noch klar. „Ich will das seit dem Programm,“ sagte er, ohne die Herausforderung anzunehmen. „Ich tue es nicht, weil mir stattdessen... so viel mehr an dir liegt.“ Diese Sache, auf die Jack gewartet hatte. Es war in Ordnung gewesen, dass sie nie gekommen war, doch er ließ nicht zu, dass Gabriel es sich leicht machte. Erst da erkannte dieser überhaupt, dass er das tat – und er hasste das. Er machte die Dinge nicht 'leicht', für sich oder andere. Jack wartete nicht mehr. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt das verklebte Ende des Capes darunter, dann drückte er den Stoff mit mehr Kraft aus als nötig, sodass er in seiner Hand zerknitterte. Gabriels Komm-Gerät summte unter dem orangefarbenen Jackett, und er griff mechanisch danach: er erwartete keine Nachrichten von einem seiner Agenten, je nach Zeitzone konnte sich allerdings immer etwas ergeben, das Rücksprache mit ihm verlangte. Meistens nicht die guten Meldungen. „Geh da jetzt nicht dran.“ Zum ersten Mal, wenn sie allein waren, schlug Jack seinen Befehlston an. Seine Augen hatten ihre Verletzlichkeit wieder verloren, wäre sein Haar nicht zerzaust und dieser Anzug nicht so dämlich, dann sähe er jetzt aus wie diese verdammte riesige Statue, die man für ihn errichtet hatte. Eine Statue, deren Schatten so lang war, dass sich alles darin verbergen ließ. Gabriel sah auf, ein sardonisches Lächeln auf den Lippen. „Sonst noch Befehle, Strike Commander Morrison?“ Jacks steinerne Fassade stand dem weißen Marmor in nichts nach. „Ja.“ „Lies mir nur nicht vorher meine Rechte vor.“ „Küss mich.“ Gabriel erlaubte sich nicht, ins Stocken zu geraten, obwohl ein großer Teil von ihm Jack einfach nur ungläubig anstarren wollte – etwas an diesem Kerl und seiner Heiligenmiene forderte ihn dazu heraus. Mit drei großen Schritten war er durch den Raum und an dem Waschbecken, von dem Jack sich abwandte, ohne das Wasser wieder abzustellen. Seine Augen waren mechanisch blau und berechnend, und Gabriel konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal von so ätzendem Zorn erfüllt gewesen war. Er hielt die Hände starr an den Seiten, in einer immer noch den Kopfputz, lehnte sich vor – seit SEP waren sie gleich groß – und küsste Jack. Jack Wenn-du-die-obere-Koje-haben-willst-besieg-mich-doch Morrison. Jack, der zu jeder Tages- und Nachtzeit Hotdogs essen konnte und dieses manische Funkeln in den Augen hatte, wenn er sein schweres Impulsgewehr durchlud. Jack mit dem ansteckenden Lachen und dem eisernen Willen. Es war der schlechteste Kuss seines Lebens. Gabriel legte Wert darauf, so viel Druck hinter die Neigung seines Kopfes zu setzen, dass es die Lippen gegen die Vorderzähne quetschte. Gerade gestutzte Barthaare pieksten sich durch die angespannten Muskeln in die empfindliche Haut. Er hatte den Kopf kaum schief gelegt, sodass ihre Nasen sich in einem albernen Winkel verbogen. Wäre sein Mund nicht so trocken gewesen, hätte er es auch zu einem feuchten, rundum unerfreulichen Kuss gemacht; einem, an den Jack sich mit einem Schaudern erinnern und sich beglückwünschen würde, all die Jahre alles richtig gemacht zu haben, indem er ihre Freundschaft nicht durch etwas ruinierte, das es nicht wert war. Jack hielt still. Gabriel beobachtete ihn unverhohlen: das Flattern seiner Wimpern, dicht und dunkel, mit kleinen blonden Spitzen. Er hielt den Atem an, seine Hände ballten sich zu Fäusten an den Seiten, aber er wich nicht zurück. Jack nicht. Das Waschbecken lief gurgelnd über, weil das Cape den Abfluss verstopfte. Gabriel löste sich, kehrte in seine eigene persönliche Sphäre zurück und drehte den Hahn zu. Jack stand immer noch da. Regungslos, weniger heroisch als das überlebensgroße Abbild. Etwas daran rührte an dem zu Eis erstarrten Ding in Gabriel, das sich zu befreien versuchte, seit diese Situation so unmöglich scheiße geworden war, und er nahm Zuflucht in einer vertrauten Tätigkeit, indem er seinen Kommunikator aus der Weste zog. Genji ließ ihn wissen, dass Nebelbänke den Heliport blockierten, was in codierter Botschaft bedeutete, dass er in Tokio aufgehalten worden war und seinen Status übermitteln würde, sobald er das Safehouse erreichte. Moira erinnerte ihn an den Anruf. Sich zu wiederholen, vor allem in so kurzem Abstand, sah ihr nicht ähnlich. Jack wrang sein durchgeweichtes Cape aus und wog den zerknitterten synthetischen Stoff in der Hand. „Hast du eine Ahnung, wie gern ich dir das jetzt über den nackten Arsch ziehen würde?“ Was bei weitem nicht mehr sexy war, wenn man das bei einem Handtuch jemals erlebt hatte. Etwas wühlte sich Gabriels Kehle hoch, durch die Trockenheit und seine verkrampften Kiefer, bis ein bellendes Auflachen sich zwischen seinen Lippen hervorzwängte. Der Schock, den er für einen würdevollen Abgang noch gebraucht hätte, bekam Risse, die sich rasend schnell ausbreiteten und alles zersprengten, was ihnen in den Weg kam. Es tat in den Lungen weh und verkrampfte sich in den Rippen. „Gottverdammt, Jack.“ „Gott verdamme dich, Gabriel Reyes.“ Er hatte es nicht verdient, als Jack seine nassen Hände auf das kurzgeschorene Haar an den Seiten seines Kopfes legte und ihn küsste, weich und klebrig und sanft wie Marshmallows, dass diese sommerhimmelblauen Augen ihn ansahen wie... immer schon, als hätte sich gar nichts geändert. Die Menschen machten Witze, dass niemand einen Typen wie Jack Morrison verdiente, aber sie hatten keine Ahnung. Diesmal war es Gabriel, der sich nicht rührte, als sei er aus Stein gemeißelt, doch Jack schien das nicht zu stören. Seine Lippen glitten schwach über Gabriels in etwas, das vielleicht der Ansatz eines Wortes gewesen war, bevor er es nicht mehr für nötig hielt, sein kalter Daumen strich mit einer unerträglichen Behutsamkeit über die Narben, die über Gabriels Wange verliefen. Seine Augen waren unbeirrbar auf Gabriels Gesicht gerichtet, bis sie sich langsam schlossen, als könnte diese Regungslosigkeit sie nicht erschüttern. Dann löste er sich von Gabriel und ließ seine Hände von dessen Kopf fallen; mit einer Ungeschicklichkeit, für die Gabriel sich in jeder anderen Situation geschämt hätte, griff er nach einer von ihnen, wusste nichts mit sich anzufangen und drückte sie für einen Moment gegen sein Brustbein. Nicht ganz das Herz. Wie idiotisch. Wie dumm konnte man sich in diesem Alter noch anstellen. Jack blinzelte, und Gott sei ihm gnädig, er hatte eine Spur von Röte auf den Wangen, die ihn wieder in Anfang zwanzig verwandelte. Sein Blick flitzte zu der Hand in Gabriels Griff, dann zu seinem Gesicht, und er hatte den Nerv zu lächeln. „Ich dachte, du willst mir vielleicht wenigstens eine reinhauen.“ Gabriel war überrascht, wie heiser seine eigene Stimme war, aber es drang nicht zu ihm durch, es peinlich zu finden. Zu alt für den Scheiß. Jack lächelte breiter, sodass seine weißen Eckzähne zwischen den Lippen aufblitzten. „Nichts für ungut, Gabe, aber du hast keine Ahnung, was ich will.“ Jack hatte es ihm sogar gesagt, deutlich. Ganz glauben konnte Gabriel es nicht, verarbeitet hatte er es nicht, der Soldat in ihm riet ihm davon ab, etwas zu überstürzen. Dass das Fundament ihrer angeschlagenen Freundschaft nicht gerade ideal war, um darauf gleich noch andere Dinge aufzubauen, die... außerhalb seiner Expertise lagen. Doch da war dieses nie gesehene Raubtierhafte in Jacks Miene, das es so verlockend machte, es trotzdem zu versuchen. Sein Herz schlug schneller, als es sollte, wenn man sich einen grausamen Scherz erlaubte. Jack musste es durch die orangefarbene Seide spüren, unter der Gabriel eine Kevlar-Weste trug. Dieser schluckte bei der Beobachtung und ließ Jacks Hand wieder unter seiner hervorrutschen, räusperte sich. „In vier Stunden fliege ich nach Hanamura.“ Die Realität grinste ihm blöd ins Gesicht, wie es schien. Aber nicht mal das überzog den Himmel in Jacks Augen mit Wolken, als er mit den Schultern zuckte und sich in einer fast, eben nur fast überzeugenden Geste von Beiläufigkeit mit den Fingern über die Lippen fuhr. „Zwei Stunden, Gibraltar.“ Gabriels trockenes Kichern über diese schiere Ironie der Situation erstarb noch in seiner Kehle, als er den Ausdruck von Sehnsucht in Jacks Miene sah, kontrolliert, vorsichtig, doch so absolut unleugbar... da. „Danach... Wenn du darüber reden willst, können wir- kannst du dich melden.“ Man wurde nicht Strike Commander, wenn man sich Hals über Kopf in Dinge hineinstürzte. Man blieb nicht mal lange am Leben. In ein paar Stunden würde das Gabriel vielleicht alles wie eine dämliche Idee erscheinen, dennoch wusste er, dass Jack auch das begreifen konnte. Es wäre schmerzhaft, aber das war die Anspannung zwischen ihnen auch. Er arbeitete mit genug kaputten Existenzen zusammen, um zu wissen, dass Unbehaglichkeit nicht das Schlimmste war, was einem zustoßen konnte. „Billig, Morrison.“ Gabriel verdrehte die Augen. „Du gibst mir deine Nummer mit, die ich längst habe?“ Jacks Mundwinkel klammerten sich vergeblich an eine neutrale Haltung, als er die Arme verschränkte. „Ich kann dir eine blutige Nase mitgeben, wenn dir das lieber ist.“ „Kinky, Rubiecito.“ Jacks Paraden waren immer schlecht unter Zeitdruck, und es wurde höchste Zeit, dass sie zu ihrer kleinen Party zurückkehrten, und danach zu ihrer Arbeit, zu der Vernunft und alldem. Deswegen rechnete Gabriel nicht mit viel, als Jack an ihn herantrat, das nasse Cape in einer Hand, die andere in Gabriels Nacken. Das hieß nicht, dass sein Blut nicht dumpf rauschte bei dem Anblick von zerzaustem blondem Haar und diesem Ausdruck von Zärtlichkeit, der unfair war, weil man ihn sich nicht verdienen konnte. „Rhett, wenn du fortgehst,“ und Gott sei sein Zeuge, im besten Südstaaten-Akzent, „was soll ich dann anfangen?“ Dieser dreckige Bastard. Wie sollte irgendjemand dem widerstehen? Gabriel bemühte sich wirklich redlich um ein nonchalantes Halblächeln, doch es fühlte sich nicht an wie eins, sein Arm um Jacks Taille war zu fest, zu ehrlich. „Offen gesagt kann ich nicht erwarten, es herauszufinden.“ Es war es wert, als Jacks Lippen unter seinen zitterten und es sich nicht anfühlte wie bloße Belustigung. Es machte es natürlich und obligat, es zu keinem scheußlichen Kuss werden zu lassen; auch zu keinem extravaganten, nur einer Berührung über mehrere Sekunden, objektiv betrachtet war sie kein Versprechen für irgendetwas. Dennoch presste Gabriel seinen Mund kurz und nachdrücklich gegen Jacks Schläfe, als sie sich wieder trennten wie alte Männer, die sich alsbald an ihre verfluchten Verpflichtungen erinnern mussten. Er löste den Arm um Jacks Taille und stellte befremdet fest, wie die Haut unter dem Ärmel kribbelte. „Bis später, Gabe.“ Jack räusperte sich noch beim Sprechen und fuhr sich durch's Haar. „Jesus.“ „Denk' dir eine Ausrede für dein rotes Gesicht aus, Scarlett,“ empfahl Gabriel grinsend. „Ich bring' dir was Nettes aus Japan zurück.“ „Bring' dich in netter Verfassung zurück.“ Jacks Augen hatten kein Recht, so sanft zu sein. „Und deine Leute natürlich.“ „Si, comandante.“ Jack sah aus, als wollte er dem etwas entgegnen, dann klopfte er Gabriel nur auf die Schulter, zweimal, dreimal, und ging an ihm vorbei. „Jack?“ Die Schritte blieben an der Tür stehen. Gabriel wurde bewusst, dass er mit den Fingern schon in seine Tasche gegriffen hatte, um sein Komm-Gerät herauszuholen, und noch zögerte. Nein. „Ich nehm' keine Rücksicht auf deine Zeitzone.“ „Als tätest du das je.“ Jack ließ ihn allein, zweifellos überzeugt, dass Gabriel sich bald wieder zu ihnen gesellen würde, bis es Zeit wurde, ihre jeweiligen Ortswechsel zu vollziehen. Wer hätte gedacht, dass Kommandant Reyes ein solcher Feigling sein konnte. Er stellte den Kürbiskopf ab und zerrte ungeduldig an seinem Kragen, während er das Headset einhakte. Moira O'Deorain antwortete seinem Anruf nach dem ersten Rufzeichen. Zeitzonen und konventionelle Ruhezeiten waren auch ihr egal. „Mr. Reyes.“ „Was ist so wichtig, Doc?“ „Ich nehme an, dass Sie in Verpflichtungen eingebunden sind, aber Sie sollten in Erwägung ziehen, sich vertreten zu lassen.“ McCree war förmlich greifbar, das wäre also nicht allzu schwer. Aber Gabriel ließ sich nicht in seine Operationen hineinreden, schon gar nicht von Zivilisten. Allerdings war schon die Andeutung derart untypisch für Moira, dass er unwillkürlich neugierig war. Sein Blick wanderte zur Tür, den leisen Stimmen dahinter, Jacks Stimme, der Spur seines Rasierwassers in der Luft. „Wofür?“ In Moiras melodischer Stimme schwang eine tiefe, fiebrige Begeisterung mit, die beinahe vergessen ließ, wer diese Frau war. „Ding-dong, die Hexe ist tot.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)