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Akai Tsuki no mukou ~ Beyond the Red Moon

Eine Dir en grey-/Merry-/MUCC-/Kagerou-Story / Final chapter 24 uploaded!
von

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Ein paar einleitende Worte

Schon seit längerem plane ich, eine Fanfic im Stil von "Absolute Destiny Apocalypse" selbst zu schreiben. Die Inspiraton hat lange auf sich warten lassen - doch nun, wo die Tage länger dunkel als hell sind und ich vermehrt in eine leicht depressive Stimmung verfalle, die mir das Schreiben immer wesentlich erleichtert, habe ich sie in Angriff genommen.
 

Ich weiss nicht, wo das Ganze hinführt. Ich habe keinen genauen Plan, nur Bruchstücke von Szenen und Dialogen in meinem Kopf.
 

Dies ist keine Yaoi-Fic - wer also auf bandinterne Pairings wartet, ist hier falsch! Sollte ich irgendwann Lust haben, doch eine Sex-Szene einfliessen zu lassen, wird sie heterosexueller oder lesbischer Natur sein.
 

Die Jungs von Dir en grey haben in dieser Story Freundinnen - die Namen der jungen Frauen habe ich aus einem Rollenspiel übernommen, das Tisha und ich vor einiger Zeit gespielt haben.
 

Viel Spass beim Lesen!

01. [Alpha]

Er liess sich vom Strom mitziehen. Mit gesenktem Blick, froh über diese Anonymität. Hier schenkte ihm niemand Beachtung, schon gar nicht zu dieser Zeit. Hier war er nichts weiter als einer unter Hunderten, die sich ihren Weg hinaus ans Tageslicht bahnten - genau so anonym wie er, schnellen Schrittes ihrem gemeinsamen Ziel entgegen. Wortfetzen drangen ungefiltert an sein rechtes Ohr, wie durch Watte an sein linkes. Asymmetrisches Hören - daran hatte er sich mittlerweile gewöhnt, sich damit abfinden müssen. Der Strom zog weiter, immer schneller, wie ihm schien. So, als könnten sie es alle kaum erwarten, an ihre endgültigen Ziele zu kommen - nach Hause, wo Frau und Kinder bereits mit dem Essen warteten; zur nächsten Karaoke-Bar für eine After-Work-Party mit Arbeitskollegen, die sich im Laufe des Abends wohl alle im selben Mass blossstellen würden, wie der Betreffende, und worüber am nächsten Tag im Büro kein Wort mehr verloren werden würde; in die Disco, eine Bar, ins Kino oder Live House mit Freunden oder in ein Restaurant zu einem gepflegten Abendessen...
 

Ein Grunzen entrang seiner Kehle und ging sogleich unter, versank im Plätschern des endlos dahinfliessenden Flusses. Sein Herz flatterte grundlos. Der bevorstehende Abend hielt nichts für ihn bereit.
 

Vor ihm teilte sich der Fluss, das Delta war erreicht. Mit der linken Hand umklammerte er die prall gefüllte Einkaufstasche fester, mit den Fingern der rechten Hand wühlte er in der tiefen Tasche seines Parkas nach der zeitweiligen Erlösung, steckte sich den grazilen, weissen Stengel zwischen die trockenen Schmolllippen und schenkte ihm Leben. Inhalieren bedeutete eine temporäre Beruhigung seiner unsteten Nerven. Wohl gerade lange genug, bis er in seiner Höhle ankam, seinem Refugium.
 

Erstaunt stellte er fest, dass nicht mehr das Auge des Tages sein Licht verbreitete, sondern dies fügsam den riesigen Leuchtreklamen und sonstigen Quellen künstlichen Lichts der Zivilisation überlassen hatte. Wie lange schon war er nicht mehr zu der Zeit aus dem Studio gekommen? Es musste Ewigkeiten her sein - der Übergang von Sommer zu Herbst war unbemerkt an ihm vorüber gezogen, fehlte in seiner Erinnerung. Ein Frösteln durchlief ihn, und er zog stärker an seiner Zigarette, als ob die schwache Glut ihn erwärmen könnte.
 

Nieselregen.
 

Der Strom hatte sich verflüssigt, war nach rechts geflossen, wo das Leben pulsierte, die Lichter strahlten, die Musik dröhnte. Dahin jedoch, wohin er sich wandte, führten nur die Wege derer, die hier ihre Bleibe hatten.

Seltsam, wie sich das Antlitz dieses Teils der Stadt nach nur wenigen Metern wandelte. Sogar nach all der Zeit kam er nicht umhin, darüber zu staunen.
 

Heute jedoch, wo er seit langem einmal wieder darauf bestanden hatte, die U-Bahn zu nehmen, anstatt sich chauffieren zu lassen, stachen ihm die beiden Gesichter unheimlich intensiv ins Auge. Müde presste er die Lider zu, nahm einen letzten tiefen Zug und ertränkte den Stummel in einer kleinen Pfütze.

Feuchtigkeit tropfte vom Kastanienbaum, den er von seinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte und an dem er nun vorbei ging. Ein ganz frecher Tropfen landete gezielt in seinem Nacken, kühles Nass rann über seinen Rücken und starb irgendwo in einer Falte seines Basketball-Shirts.
 

Das niedere Gartentor quietschte protestierend, verweigerte jedoch ihm den Zutritt zum Vorgarten nicht, den er nun durchschritt. Der geharkte Kies knirschte unter den Sohlen seiner Converse.
 

Hinter einigen Fenstern des Apartment-Hauses brannte warmes, einladendes Licht. Aus einem der offenen Fenster im zweiten Stock drangen Stimmen, Lachen, der Duft nach Essen. Sein Magen knurrte, als er genüsslich schnupperte. Auch noch auf dem Weg nach oben, die Treppe hinauf in seine Wohnung, verfolgte ihn der herrliche Geruch, setzte sich in seiner Nase fest.
 

Die Wohnung, deren Tür er nach den beinahe 50 Treppentritten aufschloss, war dunkel. Kalt. Abgestandener Zigarettenrauch. Geschickt streifte er sich die Schuhe von den Füssen, liess sie achtlos liegen. Warum Ordnung halten, wenn man sowieso keinen Besuch erwartete?

Das zerwühlte Bett spendete Trost, wie so oft. Die volle Einkaufstüte wartete neben den Allstars auf bessere Zeiten.

In seiner Nase hing noch immer der Duft nach frischem Okonomiyaki, und die mondförmige Lampe verbreitete ihr sanftes, rotes Licht.
 

* * *
 

Das dritte Bier. Schnell geleert. Zigarette zwischen langen Fingern. Prüfende Blicke. Befriedigtes Grinsen.

"Oi, das war wohl nichts...".

Ein freundschaftlicher Klapps auf weiss-schwarz gestreiften Stoff. Ein verschmitztes Lächeln.

"Hey, ich spiel nur so schlecht, damit du heute wenigstens ne Chance hast...".

Arrogantes Lachen.

"Was du nicht sagst...und wer gilt offiziell als der beste Spieler unserer Truppe?".

"Du - aber nur, wenn du nicht angetrunken bist...".

Ein noch verschmitzteres Grinsen.

Verdutztes Gesicht. Leicht verletztes Schmollen. Aufmunternder Klapps auf bordeauxrotes Puma-Shirt.

"War ein Witz - los, zeig uns, was du drauf hast!".

Der athletisch gebaute Bassist von Dir en grey setzte sich an den niedrigen Tisch, schenkte den anderen Typen in der Runde ein breites Grinsen.

"Sieht so aus, als würde er uns heute mal wieder alle degradieren".

Der junge Stylist zu seiner Rechten zog die Augenbrauen hoch.

"Wann tut er das nicht? Er ist der King of Bowling, das muss man ihm lassen. Der einzige, der eventuell was gegen ihn ausrichten könnte, wäre Kaoru...".

"...und der schlägt sich mal wieder die Nacht um die Ohren".

Toshiya warf einen schnellen Blick auf seine Digitaluhr am Handgelenk. 23.00 Uhr. Noch keine Zeit für Kaoru. Vermutlich würde er gar nicht erst ins Bett gehen. Warum nur machte sich auf einmal so ein schlechtes Gefühl in ihm breit? Ihre Arbeit für heute war getan - Kaoru hatte keine weitere Hilfe mehr gewollt. Er mochte es, die Kontrolle zu haben. Und doch spürte der Bassist, wie sich in seinem Herz etwas regte. Neid? Kaoru hatte bisher noch keinen seiner Songs verschandelt - er würde auch dieses Mal alles richtig machen, die richtigen Ideen haben, die passenden Anweisungen geben...

"STRIKE!!!".

Ein aufgeregt-überdrehter Gitarrist hüpfte umher und belohnte sich selbst, indem er sich ein weiteres Bier bestellte.

Toshiya zog amüsiert die Mundwinkel nach oben - von gegenüber musterte ihn ein aufmerksames, dunkles Augenpaar.
 

* * *
 

"Sie will schon wieder ins Bett...".

Ein Seufzen. Die junge Frau stützte sich auf ihre Ellenbogen und wartete, dass die Gestalt neben ihr sich rührte.

Ein weiteres Seufzen. Ein Kopf mit rötlich-glänzenden Haarsträhnen bewegte sich, wandte sich um.

"Gomen..."

Leichtes Kopfschütteln.

"Weißt du, ich war schon oft eifersüchtig auf andere Frauen - aber das ist wohl das erste Mal, wo meine Konkurrentin eine kleine Hündin ist...".

Shinya atmete tief ein, setzte sich langsam auf, gab Akemi einen sanften Kuss auf die Wange.

"So sieht sie dich ebenfalls - als Konkurrenz!".

Lachen.

"Dann wird es aber Zeit, dass ich ihr beibringe, dass in diesem Bett von nun an ich das Sagen habe...".

Kichern.

"Ja, sieht wirklich so aus, als müsste sich Miyu langsam aber sicher an die veränderte Situation gewöhnen...".

Grosse Augen.

"Ich bin tatsächlich die Erste, die möglicherweise die Ehre hat, einen Platz in deinem künftigen Leben einzunehmen".

Keine Frage - eine Feststellung.

Eine ganze Weile regte sich gar nichts. Nur das regelmässige Atmen zweier Menschen war zu hören. Und das von den beiden nun ungehörte verzweifelte Winseln eines kleinen Hündchens draussen im Wohnzimmer.

Dann sah Akemi zwei glänzende Kugeln vor ihren Augen, die direkt in ihnen versanken. Warmer Atem auf ihrem Gesicht. Eine kühle Hand auf ihrer Hüfte.

"Ja...ja, das wäre möglich...".

Die junge Frau liess sich zurück in ihr Kissen fallen - langes, dunkelbraunes Haar breitete sich wie ein Fächer auf der weissen Fläche aus.

"Sofern ich bereit bin, dich mit deiner Hündin und deiner Band zu teilen".

Wieder eine Feststellung.

Leises Zungenschnalzen.

"So sieht's aus".

"Wann musst du morgen raus?".

"Bin um halb Acht mit Kaoru im Studio verabredet...".

"Dann haben wir ja noch genügend Zeit...".

Shinya zog seine Freundin an sich.

"Unersättlich bist du - und hast keinen Respekt vor hart arbeitenden Leuten".

"Es zwingt dich keiner, Schlagzeuger zu sein".

Neckendes Lachen.

Gutmütiges Brummen.

"Krieg ich trotzdem eine Massage?".

Die dünne Gestalt legte sich auf den Bauch und streckte sich stöhnend aus.

"Meine Schulter, du weißt schon...".

Akemi setzte sich wieder auf, band sich die Haare zusammen und beugte sich über den leidenden Schlagzeuger.

"Ich sagte ja, wir haben genügend Zeit...".

Als ob sie telepathisch veranlagt wäre, heulte Miyu im Wohnzimmer noch lauter. Erfolglos...
 

* * *
 

Eine weitere Zigarette verbrannte ungeraucht im Aschenbecher. Von dem, der sie angesteckt hatte, sträflich ignoriert und versetzt.

Laute Musik dröhnte durch den Raum. Immer wieder waren die gleichen Gitarrenriffs zu hören, in immer wieder ändernden Arrangements, immer wieder anders abgemischt.

Der junge, erschöpft aussehende Mann hinter dem Mischpult blickte auf.

"Was sagst du denn dazu?".

Eine weitere Variante.

Ein blondbrauner Wuschelkopf hob sich, hörte konzentriert zu, nickte dann langsam.

"Ja...doch...ich glaube, wir haben's gleich".

Der Mischer zwang sich dazu, nicht erleichtert aufzuseufzen. Stattdessen legte er noch einmal eine leicht veränderte Version vor und war ziemlich stolz auf sich, als Kaoru den Song endlich absegnete.

Der Lead-Gitarrist setzte sich gerade hin, liess seinen Nacken knacken, griff nach der vernachlässigten Zigarette und fluchte leise, als er nur noch einen schwelenden Stummel zu fassen kriegte.

"K'so...".

Schnell steckte er sich wieder eine neue an und sah mit müden, geröteten Augen eine Liste durch.

"Okay, drei Viertel der Songs sind soweit fertig - wenn Inoue und die Typen von der Plattenfirma morgen...ehm...heute...kommen, werde ich sie ihnen vorlegen und mir anhören, was sie dazu zu sagen haben. Shinya sollte so gegen halb Acht kommen, ich werde mit ihm dann noch die Drum-Parts für "Red...[em]" und "MARMELADE CHAINSAW" durchgehen, damit er die gleich mit Toshiya einspielen kann, solange ich mit den Chefs zusammensitze. Ihr braucht also nicht so früh zu kommen - gegen zehn Uhr reicht. Ich denk mal, die grosse Arbeit wartet dann auch wieder gegen Abend auf uns...".

Die paar Mischer und Soundtechniker, die noch im Studio waren, fassten dies als Entlassung auf, schalteten ihre Geräte ab, packten ihre Sachen und machten sich auf den Weg nach Hause.

Kaoru blieb sitzen. Zu viel ging ihm noch durch den Kopf. Hatte er alles richtig gemacht? Wie würden die Songs ankommen? Zweifel über Zweifel. Eine beängstigende Unsicherheit machte sich in ihm breit...

Was, wenn dieses Album kein Erfolg würde? Was, wenn keiner mehr ihre Musik hören wollte?

Im gleichen Atemzug schämte er sich für diese Gedanken. Er und die anderen hatten sich den Arsch dafür aufgerissen. Die letzten fünf Monate hatten sie beinahe nur hier verbracht - na ja, zumindest er.

Kyo hatte einmal mehr wunderbare Lyrics geschrieben, sich selbst übertroffen. Und er und die anderen drei hatten dann dafür gesorgt, diese Texte in packende Melodien zu hüllen.

Eigentlich war alles perfekt. Sie lagen im Zeitplan, allen ging es gut.

Und doch war da dieses Unbehagen, das seit ein paar Tagen an ihm nagte...

Er wusste nicht, woher genau es kam. Auch nicht, worauf oder auf wen es sich bezog. Er wusste nur, dass seine Gefühle und bangen Vorahnungen ihn meist nicht trügten...
 

+ + +
 

Okay, das war er, der erste Teil.
 

Ich würde mich sehr über Kommentare und sonstiges Feedback freuen, damit ich weiss, ob ich an der Story überhaupt weiterschreiben soll oder nicht... ^^

02. [Atlas]

Gespenstisch widerhallten ihrer beiden Schritte auf dem nassen Asphalt. Eine klamme, beissende Kälte hatte sich breitgemacht und fuhr durch den Stoff ihrer Jacken und Pullover.

Der grosse, schlanke Mann zündete sich eine seiner Virginia Super Slims an und führte die Zigarette mit einer grazilen Handbewegung an seine Lippen.

Eine ganze Weile gingen sie schweigend auf der so gut wie menschenleeren Strasse nebeneinander her.

"Vielleicht solltest du nächstes Mal bei Kaoru bleiben".

Der Bassist blieb stehen. Sah der Gestalt nach, die weiterging, ohne auf ihn zu warten, schloss danach wieder mit grossen Schritten zu ihr auf.

"Und woher kam das jetzt?".

"Du warst heute Abend nicht du selbst...".

Hochgezogene Augenbrauen. Nervöses Inhalieren.

"Hmmm...".

"Mir machst du nichts mehr vor - dazu kenne ich dich zu lange und zu gut...".

Er hätte widersprechen können, doch...

"Sou ka...".

Seufzen.

"Meinst du nicht, dass Kaoru vielleicht sogar froh um etwas Hilfe wäre?".

Schweigen. Überlegen.

"Auch wenn, althergebrachte Traditionen lassen sich schlecht ändern...vor allem in unserem Business...und vor allem, wenn Kaoru involviert ist...".

Die lange Zigarette starb einen schnellen Tod.

"Trotzdem, er ist nicht Atlas, er kann nicht alles selbst tragen, auch wenn er das gern möchte...".

"Das musst du ihm klar machen...".

"Warum tust du das nicht?!?".

Toshiya blieb stehen und hielt Yukie am Arm fest, bevor dieser ihn wieder stehen lassen konnte.

"Weil ich nicht weiss, was dann passieren wird. Im Moment ist alles friedlich - doch der Trog ist voll, und ich will nicht der Tropfen sein, der das Wasser zum Überlaufen bringt...".

Verständnisvolles Nicken.

"Ich weiss...aber willst du, wollt ihr denn, dass es immer so weitergeht? Mit jedem Album, das noch folgt?".

Trauriges Lachen.

"Oh, Yukie...die Frage, was wir wollen, stellt sich doch schon gar nicht mehr...wir sind doch längst nur noch die Marionetten, die gute Miene zum bösen Spiel machen...".

Stille.

Der junge Hairstylist schwieg.

"Die Puppen, die für die Firma und die Fans da draussen tanzen...".

"Aber wenn ihr das nicht tätet, würde euch etwas fehlen, ist es nicht so?".

"Man gewöhnt sich an so vieles, auch wenn es einen zerstört...".

"Dann haltet zusammen und passt aufeinander auf...".

"Wenn das so einfach wäre...".

"Ich weiss, ja, ich weiss...".

Der Bassist setzte sich wieder in Bewegung, schneller jetzt.

"Kaoru sagt immer, es gibt aus jedem Labyrinth einen Ausweg, auch wenn man sich noch so darin verirrt hat und die Lage noch so hoffnungslos ist",

"Aber nur, wenn jemand so umsichtig war, den Ariadne-Faden zu legen...".

Zischendes Einatmen. Aufgerissene Augen.

"Meinst du, Kaoru hat nicht...?".

Kopfschütteln.

"Verlasst euch nicht immer auf ihn - er ist auch nur ein Mensch...".

"Wenn er das auch einsähe, wäre vieles einfacher...".

"Gerade einfach macht ihr's ihm aber auch nicht...".

Toshiyas Augen funkelten gefährlich. Yukie sagte nichts, war lediglich froh, dass der Bassist in der Bowling-Halle nicht mehr getrunken hatte. Und grinste, als er sah, wie schnell der Ärger seines Freundes schon wieder verflogen war. Doch er machte einer Frustration Platz, von der der Hairstylist nicht wusste, ob sie ihm gefiel oder nicht.

Toshiya liess den Kopf hängen, zündete sich eine weitere Zigarette an, rauchte schweigend.

Wie ironisch, dass ein Crewmitglied die ganze Situation so deutlich durchschaute. Waren sie schon so weit, dass ihnen selbst das Offensichtliche nicht mehr ins Auge stach? Oder waren sie ganz einfach Meister der Verdrängung geworden?

Eine dem Bassisten nur zu bekannte Melodie drang an sein Ohr. Sein Keitai.

Yukie konnte sich ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen, als Toshiya nach einem Blick auf das Display leicht nervös den Anruf entgegennahm.

"Moshi moshi!?".

"..."

"Du bist wo?".

Strahlendes Lächeln.

"..."

"Weißt du, dass du mir eben das Leben rettest?".

"..."

"Ich mich auch - bis gleich".

Freches Grinsen.

"Lass mich raten - deine Süsse ist zuhause?".

Strahlen.

"Ehm...ja...viel früher, als erwartet...eigentlich hätte sie noch bis morgen in Bangkok bleiben sollen, aber das Shooting dauerte weniger lang, als geplant...".

"Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Die Bilder in der letzten Cosmopolitan waren hinreissend...".

"Glaub mir, ohne Make-up ist sie noch viel schöner...".

"Na, dann mach, dass du nach Hause kommst, los!".

Breites Grinsen.

"Wenn du meinst...ja mata!".

Der grossgewachsene Bassist winkte fröhlich und verschwand joggend in der Dunkelheit.

Yukie jedoch blieb stehen, sah ihm lange nach und setzte dann, in Gedanken versunken, mit einem tiefen Seufzer seinen Weg fort.
 

* * *
 

Sein Rücken schmerzte. Wie immer, wenn er auf einer Couch schlief. Man hätte meinen sollen, er hätte sich mittlerweile daran gewöhnt, doch je näher er auf die 30 zuging, desto weniger schien sein Körper gewillt zu sein, sich derartigen Anpassungen zu unterwerfen.

Also wälzte der erschöpfte Gitarrist sich im Halbschlaf und versuchte verzweifelt, eine einigermassen angenehme Lage zu finden.

Jedoch vergebens. Nach einer Stunde setzte Kaoru sich frustriert auf und stöhnte. Um ihn herum herrschte Finsternis. Nur ein paar Lämpchen blinkten am anderen Ende des Raumes, hinter der Glasscheibe. Und ab und zu erleuchteten die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos das Studio.

Ansonsten blieb alles vollkommen dunkel. Stille.

Und doch liess der Schlaf des Gitarristen auf sich warten. Insgeheim verfluchte er sich dafür, nicht doch nach Hause gefahren zu sein. Doch nur schon den Gedanken an den beinahe einstündigen Weg quer durch die Stadt liess ihn schaudern. Und dann erst noch mitten in der Nacht.

Da zog er es doch tatsächlich vor, ein paar Nächte nacheinander hier zu verbringen, auch wenn dies Schlafmangel und Einsamkeit bedeutete. Ersteres konnte er irgendwann wieder nachholen und mit Zweiterem hatte er sich abgefunden.

Wirklich?, fragte da eine leise Stimme in seinem Kopf.

Kaoru seufzte laut und vergrub den Kopf in seinen Händen, fuhr sich mit den Fingern durch die leicht fettigen Haare.

Er wollte sie nicht hören. Nicht jetzt. Und vor allem nicht hier.

Ruckartig stand er auf, ging ein paar Schritte. Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erspähte er auf einem Tisch ein paar Zigaretten und zündete sich eine an. Nicht, dass es schmeckte, morgens um 4 zu rauchen, doch es beruhigte. Jedoch nicht so sehr, wie er es sich gewünscht hätte.

Deshalb ging er vorsichtig, um ja nicht an ein herumstehendes Instrument oder irgendwelche Gerätschaften zu stossen, durch das Studio zur kleinen, angrenzenden Küche. Anstatt das grelle Neonlicht anzumachen, riss er lediglich den Kühlschrank auf. Der Bier-Vorrat war schon erheblich geschrumpft. Ein trauriges Grinsen wanderte über Kaorus Gesicht. Wann hatten sie eingekauft? Vorgestern?

Mit einem Seufzen sah der Gitarrist sich in dem kleinen Raum um. An etwas Essbares war nicht zu denken. Trotzdem öffnete er nacheinander die Schränke, warf kurze Blicke rein. Gähnende Leere - oder?

Die hatte er ja beinahe vergessen...

Kaoru streckte seine Hand nach der rechteckigen, weissen Packung aus.

Wenn er eine nahm, würde er schnell Schlaf finden. Und danach den ganzen Tag groggy und übellaunig sein...

Jetzt hiess es Vor- und Nachteile abwägen. Doch eigentlich hatte der Gitarrist sich bereits entschieden. Die Aussicht auf ein paar wenige Stunden Ruhe und Erholung, liessen ihn seine Vernunft zurückstellen.

Es war ja nur eine Pille. Eine einzige. Erst die zweite in dieser Woche...

Kaoru nahm eine Bierdose aus dem Kühlschrank, die beim Öffnen laut zischte, und spülte sich die kleine, weisse Erlösung mit ein paar Schlucken runter.

Ein bitterer Geschmack blieb zurück.

Der junge Mann schloss den Kühlschrank, ging ganz vorsichtig wieder zurück zu seinem "Bett", setzte sich und trank langsam sein Bier.

Die Pille zeigte schnell Wirkung. Nach nur wenigen Minuten machte sich eine bleierne Schwere in seinen Gliedern breit, sein Kopf fühlte sich mit einem Mal an, als wäre er mit Watte gefüllt.

Kaoru atmete tief durch, stellte die leere Dose auf das Tischchen und liess sich schliesslich auf die Couch zurück fallen.

Sorgen und Ängste, die noch vor einer Viertelstunde auf ihm gelastet und ihm den Schlaf geraubt hatten, waren wie weggeblasen. Er fühlte sich frei. Erleichtert. Und war dankbar für diesen Moment. Diesen seltenen Moment des Friedens.
 

* * *
 

Die Fahrt mit dem Aufzug war ihm noch nie so lang vorgekommen. Mit zitternden Knien lehnte er am Spiegel. Seine schweissigen Hände hinterliessen unschöne Abdrücke und Striemen darauf. Doch er bemerkte es nicht. Sein Blick war verklärt. Seine Augen wässerig vom vielen Alkohol.

Wer hatte ihn nach Hause gefahren? Er wusste es nicht mehr - wahrscheinlich eine gute Seele ais der Crew. Er wusste nicht einmal, wie spät es war. Als er vorhin auf seine Uhr geschaut hatte, war das Zifferblatt vor seinen Augen verschwommen. Die Strassen waren leer gewesen. Also musste es schon lange nach Mitternacht sein. War da nicht etwas gewesen? Irgendein Versprechen? Eine Abmachung?

Die schüttelte unwillig den Kopf und bereute dies sogleich. Vor ihm begann die Welt zu drehen, und sein Magen revoltierte.

Irgendwie schaffte er es trotzdem in sein Penthouse, bevor sein Mageninhalt sich selbst wieder nach oben beförderte.

Wie hatte er den Schlüssel so schnell ins Schloss gebracht? War die Tür offen gewesen?

Wirre Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, als er sich über die Kloschüssel beugte.

Ein säuerlicher Gestank verbreitete sich, liess seine Magensäfte nicht zur Ruhe kommen.

Wie lange er da gekniet hatte, wusste er am Ende nicht mehr. Er müffelte, doch an eine Dusche war nicht zu denken, geschweige denn an Zähneputzen.

Auf leicht schlotternden Beinen schleppte er sich durch den Gang ins Schlafzimmer. Und da traf ihn die Erinnerung wie ein Schlag.

Yoshie...

Das gemeinsame Abendessen...

K'so.

Mit einer mittlerweile eiskalten Hand fuhr der Gitarrist sich durch seine rotschwarzen, in allen Richtungen vom Kopf abstehenden Haare.

Scheisse. Da hatte er definitiv Mist gebaut.

Mit einem tiefen Seufzen ging er durchs Zimmer, setzte sich so leise wie möglich auf die Bettkante. Doch trotz all seiner Vorsicht regte sich der Körper im Bett. Grosse, bernsteinfarbene Augen blitzten ihn an. Ein fragender, vorwurfsvoller Blick.

Die beugte sich zu seiner Freundin runter, wollte ihr einen um Verzeihung bittenden Kuss auf die Lippen drücken, doch die junge Frau murmelte böse etwas Unverständliches und wandte sich ab. Das letzte, was sie nun wollte, war, von ihrem nach Bier und Erbrochenem stinkenden Freund geküsst zu werden. Und reden schon gar nicht. Dazu war sie im Moment viel zu aufgewühlt und wütend.

Und doch tat er ihr leid.

Zu oft war er in den letzten Wochen im selben Zustand nach Hause gekommen. Zu oft hatte sie ihn sogar ins Bett tragen und säubern müssen. Heute schien es ihm also den Umständen entsprechend gut zu gehen.

Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass es solche kleinen Dinge waren, die die Liebe töteten.

Wie wahr.

Wieso nur hatte sie Yumi so wenig Verständnis entgegen gebracht, als diese ihr vor einem halben Jahr ihr Herz ausgeschüttet hatte? Schon damals hätten bei ihr die Alarmglocken klingeln sollen. Die gleichen "Symptome". Fast so, als ob eine ansteckende Krankheit grassierte und sich nach und nach bei allen Bandmitgliedern einnistete.

Bei Die war es mittlerweile schon chronisch. Vor zwei Jahren hatte sie noch drüber gelacht, doch nun war ihr das Lachen vergangen, in ihrer trockenen Kehle erstickt.

Sein Atem hinter ihr beruhigte sich, ging in ein leises Schnarchen über. Sein knochiger, langer Körper drängte sich an ihren Rücken, auf der Suche nach etwas Wärme.

Morgen würde sie Yumi anrufen. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief. Die eisige Kälte von Dies Fingern drang durch ihren Schlafanzug, während er sie sogar im Halbschlaf noch entschuldigend liebkoste.
 

* * *
 

Rotes Licht.

Kälte.

Regen, der ans Fenster klopfte.

Schwere Augenlider hoben sich zögerlich. Unwillig.

War wohl doch ein Fehler gewesen, so früh schon schlafen zu gehen. Aber er hatte den Schlaf bitter nötig gehabt.

Mit einem lauten Gähnen streckte sich Kyo und blieb noch eine Weile liegen, bis ihm klar wurde, dass die Decke am Boden lag und ihm deshalb so kalt war.

Fröstelnd rieb er sich die Arme.

Sein vernachlässigter Magen knurrte protestierend.

Essen.

Der Sänger erhob sich langsam und tapste aus dem Zimmer heraus in die Diele. Das rote Licht folgte ihm sogar hierher, brauchte keine Unterstützung vom helleren, gelben Licht.

Die Einkaufstüte stand immer noch so einsam da, wie er sie zurückgelassen hatte. Ob sie sich in der Zwischenzeit gut mit den Turnschuhen unterhalten hatte? Hatten Gegenstände ein Eigenleben und redeten miteinander, sobald die Menschen sie alleine liessen?

Ein Grinsen zauberte sich auf das ungeschminkte Gesicht.

Was hatte er eigentlich eingekauft? Er erinnerte sich nicht mehr.

Nach einem neugierigen Blick in die Tasche, wurde das Grinsen noch breiter.
 

Wenige Minuten später sass er im Schneidersitz auf dem Bett. Die Decke um sich geschlungen, vor sich einen ganzen Berg Nahrung, die neue "Matrix Reloaded"-DVD im Player.

4 Uhr morgens.

Seltsamer Lebenswandel, den er da pflegte.

Sein Magen füllte sich, freute sich über die Aufmerksamkeit.

Curry-Ramen. Pringles. Teriyaki-Hühnchen. Schokolade.

Seine Hände passten sich dem schnellen Rhythmus des Films an, schaufelten die Herrlichkeiten regelrecht in den sich immer wieder öffnenden Schlund.

Nach zwanzig Minuten hatte er das Gefühl, zu platzen, und öffnete Gurt und Knopf seiner Jeans.

Ein Stöhnen.

Da hatte er wohl mal wieder übertrieben. Und doch fühlte er sich besser. Das matte Gefühl war verschwunden und hatte einer gewissen Befriedigung Platz gemacht. Natürlich bedeutete Essen nicht die Art Befriedigung, nach der er sich sehnte, aber nun knurrte sein Magen wenigstens nicht mehr.

Dafür breitete sich jedoch nach weiteren zehn Minuten eine leichte Übelkeit in seinem Leib aus. Nur schwach zuerst, immer penetranter nach und nach.

Mit einem weiteren Stöhnen schaltete Kyo Fernseher und DVD-Player aus - mit seiner Konzentration war es dahin. Und der Film verstärkte die Übelkeit nur noch.

Angewidert warf er die auf dem ganzen Bett verstreuten Verpackungen zu Boden, stellte das Geschirr daneben und legte sich auf den Rücken.

Vorsichtig tasteten seine Hände über seinen Bauch.

Ja, er hatte übertrieben.

Sanft begann er, sich selbst zu massieren.

Und sich gleichzeitig nach jemandem zu sehnen, der für ihn da war, sich um ihn kümmerte.

War es nicht absolut armselig, sich eine Selbst-Massage verpassen zu müssen? Niemanden bei sich zu haben, der einem in solchen Momenten einen Tee kochte? Einen tröstete?

Okay, Trost hatte er keinen verdient - schliesslich war es ganz schön bescheuert, sich mitten in der Nacht dermassen zu überfressen.

Schmerz machte sich in ihm breit - und der hatte nichts mit der Überlastung seines Magens zu tun. Und eine unbändige Lust auf...

Seine Hände wanderten etwas tiefer. Machten sich am Reissverschluss zu schaffen.

Dies war noch viel erbärmlicher, aber es musste sein.

Süsse Lust durchfuhr seinen kleinen Körper. Sein Atem ging schneller. Schweiss perlte auf seinem Gesicht. Die Augen pressten sich zusammen, sahen hinter verschlossenen Lidern Bilder, die nur er kannte.
 

Wenige Minuten später war der ganze Spuk vorbei.

Zurück blieb ein verschwitzter, nach Luft ringender Kyo mit zerzausten Haaren, klebrigen Fingern, einem immer noch schmerzenden Magen und einer klaffenden Wunde im Herzen.
 

+ + +

03. [Aurora]

Er ist vollbracht, der 3. Teil...
 

Sorry, dass ich euch eine Weile habe darauf warten lassen, aber aufgrund meiner PMS hatte ich letzten Freitag auf einmal das Gefühl, dass alles, was ich bisher geschrieben habe, einfach nur Blödsinn ist. Gestern hab ich das Tief allerdings überwunden und konnte mich dazu aufraffen, weiterzuschreiben... ^.^
 

Ich danke allen ganz lieb, die meine Geschichte lesen und mir Kommis schreiben - sowas ermuntert einen natürlich ungemein! ^^
 

+ + +
 

Das Wasser kochte. Shinya nahm die kleine Pfanne vom Herd, goss den Kaffee auf. Sofort verbreitete sich ein herrlich-würziger Geruch.

Kaffee am Morgen.

Genau das Richtige für den verkaterten Gitarristen, den er auf der Couch vorgefunden hatte.

Ein erbärmlicher und doch mittlerweile vertrauter Anblick.

Im Studio war es noch ruhig, beinahe unheimlich ruhig. Und die Energie, die sonst morgens kurz nach Sonnenaufgang allgegenwärtig war, fehlte hier. Gänzlich.

Für Shinya ein kleiner Kulturschock. Als käme er in eine völlig andere Welt. Weg aus seinem vertrauten Zuhause, weg von Akemi, weg von seinen Hunden, weg von der von ihm so geschätzten Geborgenheit, Sicherheit.

Normalerweise schätzte er den Morgen. Das gemeinsame Aufstehen. Ruhig gewechselte Worte. Gemütliches Beisammensitzen in der Küche.

Den grossen Tisch im Wohnzimmer benutzten sie nur, wenn sie Gäste hatten. Ansonsten bevorzugten sie den Bistrotisch. Klein aber fein.
 

Völlig anders war es hier.

Schlechte Luft. Wie konnte Kaoru bloss die ganze Nacht bei geschlossenem Fenster schlafen?

Schlechte Energien. Shinya vermied es zuhause geziemlich, elektrische Geräte im Schlafzimmer zu haben. Nicht, dass er sich viel aus Feng Shui machte, doch er konnte viel besser schlafen, seit sie den Fernseher ins Wohnzimmer verbannt hatten.

Das harte Sofa. Kein Kissen, nur eine dünne Decke.

Yumi war schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen. Das fiel Shinya jetzt auf, wo er drüber nachdachte. Es hätte so vieles gegeben, worüber er mit Kaoru gern gesprochen, Dinge, wo er liebend gern genauer nachgehakt hätte. Doch er traute sich nicht. Wollte nicht der sein, der Steine ins Rollen brachte, die nun schon geraume Zeit sicher und ruhig dagelegen hatten.

Aber irgendwann würde es jemand tun müssen. Irgendwann konnte man gewisse Dinge nicht mehr länger unter den Teppich kehren und so tun, als würde man nichts, aber auch gar nichts mitbekommen.
 

Mit einem leisen Seufzen nahm der Schlagzeuger die beiden Tassen und verliess die Küche. Nicht, dass dieser Raum tatsächlich die Bezeichnung Küche verdient hatte. Doch er erfüllte seinen Zweck, hier brauchten sie gar nicht mehr.

Shinya war froh, dass er früher als vereinbart gekommen war. Er wusste, dass Kaoru um Neun den Termin hatte, und bis dahin musste er den Leader wieder zum Leben erwecken und dafür sorgen, dass sie wenigstens noch einen oder zwei Drumparts besprechen konnten.

Ein schwieriges Unterfangen.

Aber mit der dem Schlagzeuger eigenen Beharrlichkeit durchaus machbar.
 

Ein kühler Luftzug wehte durch den Raum.

Die Fenster standen sperrangelweit offen.

Eine absolute Notwendigkeit.

Frische Luft würde Wunder wirken, und der Kaffee, ein Schälchen Reis und eine Dusche würden den Rest tun.

Shinya grinste in sich hinein. Ja, er war sogar umsichtig genug gewesen, dem übernächtigten Gitarristen was zu Essen mitzubringen. Weise Voraussicht.
 

Nicht gerade leise stellte er die Tassen auf den Tisch, ging zu den Fenstern und machte diese genau so geräuschvoll zu.

Der Lärm zeigte Wirkung.

Die halb zusammengerollte Gestalt auf der Couch regte sich. Brummte. Murrte. Fluchte?

Shinya konnte die Worte nicht verstehen, war sich jedoch sicher, dass sie nicht gerade freundlich waren.

Erbarmungslos zog er die Decke weg und setzte den Gitarristen der abgekühlten Temperatur aus.

Noch lauteres Murren, doch schliesslich öffnete Kaoru die Augen, blinzelte und versuchte scheinbar angestrengt, die Gestalt vor sich zu fokussieren.

"Ohayou".

Shinya gab sich zu erkennen und hielt seinem Bandkollegen den Kaffee unter die Nase.

"Trink. Iss etwas. Und dann geh duschen".

Oh ja, er hatte Mitleid - doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, es zu zeigen. Und er wusste, Kaoru war ihm dankbar dafür.

Es dauerte jedoch noch ein paar Sekunden, bis der Gitarrist sich soweit gesammelt hatte, dass er sich aufsetzen konnte.

Mit leicht zitternden Händen umfasste er die Tasse, klammerte sich daran, als bräuchte er etwas zum Festhalten.

Shinya wandte sich ab. Er konnte das nicht mit ansehen. Es tat weh. Stattdessen begann er, im Studio Ordnung zu machen. Hob Zeitschriften vom Boden auf, legte diese fein säuberlich auf den Tisch, rollte Kabel zusammen. Unsinnig, doch als Ablenkung sehr willkommen. Er wusste, dass Kaoru die Situation genau so unangenehm war.

Plötzlich fiel sein Blick auf Etwas, das er zuvor noch nie gesehen hatte. So unauffällig wie möglich kniff er die Augen zusammen, versuchte, die Schrift auf der kleinen weissen Packung zu entziffern.

Schlaftabletten? Oh Kaoru...

Fast bereute er es, so unbarmherzig mit ihm umgegangen zu sein...und doch...es ging nicht anders. Kaoru hatte gewusst, worauf er sich einliess - und er schien dazu entschlossen zu sein, es in Kauf zu nehmen.

Als Shinya das nächste Mal aufschaute, sah er, wie dunkle, müde Augen ihn musterten. Rot. Trocken. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal seine Kontaktlinsen rausgenommen.

Keine Worte. Stillschweigendes Verständnis auf beiden Seiten. Wahrscheinlich war Kaoru ihm dankbar, dass er keine Fragen stellte.

"Ohayou...und danke...".

Der Gitarrist liess die Tasse sinken. Der Kaffee hatte seine Lebensgeister zumindest soweit wieder geweckt, dass er seine Stimme wiedererlangt hatte.

Shinya nickte nur. Für ihn war das alles eine Selbstverständlichkeit. Selbst wenn Kaoru das letzte Wort nicht ausgesprochen hätte, hätte er gewusst, wie dankbar er ihm war.

"Essen wäre auch keine schlechte Idee...".

Angeekelt verzogener Mund. Stirnrunzeln. Kopfschütteln.

"Nein...nein...vielleicht später...erst mal duschen...".

Der Gitarrist stand langsam auf, stakste auf unsicheren Beinen durch den Raum und verschwand schliesslich hinter einer Tür gleich neben der Küche.

Shinya blickte ihm lange nachdenklich nach, trank ohne Genuss seinen Kaffee fertig. Heute schmeckte er ihm nicht. Obwohl es die genau gleiche Sorte war, die sie zuhause hatten. Lag dies nun am Wasser? Der Tasse? Oder...?

Der Schlagzeuger nahm Kaorus leere Tasse von Tisch und trug diese zusammen mit seiner noch halb vollen zurück in die Küche. Der Rest der braunen Flüssigkeit verschwand gurgelnd im Abfluss.

Durch die Wand war stetiges Rauschen zu hören.
 

Es tat gut - wahnsinnig gut.

Kaoru aalte sich genüsslich unter der lauwarmen Herrlichkeit, drehte das Wasser extra stark auf.

Eine Massage wäre natürlich um einiges effektiver, doch...

Heute musste er sich wohl oder übel mit dem Wasserdruck begnügen.

Guter Shinya. Der Schlagzeuger hätte sich um so vieles besser in der Rolle des Leaders gemacht, als er selbst. Nicht auf das Alter kam es an, sondern darauf, dass man Zusammenhänge erkannte, Schlüsse zog, die richtigen Dinge zur richtigen Zeit tat.

Manchmal war Kaoru sich nicht mehr sicher, ob er alles richtig machte. Wie fühlten sich Versager? So wie er? War er denn einer?

Wohl nicht - und doch war er nicht zufrieden.

Ganz und gar nicht.

Geld, Marketing, Promotion, Interviews, Aufnahmesessions, Releases, Konzerte, Fans, Merchandise, Geld - ein Kreis, der sich stetig drehte, sich bewegte, nie zum Stehen kam, ihn und die anderen vier nicht zur Ruhe kommen liess. Alles im Fluss. Was, wenn das Wasser schneller zu fliessen begann, als das Boot? Würde dieses dann in der Schwebe stehen bleiben? Oder versinken...?
 

* * *
 

Als er aufwachte, war die andere Hälfte des Bettes leer, Yoshie bereits gegangen.

Konnte es sein, dass er seit beinahe 60 Stunden nicht mehr mit ihr geredet hatte? Die Zeit verging so schnell - er hatte jegliches Gefühl dafür verloren.

Mit dem für den letzten Abend geplanten Abendessen hatte er einiges wieder gut machen wollen. Aber neuerdings schien er ein Talent dafür zu entwickeln, solch wichtige Dinge zu vermasseln.

Er hatte sich immer geschworen, diesen Fehler nicht zu begehen. Doch nun erkannte er, dass er drauf und dran war, das zu verlieren, was er und Yoshie sich in den letzten drei Jahren aufgebaut hatten. Und diese Erkenntnis lähmte ihn. Stocksteif lag er im Bett. In seinen Ohren pochte der Puls, sein Kopf dröhnte, der schale Geschmack im Mund verursachte ihm Übelkeit.

Aufstehen?

Unmöglich.

Paralysiert.

Sein Hirn schien auf Sparflamme zu laufen.

Draussen dämmerte der Tag heran - doch in ihm war noch immer dunkle Nacht.

It's 58 hours since that I last slept with you...

Warum spielte nun gerade dieser Song in seinem Hinterkopf?

Aus dem Nichts.

Nichts?

Nein, wahrscheinlich hatte sich Thom Yorke schon genau überlegt, was er da geschrieben hatte. Seltsam, wie einem manchmal die Hintergründe von Songs klar wurden, sobald man sich mit ihnen identifizieren konnte.

Aber waren die Hintergründe des Radiohead-Sängers auch die seinen?

Ein tröstlicher, beruhigender Gedanke. Als Mensch war man nie allein mit seinen Problemen. Das Umfeld und die Begebenheiten mochten sich ändern, aber nicht grundlegende Charakteristiken und Wesenszüge.

Doch er wollte nicht der schwarze Stern sein.

Er fühlte sich so schon schuldig genug.

Und wie. Es tat höllisch weh. Und einmal mehr bestätigte sich hier die Theorie, dass man meist erst im Nachhinein klüger war.

Es musste sich etwas ändern! Er musste sich ändern! Und auch die anderen...

Kein leichtes Unterfangen. Besonders dann nicht, wenn man sich vor Augen führte, dass dies hier erst der Anfang war. Der Anfang eines langen Wegs zurück zu einem für sie alle zufriedenstellenden Leben.

Aber man musste die Dinge an der Wurzel packen, Ursachen eliminieren.

Heute würde er die ersten Schritte tun - und sachte dafür sorgen, dass die anderen ihm folgten, die lange Strecke mit ihm gingen. Und ihm halfen, den Himmel zu stützen, bevor er über ihrer kleinen Welt zusammenbrach.
 

* * *
 

Eklig.

Der ganze Abfall.

Kaum zu glauben, dass der Inhalt all der Tüten letzte Nacht in seinem kleinen Magen gelandet war. Naja, zumindest würde er sich heute die Zeit zum Essen sparen können. Auch nicht schlecht.

Kyo kämpfte sich aus der Decke, die sich während des Schlafens um seinen Körper geschlungen hatte.

Das Basketball-Shirt war ganz zerknittert und klebte an seinem verschwitzten Oberkörper.

Magenbrennen.

Die Jeans war eindeutig zu eng. Zumindest, um darin zu schlafen. Und vor allem nach...

Die Schmolllippen verzogen sich, die Falte zwischen den Augenbrauen vertiefte sich.

Er stank. Sein Bett stank. Sein ganzes Zimmer war ein einziges Chaos, das auch vor dem Rest der Wohnung nicht Halt machte.

Mit einem bitteren Lächeln hievte sich der Sänger aus dem Bett, zog sich das Shirt über den Kopf.

Elektrizität.

Seine Haare waren geladen.

Er zog sich die Jeans über den Po, liess sie runterrutschen, stieg aus den Hosenbeinen.

Oh Mann, er hatte es heute früh nicht mal mehr geschafft, die Jeans nach getaner Arbeit wieder zuzuknöpfen.

Achtlos fielen die Kleider zu Boden, bildeten ein trauriges Häufchen neben dem Abfall und dem ganzen Rest, der noch auf dem Boden lag.

Kaoru und Shinya hatten sich immer gefragt, wie er sich in so einem Zimmer überhaupt wohlfühlen konnte. Wahrscheinlich fragten Toshiya und Die sich dasselbe, aber die beiden vermieden es seit einiger Zeit, das Thema anzusprechen. Vermutlich hatten sie die Hoffnung aufgegeben, ihn noch umzukrempeln. Und der Leader und der Schlagzeuger waren schlicht und einfach zu verantwortungsbewusst und besorgt, um das Thema ein und für allemal fallen zu lassen.

Als ob er nicht selber auf sich aufpassen könnte.

Als ob er bemuttert werden müsste.

Als ob er jemanden bräuchte, der ihm sagte, wie er zu leben hatte.

War ihnen eigentlich bewusst, was sie ihm mit ihren ewigen Vorhaltungen antaten?

Sie meinten es ja nur gut - aber verdammt, warum kümmerten sie sich nicht endlich mal um ihren eigenen Dreck?!?

Bei Shinya fand sich Etwas derartiges wohl sowieso nicht - weder in seiner Wohnung noch in seinem Leben.

Bei Kaoru sah es bestimmt anders aus, doch er war ein Meister der Illusion. Mister Perfect.

Manchmal fragte sich Kyo jedoch, wen Kaoru davon überzeugen wollte. Undenkbar, dass einer aus der Band ihm seine Charade abkaufte.

Die Crew? Ja, vielleicht, einige. Diejenigen, die ihn nur flüchtig kannten und sich von der strahlenden Fassade blenden liessen.

Die Fans? Die wussten eh nichts. Rein gar nichts.

Trauriges Grinsen. Die Gewissheit, dass der Leader wohl am allermeisten sich selbst davon zu überzeugen suchte, dass alles in Ordnung war, versetzte den Sänger in eine fast hoffnungslose Stimmung.

Langsam schlurfte er in seinen verwaschenen, grauen Socken, die einst schwarz gewesen waren, durchs Zimmer, den Gang, ins kleine Bad.

Dort entledigte er sich dem letzten Rest seiner Kleider. Aus dem Spiegel begrüsste ihn ein kleiner, zierlicher, junger Mann mit wirrem Haar und einem abstossend niedlichen Gesicht. Vermutlich würde er noch mit 40 so aussehen, wie ein kleiner Junge. Vermutlich würden auch dann noch alle auf ihn aufpassen und ihn behüten wollen. Keiner nahm ihn ernst. Egal, was er auch tat. Wie er sich auch gab. Was er auch sagte. Er war dazu verdammt, ein Leben in Niedlichkeit zu fristen.

Nicht, dass dies seiner Beliebtheit bei Frauen bisher Abbruch getan hätte.

Nur...

Er war verdammt nochmal kein Baby mehr! In knapp zweieinhalb Jahren wurde er 30! Und doch betütelten ihn alle, nutzten seine Naivität und seine Gutgläubigkeit aus. Hatten ihren Spass mit ihm, solange sie ihren eigenen Spass hatten. Doch sobald es darum ging, ihn näher kennenzulernen, sich wirklich auf ihn einzulassen, ihn vor allem voll und ganz in ihr Leben aufzunehmen - verschwanden sie. Liessen ihn fallen.

Am Anfang hatte es noch wehgetan - doch mittlerweile...

Kyo blinzelte in den Spiegel.

Ja, wie war das eigentlich?

Tat es heute weniger weh, weil er abgestumpft war?

Oder spürte er die Qualen nur deshalb weniger, weil der Schmerz, den er damals in Kyoto gefühlt hatte, durch nichts zu übertreffen war, egal, was auch kommen würde?

Die feinen Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Seine glatten, sehnigen Muskeln spannten sich unter der vernarbten Haut.

Zitternde Knie.

Auch heute noch verfolgte ihn die Pein. Die Erinnerung liess nie von ihm ab, gewährte ihm keinen Frieden.

Mit einem Keuchen riss Kyo sich von seinem eigenen Anblick los und stellte sich in die enge Duschkabine.
 

* * *
 

Strecken.

Verhaltenes Gähnen.

Genüssliches Stöhnen.

Sanfte Berührungen.

Blinzeln.

"Ohayou gozaimasu...".

Ein Kuss auf volle, rosa Lippen.

"Ohayou, mein Prinz...".

Wohliges Seufzen.

Lange, filigrane Finger in schwarzem, zersaustem Haar.

Dunkle Augen verloren sich in den Tiefen eines zweiten, ebenso dunklen Augenpaares.

Stille.

Atemzüge.

"Wann hast du deine Linsen zum letzten Mal richtig reinigen lassen?".

Überraschung.

"Huh?".

"Deine Augen sind rot...".

Nachdenken.

"Keine Ahnung. Müsste schon über ein Jahr her sein...".

Wieder Stille.

Liebkosende Hände.

Erschauern.

Kaum zu fassen, dass diese Frau, die über die Laufstege in aller Herren Welt stolzierte und die Titelbilder aller möglicher Magazine schmückte, tatsächlich hier neben ihm lag.

Seine Koibito.

Schon nur der blosse Gedanke daran, dieses eine Wort in seinem Kopf, reichte, Toshiyas Atem schneller werden zu lassen.

War dies das vollkommene Glück? Die volle Befriedigung?

Oh ja, er hatte mit vielen Frauen geschlafen. Vergleiche anzustellen, viel ihm nicht schwer.

Doch Akiko liess sich mit keiner seiner bisherigen Liebhaberinnen vergleichen.

Hier war nicht mehr nur pure Lust im Spiel - sondern etwas, das wesentlich tiefer ging. Ihm ein Gefühl von Sicherheit gab, das er bislang nicht gekannt hatte.

Und ihm Stärke schenkte.

Selbstvertrauen.

Und eine gespannte Vorfreude, was die Zukunft wohl bringen würde.

Wie lange hatte er einfach nur gelebt, ohne zu wissen, warum. Voller Zweifel. Ungewissheit. Schon möglich, dass er sich immer viel zu viele Gedanken gemacht hatte - die meisten lebten einfach vor sich hin, ohne sich über den "Sinn" ihres Lebens klar zu sein, oder? Aber er war anders. Und es hatte ihn beinahe zerrissen, nicht zu wissen, was er aus seinem Leben machen sollte. Nicht einmal die Tatsache, dass er mittlerweile ein berühmter Musiker war, hatte diese Gedanken eindämmen können. Sie waren immer da gewesen, wie ein zweites, dunkles Ich, das sich unter seiner strahlenden Oberfläche verborgen hatte.

Und dann, auf einmal, war sie da gewesen. Aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung. Und jetzt...ja...jetzt hatte sich alles verändert. Und das innerhalb nur eines halben Jahres.

Unglaublich.

Sanft zog er den Körper, der sich vertrauensvoll an ihn schmiegte, näher an sich heran. Küsste Akikos langes, glänzendes, in allen möglichen Braunschattierungen leuchtendes, von Goldfäden durchzogenes Haar.

Auch ihre Haut schimmerte golden im heller werdenden Licht.

Die weisse Satin-Decke bedeckte kokett den Intimbereich, die perfekt geformten Brüste mit den dunkelroten Brustwarzen begrüssten die aufgehende Sonne.

Ob wohl die Vestalinnen im alten Rom so ausgesehen hatten?

Verführerisch. Und gleichzeitig so unschuldig.

Doch glücklicherweise war sie keine Unberührbare, sondern die Frau an seiner Seite.

Jetzt, und hoffentlich noch für lange lange Zeit.
 

Kühle, prickelnde Finger auf seinen markanten Bauchmuskeln schreckten ihn aus seinen Gedanken.

Kichern.

"Wo warst du denn?".

"In Rom...".

Amüsiert-fragendes Gesicht.

"Deine Gedankengänge überraschen mich immer wieder aufs Neue...".

"Ich muss schliesslich dafür sorgen, dass ich dir nicht langweilig werde...".

"Das könnte dauern, bis wir alt und grau sind".

Lachende Mandelaugen.

"Das wäre schön...".

Auf einmal sehr ernstes Gesicht. Fester Blick.

"Ja, da hast du recht...".

Langer, feuchter Kuss, gegenseitiges Erschmecken.
 

Unwillig riss sich der Bassist los.

"Gomen...ich...es wird Zeit...Shinya wartet bestimmt schon auf mich...".

Trauriges, doch verständnisvolles Nicken.

"Und ich habe mich schon gefragt, wie lange du es noch hinauszögern willst...".

Grinsen.

Der Musiker stieg aus der Wärme des gemeinsamen Doppelbettes, suchte auf dem Boden die Kleider von gestern zusammen, zog diese an.

"Keine Dusche? Frische Kleider?".

Kopfschütteln.

"Nein. Ich rieche noch nach dir, meine Kleider auch - ohne deinen Geruch überstehe ich diesen Tag nicht".

Schweigen.

Schöngeformte, mandelförmige Augen verfolgten jede seiner Bewegungen. Forschendes Mustern.

"Ich glaube, du hast mir eine Menge zu erzählen".

Seufzen.

Leeres Schlucken.

Dann ein Nicken.

Die sich im Bett räkelnde Schönheit setzte sich auf.

"Wakarimashita...".

Toshiya wandte sich ihr zu. Erleichtert. Kein Drängen. Keine Fragen. Immer liess sie ihm die Zeit, die er brauchte...

Langsam beugte er sich zu ihr runter, küsste ihre Stirn.

"Ich komme so früh wie möglich wieder. Wir liegen gut in der Zeit, da sollt ich schon mal etwas früher aus dem Studio kommen...".

Vorausgesetzt, alles lief am Schnürchen.

"Ich werde auf dich warten...".

Liebevolles Lächeln.

Weitere Küsse.

"Halt die Ohren steif...".

"Danke. Ja mata...".

Damit drehte der Bassist sich schnell um, zog sich seinen Kapuzenpulli über und liess sein Paradies hinter sich.

Der goldene Engel im Bett sah ihm lange nach.
 

+ + +
 

[Lyrics: "Black Star" © Radiohead]

04. [Isis]

"Moshi moshi...".

"..."

"Yumi...genki desu ka?".

"..."

"Hai, hai, genki desu...seltsam, grad gestern hab ich an dich gedacht...".

"..."

Gekicher.

"Ja, sieht ganz so aus...".

"..."

"Mittagessen? Klingt gut. Same place as always?".

Grinsen in der Stimme.

"...."

"Okay, dann besorg ich uns nen Tisch".

Rauschen in der Leitung.

"..."

"Verstehe. Also, bis später, ich freu mich!".

"..."

"Baibai...".
 

Ich bin heut ein der Stadt - wollen wir uns nicht zum Mittagsessen treffen?
 

Yumis Stimme hallte in Yoshies Kopf wider. Verwirrt trennte sie die Verbindung und legte ihr Keitai auf den Tisch.

Was sollte das heissen, sie war heute in der Stadt? Wo sollte sie sonst sein?

Langsam hob sie ihre Espressotasse, nippte und verbrannte sich dabei beinahe die Zunge.

"Ah...scheisse!".

Amüsiertes Grinsen seitens ihrer Arbeitskollegin.

"Hilfst du mir nachher, die neue Kollektion einzuräumen?".

Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Worte zu Yoshie durchdrangen, doch dann nickte sie.

"Ja, klar, kein Problem. Bin gleich bei dir...".

Vorsichtig wagte sie einen zweiten Schluck, leerte schliesslich die kleine Tasse in einem Zug. Was war nur los? Lag es an ihr? War sie dabei, überzureagieren und Dinge zu sehen, die gar nicht da waren? Trugbilder, die ihr ihre Ängste vorgaukelten? Sie wollte nichts heraufbeschwören, und doch...

Ich bin heute in der Stadt...

Sorry die schlechte Verbindung, bin grad im Zug...

Allein diese Worte...

Widerwillig schüttelte Yoshie den Kopf, stellte ihr gebrauchtes Geschirr in die Maschine und zog ihren Kenzo-Hosenanzug gerade.

Heute Mittag würde sich alles aufklären. Dann würde sie schon sehen, dass sie sich alles nur zusammenreimte, dass alles in bester Ordnung war.

Noch selten hatte sie ihrer Mittagspause so sehr entgegengefiebert...
 

* * *
 

Schweissnasse Hände.

Unzählige Stummel im Aschenbecher.

Aus den Boxen dröhnte Musik an seine Ohren.

Sie war ihm fremd - und doch so nah.

Kein Wunder, sie war neugeboren, und er war einer ihrer Väter.

Wieder schnappte sein Zippo auf. Eine weitere Zigarette wurde entflammt.

Mit tiefen Zügen versuchte er, sich zu beruhigen.

Unmöglich.

Immer, wenn ein Song zuende war, schielte er auf und liess unauffällig seinen Blick über die Anwesenden schweifen.

Was fühlten sie? Fühlten sie überhaupt etwas? Spürten sie das Herzblut, das in den Songs steckte?

Ihre ausdruckslosen Gesichter zeigten keine Regung - nicht einmal Inoue lüftete seine Maske.

"Amber"...

Kaoru kaute nervös auf seiner Unterlippe.

Lass dir nichts anmerken - spiel ihr Spiel mit und setze ebenfalls eine Maske auf! Zeig ihnen nicht, wie verwundbar du heute bist...

Shinya hatte leicht reden. Er musste ja jetzt nicht hier sitzen.

Und doch hatte er recht - irgendwie...

Je stärker er sich jetzt zeigte, je mehr Selbstbewusstsein er an den Tag legte, desto überzeugender würde er wirken und desto schneller war er hier wieder raus...

Aber wahrscheinlich war jetzt eh schon alles zu spät - der Aschenbecher war am Überquellen und die Nägel seiner linken Hand waren um einige Millimeter kürzer als noch vor einer Stunde.

Das Lied klang aus.

In die Stille hinein beugte Kaoru sich vor, nahm seiner Zigarette das Leben, trank ein paar Schlucke Wasser.

Und wartete auf das Urteil...
 

* * *
 

"Er hat schon wieder hier übernachtet...".

Wie aus dem Nichts.

Toshiya brach ab und hob den Kopf. Eine kecke Haarsträhne verwehrte ihm die Sicht auf den Schlagzeuger.

Warum überfielen ihn alle mit solchen Äusserungen? Das war schon das zweite Mal innerhalb von 12 Stunden...

Hatten sich etwa alle abgesprochen und ihn zum Band-Psychologen erkoren?

"Ach ja...?"

Falsches Desinteresse.

In Wirklichkeit hämmerte sein Herz um einiges lauter in seiner Brust.

Die zarte Gestalt hinter den Drums druckste herum, spielte mit ihren Drumsticks.

"Ja, schon das dritte Mal diese Woche...".

Und was ging sie das an?

Toshiya unterdrückte ein Seufzen, legte stattdessen sein Instrument beiseite.

Und schwieg. Er war sicher, Shinya hatte noch mehr zu sagen.

"Und ich habe Schlaftabletten gefunden...".

"..."

"Schau mich nicht so an!".

Manchmal war es definitiv unpraktisch, kein Pokerface zu haben. Er hatte nicht vorgehabt, seine Skepsis so offen zu zeigen.

"Sorry, aber...".

"Ich weiss, was du sagen willst...und ich weiss auch, dass es heutzutage gang und gäbe ist, sich den nötigen Schlaf so zu holen...das heisst aber noch lange nicht, dass ich es befürworte...".

Nein, natürlich nicht. Genauso wenig wie andere ihrer Makel.

"...und tatenlos zusehen will, wie er sich in etwas verstrickt, wo er nicht mehr rauskommt!".

So ruhig wie möglich lehnte Toshiya sich über den Tisch und schnappte sich seine Zigaretten. Wenn er einen solchen Vortrag schon noch einmal über sich ergehen lassen musste, wollte er dazu wenigstens seiner Sucht frönen.

Rauchend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, weisse Schwaden stiegen zur Decke.

Erst da fiel ihm auf, dass der Schlagzeuger nicht weitergesprochen hatte.

"Shinya...".

Ungläubiger Blick.

"Warum tust du so, als ob dich das alles kalt liesse? Seit wann bist du so cool? So ignorant?".

"Es geht mich nun mal nichts an!".

"Oh doch, das tut es! Wir sitzen alle im selben Boot! Wir müssen etwas tun - so schlimm war's noch nie!".

Er hatte ja so recht. Und er hatte geschrieen. Sehr ungewöhnlich. Aber dies liess ihn auf Hilfe hoffen.

"Ja...ich weiss...".

Perplexer Blick.

"Guck nicht so überrascht - denkst du, du bist der Einzige, der die Augen offen hält? Ich dachte nur...wenn ich lange genug so tue, als wären meine geschlossen...würde vielleicht alles von selbst...".

Kopfschütteln.

"Das mag bisher so gewesen sein, aber ich glaube, dieses Mal...".

"...ist die Lage anders?".

Zerknirschtes Nicken.

"Shinya...?".

"Hmmmm...?".

"Was geschieht mit uns?".

"Wir sind müde, Toshiya...jeder einzelne von uns...".

"Yukie hatte recht...".

"Huh?".

"Wir müssen zusammenhalten und füreinander sorgen".

"Ich kenne da mindestens zwei, denen es nicht passt, umsorgt zu werden...".

Ängstlicher Blick.

"...und doch geniessen sie es, wenn man sich um sie kümmert, ohne dass sie einen drum bitten müssen".

Der Bassist lachte auf. Da hatte Shinya mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen.

"Oh Shinya...ich glaube, ich hätt schon viel früher mit dir reden sollen. Ich wusste nur nicht, inwieweit ich mir...alles nur eingebildet hab...".

"Das wusste ich auch nicht, bis mir auffiel, dass Yumi schon viel zu lange nicht mehr hier war...".
 

* * *
 

"Ich habe doch gesagt, ich fahr mit der Subway..."

Vorwurfsvoll. Kühl. Distanziert.

Anscheinend unberührt bleibendes Gesicht. Nur in den tiefgründigen Augen zeigte sich der Schmerz.

"Ohayou. Danke, mir geht's gut, und ich freu mich auch, dich zu sehn...".

Grunzen.

Der kleingewachsene Sänger machte die Tür nun doch etwas weiter auf.

Erstaunlicherweise hatte er schon geduscht.

Die Ringe unter den Kulleraugen zeugten von unruhigem Schlaf.

"Gomen...".

Entschuldigendes, jedoch nur leicht angedeutetes Lächeln.

"...aber wir hatten gestern doch alles geklärt...".

"Und ich hab meine Pläne geändert!".

Augenrollen.

Kyo verschwand im Halbdunkel, liess den Rotschopf im Treppenhaus stehen.

Spontaneität war gewiss nicht die Stärke des Sängers.

Kopfschüttelnd lehnte Die sich an die harte, kalte Wand. Ein Königreich für eine Zigarette. Doch die Höflichkeit verbot es ihm, sich eine anzustecken. Nicht, dass es hier übertreiben sauber gewesen wäre. Spinnweben an der Decke, Staub in den Ecken - die Anzeichen nur sehr flüchtigen Putzens.

Und ein muffiger Geruch. Nicht direkt unangenehm. Er zeugte lediglich davon, dass die Fenster schon eine Weile nicht mehr geöffnet worden waren.

Warum nur lebte Kyo noch immer in diesem Loch?

Er konnte sich doch weiss Gott Etwas besseres leisten.

Aber vermutlich wollte er das gar nicht. Vermutlich fühlte er sich hier wohl. Hier konnte er sein, wie er wollte. Musste nicht vorgeben, jemand zu sein, der er gar nicht war.

Polternde Geräusche von innen. Fluchen.

Dann stand sein Bandkollege auch schon vor ihm und schloss genervt die Tür hinter sich ab.

Seine kleine, zierliche Gestalt versank im schwarzen Parka.

Ein weiterer vorwurfsvoller Seitenblick.

Schweigend gingen die beiden nebeneinander die Treppe runter.

Sobald sie draussen waren, klemmten Zigaretten zwischen beider Lippen.

Die Hände des Sängers zitterten leicht.

Kälte? Schlafmangel?

Die zuckte innerlich die Schultern, ging voran zu seinem Wagen, liess die Türverriegelung schon von weitem aufschnappen.

Eine seltsam befangene Stimmung hatte sich breit gemacht.

Keiner sprach ein Wort, bis Die den Wagen gestartet und ihn vorsichtig durch die schmale Strasse raus auf die Hauptstrasse gelenkt hatte.

"Hör zu, es tut mir leid, aber...".

Kyos Blick blieb steinern. Nur die nach unten gezogenen Mundwinkel zuckten.

"Es ist ein Umweg von gut zwanzig Minuten Die - willst du mir wirklich sagen, du warst grad in der Nähe?".

Ätzender Ton.

"Ja! Ich musste noch Wein für heute Abend besorgen!".

Zwei Augenpaare trafen sich - eines verteidigend, eines voller Erkenntnis.

"Oh...".

Mehr kam nicht über Kyos Lippen. Stattdessen öffnete er das Fenster, überliess seinen Stummel dem Wind.

"Tschuldigung...".

Fröstelnd rieb er sich die Hände, liess das Fenster wieder nach oben fahren.

Nur ein ruhiges Nicken seitens des Gitarristen. Er kannte den Sänger mittlerweile so gut, dass er ihm in einer solchen Situation niemals hätte böse sein können. Aber...

"Schon gut. Es wäre nur schön, wenn du nicht diejenigen deinen Frust würdest spüren lassen, die es eigentlich nur gut mit dir meinen...".

Erstaunlicherweise folgte auf diese Bemerkung weder eine bissige Antwort noch ein böser Blick.

Und das bereitete Die nun wirklich Sorgen.

Er wusste genau, was Kyo fehlte - doch ihn darauf anzusprechen kam nicht in Frage. Der einzige, der sich das vielleicht erlauben konnte, war Kaoru.

Zu seiner immensen Erleichterung wechselte der Sänger von selbst das Thema.

"Wein? Wofür?".

Anzügliches Grinsen.

Die grinste zurück.

"Ich muss Yoshie mal wieder verwöhnen - habe sie in den vergangenen Tagen ziemlich vernachlässigt...".

Staunen.

"Bist du nicht gestern auch schon um 19 Uhr aus dem Studio gekommen?".

"Ja, schon...aber Toshiya, Yukie, Sato-san, ich und noch ein paar andere konnten's nicht lassen, doch noch bowlen zu gehen.".

"Das Übliche, hm?".

Belustigtes Nicken.

"Sou desu ne...".

Wieder eine Weile Stille.

Dann ein Räuspern.

"Darum wollte ich dich eigentlich fragen, ob's für dich okay ist, wenn ich meinen Gitarrenpart vor deinen Vocals einspiele? Nur damit ich wenigstens heute nicht allzu spät...".

Gutmütiges Lächeln.

"Klar, ich will ja nicht dafür verantwortlich sein, dass bei euch der Haussegen schief hängt...".

Seufzen.

"Das tut er schon längst - und dafür bin ich verantwortlich...".

"Nimm sie doch mal mit zum Bowling.".

Kurzes Nachdenken.

"Gute Idee - aber unter einer Voraussetzung!".

"Hmm?".

"Du kommst auch - und Yumi, Akemi und Akiko auch...".

Strahlen.

Stirnrunzeln.

"Ach, ich weiss nicht...".

"Sei kein Spielverderber!".

"Du weißt, dass ich nicht gern bowle..."

Rumgedruckse.

"Du musst da nicht bowlen - zuschauen und mich bewundern reicht völlig!".

Freches Grinsen.

Resignation.

"Okay, okay, ich überleg's mir...".

"...".

Schmollen.

"Aaaarrrrghhh, okay, ich komme...".

Blitzende Augen.

"...irgendwann...".

"Mou...wenn wir die Aufnahmen abgeschlossen haben...los, versprich's mir!".

"Jaaahaaaa - meinetwegen, du Nervensäge...".

"Yay!".
 

* * *
 

Leere Teller wurden schwungvoll abgeräumt, der Kaffee ebenso galant serviert.

Yoshie mochte die Atmosphäre in ihrem italienischen Lieblingsrestaurant. Ein Geheimtipp in Tokyo und schon seit fast zwei Jahren der Stammtreff für gemeinsame Mittagessen mit Yumi.

Doch heute zeigte die Ungezwungenheit, die hier immer herrschte, keine Wirkung auf die beiden jungen Frauen.

Bisher hatten sie nichts als Belangläufigkeiten ausgetauscht, nichts, was sie nicht auch mit flüchtigen Bekannten hätten bereden können. Fast so, als bemühten sie sich beide, auf sicheren Pfaden zu wandeln.

Nervös warf Yoshie einen schnellen Blick auf ihre kleine Armbanduhr.

Ihr lief die Zeit davon. Doch was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen und Fragen stellen, die sich bestimmt als peinlich und unpassend erweisen würden.

Yumi war so etwas wie ihre beste Freundin - und trotzdem, sie spürte, dass es unangebracht war, von sich aus auf allen Ungereimtheiten rumzuhaken...

"Yoshie...".

Tief. Leicht rauchig. Eine wunderbar angenehme Stimme.

Fragende Bernstein-Augen trafen haselnussfarbene, mit schwarzem Kajal umrandete.

War es jetzt etwa soweit?

"Ja...?".

"Ich möchte dir etwas zeigen...".
 

* * *
 

Ein gutes Dutzend angespannte Augenpaare starrten ihn an, als er gegen 13 Uhr wieder ins Studio kam, seinen schwarzen Mantel auf ein Sofa warf, sich erst mal hinsetzte und eine Zigarette anzündete.

"Oi, das war meine letzte...".

Ein leicht empörter, rothaariger Gitarrist funkelte ihn an.

Kaoru ignorierte ihn, rauchte seelenruhig weiter.

Unlesbare Züge

Dann, nach einer guten Minute, die allen Anwesenden wie eine Stunde vorgekommen war, stand er auf, blickte in die Runde und grinste schliesslich.

"Sie sind zufrieden...sie sind zufrieden mit unsrer Arbeit und den neuen Songs".

Von allen Gesichtern schien eine tonnenschwere Anspannung zu fallen.

Die Crew hinter den Mischpulten zeigte sich stolz und erleichtert.

Kyo verschanzte sich wieder hinter seinen Textblättern.

Die trat hervor und klopfte Kaoru auf die Schulter.

"Na, wenn das so ist, verzeih ich dir...".

Schelmisches Grinsen, übermütiges Flackern in nun wieder strahlenden Augen.

Shinya warf von seinem Platz hinter dem Schlagzeug einen kurzen Blick auf Toshiya, der mehr sagte, als viele Worte.

Diese positive Nachricht machte die noch anstehenden letzten Aufnahmearbeiten um vieles einfacher, denn nun hatten sie die Gewissheit, dass auch die Bosse hinter ihren neusten Werken standen. Und vielleicht würde sich damit an der momentanen Situation einiges ändern, wenn auch nur oberflächlich. Aber zumindest würde es ihnen allen gut tun, die drei noch fehlenden Songs in aller Ruhe angehen zu können. Und zu wissen, dass sie nach getaner Arbeit vielleicht die Gelegenheit haben würden, gewisse Dinge zur Sprache zu bringen, die bisher wohl sowieso nur auf taube Ohren gestossen wären.

"Natürlich müssen wir noch die eine oder andere Sequenz überarbeiten, aber trotzdem, der grösste Teil der Arbeit ist getan...".

Was bedeutete, dass sie sich für "Red...[em]" und "MARMELADE CHAINSAW" all die Zeit nehmen konnten, die sie brauchten.

Voller Enthusiasmus schoss Toshiya auf.

"Hör dir das mal an!".

Wie auf Kommando dröhnten einige Bass-/Schlagzeug-Sequenzen aus den Boxen - das Ergebnis von vier Stunden Arbeit.

Befriedigtes Nicken.

"Sehr gut, gefällt mir - ich kann sogar schon erahnen, wie das klingt, sobald unsere Gitarren dazugemischt werden. Täusch ich mich oder hat der Song was von "24 Cylinders"?".

Verdutztes Staunen.

"Jetzt wo du's sagst...".

Die, Toshiya und Shinya tauschten Blicke.

"Geplant war das aber eigentlich nicht...".

"Egal, wir lassen ihn so", bestimmte der Leader kurzerhand und sah sich nach dem Bandmitglied um, das sich bisher zurückgehalten hatte.

Dort sass der Blondschopf ja immer noch und brütete über seinen Lyrics.

Mit ein paar grossen Schritten durchquerte Kaoru den Raum und setzte sich neben den Sänger.

"Es ist doch okay für dich, wenn es heute wieder etwas später wird...?".

Teilnahmsloses Nicken. Dunkelbraune Augen fixierten weiterhin Text auf weissem Papier.

"Tut mir wirklich leid, aber es geht nicht anders...".

Die tätowierte Hand winkte ab.

"Schon okay. Die hat mich schon vorgewarnt. Auf mich wartet ja sowieso niemand...auf die drei da vorne jedoch schon...und auf dich auch...".

Stechender Blick.

Seufzen.

Schweigen.

Befangenheit.

Stille Vorwürfe von beiden Seiten.

Kaoru stand auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er wusste jedoch, was er zu tun hatte...
 

* * *
 

Ihre Wut war schon verraucht gewesen, als sie morgens aufgewacht und ihn noch tief schlafend vorgefunden hatte. Das blasse, ebenmässige Gesicht ruhig und entspannt. Die vollen Lippen leicht geöffnet, um das Atmen zu erleichtern.

Es war ihr so irreal erschienen, dass sie ihn, der nun so süss und unschuldig dalag, noch vor Stunden am liebsten zum Teufel gejagt hätte.
 

Und spätestens nach dem, was Yumi ihr erzählt hatte, war sie bereit gewesen, ihm alles zu verzeihen. Spätestens da war ihr klar geworden, dass alles an einem bereits sehr dünnen Faden hing und sie es sich nicht mehr leisten konnte, zu stolz zu sein.
 

Und jetzt, als sie ihm zusah, wie er das Essen servierte, fiel es ihr schwer, ihn sich als das Wrack vorzustellen, das er vergangene Nacht gewesen war.
 

"Ich hab mir noch extra Chilischoten mitgeben lassen - dir zuliebe...".

Er gab sich solche Mühe.

Rührend.

Am liebsten hätte Yoshie ihn in die Arme genommen und an sich gedrückt.

Doch es war besser, ihn noch einen Moment zappeln zu lassen.

Also gab sie sich dementsprechend kühl und zugeknöpft - nicht gerade einfach, bei der Lust, die der Duft des vor ihr dampfenden Essens in ihr hervorrief. Und bei der Dankbarkeit, die sie in eben diesem Moment empfand. Dafür, dass er hier bei ihr und noch nicht alles verloren war.

Mexikanisch. Und dann auch noch aus einem der besten Restaurants der Gegend.

Natürlich.

Was sonst?!

Er wusste, wie man ihr eine Freude machen konnte.

Manipulator.

Aber sie wollte ihm ja verzeihen, also spielte es letzten Endes sowieso keine Rolle, welche Tricks er auszuspielen versuchte.
 

"Yoshie...?".

Wie ein kleiner Junge, der in der Schule Mist gebaut hat und sich dem Lehrer stellen muss. Diese Vorstellung liess sie in sich hineingrinsen. Gegen aussen behielt sie ihre Maske auf.

Keine Antwort, nur ein kühler Blick.

"Ich weiss, das gestern war scheisse - es tut mir leid...wenn ich einmal angefangen hab, kann ich nicht mehr aufhören, das weißt du...normalerweise hab ich's mittlerweile eigentlich ganz gut im Griff, das weißt du auch....aber...im Moment...liegen die Nerven bei uns blank...in nur einem Monat ist es soweit...".

Verhaspeln.

Stumm hob sie ihre Hand und drückte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen.

"Mach den Wein auf".

Erleichtertes Grinsen.

Gekonnt hantierte er mit dem Korkenzieher und hielt nur wenige Sekunden später den zylinderförmigen, braunen Verschluss in der Hand, schnupperte an der offenen Flasche.

Der blumig-herbe Duft stieg ihm sofort in die Nase, die sich wie von selbst kräuselte.

Dann goss er etwas von der rot perlenden Flüssigkeit in die Gläser und staunte einmal mehr über die Farbenpracht. Nicht nur ein einfaches Rot, nein, alle möglichen Schattierungen und Nuancen. Mit Wasser und Perlmutt versetztes Blut...

Wieder roch er an der Blume, schloss dabei die Augen, als ob er Angst hätte, seine Sehkraft würde seinen Geruchsinn trüben.

Als sich seine Lider wieder öffneten, sah er nur noch ihr Lächeln. Die Augen, die, genauso mannigfaltig wie der Wein, in allen möglichen Brauntönen funkelten. Ihre schmale Hand, die völlig entspannt das Glas hielt. Die sorgfältig gepflegten Nägel. Kein Nagellack. Nur matte Halbmonde.

Kristall schlug sachte gegen Kristall.

Ein glockenheller Ton.

Der erste Schluck leicht bitter.

Der erste Bissen unglaublich köstlich.

Der zweite Schluck verlangte nach mehr.

Der zweite Bissen trieb einem bereits Tränen in die Augen und Wasser in die Nase.

Schweigend assen sie, fütterten sich gegenseitig.

Vertraut.

Mit Blicken einander verzehrend.
 

* * *
 

Warmes Wasser.

Knisternder Schaum.

Jasmin-Duft in der Luft.

Zwei Körper.

Nackt.

Voller Wassertropfen.

Feuchte Haare.

Toshiya legte Akiko die Hände auf die Schultern, begann, sie sanft zu massieren, drückte ihr einen Kuss in den Nacken.

"Danke fürs Zuhören..."

"Hmmm...".

"Hat wirklich gut getan, das alles mal jemandem zu erzählen, der es etwas objektiver sieht...".

"Hmmm...".

"Aber du hast mir noch immer nicht gesagt, was du denkst...".

Zögernd regte sich seine Freundin, wandte sich ihm langsam zu, sah ihm in die Augen, streichelte seine muskulösen Arme.

"Ich glaube, ich habe heute Yumi gesehen..."

Pause.

"Und?".

Verwundert.

"Sie ist aus dem Gebäude gekommen, wo sich unter anderem auch die Praxis unseres gemeinsamen Gynäkologen befindet...".

Ausdrucksloses Gesicht.
 

* * *
 

Ihr schweissnasser Körper lag in seinen Armen.

Zärtlich liess er seine Finger über ihre Oberarme gleiten und sah belustigt, wie sie Gänsehaut bekam.

Diese Zweisamkeit nach dem Sex war etwas, das er immer wieder von neuem genoss und schätzen lernte.

Eine wohltuende Erschöpfung hatte sich in ihm breit gemacht, lullte ihn langsam aber sicher ein.

"Die?".

Er seufzte zufrieden.

"Hai?".

Nur Yoshies Atem war zu hören. Es schien so, als suche sie nach den richtigen Worten.

"Was ist denn?".

Der Wein hatte seine Zunge schwer gemacht. Er redete langsam.

"Ich war heute mit Yumi essen...".

"Ja?".

Konnte es sein, das Yoshie mehr wusste, als er?

Aber warum hatte sie solange gewartet und es ihm nicht gleich beim Abendessen erzählt?

"Sie wohnt im Moment in Saitama - bei Haruka".

Stille.

Dann musste Die sich aufsetzen - er hielt es im Liegen nicht mehr aus.

"Bei ihrer Schwester? Doshite?".

Die schlanke Gestalt seiner Freundin rappelte sich ebenfalls auf. Sah ihm im spärlichen Licht fest in die Augen. Sagte nichts.

"Sie haben sich getrennt...".

Die Erkenntnis.

Yoshie nickte traurig.

"Zumindest vorläufig...".

Die liess seinen Kopf in den Nacken fallen, atmete tief durch.

"Das ist es also...".

Wieder ein Nicken.

"Nun wird mir einiges klar...".

Yoshie fröstelte, zog die Decke enger um sich.

"Das ist noch nicht alles...".

Ängstlicher Seitenblick.

"Sie ist schwanger - im vierten Monat...".

Vor Überraschung und Schreck offen stehender Mund.

"...und Kaoru weiss es noch nicht...".

Die drückte seine Freundin so fest an sich, dass er glaubte, sie zu erdrücken.
 

+ + +

05. [Doloria]

Gomen - ich war lazy und steckte tief tief im Kreatief! ^.~

Aber hier ist er nun, der 5. Teil...
 

Seltsam, als ich diese Geschichte angefangen hatte, wusste ich nicht, wo sie hinführen sollte - und nun scheint sich ein Ende abzuzeichnen, welches gar nicht so sehr davon abweichen wird, was (vielleicht?) in der Realität geschehen wird?
 

Aber keine Sorge - auch wenn ich mich schon damit befasse, ist ein Ende noch lange nicht abzusehen...
 

So, nun aber genug gelabert - viel Spass beim Weiterlesen! ^.^
 

+ + +
 

Auf einmal fröstelte er. Trotz des immer noch warmen Wassers. Als ob die namenlose Furcht, die ihn seit Tagen verfolgt hatte, sich nun endlich herauskristallisierte.

Der Schaum knisterte immer noch, dröhnte laut in seinen Ohren.

Und das bisher ungehörte Tropfen des Hahns drang in sein Bewusstsein.

Er war Akiko dankbar für ihr Schweigen und dafür, dass sie nichts weiter tat, als immer noch seine Arme zu streicheln.

Gedankenwirbel in seinem Kopf.

Sein Gesicht noch genauso ausdruckslos wie Minuten zuvor.

Draussen das Dröhnen eines Presslufthammers.

"Toshiya?".

Nein. Doch nicht.

Seine Zähne. Sie klapperten wild aufeinander.

"Toshimasa?!".

Verwirrtes, träges Blinzeln.

In die leeren Augen kehrte wieder Leben.

"Alles in Ordnung? Hörst du mir zu?".

Sie hatte gesprochen? Zu ihm? Wann?

Ratloser Blick.

Kein Presslufthammer mehr jetzt. Sein Kiefer folgte wieder seiner Kontrolle.

Doch das klamme Pochen in der Brust blieb.
 

Urplötzlich bewegte sich Akiko, stemmte sich auf, stand in voller Grösse und ihrer ganzen Schönheit vor ihm, stieg aus der Wanne auf das am Boden ausgebreitete Tuch.

Ihre langen, leicht gebräunten Arme streckten sich ihm entgegen.

"Komm. Du frierst".

Wie eine Puppe folgte er ihrem Kommando, liess sich von ihr in einen flauschigen, noch ganz frisch gewaschen duftenden Bademantel wickeln.

Die Wirklichkeit hatte ihn wieder.

Doch...woran hatte er gerade eben gedacht?

War es überhaupt wichtig gewesen?

Eine Bewegung zu seiner rechten Riss ihn vollends aus seinen Grübeleien.

Seine Augen fixierten Akiko.

Sie hatte nicht gerade das Massageöl vom Regal genommen, oder?

Ihre warme Hand nahm seine kühle, zitternde, zog ihn mit.

"Gleich wird dir wieder warm...".
 

* * *
 

"Willst du nicht etwas anziehn?".

Yoshies zarte Hand legte sich auf seine Schulter. Bernsteinfarbene Augen wanderten zum Aschenbecher. Die helle, von dunkelbraunem Haar gesäumte Stirn legte sich für den Bruchteil einer Sekunde in leichte Falten, glättete sich sogleich wieder.

Die sah zu seiner Freundin auf, zerknüllte dabei die leere Zigarettenschachtel, führte mit der anderen Hand die letzte Salem an seine Lippen.

Anziehn?

Ja, stimmt, es war früh kalt geworden, nun, da die Nacht sich jeden Tag eher senkte. Und er sass hier nur in Boxershorts und T-Shirt, seine nackten Füsse steckten in blau-weissen Adidas-Latschen.

Doch das Essen brannte noch in ihm. Und die Neuigkeiten.

Mit einem Seufzer setzte Yoshie sich neben ihn.

Unter ihnen blinkten die Lichter Tokyos. In allen Farben. Die Strassen frassen sich kilometerweit ins Dunkel, verschwanden zwischen Häuserblocks, die wie gesprenkelte Leuchtpfeiler in den bereits nachtschwarzen Himmel ragten.

Der betäubende Lärm, der einen unten im Gewühl beinahe besinnungslos machte, klang hier vergleichsweise leise, unbedeutend.

Die streckte sich, rollte die verkrampften Schultern, überliess den leblosen Stummel dem Wind, der aufgekommen war. Der Salzgeruch zeugte von der Nähe des Meeres, von endloser Weite, Freiheit.

Doch er fühlte sich eingesperrt. Eine Mauer der Unsicherheit und der Angst umgab ihn.

Voller Bedauern musterte er die leere, zerknüllte Zigarettenschachtel in seiner Hand.

Starrte dann wieder geradeaus.

"Wann will sie es ihm sagen?".

Yoshie regte sich lange nicht. Zuckte dann die Schultern.

"Wenn der richtige Zeitpunkt da ist...?".

Leises Schnauben.

"Den gibt es nicht. Und sie kann ihm nicht ewig aus dem Weg gehen. In einem Monat wird es sowieso offensichtlich. Und dann wird sie bereuen, nicht schon eher mit ihm geredet zu haben".

Langsam wurde es doch kühl.

"Tut mir leid - ich hätte dir das nicht auch noch aufhalsen sollen".

Empfindlich kühl.

"Es hängt alles zusammen und brodelte schon eine ganze Weile. Aber allmählich blicke ich durch".

Nicken.

"Und es wird wohl Zeit, dass wir endlich begreifen, dass man nicht alles totschweigen kann".

Erneutes Nicken.

"Erstaunt es dich, dass Yumi sich schon vor einem halben Jahr Gedanken gemacht hat? Und ich mir seit ein paar Wochen auch?".

Ein ein Grinsen andeutendes Verziehen der Lippen.

"Wie sagt man so schön? Weibliche Intuition?".

Yoshie lehnte sich an Die, legte ihre Hand auf sein nacktes Knie, liess sie zärtlich darüber gleiten.

"Wohl eher gesunder Menschenverstand und die Fähigkeit, negative Stimmungen auch dann zu spüren, wenn alle anderen versuchen, diese zu vertuschen".

"Ich hätte damit schon viel eher zu dir kommen sollen, was?".

"Möglich. Viel gebracht hätte es wahrscheinlich trotzdem nichts".

"Kaoru ist verdammt stur, wenn's drauf an kommt".

"Eben".

Der Wind blies rauer. Der leichtbekleidete Gitarrist verschränkte nun endgültig fröstelnd die Arme, rieb sie aneinander. Und fasste nach einem Seitenblick auf seine vor sich hin sinnierende Freundin einen Entschluss.

"Ich muss mal telefonieren...".
 

* * *
 

Das penetrante Klingeln seines Keitais riss ihn aus dem Halbschlaf.

Blinzelnd versuchte er, wach zu werden, setzte sich langsam auf, tastete im Dunkel nach dem vibrierenden Mini-Telefon auf dem Tischchen neben dem Bett und verliess dann auf etwas unsicheren Beinen das Zimmer, um Akiko nicht zu wecken.

Wer zum Teufel...?

Die?

Binnen Millisekunden begann sein Herz zu rasen, schlug ein schnelles Stakkato hinter seinen Rippen.

Wie betäubt liess Toshiya sich auf einen der hellgrauen Ledersessel im Wohnzimmer sinken.

Und schüttelte enerviert den Kopf. Er benahm sich ja als wäre er auf dem Weg zur Schlachtbank. Wovor hatte er solche Angst? Es war schliesslich nichts aussergewöhnliches, dass Die ihn mitten in der Nacht anklingelte.

Oder?

Sein zitternder Daumen drückte den grössten der Knöpfe.

"Moshi moshi".

Seine Stimme klang selbst für ihn fremd.

"Toshiya, endlich...".

Schwang da Erleichterung in Dies Stimme?

Der Bassist schwieg.

Nein, heute würde Die ihn bestimmt nicht überreden wollen, noch wegzugehn.

"Hab schon gedacht, du seist irgendwo in nem Club versumpft...".

Gezwungenes Grinsen in der Stimme.

Auch er war nervös.

Das Stakkato wurde schneller.

"Wir waren schon im Bett - und ich musste mir grad eben gut überlegen, ob ich mit dir reden will. Dein Name auf dem Display erschien mir bedrohlich...".

Stille.

"Die...? Tut mir leid, ich...bin übernervös...".

"Da bist du nicht der einzige. Irgendwelche Gründe?".

"Meine eigenen Beobachtungen und eine, die Akiko heute gemacht hat...".

"Du zuerst."

"Sie hat Yumi gesehn - und ich weiss nicht, ob mir der Ort gefällt, wo sie sie gesehen hat...".

Am anderen Ende blieb es ruhig.

"Und was hast du so wichtiges, das nicht bis morgen hätte warten können?".

"Yoshie hat sich heute mit Yumi getroffen".

"Ja?".

"Sie ist schwanger, und Kaoru weiss von nichts, sie haben sich...getrennt".

Das war viel auf einmal.

Toshiya umklammerte sein Handy fester. Es drohte, ihm aus der feuchten Hand zu rutschen.

Dann fand er seine Stimme wieder.

"Und ich habe gehofft, es war alles nur ein schlechter Traum und meine Befürchtungen purer Unsinn...".

"Tut mir leid...".

"Was können wir tun?".

Der Bassist konnte Dies hilfloses Schulterzucken direkt vor sich sehen.

"Ich wünschte, ich wüsste es...".

"Wollen wir Shinya und Kyo da reinziehen?".

"Es geht nicht mehr darum, was wir wollen - die Dinge kommen so oder so ins Rollen...".

"Shinya macht sich grosse Sorgen...".

"Und Kyo...lebt in seiner eigenen Welt - was aber nicht bedeutet, dass er sich nicht bewusst ist, was um ihn herum vorgeht".

"Yumi kann ihn nicht einfach so verlassen, oder? Sie wird doch wieder zu ihm zurückgehen?".

"Ich...weiss es nicht...".

"Er ist der Fels in der Brandung - aber was wird nun, da er seine Substanz verloren hat?".

"Manchmal hörst du dich an wie Kyo".

"Aber es ist doch so, oder?".

"Zugegeben, ja".

"Ich bin dafür, dass wir Yukies Rat befolgen...".

"Yukie steckt da auch schon mit drin?".

Unüberhörbares Erstaunen.

"...wir müssen nun gegenseitig füreinander da sein und Kao zeigen, dass nicht nur alles auf seinen Schultern lastet!".

"Das wird ihm nicht gefallen...".

"Dann wird er sich dran gewöhnen müssen...".

"Und Tommy?".

"Was soll mit ihm sein?".

"Kann er uns helfen?".

Kurzes Nachdenken.

"Ich glaube kaum, dass ihn das alles interessiert."

"Sollte es aber!".

"Ich wage zu behaupten, dass er sogar froh wäre, wenn Yumi aus Kaos Leben verschwinden würde...".

"Ach komm, so ist er nicht...".

"Aber du musst doch zugeben, dass er nie glücklich über diese Beziehung war".

"Ja, aber...".

"Genauso wenig, wie er unsere Beziehungen gern sieht! Die, er lebt von unserem Erfolg - je ernster das alles mit unseren Mädels wird, umso grösser wird die Chance..."

"...dass wir ausbrechen...?!".
 

* * *
 

Er zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Doch das leichte Kratzen in der Stimme des Sängers zeigte ihm, dass es Zeit war.

"Kyo?".

Der Blondschopf fing durch das Glas seinen Blick auf, entledigte sich der Kopfhörer.

"Ich glaube, das reicht für heute...".

Ein gutmütiges, etwas genervtes und doch erleichtertes Grinsen.

"Wie du befiehlst, oh Kaoru-sama...".

Der Leader schaltete die Gegensprechanlage aus, lehnte sich zurück und massierte sich die Schläfen.

Ein langer Tag und eindeutig zuwenig Schlaf. So langsam aber sicher begann alles an ihm zu zehren. Doch heute waren sie gut voran gekommen - die beiden noch fehlenden Songs waren im Kasten; zumindest so gut wie. An ein paar Kleinigkeiten wollte er noch feilen. Und ein paar der bereits fertiggestellten Songs bedurften auch noch einer minimalen Überarbeitung. Aber bis Ende der Woche würde das Baby geboren sein, sobald das Master-Tape bei der Plattenfirma war, alles Schlag auf Schlag gehen. Ohne Pause. Immer weiter. Immer schneller.
 

Das Klicken eines Zippos liess ihn den Kopf wenden.

Da stand Kyo, bereits eingemummelt in seinen Parka, bereit zu gehen.

"Okay, bis morgen dann...".

Sofort war Kaoru auf den Beinen.

"Ich wollte was essen gehn - kommst du mit?".

Verdatterter Blick. Unwillig verzogene Lippen.

"Ich weiss nicht...".

Bettelnde Augen.

"Ach komm, bitte...".

"Ich hab keinen Hunger...".

Hochgezogene Augenbrauen.

"Lügner!".

Resignation.

"Also gut, du Heulbaby...".

Befriedigtes Grinsen.

"Aber nur, wenn du mich danach nicht dazu verknurrst, mit dir hier zu pennen!".

Erstaunen. Doch der Leader fing sich sofort wieder.

"Dazu wird's nicht kommen - du ratzt eh schon in Restaurant weg...".

Demonstratives Gähnen.

"Gut möglich, du langweilst mich schon jetzt...".

Verletztes Blinzeln.

Sofort bereute Kyo seine Worte.

"Baka!". Versöhnlich knuffte er Kaoru in die Seite. "Los, komm jetzt, bevor ich's mir anders überlege...".
 

* * *
 

"Du bist so still...".

"Ich muss mein Image pflegen".

"Haha...".

Schlanke, muskulöse Arme schlangen sich um einen zierlichen Körper.

"Sorry, ich hab nachgedacht".

Sanft, versöhnlich.

"Willst du drüber reden?".

Der Schlagzeuger kämpfte mit sich, wägte in Gedanken ab.

"Ich weiss nicht...".

Täuschte er sich oder zuckte Enttäuschung über ihr Gesicht?

"Akemi...bitte...ich bin mir nicht sicher, ob das klug wäre...".

Seufzen.

"Du weißt, dass ich dich nie zu etwas drängen würde, ich vertraue dir. Manchmal frage ich mich aber, inwiefern du mir vertraust, wenn überhaupt...".

Entsetzen.

"Akemi! Nein! So ist es doch nicht...ich...möchte dir alles erzählen...aber...ich möchte dich nicht in etwas reinziehen, was...".

"...mich nichts angeht...?".

Ihre Stimme klang traurig, verloren. Sie entzog sich seiner Umarmung.

Shinya rang um Worte.

"Nein...nein...im Himmels Willen...".

Zitternd liess er seine Arme sinken, starrte seine Freundin an.

"Was dann?".

Die sonst so fröhliche Stimme widerhallte hohl im stillen Raum.

Der Drummer fasste sich ein Herz.

"Es ist wegen Kaoru, mehrheitlich...".

Akemi sah ihn mit grossen Augen an und zog ihn schliesslich zum Sofa, wo Miyu friedlich vor sich hindöste.

"Ja?".

Shinya setzte sich vorsichtig, um das schlafende Tier nicht zu stören.

"Er kapselt sich ab. Er ist rastlos. Es scheint fast so, als würde ihn alles immer mehr überfordern. Aber natürlich würde er niemandem sein Herz ausschütten oder um Hilfe bitten. Seit Tagen übernachtet er im Studio, als ob er kein Zuhause hätte. Nicht, dass er das früher nie getan hätte, aber Yumi kommt nicht mehr vorbei. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Er spricht nicht einmal mehr von ihr. Erwähnt sie nicht. Tut so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Und nimmt Schlaftabletten...".

Akemis Augen waren während seines Monologes immer grösser geworden. Sie hatte sich nicht hingesetzt, war aber, während Shinya gesprochen hatte, vor ihm auf die Knie gesunken und streichelte nun tröstend seine Knie und blickte unsicher zu ihm auf.

"Hört sich nicht allzu gut an...".

Ein schwaches Kopfschütteln.

"Ihn zum Reden zu zwingen wird nichts bringen, oder?".

Trockenes Lachen.

"Wir sprechen hier von Kaoru...null Chance...".

"Hontou ni?".

"Huh?".

"Vielleicht müsste nur die richtige Person mit ihm reden...".

"...".

"Ihr habt es noch nicht einmal versucht, oder?".

"Er lässt uns nicht...".

"Dann müsst ihr seine Mauern einreissen".

"So wie's aussieht, werden sie demnächst von selbst einstürzen...".

"Und dann?".

Die breiten Schultern zuckten hilflos.

"Ich weiss es nicht, Akemi, ich weiss es nicht...Kaoru war immer da, er war die treibende Kraft...".

Stirnrunzeln.

"...und nun...entfernt er sich von uns...Toshiya weiss es, spätestens seit Die sich ihm zugewendet hat...die beiden hängen in letzter Zeit so oft zusammen...Die vermisst Kaoru, aber er braucht einen Freund, keinen Konkurrenten...".

Akemis Augen verengten sich. Auf einmal kamen Dinge zutage, von denen sie nicht wusste, ob sie sie hören wollte.

"Und Kyo...spürt es wahrscheinlich...hat aber genug eigene Probleme, um sich wirklich damit zu beschäftigen...".

Fragender Blick.

"Was ist denn mit Kyo?".

Erst jetzt fiel ihr auf, wie wenig sie eigentlich über den kleingewachsenen, so niedlich anmutenden Sänger wusste.

"Ach, das Übliche...Unlust, leichte Depressionen, Einsamkeit, er denkt zu viel nach, fühlt sich ungeliebt...er sollte nicht allein sein...da kommen ihm noch mehr unnötige Gedanken...".

"Wie wär's mit einer Gruppentherapie? Und einer Verkupplungsaktion für Kyo?".

Akemis, mit einem breiten Grinsen vorgebrachter Vorschlag lockerte die triste, schwermütige Stimmung auf. Der Schlagzeuger kicherte plötzlich.

"Aber nur, wenn der Psychiater es schafft, mit einer Horde alternder Rockstars klarzukommen, und wir uns, nachdem wir Kyos Zukünftige auf ihn angesetzt haben, sofort ins Exil absetzen können...".

Akemis helles Lachen schallte durch den Raum. Miyu sprang erschrocken auf und musterte mit ihren grossen, braunen Hundeaugen forschend und vorwurfsvoll ihren Meister und seine Freundin.
 

* * *
 

Lustlos stocherte er in seinem Reis herum. Häufte ein paar Körner auf seine Stäbchen, liess diese jedoch wieder sinken, bevor er sie an seinen Mund hob.

Kaoru schaute dem eine Weile zu, bis er es schliesslich nicht mehr aushielt.

"Kyo, wir sitzen schon eine Viertelstunde vor dem Essen und du hast noch nicht einen Bissen davon...".

"Ich sagte dir doch, ich hab keinen Hunger!".

Trotz.

"Natürlich nicht - du hast auch nur den ganzen Tag nichts gegessen!".

"Hab ich wohl...heute früh...".

Der Gitarrist seufzte und widmete sich wieder seinen Soba-Nudeln.

"Wie du meinst - geht mich ja nichts an...".

Ein paar Minuten verstrichen. Keiner der Beiden sagte ein Wort. Als er fertig war, stiess Kaoru die kleine Schale von sich und lehnte sich zurück. Kyos Schale war immer noch voll. Die Falte auf der Stirn des Sängers zeugte davon, dass er über irgendetwas brütete, die Welt um sich herum vergessen hatte.

Kaoru klaubte in der Brusttasche seiner viel zu weiten Kapuzenjacke, holte seine Zigaretten hervor, zündete sich gemächlich eine an.

Genau so gut hätte er hier allein sitzen können - es hätte keinen Unterschied gemacht. Stattdessen sass er hier mit Kyo - und so seltsam es auch war, es war schön, sich für einmal, trotz allem, nicht allein zu fühlen.

Er hob seinen Blick und liess die Augen durch das Lokal schweifen. Mit Yumi war er öfter hierher gekommen, der Inhaber kannte ihn, führte ihn immer automatisch in den ruhigeren, hinteren Teil des Restaurants. Hier waren sie ungestört. Zumindest so gut wie. Die wenigen anderen Gäste waren wohl ebenfalls froh, für einmal ihre Ruhe zu haben. In einem der älteren Herren am nächsten Tisch glaubte er, einen Politiker zu erkennen. Doch sicher war er nicht.

Bilder aus vergangenen Tagen tanzten vor seinen Augen.

Yumi im Kimono am Geburtstag ihrer Mutter - da hatten sie ganz hinten im Séparée gesessen.

Yumi mit nassen Haaren - damals waren sie im Frühling in einen Platzregen geraten und hatten sich beim Eintreten erst mal geschüttelt wie Hunde, sehr zum Unwillen einiger Gäste.

Und dann...letztes Mal...der Streit...und seither....kein Wort mehr...

Zerknirscht blickte der Bandleader auf die stetig kleiner werdende Zigarette in seiner Hand. Und bemerkte dabei gar nicht, wie Kyo ihn forschend anstarrte.

Erst nachdem dieser ihn regelrecht mit Blicken aufspiesste, nahm er wieder Notiz von der Welt um sich.

"Kyo...hast du was gesagt?".

Kopfschütteln.

"Nein - ich rede prinzipiell nicht mit Leuten, die mich ignorieren".

"Tut mir leid...hey, du hast ja was gegessen!".

Tatsächlich war die Schale nun halbleer.

Der Sänger verzog die Lippen.

"Ja...mit etwas muss ich mich ja beschäftigen, wenn du nicht mit mir redest...aber von nun an lass ich mich nicht mehr hinhalten - was ist los?".

Kaoru betrachtete ihn nachdenklich. Er hatte Kyo eigentlich nicht hierher mitgenommen, um über sich zu reden.

"Nichts, warum?".

Die haselnussbraunen Augen wurden binnen Sekunden zu dünnen Schlitzen.

"Weißt du, Kaoru, eigentlich kann es mir ja egal sein, was du treibst. Es braucht mich nicht zu kümmern, dass du das Studio kaum noch verlässt. Es könnte mir egal sein, dass wir Yumi seit Wochen nicht mehr gesehen haben, und dass du dich immer mehr zurückziehst und versuchst, uns für dumm zu verkaufen...".

Betroffenes Schweigen.

"...aber es ist mir nicht egal! Ich hab versucht, drüber hinweg zu sehen, aber ich schaffe es nicht. Du machst mir Angst, Kaoru. Und du weißt, dass ich mir nicht allzu oft Sorgen um jemanden mache. Nun hast du die Gelegenheit, Ballast abzuwerfen, oder es sein zu lassen. Ganz wie du willst...".

Der Bandleader seufzte.

Das war direkt.

So ganz ungewöhnlich für Kyo.

Was bewies, wie wichtig ihm die Sache war,

Kaoru holte tief Luft und zündete sich eine neue Zigarette an - er brauchte etwas, um sich dran festzuhalten.

"Yumi...ist weg...wir haben uns vorläufig getrennt...".

Obwohl er so etwas erwartet hatte, stutzte der Sänger.

"Vorläufig?".

Trauriges Lächeln.

"Du weißt ja, wie das läuft...".

Nein. Wusste er nicht. Trennungen waren für ihn immer endgültig. Und für die Frauen, die ihn verliessen, waren sie das auch. Wer sollte so etwas wie ihn jemals zurück haben wollen?

Doch er nickte gefällig, heuchelte Verständnis.

"Was ist passiert?".

"Streit...das Übliche...sie fühlte sich vernachlässigt, allein gelassen...sagte, ich würde zu viel arbeiten...warf mir vor, die Band sei mir wichtiger als sie...".

Kaoru steckte die Zigarette in den Aschenbecher und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Bei ihm eine Geste der Verzweiflung, der Erschöpfung.

"Womit sie aber nicht ganz Unrecht hat...".

Die müden Augen musterten den Sänger.

"Ja, klar...ich dachte, ich würde alles hinkriegen...ich dachte, ich könne sie vielleicht auf Tour mitnehmen...aber Tommy...naja, du hast ihn ja gehört...".

"Jetzt versteh ich - darum ging's, als ich euch überrascht hab...".

Schwaches Nicken.

"Er will unsere Freundinnen nicht dabei haben - nicht die ganze Zeit. Sie würden uns zu sehr ablenken...und die Fans...die ewig gleiche Diskussion...".

Nun zündete sich Kyo ebenfalls eine Zigarette an.

"Du hast Yumi gesagt, du würdest sie auf die Tour mitnehmen, bevor du Tommy und Inoue gefragt hast? Und nun ist sie ausgerastet, weil alles nur leere Versprechungen waren...?".

"So sieht's aus".

"Und wo ist sie jetzt?".

"Keine Ahnung...bei Freunden, bei ihren Eltern, bei ihrer Schwester...sie wird schon nen Platz gefunden haben...".

"Und es interessiert dich nicht, wo sie ist? Hast du rumtelefoniert?".

Kaorus Kopfschütteln schockierte Kyo.

Damals...

Damals war er beinahe wahnsinnig geworden vor Angst. Er hatte sie tagelang gesucht. Nicht mehr geschlafen. Nichts mehr gegessen.

Und hier sass sein Freund und tat so, als ob das alles ihn nichts anginge? Oh Kaoru, was war bloss aus ihm geworden...

"Nein...sie hat gesagt, ich solle sie in Ruhe lassen...sie wolle allein sein...sie müsse nachdenken...auf andere Gedanken kommen...".

"Und dass sie sich vielleicht doch über eine Nachricht freuen würde, hast du dir nicht überlegt?".

"Kyo, bitte, ich bin kein Arschloch! Was denkst du, wie oft ich versucht hab, sie zu erreichen? Sie meldet sich nicht! Obwohl sie meine Anrufe auf ihrem Keitai sieht...".

"Dann ruf ihre Freunde an! Mach die Nummern ausfindig...".

"Kyo...".

"Oder die ihrer Familie!".

Die runtergerauchte Zigarette starb im Aschenbecher einen schnellen, quallosen Tod.

"...".

"Was ist?".

"Ich...hab Angst...".

Beinahe hätte der Sänger laut losgelacht.

"Du? Wovor denn?".

"Ich will sie nicht verlieren - ich liebe sie. Aber...wenn ich sie jetzt bedränge, wird alles nur noch schlimmer. Und ich möchte mich mit ihr persönlich unterhalten, ihr dabei in die Augen sehen...".

"Und trotzdem musst du ihr jetzt schon zeigen, dass dir noch etwas an ihr liegt...".

"Ach Kyo...".

"Spring über deinen Schatten, Leader-sama...".

"Das sagst gerade du..."

Sofort verschwand alle Offenheit von Kyos Zügen. Angriffslustig funkelte er den Bandleader an.

"Was soll das denn heissen?".

Nun hatte es keinen Sinn mehr, zurückzukrebsen. Vielleicht würde ja die volle Offensive helfen...

"Du solltest nicht allein sein".

"Wer sagt das?!".

Täuschte er sich oder funkelten die Augen noch gefährlicher als vorhin?

"Ich...".

Notlügen mussten manchmal sein, um Schlimmeres zu verhindern.

"Ist ja lieb von dir - aber mir geht's ganz gut so...und überhaupt, weich nicht vom Thema ab!".

"Lass den Sarkasmus. Denkst du, ich habe dich einfach nur so hierher eingeladen? Es war nur Zufall, dass du mich zuerst gelöchert hast...jetzt will ich auch mal...".

Die vollen Schmolllippen kräuselten sich. Darüber musste der Sänger erst eine Weile nachdenken.

"Kaoru, wirklich, es geht mir gut...meinst du allen Ernstes, ich könnte im Moment mit einer Freundin am Rockzipfel leben? Ich sehe doch, dass es nur Probleme gibt...".

Damit musterte er sein Gegenüber vielsagend.

"...also, weshalb sollte ich eine Beziehung erzwingen wollen, wenn ich's mir doch holen kann, bei wem und wann immer ich will?".

Breites, freches Grinsen. Doch Kaoru hatte bereits Übung darin, hinter die Maske zu sehen.

Ein müdes, trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.

"Auf die Gefahr hin, dass ich kitschig und naiv klinge, aber...wo bleibt da die Befriedigung? Die tiefe Befriedigung, meine ich?".

Verständnisloser Blick.

Stille.

Der Sänger nippte vorsichtig am Sake, der vor ihm stand. Er, der so gut wie nie Alkohol trank.

"Brauch ich nicht..."

Unbefangen.

Kaoru rutschte unbehaglich auf seinem Kissen herum, runzelte die Stirn.

Es gab keine Hilfe für diejenigen, die sie nicht wollten. Und doch...

Es musste etwas geschehen...
 

+ + +

06. [Hermes]

Entgegen etwaiger gegenteiliger Annahmen und Vermutungen: Ja, ich schreibe tatsächlich noch an dieser Fic! ^.~
 

Eigentlich hätte dieses Kapitel länger werden sollen, aber ich denke, es war besser, es doch nur so kurz zu halten...
 

+ + +
 

"Moshi moshi".

"Kaoru desu".

"Oh, Kaoru...hi...".

Völlig überrascht.

Beinahe ehrfürchtig.

Als ob sie einander nicht schon lange kennen würden.

Der Gitarrist schmunzelte.

"Alles klar?".

"Ja...ja...soweit schon. Wir arbeiten an neuen Songs, ne...".

Ob er mit Kyo auch immer so redete?

Kaoru bezweifelte es.

Verdammt, sie kannten sich doch mittlerweile recht gut, konnte der Junge nicht ganz normal mit ihm sprechen...

"Lasst es uns wissen, wenn ihr Konzerte gebt - Kyo hat letztes Mal so geschwärmt, dass ich auch Lust gekriegt hab".

"Oh...ja...das wär toll...ab 1. Dezember sind wir wieder auf Tour, von daher...".

Und ich fänd's toll, wenn du mich nicht in den Himmel heben würdest.

Langsam fing die Befangenheit an, ihm auf die Nerven zu gehen. Er musste auf den Punkt kommen.

"Hör zu...warum ich anrufe...kannst du mir einen Gefallen tun?".

"Uhm...ja...ich denk schon...worum geht's?".

"Kyo".

"...".

"Kannst du dafür sorgen, dass er nächsten Samstag ins Bowling Center kommt?".

"Ich? Ja...aber warum fragst du ihn nicht s...".

"Weil er noch so gut wie nie mit uns zum Bowling gekommen ist und von vornherein ablehnen würde".

"Und warum soll ich ihn dann dort hinlotsen?".

"Weil er mal unter Leute muss".

"Verstehe...".

Langsam dämmerte es ihm.

"Glaubst du, du kriegst das hin, ohne dass er gleich Verdacht schöpft?".

"Denk schon - er vertraut mir. Und bisher hab ich ihn noch nie hintergangen...".

Betonung auf ,bisher'.

Der Bandleader zuckte zusammen.

Verdammt, es war ja nicht so, dass er kein schlechtes Gewissen hatte. Aber wie sonst sollten sie Kyo dorthin kriegen? Seit die Aufnahmen abgeschlossen waren, hatte er sich wieder in seiner Wohnung verschanzt. Dass er das Interview mit Fool's Mate am Tag zuvor nicht hatte sausen lassen, war ein Wunder gewesen.

Aber Interviews waren Arbeit - und kein Spass.

Er seufzte.

"Glaub mir, es wird ihm gut tun. Du kennst ihn doch".

"Hmmm...".

"Hey, keine Angst, dich wird er dafür nicht zusammenstauchen - wenn, dann kriegen Die und ich unser Fett weg".

"Wenn du meinst...".

Ein amüsierter Unterton in der Stimme.

"Vielen Dank".

"Ich tu mein Bestes".

"Wirklich, danke! Du hast was gut bei mir".

"Ach, ein VIP-Ticket für euren nächsten Gig in Tokyo reicht mir schon...".

"Das hättest du eh bekommen".

"Für die ganze Band?".

Na also, es ging doch.

Ein Lächeln tanzte auf Kaorus Lippen, als er antwortete.

"Wenn du deine Mission zur Zufriedenheit erfüllst...".

"Erpresser!".

Noch viel besser.

Er lachte.

"Okay dann...".

"Ja, wir sehen uns...".

"Samstag...".

"Yep...".

"Oh, und Gara...".

"Ja?".

"...so ganz entspannt gefällst du mir viel besser".

Perplexte Stille.

Als der Sänger schliesslich etwas erwidern wollte, hatte Kaoru schon aufgelegt.

Nachdenklich liess Gara sein Keitai sinken, trennte die Verbindung endgültig, legte den kleinen Apparat auf den Tisch.

Dann ging er zum Kühlschrank.

Kälte schlug auf seine nackten Füsse, als er die Tür aufmachte und schnell eine Dose Asahi rausfischte. Diese zischte protestierend, als er sie öffnete, verlor jedoch den Kampf.

Die leicht bittere Flüssigkeit rann prickelnd kühl seinen Hals hinunter.

Weil er mal unter Leute muss...

Glaub mir, es wird ihm gut tun...

Davon war er überzeugt.

Mit leicht schlechtem Gewissen versuchte er, sich zu erinnern, wann er seinen Senpai das letzte Mal besucht hatte.

Vor zwei Wochen? Drei Wochen?

Die Zeit flog nur so dahin.

Und er war entschuldigt, schliesslich war Kyo beschäftigt gewesen.

Aber bestimmt nicht zu beschäftigt, um mal zwischendurch Besuch zu bekommen.

"Ich Arsch...".

Ein gehässiges Murmeln, an sich selbst gerichtete Kraftwörter aus schwarz-verschmierten Lippen.

Gara schüttelte angenervt den Kopf und beförderte die leere Dose auf den Boden, wo sich der Abfall der letzten zwei Tage stapelte. Eigentlich hatte er aufräumen wollen, doch dann war ihm Kaoru dazwischen gekommen. Und nun war Kyos Wohlergehen wichtiger.

Er hatte einiges wieder gut zu machen.
 

* * *
 

Geschlossene Jalousien.

Im Zimmer herrschte schummriges Halbdunkel.

Staub tanzte im schräg einfallenden Licht.

Vermutlich schien die Sonne.

Doch es kümmerte ihn nicht.

Mit ausdruckslosen Augen starrte er auf den leeren Käfig. Er hatte es noch nicht geschafft, ihn zu entsorgen. Doch jedes Mal, wenn er daran vorbei ging und die Stiche im Herz fühlte, nahm er es sich fest vor.

Heute war er jedoch zu schwach.

Kraftlos liess er die Fingerspitzen seiner rechten Hand über das Gitter gleiten.

Wenn Kaoru bloss wüsste, wie sehr er denn Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Das Gespräch lag schon einige Tage zurück - doch dem Sänger gingen die Worte seither nicht aus dem Kopf.

Hatte er sich nicht die ganze Zeit danach gesehnt, jemandem sein Herz auszuschütten?

Warum war er bloss so eine Memme. Die perfekte Chance hatte er vertan. Zugegeben, er hatte Schiss gekriegt. Und egal, was alle von ihm dachten: Er hatte Anstand.

Kaoru war nicht der Richtige gewesen. Nicht nach dem, was er ihm erzählt hatte. Er hatte wohl selbst bei weitem genug Sorgen.

Doch wer kam sonst in Frage?

Die?

Nein. Er hatte keine Lust auf irgendwelche Verkupplungsaktionen.

Toshiya?

Der schwebte im Moment auf Wolke 7 - auch keine gute Idee.

Shinya?

Auch nicht - er hatte nicht vor, gegen eine Wand zu reden und gute Ratschläge zu hören. Zudem war er mit Shinya nicht vertraut genug.

Kouhai...?
 

Lustlos entfachte Kyo eine Zigarette.

Ging ein paar Schritte zurück.

Er liess sich im kleinen Wohnzimmer auf das Sofa sinken, starrte in den ungewohnt leeren Raum oberhalb des Fernsehmöbels. Seit er das Gerät ins Schlafzimmer verfrachtet hatte, war er nicht mehr oft hier drin. Nur zum Nachdenken. Und Schreiben. Hier lenkte ihn nichts ab. Nicht einmal mehr seine kleine Springmaus. Auf dem Tischchen vor ihm lag Staub.

Der Sänger lehnte sich vor, zeichnete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand unleserliche Hieroglyphen ins Grau, während er mit der linken Hand in regelmässigen Abständen den Nikotinspender an den Mund führte.

Stille.

Nur ab und zu drangen Geräusche aus der gegenüberliegenden Wohnung zu ihm.

Letzte Nacht hatte er dem Liebesspiel des Typen gegenüber mit wem auch immer beiwohnen müssen. Indirekt natürlich. Und ja, es hatte ihn gestört. Verdammt, es war frustrierend, mit anhören zu müssen, wie andere Spass hatten und in himmlischen Gefilden schwebten, während...

Egal.

Irgendwann letzte Nacht hatte er dann doch noch bekommen, was er wollte.

Er hatte es sogar genossen, sehr, aber...

Warum musste Kaoru immer recht haben. Verfickt.
 

Wütend nahm er dem bereits halbtoten Stummel den letzten Lebenshauch.
 

* * *
 

"Ich soll ihn ,aufheitern'?".

Ein entsetzter Blick traf ihn.

Beruhigend winkte er ab.

"Nun denk nicht gleich ans Schlimmste. Ich will doch nur, dass er sich nicht mehr ganz so einsam fühlt...".

Vehementes Kopfschütteln.

"Du bist das Allerletzte, weißt du das? Aus dem Alter, wo ich mit Männern auf diese Art rumgespielt habe, bin ich raus!".

"Was heisst hier spielen? Unterhalt dich einfach mit ihm, sei nett zu ihm, muntere ihn auf...".

"Aber du weißt schon, worauf das hinauslaufen könnte?".

"So leicht verliebt er sich nicht".

Die junge Frau ihm gegenüber blies ihre Wangen auf, liess die aufgestaute Luft durch die zusammengepressten Lippen entweichen.

"So, wie du ihn eben beschrieben hast, klingt er aber recht verzweifelt - und in diesem Zustand lässt man irgendwann alles zu".

"Er ist viel zu schüchtern und wählerisch dazu".

"Ich will ihn nicht verletzen...". Und mich auch nicht, klang es in ihrem Kopf ungesagt nach.

Täuschte er sich, oder schwang da echtes Mitgefühl in ihrer Stimme?

"Warum solltest du das tun?".

"Du weißt, ich bin nicht einfach - und so etwas passiert oft schneller, als man denkt".

"Kann es sein, dass er dir nicht gleichgültig ist?".

Lachen.

"Gara, du Baka, ich kenn ihn noch nicht mal!".

Beinahe hätte sie mit dem Popcorn in ihrer Hand nach ihm geworfen.

"Aber abgeneigt wärst du nicht - gib's zu".

"Ich werd's mir überlegen".

Erstaunen.

"Ich dachte, du kommst definitiv?".

Mahnend hob sie ihren Zeigefinger.

"Wann hab ich das gesagt?".

Noch gar nicht.

Enttäuschte Augen schauten zu ihr hoch.

"Komm schon, bitte".

"Ich sagte, ich denk drüber nach...".

Ein Blick auf die Uhr.

"Sehr schön - dann mach mal, du hast noch...ungefähr 5 Stunden Zeit...".

In schnellen Zügen trank sie die letzten Schlucke ihres Caipirinha.

"Erwarte nichts".

Sie stand auf und schlüpfte in ihren Trenchcoat.

Er blinzelte verführerisch.

"Komm schon, du bist doch auch verzweifelt...".

Aufblitzen in den Augen.

Strenger Blick.

Dann übertünchte ein Strahlen ihre Züge.

"Frecher Kerl!".

Gara duckte sich geschickt, als sie mit ihrem langen, farbigen Halstuch nach ihm ausholte.

Immer noch lachend packte sie ihre rote Ledertasche, winkte ihm zu, verliess das Café und verschwand draussen blitzschnell in der Menge.

Der Sänger von Merry blickte ihr lange nach.

Er wusste nicht, ob das eine gute Idee war - aber ein Versuch war's allemal wert.

"Nun bist du am Ball, Chie-chan...".
 

+ + +

07. [Namida]

"Und du bist sicher, dass er kommt?".

"Gara wird schon dafür sorgen...".

Tiefgründige, glänzende Augen trafen auf seine.

Forschend.

Fragend.

Dann das erlösende Nicken.

Ein sanftes Lächeln umspielte Dies Lippen.

Und Kaoru atmete auf.

Es war immer gut, Verbündete zu haben, die zu einem standen.
 

* * *
 

Entschuldigender Blick.

"Tut mir leid, ne...".

"Ich sagte doch schon, es ist okay...".

Akiko stellte ihre Kaffeetasse ab, lächelte beruhigend.

"Weißt du, wenn ich's mir recht überlege, passt das eigentlich ganz gut...".

Der Bassist zog fragend die Augenbrauen hoch.

"Inwiefern?".

Im Inneren ahnte er schon, was nun kommen würde.

"Ich wollte Yumi schon lange mal wieder zum Essen einladen...".

"Mit Hintergedanken?".

"Wo denkst du hin...".

Gespielte Entrüstung.

Toshiya grinste breit, zeigte seine liebenswert schiefstehenden Zähne.

"Wenn Kaoru selbst nichts unternimmt, dann müssen wir halt das Ruder übernehmen".

"Seh ich genau so...".

"Und von Frau zu Frau...".

"...ist es nun mal einfacher".

Nun grinsten beide.

Akiko stand auf und trug ihre Tasse in die Küche, stellte sie in den Geschirrspüler.

Als sie zurückkam, lag ein Schatten auf Toshiyas Gesicht.

"Was ist, wenn die beiden sich nicht mehr zusammenraufen?".

Er zog seine Freundin an sich, liess sie auf seinen Beinen Platz nehmen, schlang von hinten verzweifelt die Arme um sie.

"Es wird so kommen, wie es muss, Toshiya, vergiss das nicht...".

An ihrem Rücken pochte sein Herz.

"Ich weiss...ich habe nur Angst, mir vorzustellen, was werden wird...".

"Was bringt es, es dir vorzustellen, wenn du noch nicht mal weißt, ob es auch wirklich so wird?".

Schweigen.

Die Umklammerung löste sich, noch nicht ganz, aber zumindest etwas.

"Da ist was dran...".

"Siehst du!".

Schelmisches Grinsen ihrerseits. Sie drehte sich halb zu ihm um und wendete den Kopf so, dass sie ihm seitwärts in die Augen sehen konnte.

"Lass mich einfach mal machen".

"Okay, irgendwie hab ich das Gefühl, du schaffst das...".

Sein warmer Atem liebkoste ihre rechte Wange.

"Ohne Kaorus Mithilfe wird es nicht gehen, und dafür wirst du besorgt sein müssen - aber ich kann schon mal die Grundsteine legen...".

Toshiya biss sich auf die Lippen, senkte leicht den Kopf, was ihm einen aufmunternden Nasenstüber von Akiko einbrachte.

"Hey, komm schon, cheer up! Geniess das Bowling heute Abend, hab Spass mit den Jungs - morgen werde ich dir mehr sagen können, und dann schauen wir, wie's weitergeht. Einverstanden?".

Kurzes Überlegen. Eifriges Nicken.

"Ja".

Wie ein kleiner Junge.

Das Fotomodell drehte sich in Toshiyas Schoss nun endgültig um 180°, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken, sah ihm direkt in die Augen, fühlte sich hineingezogen in dieses Meer aus warmem Braun.

Trockene Lippen trafen auf ihre glossigen, teilten sie, die warme, feuchte Zunge begehrte durstig Einlass.

Ein langer Kuss besiegelte ihre Abmachung.
 

* * *
 

"Also doch ohne die Mädels?".

"Ja, Die hat vorhin grad angerufen...".

"Naja, Akemi wär's wohl sowieso lieber, euch alle mal im ruhigeren Rahmen richtig kennenzulernen...".

Schweigen.

Knacken in der Leitung.

"Toshiya? Bist du noch dran?".

"Ja...sorry...".

"Alles okay?".

"Ja...ich hab nur grad nachgerechnet, wie lange du schon mit Akemi zusammen bist - und darüber, dass wir sie die ganze Zeit über noch nie wirklich gesehen haben...".

Resigniertes Seufzen.

"Toshiya...".

"Ich weiss, ich weiss, du musst mir nichts erklären. Es ist nur...ach, vergiss es...".

"Toshiya...?!".

"Bis heute Abend, ne...".

Und schon hatte der Bassist aufgelegt.

Shinya lehnte sich im Sofa zurück und blickte aus dem grossen Wohnzimmerfenster. Der Wind spielte in den Wipfeln der Zedern. Graue Wolken hingen tief.

Verdammt, er war nun mal so, wie er war. Die ganze Zeit über war dies nicht mehr zur Sprache gekommen, aber so, wie er Toshiya kannte, trug dieser den Gedanken wohl ständig mit sich rum. Konnte er denn nicht einsehen, dass nicht alle so waren wie er und Die und demnach ihre Liebsten auf dem Serviertablett präsentierten?

"Wer war das?"

Akemi - er hatte sie nicht kommen gehört.

"Toshiya. Das Bowling heut Abend ist nun doch offiziell ohne Anhang. Vermutlich, um Kaoru und Kyo nicht unnötig zu belasten".

Stirnrunzeln.

"Willst du mir erzählen, zwei erwachsene Männer können nicht damit umgehen, solo zu sein?".

Müdes Lächeln.

"Damit umgehen müssen sie jeden Tag - für ein paar Stunden möchten wir sie ihre Situation vergessen lassen...".

"Seltsame Ideen habt ihr...".

Ihre trockenen Worte überraschten ihn.

"Du wärst gern mitgekommen?". Erstaunte Frage.

Die zierliche junge Frau stellte sich an die Fensterfront, blickte vorbeiziehenden Krähen nach.

"Was denkst du denn?".

Zerknirschter Blick.

"Ich dachte, du würdest die anderen vielleicht doch lieber mal bei nem Essen kennenlernen...".

Die Krähen waren weg, nun starrte sie auf einen fernen Punkt über den Bäumen.

"Manchmal komm ich mir so isoliert vor, weißt du. Ich kann ja verstehen, dass du Beruf und Privatleben strikte trennen willst, das tun viele...aber ihr seid euch alle so nah, du kennst Yumi, Akiko, Yoshie...nur ich höre immer nur Namen...Himmel, noch nicht einmal die vier Jungs habe ich richtig zu Gesicht bekommen! Und wie lange kennen wir uns? 10 Monate?".

Stille.

Der Schlagzeuger blieb unschlüssig sitzen. Ein Kloss bildete sich in seinem Hals.

Verdammt, er konnte nun mal nicht aus seiner Haut...

"Es tut mir leid...".

Die Stimme beinahe unhörbar, doch Akemi hatte gute Ohren.

Sie wandte sich langsam um und musterte ihren Freund mit traurigen Augen.

"Ist es denn so schwer für dich? Was würde denn um Himmels Willen geschehen, wenn ich sie alle treffe?".

Leeres Schlucken.

"...".

Er wusste keine Antwort. Keine plausible zumindest. Angestrengt betrachtete er die Musterung des Teppiches.

"Ich will dich zu nichts zwingen - ich komme mir nur so...ausgeschlossen vor".

Nun klang ihre Stimme leise, beinahe verloren.

Sie zerriss ihm das Herz.

Verzweifelt hob er die Hände und massierte sich mit seinen langen, grazilen Fingern die Stirn.

"Du hättest mich nicht mitgenommen, auch wenn alle anderen Mädels auch dabei gewesen wären, stimmt's?".

"...".

"Shinya?!? Hab ich recht?".

"Akemi...".

Mit drei grossen Schritten war sie beim Sofa, setzte sich neben ihn - ihr Arm auf seiner Schulter fühlte sich unglaublich gut an...".

"...du begreifst meine Situation innerhalb der Band noch nicht ganz. Ich bin einfach der Schlagzeuger, verstehst du? Das ist mein Job - genau so gut könnte ich Salary Man sein und mich jeden Morgen auf den Weg in die Ginza machen, whatever. Und nur, weil ich die anderen vier und unsere Crew dauernd um mich rumhabe, heisst das noch lange nicht, dass wir uns nahe sind. Doch, irgendwie schon, aber...".

Eine weiche Fingerkuppe legte sich auf seinen Mund.

Akemi stand auf.

"Komm, gehen wir spazieren - Miyu muss sowieso noch raus, bevor du gehst...".
 

* * *
 

Es klingelte, gerade als er sich eingekuschelt hatte.

Der Blondschopf grunzte, zog sich das Kissen über den Kopf.

Hatte man denn niemals seinen Frieden?

Als er sich schon wieder entspannen wollte, in der Hoffnung, der unerwartete Besucher sei wieder abgezogen, schellte die Klingel wieder, diesmal sogar zweimal nacheinander.

Da war wohl jemand ganz hartnäckig.

Kyo kickte mit beiden Beinen die Decke zurück, rappelte sich auf und schlurfte dann langsam zur Tür.

Das penetrante Klingeln ertönte ein drittes Mal, als er im Begriff war, den Schlüssel umzudrehen.

"Ja, ja, ja, ist ja gut...".

Er riss die Tür auf.

"Oh...".

"Hi Schnarchnase."

Der Sänger ihm gegenüber grinste breit.

"Hi...".

"Ich hab dich doch nicht etwa geweckt?!".

Oh Mann, da hatte wohl jemand verdammt gute Laune.

Der Dir en grey-Sänger trat zur Seite.

"Komm rein und schrei nicht das ganze Haus zusammen".

Gara grinste und schlüpfte an ihm vorbei in die Wohnung.

Zigarettenrauch. Heruntergelassene Jalousien. Das übliche Chaos.

Sein Besuch kam wohl gerade rechtzeitig. Und in Anbetracht der Umstände erübrigte sich auch die Frage nach Kyos Befinden.

"Na, verschanzt du dich mal wieder hier drin und verfluchst den Rest der Welt?".

Wäre die Person vor ihm nicht sein Kouhai gewesen, hätte Kyo ihn wahrscheinlich nicht gerade freundlich wieder vor die Tür gesetzt. In diesem Fall jedoch liess er Gnade und Nachsicht walten.

"Und wenn?".

Desinteressiert ging Kyo voran ins Wohnzimmer, liess sich aufs durchgesessene Sofa fallen. Sofort wanderte eine Zigarette an seine Lippen.

Gara folgte ihm unaufgefordert, setzte sich jedoch nicht, sondern blieb ganz cool im Raum stehn und betrachtete Kyo nachdenklich.

"Komm, heb deinen Hintern, wir gehen raus".

Stirnrunzeln. Erhobene Augenbrauen.

"Wer sagt das?".

"Ich!".

Unwilliges Stöhnen.

"Es regnet".

"Na und?".

"Und es ist kalt".

"Wir haben erst September".

"Trotzdem...".

"Weichei!".

Kyo erdrückte den runtergerauchten Stummel im bereits überquellenden Aschenbecher.

"Gara...".

"Bitte - es wird dir gut tun. Die Luft hier drin ist scheisse". Dass Kaoru ihm erzählt hatte, dass Kyo seit Tagen nicht mehr wirklich draussen war, konnte er nicht als Argument verwenden.

"Es ist meine Luft - geh doch, wenn's dir nicht passt".

Da lag wohl ein hartes Stück Arbeit vor ihm.

Gara seufzte innerlich, beschloss aber, hartnäckig zu bleiben.

"Du könntest schon etwas netter zu mir sein - schliesslich haben wir uns ne Weile nicht mehr gesehn". Sprach's und lehnte sich, cool eine Zigarette anzündend, an die Wand.

Das sass.

Kyo musterte ihn aus dunklen Augen und spielte nervös mit seinem Fingerring. Schuldgefühle machten sich in ihm breit. Fuck, Gara hatte seine schlechte Laune nun wirklich nicht verdient.

"Und wohin soll's gehen?".

Diese kleine Satz kostete ihn einiges an Überwindung - und Gara wusste das.

Er zuckte die Schultern.

"Park, danach was essen, Kino...".

Kyo liess sich das Angebot durch den Kopf gehen.

"Ich muss aber erst noch duschen...".

Sollte das eine Ausrede sein? Der Sänger von Merry verzog keine Miene, beugte sich über den niedrigen Wohnzimmertisch und drückte seine Zigarette aus.

"Ich kann warten...".

Und damit kniete er sich vor den Fernseher auf den Boden und werkelte an der Playstation herum.

Kyo blieb noch ein paar Sekunden sitzen, liess sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, stand dann aber auf und verzog sich ins Bad, als Garas fragend-vorwurfsvoller Blick ihn traf.
 

Nachdem er Kyos Spiele-Angebot durchgesehen hatte, war Gara auf einmal die Lust am Spielen vergangen. Vermutlich hatte sein Freund mal wieder all seine guten Spiele Kaoru oder Toshiya ausgelehnt.

Entschlossen schaltete er die Playstation wieder aus und horchte dem Prasseln des Wassers aus der Dusche.

Es war viel einfacher gewesen, als er erwartet hatte.

Er wurde den Verdacht nicht los, dass Kyo auf ihn gewartet hatte.

Um sich die Zeit zu vertreiben, wühlte er durch die Zeitschriften, die sich unter dem Tischchen stapelten.

Dabei kam ihm etwas in die Finger...

Dunkle Augen scannten den Text auf der kleinen Karte.

Was zum Teufel...?
 

Warum kamen ihm immer in der Dusche die seltsamsten Gedanken...?

Kyo hob den rechten Arm über die Schulter und seifte den Rücken ein, so gut es ging.

Gestern Abend war das bei weitem angenehmer gewesen...

Gestern Abend...
 

~ ~ ~
 

"Gefällt dir das, ja..."

Ihr Stimme drang durch das Wasser an sein Ohr.

"Mmmhmmmm...".

Lange Fingernägel bohrten sich in seine sensible Haut am Rücken, fuhren nach unten, kamen kurz oberhalb des Steissbeines zu einem Halt.

Er biss die Zähne zusammen.

Das Wasser war heiss, doch in ihm brodelte ein Vulkan.

Mit einem Keuchen sah er, wie sie in der engen Duschkabine auf die Knie ging, ihre Hände umfassten seine Pobacken.
 

~ ~ ~
 

Mit einem Kopfschütteln stellte er das Wasser ab und trat auf den kalten Kachelboden.
 

Als er wenige Minuten später in frischen Kleidern wieder ins Wohnzimmer kam, sass Gara auf dem Sofa, führte eine Zigarette an seine Lippen.

"Wollen wir?".

Sein Kouhai blickte auf.

Ein Grinsen umspielte seine Lippen.

"Wer ist Namida?".

Kyo zuckte zusammen.

"Woher...?".

"Du solltest sowas nicht einfach so rumliegen lassen!".

Der Schalk tanzte in Garas Augen, als er seinem Freund die Visitenkarte entgegen streckte.

Der Blonde schluckte leer und kratzte sich im feuchten Haar.

Er war doch nicht etwa verlegen?

"Anou...".

"War sie wenigstens gut?".

Wurde er rot?

"Sie hat ihren Zweck erfüllt...".

"Sie war den Preis also wert?".

"Nani?".

"Hey, ich hab von dem Club gehört, ich weiss, wieviel diese Mädchen kosten".

Kyo zuckte die Schultern.

"Keine Ahnung - ich hab nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten...".

Wie sehr er doch wünschte, dass es tatsächlich so war.

"Naja, zumindest haben die nen guten Ruf...".

"Das nehm ich doch an - ich glaub kaum, dass Inoue in der Beziehung was riskieren würde...".

Lachen.

"Er hat dir ihre Karte gegeben?".

Kyo runzelte die Stirn.

"Ja! Und?".

"Nichts - ich frag mich nur, wie lange es dauert, bis wir sowas zugesteckt kriegen...".

Gekicher.

"Baka!".

Während Gara in seine schwarze, abgewetzte, taillierte Secondhand-Lederjacke schlüpfte, ging Kyo ins Schlafzimmer, um seine SHOCKER-Tasche zu holen.

Sie war den Preis also wert?

Missmutig verzog er das Gesicht.

Verdammt, was wusste Gara schon.

So guten Sex hatte er schon lange nicht mehr gehabt - fünf Orgasmen nacheinander, nicht schlecht. Das Mädchen hatte Dinge mit ihm getan, wie noch keine Frau zuvor. Sie war definitiv sehr erfahren gewesen. Und hatte ihn in Sphären entführt, wo er noch nie gewesen war. Doch was brachte es ihm, wenn der Schmerz in seinem Herzen das unangenehme Brennen der Striemen auf seinem Rücken bei weitem überragte?

Seine Lust war befriedigt worden - doch diese Befriedigung füllte nicht die Leere in ihm aus.

Wenn er zurückdachte, an damals...

Damals...

Manchmal sah er sie noch immer vor sich.

Ihre Augen.

Ihre vollen Lippen.

Hörte ihr Lachen, ihre Stimme.

Sah sie beide auf dem Bett liegen und Pläne schmieden.

Pläne, die sie dann zunichte gemacht hatte...

Bevor der alte, immer wieder hochkommende Schmerz vollständig von ihm Besitz ergreifen konnte, streckte Gara den Kopf zur Tür rein.

"Hey, bist du da drin eingepennt?! Ikimashô!".

Kyo schreckte auf, fasste sich sogleich wieder, steckte eine volle Schachtel Zigaretten in seine Tasche, schlüpfte in seinen Parka und setzte seinen Hut auf.

Auf einmal war er unendlich froh, dass Gara bei ihm war...
 

+ + +
 

Anmerkung:

Für alle, die sich wundern: Ja, ich hab die Veröffentlichung von VULGAR nach hinten verschoben. *g* Statt am 10.9.2003 wird in der Geschichte hier die CD erst Anfang Oktober rauskommen... ^^
 

Und die Idee mit Kyo und dem Callgirl kam mir beim Lesen von Haruki Murakamis Meisterwerk "Tanz mit dem Schafsmann"... ^.~

08. [Fortuna]

Bevor ich mich für ein paar Tage in die Osterferien verabschiede, beglücke ich euch hier mit dem nächsten Kapitel. Ich habe einfach drauflos geschrieben, ohne es wirklich durchzulesen oder zu überarbeiten - also entschuldigt bitte allfällige Schreibfehler.
 

Möchte mich bei der Gelegenheit auch gleich noch bei all denen bedanken, die diese Geschichte lesen und sie lieb gewonnen haben und mir immer wieder Kommis schreiben - ich schätze das sehr und bin froh, dass sich einige von euch die Mühe machen, diese Story zu verfolgen; ich weiss, es ist nicht unbedingt einfach, sie zu lesen, und wahrscheinlich noch schwieriger, sie zu verstehn...
 

+ + +
 

"Wie wär's mit ner Jeans und nem Oldschool-Shirt? Schliesslich gehst du nur zum Bowling...".

"Haha, nur ist gut...".

"Hat sich dein Cousin auch genau überlegt, was er da von dir verlangt?".

"Nein...".

"...".

"...".

"Aber er weiss schon, dass du mal [a knot]-Mitglied warst?".

Grinsen.

"Das war vor 5 Jahren...".

"Hey, geh einfach da hin und schau, was sich ergibt - wer weiss, vielleicht interessiert er sich keinen Deut für dich...".

"Danke - sehr aufbauend!".

"Du weißt auch nicht, was du willst, oder?".

Kurze Stille. Überlegen.

"Nein".

"Wie wär's, wenn du dir erst Gedanken drüber machst, sobald's ernst wird?".

"Jetzt bist du aber diejenige, die zu weit denkt!".

Lachen.

"Willst du meine Ratschläge oder nicht?".

"Ach Sachi...".

"Chieko, überleg nicht so viel! Geh hin, geniess den Abend, und tu das, worum Gara dich gebeten hat - wo liegt das Problem?!".

"Dir en grey sind da, und ihre Crew - und Kyo!".

"Der zufälligerweise ein guter Freund von Gara ist - sollte dir das nicht die Ehrfurcht nehmen?".

"Die schon, aber die Angst nicht...".

"Wovor denn um Himmels Willen?!?".

Fassungslos.

"Wenn ich das wüsste...".

"Komm schon, was ist denn dabei? Du stellst dich doch sonst nicht so an!".

"Wenn du die Dinge wüsstest, die ich weiss, würdest du dich auch anstellen".

Kurzer Blick auf die Armbanduhr.

"Shit, ich muss los. Danke, ne! Ich meld mich morgen!".

"Ehm...ja, baibai...".

Wenn du die Dinge wüsstest, die ich weiss...

Und wenn die Band wüsste, dass Gara all die Sachen ausplaudert...

Chiekos Freundin kaute gedankenverloren an ihrem Daumennagel.
 

* * *
 

"Tee?".

Die runzelte überrascht die Stirn und blickte skeptisch, als Kaoru an den Tisch zurückkam.

Die Bowling-Halle war noch leer. Eher ungewöhnlich zu dieser Zeit, doch Tommy hatte darauf bestanden, das Center für den ganzen Abend zu mieten, damit sie ihre Ruhe hatten. Wie immer. Manchmal konnte Die sich kaum noch an die Zeiten erinnern, wo das anders gewesen war. Nicht, dass sie überall mit Handschuhen angefasst wurden, eine Extrabehandlung bekamen oder ganze Hallen, Ausstellungen und Säle für sich reservieren konnten. Doch wo es möglich war, taten sie es. Naja, nicht sie, ihre Hintermänner.

Kaoru und er waren die Ersten gewesen. Doch so nach und nach würden wohl auch alle anderen eintrudeln.

Der Leadgitarrist winkte ab, setzte sich auf einen der roten Plastikhocker, schüttelte leicht den Kopf und nippte an der dampfenden Flüssigkeit.

Sein Gegenüber musterte ihn eindringlich.

Ein Lächeln zauberte sich auf die Züge des Älteren.

"Mir geht's gut...".

"Ach ja?".

Immer noch äusserst skeptisch.

Nicken.

"Hey, Tee trinken ist nicht mit ,krank sein' gleichzusetzen, verstanden?!".

"Bei dir schon...".

"..."

"Schmeckt er wenigstens?".

Kaoru verzog leicht den Mund.

Kopfschütteln von Dies Seite.

"Nicht zu fassen...".

"Mein Magen hat heut Zicken gemacht, und ich trinke eh viel zu viel Kaffee, reicht das?!".

Die trank ein paar Schlucke aus seiner Bierdose und versuchte, sich bequemer hinzusetzen. Wer zum Teufel hatte diese unbequemen Barhocker erfunden?

"Warum sagst du das nicht gleich?".

Mürrisch. Was war aus ihrer Freundschaft geworden?

Kaoru fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über seine Nase. Bei ihm eine Geste der Erschöpfung. Dann aber stiess er die Tasse weg und liess sich von der Sitzgelegenheit gleiten.

"Wie wär's mit einer Aufwärmrunde?".

Sofort strahlte Die, froh, vom verwünschten Hocker wegzukommen.

"Wir machen sie eh alle fertig - aber schaden kann's nicht!".

Schelmisches Grinsen.

Der Jüngere leerte in fünf schnellen Schlucken seine Dose, schmiss sie in den nächsten Abfalleimer und folgte Kaoru.

Früher hatte er immer alles als Erster erfahren - und nun musste er seinem besten Freund alles aus der Nase ziehen.

Beste Freunde - waren sie das überhaupt noch?

Wie um diese ungewollten Gedanken zu verdrängen, griff er energisch nach seiner Bowlingkugel.
 

* * *
 

"Gara, wohin gehen wir?".

Der Grössere ging langsamer, guckte leicht verlegen.

"Ehm...wir gehen einfach...".

Unschuldig.

Kyo blieb stehen, kniff die Augen zusammen.

"Die Gegend kommt mir irgendwie bekannt vor...".

Der selbsternannte Prophet blickte forschend zurück, dann wieder die Strasse hinauf.

Gara kam ebenfalls zum Stehen, rieb sich mit der rechten Hand den Nacken.

Jetzt war es wohl an der Zeit, seinem Senpai reinen Wein einzuschenken.

Dieser kuschelte sich immer tiefer in seinen Parka, beinahe schien es, als glaube er, der Stoff mache unsichtbar, als wolle er sich verstecken.

Stimmt, ab und zu hatten junge Leute ihnen forschende, manchmal auch erkennende Blicke zugeworfen - doch bevor sie sich ihnen hatten nähern können, war Kyo jeweils schneller gegangen, hatte ihn mitgezogen, und so waren sie immer rechtzeitig in der Menge untergetaucht. Kein Wunder - jahrelange Übung machte den Meister.

"Bekannt? Ach ja?".

Augenrollen.

"Hast du mir irgendwas zu sagen?".

Aha, Propheten konnten also doch Gedanken lesen. Oder war's doch nur Kyos ausgezeichnete Menschenkenntnis?

"Wir gehen zum Bowling".

Jetzt war's raus.

Erstmal herrschte Stille.

Dann liess Kyo einen tiefen Seufzer hören.

"Bowling? Gara, ich...".

"Ich hab's versprochen".

Der Ältere riss seine Tasche auf und wühlte nach den Zigaretten.

"Wem? Die?".

"Kaoru".

Resigniertes Kopfschütteln.

"Ich hatte Die auch was versprochen - warum ziehen sie dich da mit rein?".

Schulterzucken.

"Vielleicht haben sie bezweifelt, dass du auch tatsächlich kommst, wenn sie dich fragen?!".

Der Ältere steckte sich einen der weissen Stängel zwischen die verächtlich geschürzten Lippen.

"Ich möchte nicht, dass du denkst, dass ich dich nur deswegen abgeholt hab - ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei der Sache...".

"Das weiss ich doch...".

Schliesslich hatte Gara ihn schon öfter aus seiner Lethargie geholt.

"Aber das Timing ist trotzdem schlecht...".

Die beiden setzten ihren Weg fort.

Der Jüngere fühlte sich auf seltsame Weise erleichtert - Kaoru hatte also tatsächlich recht behalten. Nicht, dass er dies nicht erwartet hatte, aber trotzdem, man konnte nie wissen. Ein wütender, im Stolz verletzter Kyo war gefährlich...und sehr nachtragend.

"Sie meinen es bestimmt nicht böse...".

Schnauben.

"Nein, natürlich nicht. Vermutlich sollte ich mich sogar geehrt fühlen, dass Kaoru zu solchen Mühen greift, nur um mich dahin zu locken...".

Der Senpai verzog seine Lippen zu einem Schmunzeln.

Gara fuhr sich mit der Zunge über seine Backenzähne.

Wie würde Kyo wohl reagieren, wenn er merkte, zu welchen Mühen er gegriffen hatte?
 

* * *
 

"Das gibt's ja nicht - ihr trainiert heimlich!".

Toshiya schlüpfte aus seinem Blouson und sprang energetisch auf Die zu.

"Ihr Spacken!!!", setzte Yukie noch einen obendrauf und stellte sich an die Bar. Leicht angetrunken machte das Ganze noch mehr Spass.

Emiko, Keiko und Aya, die zusammen mit Toshiya, Yukie und drei anderen von der Crew gekommen waren, nahmen sofort eine Bahn für sich in Beschlag.

"Los, heute zeigen wir's den Jungs".

"Aha, ihr wollt also nen Geschlechterkampf?!".

Die baute sich herausfordernd vor den dreien auf.

Emiko richtete sich zu ihrer vollen Grösse auf (womit sie nur noch wenige Zentimeter kleiner war als der Gitarrist) und starrte ihm entschlossen in die Augen.

"Ich bitte darum!".

"Okay, kannst du haben!".

"Okay!".

"Okay!".

"Ist ja gut ihr beiden...", rief ein lachender Kaoru von der anderen Bahn rüber, wo sich ihm Toshiya zum Aufwärm-Spiel angeschlossen hatte.

Der Bassist kicherte und suchte sich die beste Kugel aus.

"Sag mal, wo hast du denn Akiko gelassen?".

Beinahe hätte er sich die Kugel auf die eigenen Füsse fallen lassen, fasste sich aber sofort wieder.

"Wir haben beschlossen, die Mädels nicht einzuladen - ich dachte, das wüsstest du bereits?!".

Toshiya warf einen schnellen Seitenblick auf den immer noch mit den Mädchen schäkernden Die, sah dann aber direkt wieder Kaoru an.

"Nein, ich dachte, Akiko und Akemi kommen auf jeden Fall...".

Und warum sollte Yoshie nicht kommen? Was hatte Die sich wohl dieses Mal für ne Ausrede ausgedacht? Der Bassist beschloss, nachher gleich ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden.

"Naja, wir dachten halt, da Shinyas Akemi noch gar niemanden wirklich kennt...dass es doch eigentlich besser wär, wenn sie uns in nem gepflegteren Rahmen kennenlernt - wir wollen ja nicht gleich am Anfang nen allzu schlechten Eindruck hinterlassen...".

Linkisches Lächeln.

Und er war um keinen Deut besser als Die.

"Sou?". Kaoru rieb sich den Nacken. Seine Stirn legte sich in Falten.

"Was ist denn?".

Er ahnte doch nicht etwa ihre wahren Beweggründe?

"Ach, nichts...".

Schon lachte der Leader wieder und schnappte sich eine der Bierdosen, die Yukie in dem Moment auf einem Tablett an ihnen vorbei trug.

Toshiya tat es ihm gleich und trank durstig ein paar Schlucke.

"Ich hab gehört, Kyo soll hierher ,entführt' werden?".

Der Gitarrist zeigte ein breites Grinsen.

"So ist es geplant - und da ich von Gara bisher noch nichts gehört hab, scheint es zu klappen".

Der Bassist nickte.

"Ideen habt ihr...".

"Hättest du ihn denn gerne überreden wollen?".

"Das hat doch damit nichts zu tun...".

"Ach nein?".

Bevor Toshiya darauf etwas erwidern konnte, war Die an ihrer Seite.

"Na, was geht? Ready to win?".

Auch er nippte an einer Bierdose.

"Stehen die Teams denn schon?".

Der schlanke Bassist stellte die Bierdose auf einen Tisch und zündete sich gemächlich eine Virginia an.

"Yep...".

Kaoru schnappte sich als Erster das leicht zerknüllte Blatt Notizpapier.
 

Team 1 (The Winners ^_________^)

Die

Kaoru

Toshiya
 

Team 2

Shinya

Kyo

Gara
 

Team 3

Yukie

Hideki

DT
 

Team 4

Sexual Inoue

Takuma

Kenji
 

Team 5

Emiko

Keiko

Aya
 

Zweifelnder Blick.

"Hältst du das tatsächlich für eine gute Idee?".

Dümmliches Grinsen und überzeugtes Nicken.

"Ja - guck, Toshiya ist auch begeistert davon!".

Tatsächlich musste sich besagter Bassist, der mitgelesen hatte, vor Lachen am Tisch abstützen und brachte ausser ein paar quietschenden Lauten momentan nichts hervor.

Der rothaarige Gitarrist klopfte sich voller Stolz auf die Brust und sah auf Kaoru hinunter.

Dieser schüttelte nur hilflos den Kopf und steckte Die den Zettel wieder zu.

"Wenn ihr damit bezweckt, Kyo endgültig die Laune hieran zu verderben - von mir aus...".

"Sei kein Spielverderber!".

Flehend.

Kaorus Blick wurde auf einmal ungewöhnlich hart. Er fasste Die am Arm und zog ihn etwas beiseite.

"Warum werde ich eigentlich nicht mehr auf dem Laufenden gehalten?".

Der grosse, schlanke Gitarrist hob verständnislos die Augenbrauen, rieb sich ganz unterbewusst den doch leicht schmerzenden Arm.

"Was...?".

"Ich dachte, ihr ladet heute die Mädchen ein...".

Leeres Schlucken.

Das war es, was er vergessen hatte.

"Wir haben uns spontan umentschieden...".

Kaorus Augen verwandelten sich in schmale Schlitze.

"Ich brauche kein Mitleid!".

Fuck.

Die zuckte schuldbewusst zusammen. Suchte aber Kaorus Blick, hielt ihm stand.

"Nein, aber Ablenkung...".
 

* * *
 

Hier war sie also.

Chieko hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hypnotisierte die neonfarben-blinkende Leuchtschrift, die sich auffallend grell vom bereits dunklen Abendhimmel abhob.

Dann senkte sie den Blick.

"Geschlossene Gesellschaft" stand in krakeligen Kanji auf einem grossen Blatt an der Glastür. Was tun? Anklopfen, warten, bis sie jemand in Empfang nahm, und ihre ganze Geschichte runterleiern? Oder Gara anrufen und checken, ob er am Ende schon drin war? Das würde einiges erleichtern - denn ausser ihm kannte sie ja schliesslich niemanden.

Irgendwie war die Sache verdammt peinlich.

Und ihr Herz raste.

Warum eigentlich?

Gerade als sie kehrt machen und wieder gehen wollte, kam ihr eine Gestalt entgegen. Die Figur, die Gangart - unverkennbar Shinya.

Als er bei ihr war, musterte er sie forschend, deutete durch ein beinahe unmerkliches Nicken eine Begrüssung an.

"Sumimasen...wolltest du hier bowlen? Meine Freunde haben die Halle für heut Abend gemietet, also...".

Bei all der Höflichkeit und seinem entschuldigenden Blick musste Chieko ein Lachen verkneifen.

"Ja, ich weiss...".

Nun lag pures Erstaunen in seinen Augen - diese Antwort hatte er beileibe nicht erwartet.

"Hontô ni?".

In das Erstaunen mischte sich nun auch forschende Skepsis.

Nun musste sie doch grinsen.

"Keine Angst, ich bin weder Stalkerin noch arbeite ich für die Klatsch-Presse. Gara hat mich eingeladen...".

Kein Grund, mehr preiszugeben. Sollten diese Worte erst mal auf den Schlagzeuger wirken.

"Gara...?". Shinya musste doch tatsächlich kurz überlegen, dann aber hellte sich sein Gesicht auf. "Oh ja, Gara! Sorry, ich war mit meinen Gedanken völlig woanders...".

Chieko schüttelte nur sachte den Kopf. Der Junge liess sich so schrecklich schnell in Verlegenheit bringen.

"Kein Problem. Ich heisse übrigens Chieko, ich bin seine Cousine. Dôzo yoroshiku".

"Freut mich". Mit einem, wie ihr schien, strahlenden Lächeln nahm er ihre Hand, stellte sich ebenfalls förmlich vor.

Danach herrschte Schweigen, verlegenes Schweigen.

Mit einem kurzen Blick auf ihr Gegenüber erfasste sie sein Dilemma: Er wusste nicht, ob er ihr trauen und Glauben schenken konnte.

"Ich kann dir leider nicht beweisen, dass ich Garas Cousine bin, aber sobald er kommt...".

Der dünne Schlagzeuger winkte sofort ab.

"Nein, schon okay - komm einfach mal mit rein, vielleicht ist Gara ja auch schon da. Und falls du mir doch was vorgeflunkert hast, lass ich dich hochkant rauswerfen...".

Super, er hatte sogar Humor.

Chieko lächelte.

Shinya zückte sein Handy, wählte eine Nummer, wartete auf die Verbindung, sprach dann ein paar schnelle Worte, unterbrach den Anruf sofort wieder und nur wenige Sekunden später werkelte jemand an der Tür.

So funktionierte das also - mit schlichtem Anklopfen wäre sie also nicht weit gekommen. Das hätte Gara ihr auch sagen können.

Naja, was hatte sie auch anderes erwartet? War doch klar, dass auch hier Security-Leute für Ordnung sorgten.
 

Drin schallte ihr "With you" von Linkin Park in voller Lautstärke entgegen.

Ein paar Typen sassen an der Bar. Einige von ihnen kamen ihr bekannt vor. Mein Gott, war das dort der Manager?

Tja, einmal Fangirl, immer Fangirl. Chieko versuchte, ruhig zu atmen und nicht allzu sehr zu starren.

Drei Mädchen hatten bereits eine der Bahnen in Beschlag genommen - zusammen mit Toshiya.

Kaoru und Die standen abseits, in eine Diskussion vertieft.

Gara und Kyo waren noch nirgends zu sehn. Vielleicht besser so - Kyo sollte ja nicht gleich auf Anhieb merken, dass Gara sie herzitiert hatte.

Dann blickte Kaoru auf, erkannte Shinya im Halbdunkel und kam, etwas gar schnell, wie ihr schien, auf sie beide zu.

"Wurde ja auch Zeit!".

Der Schlagzeuger lächelte und gab Kaoru einen Handschlag - täuschte sie sich oder wirkte die ganze Szene eingespielt? Lag dies nun an Kaoru oder doch an Shinyas verkrampfter Haltung? Wann bloss legte er diese mal ab?

Die Augen des Gitarristen blieben nach der Begrüssung an ihr hängen, musterten erst sie, dann Shinya.

"Sorry, aber ist das...?".

Er liess die Frage in der Luft hängen.

Sofort wurde Shinya rot, schüttelte vehement den Kopf.

"Nein, nein...das ist nicht Akemi! Das ist Chieko, Garas Cousine!".

Er sagte dies so selbstverständlich - es wäre also ein Leichtes, den Jungs etwas vorzumachen. Zum Glück war ihr Gewissen rein.

"Garas...?". Sofort dämmerte es dem Gitarristen. "Oh...".

"Hör zu, wenn ich störe, geh ich gleich wieder...".

Auf einmal kam ihr alles so falsch vor. Besser den Rückzug antreten, bevor es zu spät war.

Doch seltsamer- und auch unerwarteterweise schien Kaoru an der ganzen Situation Gefallen zu finden.

"Nein, bleib ruhig - Gara wird dich aus gutem Grund eingeladen haben. Die Frauenquote ist hier eh recht tief - von daher...".

Auf seinem Mund lag ein Lächeln, doch seine Augen schimmerten auf einmal um ein paar Nuancen dunkler als noch Sekunden zuvor. Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte er sich schnell ab und stakste in Richtung der Mädchengruppe davon.

Doch Chiekos Gespür für Emotionen und Stimmungen war fein und gut trainiert. Etwas stimmte hier nicht - das wurde ihr spätestens nach einem Seitenblick auf Shinya klar. Seine schönen, dunklen Augen bohrten sich regelrecht in Kaorus Rücken...
 

* * *
 

"Soso, geschlossene Gesellschaft, sehr interessant...".

Auf Kyos Gesicht zeigte sich ein schiefes, hämisch-amüsiertes Grinsen.

Der jüngere Sänger an seiner Seite guckte leicht betreten zu Boden und räusperte sich lautstark. Dann zückte er sein Handy und wählte schnurstracks Kaoru an - nur wenige Augenblicke später befanden sie sich im Inneren der Halle.

"Schon wieder diese CD - ich kann's nicht mehr hören...".

Und schon war der Kleinere der beiden auf dem Weg zur Musikanlage.

Gara schaute seinem Senpai belustigt nach. So kannte und mochte er ihn - gut, also war er tatsächlich nicht allzu wütend.

Seine dunklen Augen suchten den Raum ab, blieben vorne bei den Bahnen hängen.

Ein Glück, dass seine Cousine nicht auf den Kopf gefallen war.

Nachdem er sich versichert hatte, dass Kyo damit beschäftigt war, Kaoru, Die und sonst noch wen davon zu überzeugen, dass Linkin Park ihm bereits zu den Ohren rauskam, näherte er sich unauffällig, wie er hoffte, der Mädchengruppe.

"Ach nein, bist du auch schon da?".

Leicht sauer - war ja wohl typisch.

Linkisch zuckte er die Schultern, nickte im gleichen Atemzug den anderen drei Mädchen galant zu.

"Du kannst von Glück reden, dass ich nicht gleich wieder kehrt gemacht hab!".

Er schenkte ihr ein zuckersüsses Lächeln.

"Tatsache ist, du bist hier...".

"Geh und küss Shinyas Schuhe - das hast du ihm zu verdanken!".

"...".

"Guck nicht so deppert! Und jetzt sag mal, Mr. Clever, was hast du dir als Ausrede ausgedacht?".

"Wofür?".

War ja wohl klar, dass sie ihn so blossstellen würde. Naja, was er von ihr verlangte, war nicht ohne. Wahrscheinlich war's nur fair, dass sie sich auf diese Art rächte.

"Shinya, Kaoru und alle anderen wissen, dass wir verwandt sind - darf Kyo es auch wissen?".

"Nein".

"Sondern?".

"Sag du seiest ne Freundin von Aya oder Emiko oder Keiko?".

Ein gewinnendes Lächeln tangierte die drei Angesprochenen.

Für eine ganze Weile schwieg Chieko. Die drei Mädchen reagierten weder zustimmend noch ablehnend - sie warteten lediglich auf eine Reaktion ihrerseits.

Mittlerweile hatten die Jungs eine neue CD eingelegt - Limp Bizkit. Auch nicht viel besser. Innerlich verdrehte sie die Augen und wünschte sich, eigene CDs mitgenommen zu haben.

"Er ist dein Freund, du musst wissen, was du ihm erzählst...".

"Wusst ich doch, dass du mich nicht hängen lässt - okay, dann...bist du ne Freundin von Keiko! Okay?".

Die Erwähnte nickte lächelnd und fuhr sich mit der Hand über ihren losen Haarknoten.

"Sorry die blöde Frage, aber...warum darf Kyo nicht wissen, dass du seine Cousine bist?".

Die grosse, überaus schlanke junge Frau schaute ratlos von ihr zu Gara und wieder zurück.

"Weil mein lieber Cousin die glorreiche Idee hatte, Kyo ne Freude zu machen, indem er mich hierher mitbringt.".

"Ich verstehe...".

"Nun guckt doch nicht alle so skeptisch - ich weiss schon, was ich tue!".

Langsam aber sicher hatte Gara die vorwurfsvollen Blicke satt.

"Und was tust du?".

Kyo.

Er war von hinten an sie herangetreten.

"Es mit links mit diesen Gören aufnehmen".

Überzeugend.

Süffisant lächelnd.

Sein Pokerface und seine Schlagfertigkeit verdienten hohe Auszeichnung.

"Was du nicht sagst? Du spielst mit dem Feuer...".

Trocken.

Kalt.

Doch mit einem engelhaft süssen Grinsen vorgetragen.

Zu ihrer grossen Verwunderung antwortete Kyo an Garas Statt.

"Wenn du ihn herausforderst, tust du das Gleiche mit mir. Hey, ich bin Kyo".

Seine Hand fühlte sich angenehm in ihrer an. Der Druck nicht allzu fest, die Fläche leicht feucht. Nicht unbedingt eindrucksvoll, aber angenehm.

"Chieko desu. Hajimemashite".

"Sie ist ne Freundin von mir, ich hab sie spontan mitgenommen".

Gute Keiko.

Aber nun gab es kein Zurück mehr. Weder für ihn noch für sie.
 

I have time on my side

Making diamonds of coal

She put a hole, through my Kevlar soul

And my heart slowly dies

It feels lonely and cold

She put a hole, through my Kevlar soul...
 

Diese Lyrics.

In ihrem Kopf.

Jetzt.

Jetzt schon.

Jetzt, wo doch Fred Durst's Stimme alles in der Halle übertönte und alles erst anfing.

Es durfte nicht sein.

Nein.

Nicht diese Gedanken, nicht jetzt.

Sie durfte die selben Fehler nicht immer und immer wieder machen.

Unwillig presste sie die Augen zu.

Nein, diesmal nicht.
 

"Bist du in Ordnung?".
 

Und dann wachte sie auf. Wie aus einem Traum. Doch sie wusste, es war keiner gewesen.
 

"Ja...ja...sorry...".

Sein besorgtes Gesicht traf sie bis ins Mark. Und sie schenkte ihm dafür ein warmes Lächeln.
 

Und während Fred Durst weiterschrie und Kaoru alle Mannschaften auf den Plan rief, beschloss sie, sich auf das, was kommen mochte, einzulassen.

Und die Diamanten aus der Kohle zu gewinnen, denn gerade jetzt, in diesem Moment, schien es ihr, als habe sie tatsächlich alle Zeit der Welt...
 

+ + +
 

[Lyrics: "Kevlar Soul" © Kent]
 

Danke euch allen fürs Lesen!
 

Und schon mal schöne Ostern!

09. [Morpheus]

Erstmal möchte ich mich bei meinen Lesern (falls ich denn welche habe *g*) für die lange Pause entschuldigen - tut mir wirklich leid! Meine Kreativität und Schreiblust waren auf dem Tiefpunkt angelangt, und mein Sommerurlaub in Japan und private Veränderungen trugen ein weiteres dazu bei, dass ich lange nicht weitergeschrieben habe.
 

Nun bin ich jedoch wieder in Stimmung, dieses Werk weiterzuführen und vielleicht irgendwann auch zu beenden. ^.~
 

Besonderer Dank gebührt Schattenzeit - dank deiner ENS wurde ich wieder dran erinnert, dass eventuell doch ein paar Leute meine Geschichte lesen und auf Fortsetzung warten... ^.^
 

Also, dann wünsche ich euch doch einfach mal viel Spass mit Kapitel 9! ^___^

Ihr dürft mir übrigens auch gerne Kommis schreiben - ich beisse nicht und bin an euren Meinungen interessiert! ^__~
 

+ + +
 

Wieder war der Raum in rotes Licht getüncht.

Wieder lag er alleine im Bett.

3 Uhr morgens und der Schlaf liess einmal mehr auf sich warten, wie schon so oft.

Wo kamen Gedanken eigentlich her? Und woraus bestanden Erinnerungen?

Lagen sie alle in den verstecktesten Winkeln der Hirnwindungen auf der Lauer, nur um bei nächster Gelegenheit hervorzukrabbeln und ihr Opfer zu quälen?

So kam es ihm vor - immer, wenn er hilflos-schlaflos in seinem Bett lag und die Stille mit jeder verstreichenden Minute unerträglicher wurde.

Die Stille war die Verbündete der quälenden Gedanken und Erinnerungen.

Ebenso wie die Zeit...

Schon wieder war seine Kehle trocken - und dies, obwohl er vor einer halben Stunde in die Küche gegangen und Wasser getrunken hatte. Eine halbe Stunde, die ihm wie mindestens zwei Stunden vorkam.

Der vergangene Abend.

Bilder flammten vor seinem inneren Auge auf und erlöschten auch nicht, wenn er die Augen weit aufriss.

Wie Blitze zuckten sie. Unkontrollierbar. Und mit ihnen rasten seine Gedanken.
 

Yukie. Yukie, der stille Yukie mit den gefährlich spitz anmutenden Haaren. Stetig beobachtend. Stetig wachsam.

Welchem Bandmitglied hatten seine kritisch-besorgten Blicke gegolten?

Es war, als hätte er mit Toshiya Zwiesprache gehalten - vorsichtig, im Geheimen. Doch nicht verborgen vor dem Sänger. Und wohl auch nicht vor Shinya.

Kyo hatte ihn öfter die beiden Geheimniskrämer mustern sehen.

Gara...

Guter Gara. So sehr bemüht, Kyo den Abend so angenehm wie möglich zu machen. Entschuldigend.
 

Kyo wechselte von Bauch- auf Rückenlage. Sein Herz hämmerte. Sandte energetisch pochend Blut durch seinen Körper.

Dass er den Takt so klar fühlen konnte, beängstigte ihn.

Vielleicht war dies das letzte Aufbäumen dieses kleinen und doch so starken Organs vor seinem Tod? Machte es sich deshalb so laut bemerkbar?
 

Warum nur flammte in dem Moment Kaorus Bild vor ihm auf?

Der Leader war erschöpft gewesen - er hatte dies mit aller Mühe zu überspielen versucht, doch wenn man ebenfalls schon viele Jahre Masken trug, fiel es einem leicht, andere zu demaskieren.

Blass war er gewesen. Ungewohnt still und schweigsam. In Gedanken versunken. Vor sich hin sinnierend. Manchmal hatte er gelächelt - dieses jungenhafte Lächeln, das zum Vorschein brachte, was sich unter der Maske verbarg.

Eigentlich waren er und Kaoru sich gar nicht so unähnlich. Nein, da gab es sogar beängstigende Parallelen.
 

Kyo schauderte. Zog die Decke wieder über seinen nackten Oberkörper. Für eine Sekunde erhaschte er im roten Licht einen Blick auf seine Brust. Narben. Gebrandmarkt für den Rest seines Lebens. Gebrandmarkt durch seine eigenen Hände, seine eigenen Finger.

War er nun ein prophetischer Märtyrer? Oder ein märtyrerischer Prophet? Beides? Oder am Ende keins von beidem?

Woher nahm er eigentlich die Frechheit, sich Prophet zu nennen?

Konnten Propheten nicht hellsehen?

Wenn ja, warum blickte er nicht mehr durch?

Er verstand nichts mehr.

Gar nichts mehr.

Am allerwenigsten sich selbst.

Falscher Prophet.
 

Natürlich hatte Die's Team das Turnier gewonnen - wieso auch nicht?! Der Team-Leader hatte sie jedoch alle rausgerissen - weder Toshiya und Kaoru waren bei der Sache gewesen. Und Die - der hatte trotz aller Mühe auch schon besser gespielt.

Gara hatte sich ebenfalls abgerackert - leider vergebens. War ja auch nicht anders zu erwarten, mit Kyo und Shinya im Team.

Er selbst spielte viel zu selten (Pool und PC-Games lagen ihm wesentlich mehr) und Shinya spielte einfach mit, um dabei zu sein, jedoch ohne allzu grosses Talent dafür zu haben. Aber wenigstens war er kein Spielverderber.

Beinahe hätten die Mädels Die's Team geschlagen. Mit Müh und Not hatten sie sich raushauen können.
 

Bei dem Gedanken daran grinste Kyo breit. Die Crew-Mädels waren cool, irgendwie. Nicht, dass er viel über sie wusste, oft mit ihnen rumhing oder mit ihnen quatschte - aber für Anlässe dieser Art waren sie perfekt.

Das sun krad-Team hatte bei ihrer Anstellung dafür gesorgt, Mädchen auszuwählen, die, soweit das damals abzuschätzen war, sich wohl nie in eines der Bandmitglieder vergucken würden - und falls dies doch mal geschah und jemand von der Chefetage Wind davon bekam...

Naja...

Man konnte sich wohl ausdenken, was dann geschah.

Vermutlich hatten Inoue und Tommy wohl auch deshalb Chieko etwas argwöhnisch gemustert. Und sehrwahrscheinlich hatte Keiko mit einem Verweis zu rechnen - schliesslich hatte sie nichts davon gesagt, dass Chieko auftauchen würde. Klarer Regelverstoss.

Seltsam eigentlich - Keiko war überaus zuverlässig.

Kyo dreht sich auf die Seite. Vorsichtshalber auf die rechte - er ertrug sein lautes Herz nicht mehr.

Schräg über ihm baumelte der rote Lichtkörper.

Warm.

Tröstend.

Während er konzentriert ins Rot blickte, erstarben seine Gedanken...
 

* * *
 

Sie konnten beide nicht einschlafen, waren noch viel zu rege, noch viel zu aufgewühlt.

Sein Kopf war schwer, ja, aber trotzdem.

Es gab Wichtigeres als Schlaf.

"Sie vermisst ihn also auch?".

"Natürlich, was denkst du denn - es zerreisst ihr Herz. Am liebsten würde sie ihn anrufen und ihm alles erzählen...".

"Und warum tut sie's nicht...".

Im gleichen Atemzug bereute er die unüberlegte Frage auch schon.

Akiko kommentierte sie mit einem verächtlichen Schnauben.

"Bild dir nur nichts ein - wenn du mich so behandelt hättest, wie er sie, dann würde ich mit dir auch nicht anders umspringen!".

"Selbst wenn dein Herz dabei in Stücke bricht?".

Tiefes Atemholen.

"Selbst dann...".

Ihr warmer Atem streifte seine Finger, die vor ihr auf dem Kissen lagen.

Als er schwieg, näherten sich ihre Finger den seinen, streichelten sie tröstend.

"Tut mir leid. Aber...man kann nicht alles verzeihen...".

Nicken im Dunkeln.

"Ich weiss - aber...er konnte nichts tun...die Entwicklungen liegen ausserhalb seines Machtbereichs...".

"Dann muss er sich entscheiden, was er will...".

"Ich bin sicher, das weiss er - aber es lässt sich so schwer mit seiner momentanen Situation vereinbaren...".

"Er wird ihre ganze Schwangerschaft verpassen, Toshiya. Er wird eines Tages aufwachen und bemerken, dass er ein Kind hat, das nicht weiss, dass er sein Vater ist...".

"NEIN!".

Seine Stimme klang krächzend. Viel zu laut in der Stille der Nacht.

"Und sie wird bereuen, nicht als Erste klein beigegeben zu haben...".

Toshiya drückte die zarten Hände seiner Freundin.

"Auf wessen Seite stehst du eigentlich?".

Schulterzucken.

"Auf niemandes - ich möchte nur, dass alles wieder in Ordnung kommt, soweit das möglich ist...".

"Und was muss Kaoru dafür tun?".

Die Antwort kam sofort.

"Seinen Stolz beiseite legen, seine Angst begraben, ehrlich zu sich selbst sein und all seinen Mut zusammennehmen".

Der Bassist dachte kurz über diese Worte nach.

Dann nickte er langsam, rieb seine Stirn in ihrem Haar.

"Aber weiss du, wenn er wüsste, dass sie schwanger ist, würde er sich vielleicht eher dazu aufraffen können...".

"Und siehst du, genau das will sie nicht. Sie will ihn mit dem Kind nicht an sich binden, das ist nicht ihr Stil. Sie will Kaoru. Und sie will, dass er wegen ihr den ersten Schritt tut - und nicht, weil er sich aufgrund der Umstände dazu verpflichtet fühlt, verstehst du?".

Toshiya biss sich auf die Unterlippe.

"Ja, aber...er wird ihr nie verzeihen, dass sie es ihm nicht schon früher gesagt hat. Nie! Er liebt sie. Er sehnt sich nach ihr. Und es geht ihm verdammt scheisse dabei...".

"Ist was passiert? Etwas, das ich noch nicht weiss...?".

"Ach...ich weiss nicht...er war heute Abend nicht sich selbst. Okay, das war wohl keiner von uns. Aber verdammt, so schlecht gespielt hat er noch nie. Und so einsilbig ist er sonst nur, wenn wir kurz vor dem Tourstart stehen - und bis dahin dauert's nun doch noch ne ganze Weile".

"Da haben wir's also...".

"Ja, aber denkst du, er würde mit irgendjemandem reden?".

"Dann versuch du es doch...oder Die...".

Seufzen.

Kopfschütteln.

"Zwischen den beiden hat sich auch einiges verändert...nein...wir brauchen ein Wunder...".
 

* * *
 

Langsam führte sie die Zigarette an ihre Lippen.

Entliess den Rauch in den kühlen Nachthimmel.

Die Wolken hatten sich verzogen.

Vereinzelt funkelten Sterne.

Es musste eine ganz besondere Nacht sein - normalerweise verschlangen die unzähligen, grellen Lichter des Molochs Tokyo das von der weiten Reise zur Erde müde und kraftlos gewordene Licht der Sterne.

Nicht so heute.
 

Chieko liebte es, bei Nacht auf ihrem Balkon zu stehen und zu rauchen. Hotarubi.

Ihre Wohnung war im Vergleich zu den kleinen, unkomfortablen Buden, in denen viele ihrer Freundinnen lebten, beinahe luxuriös.

Zwei grosse Zimmer, Küche, Dusche/Bad, eine kleine Abstellkammer, die sie als Dunkelkammer nutzte, und ein Balkon.

Dazu noch in Aoyama.

Ein wunderbarer Glücksfall.

Naja, wohl eher Beziehungen.

Traurig dachte sie an die Frau von damals.

Sie hatte sie nie mehr wieder gesehen.

Was hätte sie dafür gegeben, sich bei ihr revanchieren zu können - irgendwie.

Okay, sie hatte sich revanchiert - auf ihre Weise.

Vermutlich wäre es ihnen beiden peinlich, sich wiederzusehen.

Es gab Dinge, die geschehen und danach im Strudel der Vergessenheit versinken mussten.
 

Wenn sie nur Klarheit in ihre wirren Gedanken hätte bringen können.

Warum hatte noch keiner von all diesen gescheiten Forschern und Professoren auf der ganzen Welt einen Gedanken-Ordner erfunden? Sozusagen eine gezielt angewandte Gehirnwäsche, eine Art Feinzeichner für Gedanken.
 

Chieko grinste über die Idee.

Sie gehörte ins Bett.

Aber sie wusste, der Schlaf würde nicht kommen.

Also stand sie hier im Freien, rauchend, sich die Füsse abfrierend (Flip-Flops waren für schon empfindlich kühle Frühherbstnächte definitiv nicht das geeignete Schuhwerk).
 

Was hatte Gara ihr das bloss eingebrockt?

Bowling mit einer ihrer ehemaligen Lieblingsbands, die sie immer noch im Herzen mit sich rumtrug, nach all den Jahren.

Danke auch.

Mit einem leicht verächtlichen Grinsen schnippte sie die Zigarette weg, nur um sich eine halbe Minute später eine weitere anzuzünden.

Sie liebte es zuzuschauen, wie der Wind mit der Glut spielte.

Je windiger es war, umso schneller hatte man eine Zigarette geraucht.

Warum war eigentlich bisher noch kein Ami drauf gekommen, die Tabakmultis zu verklagen, weil sie noch kein Zigarettenpapier erfunden hatten, das Windböen besser standhielt?
 

Fuck, sie machte sich tatsächlich zu viele blöde Gedanken.

Am liebsten hätte sie jemanden ganz bestimmtes angerufen und sich mit dieser Person über ihre Ideen unterhalten.

Nur war sowas um 4 Uhr morgens wohl nicht gerade empfehlenswert - beziehungsweise nur dann empfehlenswert, wenn man sich Feinde machen wollte.
 

Sie musste zugeben: Etwas enttäuscht war sie gewesen, dass keiner der Jungs sie nach ihrer Nummer gefragt hatte. Verdammt, sie hatte sich doch gut mit allen verstanden, oder?

Hatten sie etwa keinen Spass gehabt?

Warum wollte also keiner Kontakt zu ihr halten?

Mit Kyo hatte sie eigentlich am allerwenigstens geredet - obwohl sie seinetwegen hingegangen war.

Wenn sie ihre Schüchternheit hätte überwinden können...ja...dann...
 

Die Glut fachte nach einer besonders heftigen Böe auf - ein leises, loderndes Geräusch war zu vernehmen.
 

Und doch war ihr gewesen, als habe Kyo sich von ihr besonders herzlich verabschiedet.

Aber vermutlich hatte dies nur damit zu tun gehabt, dass er sie zum allerersten Mal gesehen hatte - die anderen drei Mädchen hatte er den ganzen Abend ignoriert.
 

Wie das wohl war - hatten alle ausser Kyo schon feste Freundinnen?

Wer weiss, vielleicht hatte Kyo ja auch was am laufen und Gara wusste nur noch nichts davon...
 

Chieko zog eine Schnute.
 

Verdammt, was hatte sie eigentlich erwartet? Dass Kyo sie mit nach Hause nehmen würde?

Hätte sie das gewollt? Wusste sie überhaupt, worauf sie sich einlassen würde, wenn denn alles so käme, wie sie es wollte? Und wollte sie denn auch alles so? Oder doch nicht? Was wollte sie eigentlich?
 

Frustriert hieb sie mit der Hand auf die Brüstung, unterdrückte in derselben Sekunde einen Aufschrei.
 

Okay, das war genug - sie gehörte ins Bett.

Und sie würde diesen Abend ad acta legen - egal, wie viele Hoffnungen sie sich gemacht hatte. Ja, sie hatte sich Hoffnungen gemacht. Sie sehnte sich so sehr nach jemandem. Und doch hatte sie es noch nie geschafft, eine Beziehung aufrecht zu erhalten. Immer wieder hatte sie es versucht - vergebens. Immer wieder dasselbe. Immer wieder Enttäuschung. Immer wieder verletzte Herzen.
 

Wie konnte sie Idiotin auch annehmen, dass sie mit Kyo, dem Sänger von Dir en grey, irgendwas anfangen konnte?!

Wie?!?

Sie musste bescheuert gewesen sein, auch nur eine Minute daran zu denken.

Aber Gara hatte gesagt...
 

Vergiss Gara, sagte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf.

Und Kyo gleich mit.
 

Die Zigarette war längst runtergebrannt.

Ohne die Sterne auch noch eines Blickes zu würdigen warf Chieko den Stummel weit von sich, ging zurück in die Wohnung und schloss die Balkontür beinahe geräuschlos hinter sich.
 

Nachdem sie in der Küche ein Glas kalten Schwarztee getrunken hatte, schrieb sie auf ihren "To do"-Block: Sandsack besorgen
 

Dann krabbelte sie ins Bett und weinte sich in den Schlaf...
 

* * *
 

Da war er wieder - der Schmerz.

Die letzten Tage war er von ihm verschont geblieben gewesen - nun schlug er umso härter zu.

Der Gepeinigte krümmte sich im Bett, stöhnte, hoffte auf Erlösung.

Doch die würde noch eine Weile auf sich warten lassen, das wusste er.

Er hätte wohl doch nur bei Tee bleiben sollen - und rauchen, so hatte er heute bemerkt, schien seinem Magen auch nicht zuträglich zu sein.

Mit zusammengekniffenen Augen lag er da, die Zähne fest aufeinander gepresst, und sandte stumme Stossgebete an wen auch immer sie erhören würde - hoffentlich.
 

Mit grimmiger Entschlossenheit versuchte er, seinen schneller gewordenen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

Ruhig, ganz ruhig...bald ist es vorbei...bald...

Kalter Schweiss brach unangenehm aus seinen Poren. Ein Schauer durchlief seinen ganzen Körper.

Der Anfall erreichte seinen Zenit - auch das wusste er.

Erlösung war nahe.
 

Geh zum Arzt...

Yumis eindringliche Stimme widerhallte in seinem Kopf.
 

Nun, sie war nicht mehr da, ihr zuliebe würde er es wohl nicht mehr tun können.
 

Aber du könntest es für dich tun!, sagte die Vernunft.
 

Er lag noch lange nachdem der Schmerz verebbt war schwer atmend da, und starrte mit angsterfüllten Augen an die Decke...
 

* * *
 

Yoshie schnupperte.

Alkohol. Zigaretten.

Das Übliche.

Seufzend liess sie sich auf der Bettkante nieder und schaute auf ihren Freund runter.

Als ob er auch noch im Halbschlaf ihre Blicke spüren könnte, regte Die sich und öffnete sachte die Augen.

"Hey...". Sie schenkte ihm ein liebes Lächeln.

"Hey...wo warst du?".

"Mit den Mädels vom Laden Cocktails trinken. Du warst früh zuhause...".

Er verzog das Gesicht.

"Die Stimmung war nicht allzu gut".

Nicken.

"Verstehe...".

Der Gitarrist betrachtete sie forschend. Mittlerweile hatte er es geschafft, sich auf den Ellenbogen aufzustützen.

"Ach ja...?". Beinahe spöttisch.

Verwunderung.

Was sollte das nun auf einmal? Sie hatten doch alles besprochen. Woher die Stimmungsschwankung?

Ein Verdacht keimte in ihr auf.

"Nein, aber nicht auch noch die alte Geschichte...?".

Trauriges Nicken.

"Doch, schaut ganz so aus...".

"Aber...aber...ich dachte, ihr hättet das hinter euch!".

Die liess ein trockenes Lachen hören.

"Dachte ich auch, glaub mir".

"Hat er wieder damit angefangen?".

"Nein, nicht direkt. Aber ich spüre, wenn etwas nicht stimmt. Wenn etwas zwischen ihm und mir nicht stimmt. Yoshie, er traut mir immer noch nicht. Vermutlich wird er das auch nie mehr tun. Es ist schon zuviel kaputtgegangen - da können wir nichts mehr kitten, egal, wie sehr wir das versuchen".

Sie starrte ihn an.

Ungläubig.

"Ihr beide seid verdammt gute Schauspieler."

Er verzog resignierend den Mund.

"Sind wir das nicht alle?".

Yoshie erhob sich ruckartig.

"Verdammt nochmal, Die! Ihr könnt doch nicht für immer so weitermachen!".

Aufgebracht sah sie auf ihn runter.

Er blickte zu ihr auf, wissende Trauer in den dunklen Augen.

"Wir müssen, Yoshie, bis zum bitteren Ende...".
 

* * *
 

Ein lautes Quietschen liess ihn Aufschrecken.

Er musste eingenickt sein.

Draussen hupte ein Wagen.

Der Sänger stöhnte genervt.

Er hasste die Deppen, die es nicht unterlassen konnten, bei Nacht durch ruhige Seitenstrassen zu rasen.

Naja, zumindest schien es dieses Mal keinen Unfall gegeben zu haben.
 

Er hatte geträumt.

Seltsamerweise von Chieko, soweit er das beurteilen konnte.

Stirnrunzelnd setzte er sich auf und schüttelte den Kopf.

Und es war ein schöner Traum gewesen, soviel wusste er noch. Angestrengt bemühte er sich, Einzelheiten zurückzurufen.

Da war das Meer gewesen - und er hatte sich dort wohl gefühlt.

Blitze waren eingeschlagen - und er hatte keine Angst gehabt.

Dann der Kuss und noch so einiges mehr...

"Verdammt...".

Sein Flüstern durchdrang die nun wieder eingekehrte Stille der Nacht.

Mit dem einen Wort schwanden letzte Bruchstücke, wie so oft bei Träumen.
 

Eines jedoch konnte er nicht vergessen: Chieko hatte ihr Gesicht gehabt...

10. [Tyche]

Und weiter geht's! *g*
 

Kaum zu glauben, dass ich schon ein Jahr an der Story schreibe - die Zeit ist wie im Flug vergangen.
 

Danke auch wiederum allen, die mitlesen und mir Kommis schreiben - ich erfahre immer gern, was für Emotionen, Gedanken und Gefühle meine Geschichte auslöst.
 

+ + +
 

Das grosse Plakat stach ihr sofort in die Augen.

Warum auch nicht, schliesslich hing es hier einzig zu dem Zweck.

Ein Teil von ihr wollte so schnell wie möglich daran vorbei gehen, der andere...

Ganz automatisch verlangsamten sich ihre Schritte, bis sie schliesslich ganz stehen blieb. Gegen den Willen ihres Herzens konnte die Vernunft nichts ausrichten.
 

DIR EN GREY - New Album "VULGAR" - Release 10/10/2003
 

Immer und immer wieder las sie die Worte. Die Passanten, die hektisch an ihr vorbeizogen, warfen ihr verwirrt-fragende, beiweilen enervierte Blicke zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie tatsächlich mitten auf dem Gehsteig stand - keine sehr gute Idee.

Mit ein paar eiligen Schritten trat sie zur Seite und somit näher an das Plakat.

Er sah sie direkt an.

So vertraut. Und doch so fern.

Drei ganze Monate.

Sie hatte sich vorgenommen, nie deswegen zu weinen. Doch nun, wo sie so dastand und nicht vermochte, ihren Blick von ihm zu nehmen, fingen ihre Augen an zu brennen.

Er war noch immer in ihr.

Nichts war vorbei.

Egal, was sie sich einzureden versuchte.

Wie in Trance trat sie noch näher an das Plakat heran.

Hilflos hob sie ihre rechte Hand, führte sie ans geliebte Gesicht, langsam, sehnsüchtig.

Wäre sie nicht mitten im Trubel gestanden, sie hätte über das Hochglanzpapier gestreichelt.

Nun jedoch verharrte sie mitten in der Bewegung, ballte ihre langen, grazilen Finger zu einer Faust und liess diese sinken.

Einem übermächtigen Impuls folgend betrat sie den Laden zu ihrer Linken.
 

I don't know your face no more

Or feel the touch that I adore

I don't know your face no more

It's just a place I'm looking for
 

We might as well be strangers in another town

We might as well be living in a different world

We might as well
 

I don't know your thoughts these days

We're strangers in an empty space

I don't understand your heart

It's easier to be apart
 

We might as well be strangers in another town

We might as well be living in another time

We might as well be strangers
 

For all I know of you now

For all I know...
 

Ihren guten Englischkenntnissen verdankte sie es, dass sie jedes einzelne Wort des Songs verstand, der soeben aus den Boxen klang.

Ein Verstehen, das ihr Herz vor Schmerz erbeben liess.

Während sie der sanften Stimme des Sängers lauschte, stand sie einfach nur da.

Still.

Doch in ihr tobte ein Sturm und in den Augen hinter den dunklen Brillengläsern sammelten sich Tränen.
 

It's easier to be apart...
 

Wirklich?
 

Falls die im Laden Anwesenden ihr Verhalten als seltsam empfanden, liessen sie sich dies nicht anmerken.

Und auch als sie sich, nachdem das Lied zuende war, einfach umdrehte und den Shop verliess, ohne auch nur durch die Regale gelaufen zu sein und sich auch nur irgendeine CD angeguckt zu haben, beachtete sie niemand.
 

Vor dem Plakat beim Eingang blieb sie noch einmal stehen.

Der Schmerz hatte nun auch ihren Bauch ergriffen und machte sich in ziehenden Wellen bemerkbar, als ob das darin entstehende Leben genau wusste, was in ihr vorging.

Unendlich langsam wandte sie sich ab und fügte sich in den Tross der Menschen, der sich an ihr vorbeischob.

Sie hatte noch einen Termin.
 

* * *
 

Unweit von Yumi, nur ein paar Strassen weiter, betrat er voller Unbehagen und erfüllt von tiefer Unruhe die Lobby des Krankenhauses.

Schon hier stieg ihm der dieser Einrichtung eigene Geruch in die Nase.

Er hatte Krankenhäuser nie gemocht und zum Glück bisher nie längere Zeit dort verbringen müssen.

Ob dies auch so bleiben würde, war nun in Frage gestellt.
 

Nervös drückte er den Knopf, wartete mit flatternden Nerven auf den Aufzug.

Seine Augen fixierten die Leuchtziffern über der breiten Chromstahltür.

6, 5, 4...

Er hatte seine Angst mit niemandem teilen können.

3, 2...

Yumi...

Mit einem dezenten "Bing" blieb der Lift stehen und öffnete seinen Schlund.

Ergeben fügte sich Kaoru und beschloss, sich mutig dem zu stellen, was ihn erwartete.

Allein.
 

* * *
 

"Und das erzählst du mir erst jetzt?!?".

Sachikos Stimme überschlug sich beinahe.

"Pscht!".

Chieko brachte ihre Freundin mit einem scharfen Zischen zum Schweigen und blickte sich peinlich berührt im Café um.

"Ich bin nicht scharf drauf, dass alle hier mithören".

Entgeistertes Lächeln von gegenüber.

"Du erzählst mir so was und erwartest, dass ich ganz cool bleibe? Hast du sie noch alle?!?".

"Davon hab ich nichts gesagt - du sollst nur nicht rumschreien!".

Sprachlosigkeit.

Kopfschüttelnd griff Sachiko sich die grosse Tasse und schlürfte ergeben an ihrem Cappuccino.

"Also, nochmal, er hat dich angerufen und ihr habt euch getroffen - und das vor einer Woche und ich erfahr's erst jetzt?! Wie bitte soll ich denn sonst reagieren?!?".

Nun war es an Chieko, ihren Kopf zu schütteln, belustigt.

"Genau so, Süsse, genau so...".

"Was?!?".

Beide brachen gleichzeitig in Gelächter aus und lehnten sich dabei in ihren Stühlen zurück.

Sachiko mustere ihre Freundin durch lachende, zusammengekniffende Augen.

"Also, erzähl!".

Nachdem sie sich einen grossen Schluck Latte Macchiato genehmigt hatte, beugte Chieko sich vor, stützte ihre Ellenbogen auf dem mit Mosaiksteinen verzierten Tischchen ab und holte tief Luft.

"Er hat mich angerufen, nachdem er irgendwie an meine Nummer gekommen ist - scheinbar hab ich doch nen bleibenderen Eindruck hinterlassen, als ich zuerst gedacht hatte".

"Irgendwie an deine Nummer gekommen? Er weiss immer noch nicht, dass du und Gara...?".

"Nein - wenn er das wüsste, würde er sofort Lunte riechen und sich auf Nimmerwiedersehn verabschieden".

"Oh Mann! Aber es ist doch gar nicht mehr so - oder?".

"Natürlich nicht! Wenn ich das alles nur aus Mitleid hätte machen müssen, hätte ich es gar nicht erst getan!".

"Aber du glaubst, dass Kyo das annimmt, sobald er weiss, wie du zu Gara stehst?".

Bedrücktes Nicken.

"Und wie lange wollt ihr diese Charade weiterspielen? Wenn da was ernstes draus wird, erfährt er's doch trotzdem irgendwann...".

" Wenn was ernstes draus wird!".

"Ich bitte dich - er hätte dich bestimmt nicht angerufen, wenn da nichts wäre. Ich weiss nicht viel über ihn, aber...verdammt, kannst du dir vorstellen, wieviel Mut es ihn gekostet haben muss, sich bei dir zu melden?".

"Ja". Nur dieses eine Wort.

"Na also! Er verdient es, Bescheid zu wissen!".

"Weißt du noch, was du vorletzte Woche gesagt hast? Du warst es doch, die mich beinahe dazu überredet hat, mitzumachen".

Rumdrucksen.

"Ja, ich glaub, ich war da doch etwas voreilig - hatte die letzten Tage Zeit, darüber nachzudenken und finde, dass ihr es ihm sagen solltet!".

"Aber noch nicht jetzt, noch nicht. Er versucht gerade, rauszufinden, ob er mir trauen kann, wenn ich damit anfange, verliere ich alles wieder".

"Meinst du, es wird einfacher, wenn ihr euch endgültig ineinander verliebt habt?".

"Daran denke ich noch gar nicht".

Ungläubigkeit.

"Nicht zu fassen".

"Ich will das geniessen, was jetzt ist! Erinnerst du dich?! Auch das hattest du mir geraten!".

Seufzen. Resigniertes Nicken.

"Ich sagte doch bereits, ich war voreilig!".

"Gut - aber nun lass mich das bitte so durchziehen, wie ich's als richtig erachte, okay?!".

"Auf die Gefahr hin, dass du ihn verletzt?!".

"Das musst du gerade sagen!".

Am bissigen Ton ihrer Freundin erkannte Sachiko, dass sie zu weit gegangen war. Ja, was masste sie sich an, Chieko Vorwürfe zu machen. Damals hatte diese sie schliesslich auch nicht mit Fragen gelöchert und mit guten Ratschlägen eingedeckt - obwohl sie Mühe gehabt haben musste, nicht Partei zu beziehen und gleichzeitig zu vermitteln.

"Tut mir leid - ist wirklich deine Sache. Erzähl weiter, was habt ihr gemacht?".

Chieko trank ihre Latte aus und stiess das hohe Glas weg.

"Wir waren essen, im J-Pop-Café - irgendwo in der hintersten Ecke, wo es am dunkelsten ist und wo keiner richtig hingucken kann. Er meinte, er habe keine Lust, im Dome zu essen - er wollte mir nicht den Star zeigen, sondern sich selbst".

"Wie schön".

"Ja, das war es. Und lustig. Es gibt so viele schlechte Videoclips - unglaublich".

"Soso, ihr seid über die Werke anderer Bands hergezogen - naughty, naughty!".

"Du hättest sein Lachen dabei sehen sollen - dieses ehrliche, erlöste Lachen. Ich hatte Tränen in den Augen vor Glück und Ergriffenheit - und er meinte, es seien Lachtränen".

Verlegenes Grinsen.

Sachiko blickte in die strahlenden Augen ihrer Freundin. Verliebtheit - was für ein schönes Gefühl. Sie begann zu verstehen, warum Chieko ihre Meinung derart geändert hatte.

"Und nun?".

"Ihre neue CD kommt übermorgen raus. Die Tour startet am 15. Oktober. Vermutlich werd ich mir ein paar Gigs angucken gehen, muss aber noch schaun, wie das zeitlich klappt. Aber vor dem Tourstart veranstaltet die Band scheinbar noch ein Abschiedsessen...".

"Und er hat dich eingeladen?".

"Er meinte, ich solle mir den Abend frei halten".

"Wowowow!".

"Nicht gleich überbewerten - so, wie ich das verstanden hab, bringen da alle ihre Partnerinnen mit und da Kyo ausser mir grad niemanden hat, den er mitbringen könnte...".

"Trotzdem - es ist doch ein guter Anfang".

Nicken. Fröhliches Grinsen.

"Ja, da hast du recht...".

Die beiden verfielen in Schweigen.

Die meisten Gäste des Cafés waren bereits gegangen, viele Tische und Stühle standen verlassen da. Ganz leise drang alte Jazz-Musik an ihrer beiden Ohren. Draussen hatte sich die Dunkelheit über die Stadt gelegt und nach den nassen Striemen an den Fenstern zu urteilen, regnete es.

Chieko wusste, dass sie noch etwas loswerden musste - jetzt.

Doch wie anfangen?

Um den Brei rumreden?

Oder direkter Angriff?

"Denkst du manchmal an Gara?".

Das zweitere.

"Was?!"

Vollkommen entgeistert fuhr die in Gedanken versunken gewesene Sachiko um.

Die Augenbrauen ihres Gegenüber hoben sich nur fragend, abwartend.

"Warum fragst du?". Sachikos Finger suchten Halt an ihrer mittlerweile leeren und erkalteten Tasse.

"Seine Schwester war letzte Woche zu Besuch und er hat uns beide ins Studio eingeladen - sie sind grad dabei, ein neues Album einzuspielen. Einer der Songs hat meine Aufmerksamkeit erregt - und Gara hat es wohl im Nachhinein bereut, ihn mir vorgespielt zu haben...".

Nun war es an Sachiko, fragend die Brauen zu heben.

"Ach ja?".

Chieko bückte sich, öffnete ihre alte Ledertasche und entnahm dieser ein Blatt Papier.

"Ich habe mitgeschrieben, so gut es ging".

Mit diesen Worte reichte sie es ihrer verdattert dasitzenden Freundin, die unsicher danach griff und sich dem Text darauf widmete.
 

An diesem Tag hatte ich das Gefühl, mich überwinden zu können, dich wiederzusehen, die du mich verlassen hast...

Für immer werde ich dort auf dich warten, wo wir uns getrennt haben...während ich Kaffee trinke...
 

Wende deine Augen nicht ab von mir, deine Hände entfernen sich und zwischen uns liegen Meilen

Für wie lange soll ich hier alleine warten?

...Ich...
 

Ich frage mich, ob ich dich ärgere? Ich frage mich, ob du mich hasst? Ich frage mich, ob ich dich nerve?

...Ich verstehe das, aber...
 

Das Wort, das ich zu dir sagte, war ,Sayounara'...

Heute Nacht fliessen die Tränen wieder...schwarz gefärbt von meinem Mascara...

Ein emotionales Zwischenspiel...wir gehen aneinander vorüber, wie immer

Du gehst an mir vorbei, nicht wahr?
 

Weil ich unsere Erinnerungen nicht löschen will,

behalte ich alle Mails und Aufzeichnungen auf meinem Handy

Wie oft schon habe ich mein Ohr an den Hörer gedrückt

und mir deine alten Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter angehört?
 

Und...ich frage mich, ob ich eines Tages

deinen Namen vergessen kann...?
 

Sachiko hatte langsam gelesen, zeitweise sogar die Worte geflüstert.

Nun sass sie ganz still da, nur ihre Finger spielten nervös mit dem Papier.

Chieko hatte sich in der Zwischenzeit eine Zigarette angezündet und betrachtete ihre Freundin eingehend im schummrigen Licht.

"Warum tut er das? Warum schreibt er nen Song, der sich so offensichtlich um mich und ihn dreht? Warum ruft er mich nicht einfach mal an?".

Verzweifelte Ratlosigkeit spiegelte sich in den grossen, haselnussbraunen Mandelaugen.

"Oh, Sachi...das weisst du doch selbst am besten, oder? Sein verdammter Stolz ist ihm im Weg...und er hat Angst davor, wie du reagierst...".

"Hat er dir das gesagt?".

"Nein, aber ich weiss es. Schliesslich hat er damals die Entscheidung gefällt, oder?".

"Und nun bereut er und meint, er könne mit nur einem lächerlichen Song alles wieder gut machen?". Sachiko schnaubte erbost und zerknüllte das Blatt.

"Hauptsache ist, dass du ihn auch noch nicht vergessen hast".

Chieko drückte ihre Zigarette aus und schlüpfte in ihren Tweedmantel.

"Ich muss mal los, in der Dunkelkammer wartet noch aufgeschobene Arbeit auf mich - Hochzeitsfotos!".

Sachiko nickte verständnisvoll und zwang sich zu einem Lächeln.

"Viel Spass. Und halt mich auf dem Laufenden, ja?!".

"Werde ich - und du ruf mich an, wenn was ist, ne?!".

Wieder ein Nicken.

Chieko stand auf, nahm ihre Tasche, suchte darin nach ihrem Regenschirm und verliess nach einem letzten Winken das Café.

Ihre Freundin sass noch eine ganze Weile still da. So viel Zeit war vergangen, und doch tat es noch immer weh.
 

Hauptsache ist, dass du ihn auch noch nicht vergessen hast...
 

Unfähig, ihre wabernden Gedanken zu ordnen, strich sie sorgfältig das zerknüllte Papier glatt. Jetzt, wo Chieko weg war, sammelten sich beim Lesen Tränen in ihren Augen.

Wie sehr sie sich bemüht hatte, sich einzureden, dass sie ihn hasste! Hassen musste! Nur um danach zu erkennen, dass sie für ihn alle möglichen Gefühle hegte, nur keinen Hass...
 

* * *
 

"Ich habe eine gute Nachricht für dich".

Akemi sah von ihrem Buch auf und blickte Shinya entgegen, der leise ins Zimmer getreten war.

"Und die wäre?".

"Am 13. Oktober gibt's ne "Abschiedsparty" - und du bist herzlich eingeladen".

Sie sprang auf und liess ihr Buch dabei auf den Boden fallen.

"Wirklich?!".

Ihr strahlendes Gesicht wärmte sein Herz.

Egal, was er wollte und was nicht - das wichtigste war, sie glücklich zu machen. Erst recht, wo er sie doch schon sehr bald länger nicht mehr sehen würde.

Manchmal verabscheute er seinen Job mehr als er ihn liebte.

Doch ihre Freunde entschädigte ihn gerade in dem Moment für alles Leid, was in Zukunft auf sie zukommen mochte.

"Mal dir das nur nicht zu schön aus - die anderen sind echte Deppen!".

Sofort erstarb ihr Lachen und ihr forschender Blick schien ihn durchleuchten zu wollen.

Um ihre Bedenken zu zerstreuen, legte er seine Hände um ihre Hüfte und streichelte sie sanft.

"War ein Witz! Wird bestimmt ein schöner Abend - die anderen nehmen ihre Freundinnen auch alle mit. Du wirst also endlich mal die ganze Bande kennenlernen...".

"Auch Yumi?".

"Das hängt ganz von Kaoru ab...".

"Und Kyo, kommt der allein?".

Schulterzucken.

"Was weiss ich...er hat ein Auge auf Garas Cousine geworfen, vermutlich nimmt er die mit. Aber kein Wort davon, dass Gara sie kennt, ja?! Kyo soll das nicht wissen!".

Ratlosigkeit. Grinsen.

"Ich muss das nicht verstehn, oder?!".

Kopfschütteln.

"Nein, versuch's lieber erst gar nicht...".

Nun lachte sie wieder, umfasste mit beiden Händen sein Gesicht und sah ihm in die tiefbraunen Augen..

"Danke, Shinya. Ich weiss, wie schwer es dir fällt, mich zu eurer Party mitzunehmen. Darum...danke!".

"Ich liebe dich - und um dich glücklich zu sehen, bringe ich gerne Opfer, Akemi".
 

* * *
 

Die Tatsache, dass zumindest mit dem wachsenden Kind in ihr soweit alles in bester Ordnung war, hatte Yumi wieder besser gestimmt, wenn auch nur sehr wenig.

Vor sich hin sinnierend ging sie die Treppe hinunter.

Sie hätte den Aufzug nehmen können, hatte aber keine allzu grosse Lust gehabt, darauf zu warten. Im übrigen mochte sie Treppen.
 

Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

War er überhaupt jemals daraus verschwunden gewesen?

Wie gerne hätte sie all dies mit ihm geteilt, ihn am liebsten jetzt gleich angerufen.

Doch sie wusste, dass ihr die Worte fehlen würden.

Gleichzeitig fragte sie sich, wann sie es ihm sagen sollte, wenn nicht jetzt.
 

Nach den letzten Tritten trat sie in die Lobby, sah sich kurz um, wandte sich dann dem Ausgang zu - und erstarrte.
 

Dieser Rücken.

Der Gang.

Der Nacken.
 

Das Ziel all ihrer Sehnsüchte, direkt vor ihr.

Auf einmal fühlten sich ihre Hände feucht an.

Hatte sie jetzt schon Wahnvorstellungen?

Unmöglich, dass er hier war!

Und doch, er musste aus Fleisch und Blut sein - ein paar ihm entgegenkommende Ärzte waren ihm gerade ausgewichen.
 

Nachrennen?

Rufen?

Was?!?
 

Als ob er ihr Dilemma gefühlt hätte, hielt er auf einmal inne, drehte sich um.
 

Sie sah ihn direkt an.

Blickte in das Gesicht, das ihr vor zwei Stunden aus Papier entgegen geschaut hatte.

So viele Emotionen auf einmal, es fiel ihr schwer, sie alle zu deuten.

Ungläubigkeit.

Trauer.

Liebe.

Immense Erleichterung.

Freude?

All dies erkannte sie in den ihr so bekannten Zügen und fragte sich, ob ihr Gesicht das Gleiche widerspiegelte.
 

Wie lange standen sie jetzt schon so da?

Eine Minute?

Fünf Minuten?

Zögernd trat sie einen Schritt auf ihn zu und begann ganz leicht zu lächeln, als er ihr ebenfalls entgegen kam.

Und erst jetzt sah er sie ganz an, ihren Körper, nicht nur ihr Gesicht - und es mischten sich weitere Gefühle unter die vielen anderen: erstaunte, ja beinahe schockierte Fassungslosigkeit und verhohlene Enttäuschung.
 

"Yumi...".
 

Ihr Name, aus seinem Mund, nach so langer Zeit. So viel Zärtlichkeit schwang in dem einen Wort, dass sie befürchtete, ihre Beine würden unter ihr nachgeben.

Schicksal?

Zufall?

Egal was, der Zeitpunkt war genau richtig - denn auf einmal erkannte sie, dass, trotz allem, was gewesen war, sie ihn nicht länger hätte warten lassen dürfen.

Jetzt waren sie quitt - ein und für allemal.

Denn der Schmerz, den er jetzt empfand, musste gleich gross sein, wie der ihre die ganze Zeit über gewesen war - wenn nicht grösser.
 

"Kaoru..."
 

Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch sie hoffte, dass in ihr genau gleich viel Zuneigung mitschwang, wie in der seinen vorhin.
 

Sie konnte sehen, wie seine Gedanken rotierten.

Warum?

Warum?, musste er sich fragen.

Warum hast du mich nicht teilhaben lassen?
 

Dürstend nach seiner Berührung zog sie ihn in ihre Arme - und war unendlich erleichtert, als er die seinen ebenfalls um sie legte und sie ganz sanft an sich drückte.

Ihre Nase sog den so lange vermissten Geruch ein, grub sich in seine Jacke, während seine Hände ihren Rücken streichelten, sich in ihre Haare gruben.
 

Wie lange sie so dagestanden hatten, wussten sie am Ende beide nicht mehr.

In dem Augenblick war die Zeit für sie bedeutungslos geworden - was zählte, war dieser eine Moment. Und die Zeit, die danach kommen würde.
 

+ + +
 

[Lyrics 1: "We might as well be strangers" © Keane]
 

[Lyrics 2: "Ren'ai Kousaten" © Merry]

11.1. [Lucullus - Teil 1]

+ + +
 

Draussen jagte die Dunkelheit an ihr vorbei, beiweilen durchbrochen von hellen Punkten und farbigen Schriftzügen.

Müde lehnte Chieko ihren Kopf an die Glasscheibe, an der sie stand. Sie hätte sich setzen können, einige freie Plätze lächelten ihr einladend zu. Doch sie hatte keine Lust, sich zwischen verschwitzte Salary Men und Studenten zu quetschen und sich allenfalls auch noch begrapschen zu lassen.

Ein leichter, kaum spürbarer Schmerz machte sich in ihrem Kopf bemerkbar. Sobald sie angekommen war, würde sie eine Tablette nehmen müssen, wenn sie nicht wollte, dass das Pulsieren sich verstärkte.

Dafür verfluchte sie die kalte Jahreszeit - für überhitzte Subway-Waggons und -Wartehallen und die eisige, dumpfe Kälte oben im Freien.

Ihr Kopf mochte diese extremen Temperaturschwankungen im Winter nicht. Im Sommer jedoch schien es ihm gar nichts auszumachen, von klebriger Hitze in erlösende Kühle zu kommen.
 

In Shinjuku stiegen, wie gewöhnlich, viele aus. Jetzt hätte sie sich getrost hinsetzen können, doch für die paar letzten Stationen erschien ihr das dann doch unsinnig.
 

Der grosse Zeiger ihrer Calvin Klein-Uhr näherte sich der 9, der kleine tingelte immer noch vor der 8 herum.
 

Sie war mal wieder überpünktlich.
 

Hi Chie-chan, wetten, du hast schon gar nicht mehr mit mir gerechnet?! (zerknirschtes, nervöses Grinsen) Tut mir leid, hier geht grad alles drunter und drüber, aber wir treffen uns trotzdem morgen um 8 im J-POP CAFE - würde mich freuen, dich nochmal zu sehn bevor wir, du weißt schon.... (Seufzen)

Und mach dir gar nicht erst die Mühe, ne Ausrede zu suchen - die zählt nicht, schliesslich solltest du dir den Abend freihalten! (freches Lachen) Naja, also, der Kerl am Eingang sollte sich noch an dich erinnern, wenn nicht, ruf mich an. Bis dann, ne?! Oyasumi nasai...
 

Kyo hatte ihr die Nachricht erst letzte Nacht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie hatte das Telefon klingeln hören, als sie in der Dunkelkammer gearbeitet hatte. Wie gern hätte sie mit ihm gesprochen, aber zu dem Zeitpunkt hatte sie unmöglich die Tür öffnen dürfen. Und als sie dann hörte, wie müde Kyo klang, hatte sie es unterlassen, ihn zurückzurufen - er schien etwas Schlaf bitter nötig zu haben und sie wollte nicht diejenige sein, die ihn davon abhielt.
 

Ein warmes Gefühl hatte sich in ihrem Herz breit gemacht, als sie sich die Aufzeichnung wieder und wieder angehört und dazu eine Zigarette geraucht hatte.

Wenn sie Gara Glauben schenken konnte, war es schon nur eine Ehre, dass Kyo sich überhaupt dazu aufgerafft hatte, sich bei ihr zu melden, geschweige denn eine Nachricht zu hinterlassen. Auch dass er sie bereits einmal zum Essen eingeladen hatte, war höchst aussergewöhnlich.

Auf ihre scherzhafte Frage, ob Kyo denn tatsächlich sowas wie das Leben eines Einsiedlers führte, hatte Gara nur wissend und traurig gelächelt.
 

Toll, da hatte sie sich ja etwas aufgehalst - einen sich in seinem eigenen Schneckenhaus verkriechenden Poeten mit mangelnder Selbstachtung. Bravo Chieko!
 

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Züge.
 

Doch dass in Kyo wesentlich mehr steckte als nur dies, hatte ihr das erste gemeinsame Abendessen bewiesen.
 

Voller Neugierde wollte sie sich nun auf das einlassen, was sie noch erwartete - und vor allem wollte sie sich auf den faszinierenden Menschen einlassen, der daran war, sich ihr zu öffnen.
 

Die Computerstimme schreckte sie aus ihren Gedanken.
 

Tsugi wa Shibuya. Shibuya desu.
 

Als die Türen sich öffneten, straffte sie ihren ganzen Körper und machte sich schnellen Schrittes auf in einen der Teile Tokyos, in dem das Leben nie zum Stillstand kam.
 

* * *
 

"Kaum zu glauben, dass er schon da ist!".

Dies schalkhafte Augen blitzen rüber zum Sänger, der vermeintlich unbeteiligt dastand und eingehend die Autogramme an der Wand betrachtete.

"Er ist halt ein Gentleman....", schlug Shinya in genau dieselbe Kerbe und schielte auf das Ziel ihrer gemeinsamen Belustigung.

Der rothaarige Gitarrist zog nachdenklich an seiner Zigarette und bedachte den Schlagzeuger mit einem Seitenblick. Dass er Kyo aufzog, bedeutete nicht, dass Shinya das auch tun durfte. Kyo war in der Beziehung sehr empfindlich.

Heute jedoch schien er nicht gewillt zu sein, sich durch die Sticheleien aus der Ruhe bringen zu lassen - und Die beschloss, der allgemein guten Stimmung willen, Shinya nicht über den Mund zu fahren. Schliesslich machte es keinen Sinn, die Ruhe vor dem Sturm, der irgendwann während der Tour losbrechen würde, zu stören.
 

Also liess der Rotschopf den Jüngsten der Band wortlos stehen und stakte zur Bar, um sich ein weiteres Bier zu holen.
 

* * *
 

In der Mitte des Dome, eines runden, eine eigene Welt für sich bildenden Teils des Clubs, stand an dem Abend ein langer, weiss gedeckter Tisch. Die Beleuchtung tünchte den hohen Raum in diffuses, kühles Licht.
 

Der zweite Gitarrist der Band stand alleine vor der Bühne links neben dem Eingang und zog an einer Mild Seven.

Bilder aus vergangenen Zeiten wirbelten durch seinen Kopf.

Wie oft war er in den letzten zwei Jahren hier gewesen, ohne so sehr von den Erinnerungen mitgerissen worden zu sein?

Stressig war er gewesen, der Dreh des PVs zu "JESSICA". Kyo hatte gelitten und sich durch all die verschiedenen Takes gekämpft. Wenn man sich das Making-of auf "Kimon" genau ansah, konnte man erkennen, wie schwer ihm dies gefallen war.
 

Unwillig schüttelte Kaoru den Kopf. Seltsam, dass ihm all dies kurz vor Beginn ihrer neuen Tour einfiel - oder doch nicht?
 

Im hellen Rechteck der offenen Tür zeichnete sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt ab.

"Du kannst es wohl kaum erwarten, so richtig reinzuhauen, was?!".

In Toshiyas Stimme schwang Belustigung, als er ganz in den Raum trat und sich neben Kaoru stellte. Der Gitarrist entrang sich ein Lächeln.

"Ja, könnte das letzte Mal bis Ende November sein, dass wir richtig satt werden...".

Der Bassist kicherte und zündete sich eine seiner langen, dünnen Zigaretten an.

"Freust du dich?".

Unnötig zu fragen, worauf Toshiya ansprach.

Der Bandleader zuckte die Schultern.

"Wir können die neuen Sachen endlich live spielen - ja, klar freu ich mich...".

Kritischer Blick.

"Aber?".

"Kannst du dir das nicht denken?".

"Doch, natürlich. Ich möchte nur hören, wie du es aussprichst".

Seufzen.

"Alles? Dafür brauchen wir vermutlich länger als die Zeit, die uns bleibt, bis alle hier reinkommen...".

"Trotzdem - fang an!".

Kaoru warf seinen Stummel zu Boden, zertrat ihn mit einem seiner schwarzen, schweren Boots und steckte sich sogleich eine weitere Zigarette zwischen die trockenen Lippen.

"Ich habe Angst, Yumi allein zu lassen, jetzt, wo ich sie wieder habe. Ich mache mir Sorgen wegen Kyo und Shinya, in letzter Zeit geraten sie wieder öfter aneinander, wie immer, wenn sie lange Zeit gezwungenermaßen zusammenstecken. Und was Die betrifft, weißt du ja eh Bescheid".

Toshiya legte den Kopf in den Nacken - die alte Geschichte.

"Kaoru, ich...".

"Ich weiss, mach dir keine Sorgen - wir haben einander bisher nicht zerfleischt, also besteht auch in Zukunft keine Gefahr. Wir wissen uns zurückzuhalten...".

Der Bassist ging ergeben zum Tisch und drückte dort seine Virginia in einen der silbernen Chromstahl-Aschenbecher.

"Das will ich hoffen!". Böses Grinsen. "Nein, ernsthaft, bevor es eskaliert, redet ihr mit mir, okay?!".

Nicken.

"Ja, okay...danke. Ich hab lange nicht mehr drüber nachgedacht, aber als die Diskussion losging, kam alles wieder hoch...".

"Ich weiss".

Toshiya zog einen Stuhl heran und setzte sich. Oh ja, und wie er es wusste. Für einige Zeit hatte er zu hoffen gewagt, dass die Sache sich erledigt hatte, doch nun...

Und alles nur wegen "Audrey". Dies "Audrey". Und der Tatsache, dass dieser Song damals für den Soundtrack des "SEMI"-Films gewählt worden war.

Verdammt, Die konnte nichts dafür, absolut nichts. Kaoru konnte nicht so engstirnig sein, das nicht zu begreifen, und doch war sein Stolz grösser als sein Verstand.

Und er, Toshiya, stand zwischen den beiden Fronten. Genauer gesagt zwischen vier Fronten, wenn man Shinya und Kyo auch dazuzählte, doch das war etwas ganz anderes.

Dass aber ausgerechnet die Entscheidung, auf "VULGAR" nicht zu erwähnen, wer welchen Song geschrieben hatte, Kaorus alte Wunde wieder würde aufbrechen lassen, damit hatte er nicht gerechnet.

Auf einmal fühlte er sich schuldig, dass er mit diesem Gespräch nur noch tiefer in die Wunde eindrang. Doch es hatte sein müssen - damit er eingreifen konnte, sobald es erforderlich wurde.

Nun war es jedoch an der Zeit, das Thema zu wechseln.

"Wie findest du Shinyas Flamme?".

Auch Kaoru war mittlerweile an den Tisch getreten und gerade dabei, eine Flasche des Rotweins, der auf dem Tisch bereit stand, einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.

"Barolo, sieh einer an", murmelte er anerkennend. "Die Sklaventreiber lassen sich nicht lumpen". Dann wandte er sich an Toshiya. "Was hast du gesagt?".

"Shinyas Kleine, was hältst du von ihr?".

Der Bandleader goss gekonnt und ohne einen Tropfen zu verschwenden die rote Traubenessenz in zwei Gläser.

Schulterzucken.

"Sie ist ruhig, unscheinbar, aber nicht unattraktiv - ein stilles Wasser. Und wahrscheinlich ein sehr starker Charakter. Genau passend zu Shinya".

Der Bassist grinste.

"Soll ich rausfinden, ob sie genauso prüde ist?".

Bevor Kaoru antworten konnte, wurde ihr Gespräch unterbrochen.

Yukie.

In Begleitung von Shinya, Akemi, Yoshie und Die.

"Setz dich zu mir, mein Freund!".

Toshiya winkte den Haarstylisten überschwänglich zu sich.

Kaoru musterte die Eintretenden unruhig und machte sich bereit, aufzustehen.

"Wo ist Yumi?".

Yoshie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln.

"Alles in Ordnung - sie ist auf dem Klo. Und Akiko versucht, Kyo zu beruhigen. Er hat Schiss, dass Chieko nicht auftaucht".

Gleichzeitig warfen Die und Toshiya einen Blick auf die Uhr an der Wand.

"Wahnsinn - es ist noch nicht mal 8 und der Kleine macht sich schon ins Hemd!".

Die griff nach der Weinflasche und begann, ein paar der noch leeren Gläser zu füllen.

"Sie wird schon kommen".

Kaorus Stimme klang überzeugt.

"Gehört das zu eurer Abmachung?".

Sechs Augenpaare hefteten sich auf Shinya. Kaoru musterte ihn forschend und meinte schliesslich:

"Nein, Chieko weiss schliesslich selber, was sie will".

"Ach ja? Was macht dich da so sicher?".

Eigentlich war Kaoru es müde, darüber zu diskutieren, noch dazu vor so vielen anderen. Warum forderte Shinya ihn dazu heraus?

"Hör zu, niemand hat sie gezwungen, damals zum Bowling zu kommen. Und auch jetzt zwingt sie niemand, sich auf Kyo einzulassen. Gara hatte schlicht und einfach eine gute Idee, das ist alles...".

"Was meinst du, würde geschehen, wenn Kyo Bescheid wüsste?".

"Shinya!".

Akemi starrte ihren Freund entgeistert an. In seinen Worten lag eine eindeutige Drohung.

Auch die anderen im Raum Anwesenden konnten kaum glauben, was sie eben gehört hatten.

Kaorus Stimme war nur noch ein Flüstern, als er antwortete.

"Ich hoffe für dich, dass du das nicht wagst...".

"Drohst du mir?!".

Yukie, Toshiya und Die warfen sich kopfschüttelnd lange Blicke zu, und die beiden Mädchen verstanden die Welt nicht mehr.

"Wenn du auch nur ein bisschen Achtung vor Kyo hast, mischt du dich nicht ein, solange Chieko keine Anstalten macht, das Ganze aufzuklären - verfickt, wir gehen übermorgen auf Tour, was denkst du dir eigentlich?!?!?".

"Und wie ich Kyo achte - genug, um nicht zu wollen, dass er verletzt wird".

Angewidert griff Kaoru sich seine Zigaretten und steckte sich einen der weissen Stengel an.

Diese beiden waren tatsächlich wie Wasser und Öl - die ganze Zeit über hatten sie sich zurückgehalten, und ausgerechnet jetzt, so kurz vor dem Tourstart, fing Shinya wieder an.

Dem Entsetzen auf Akemis Gesicht entnahm er, dass sie ihren Freund noch nie so gesehen hatte.

Welcome to the real world, Süsse.

"Okay, ein für allemal: Du sagst nichts, kein Wort! Schon gar nicht, während wir unterwegs sind. Und erst recht nicht, wenn Inoue und Tommy es mitkriegen - ist das klar?!".

Nun klang Kaorus Stimme drohend, und Shinya wusste, dass er ihn nicht weiter herausfordern sollte. Was war nur in ihn gefahren? Warum hatte er das alles gerade gesagt? Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte sein böses Ich ein Eigenleben entwickelt. Es machte ihm Angst. Doch verdammt, manchmal forderte ihn schon nur Kyos blosse Anwesenheit heraus, Dinge zu tun und zu sagen, die er im Nachhinein bereute.

Ja, er musste sich zusammenreissen. Schliesslich hatte die Band auch so schon genügend Probleme.

Leicht beschämt liess er den Kopf sinken und warf einen entschuldigenden Blick in die Runde.

"Ja, okay. Irgendwann wird er's sowieso erfahren...".

"Aber nicht von dir - lass Chieko und Gara das tun".

"Okay, lasst uns anstossen!". Die schaffte es mal wieder, mit einem einzigen Satz die ganze Stimmung um 180 Grad zu wenden. "Auf diese Tour, auf "VULGAR", auf uns!".

Sieben Hände hoben ihre Gläser und klirrend stiessen sie alle aneinander.

"Kampai!".

"Das gibt's ja nicht - ihr stosst ohne uns an?!".

Inoue, Tommy, Yumi, zwei Mädchen vom [aknot]-Team und die beiden Hauptverantwortlichen der Security-Firma warfen den am Tisch Sitzenden gespielt entrüstete Blicke zu.

"Selber Schuld, wenn ihr so spät auftaucht".

Toshiya grinste frech über den Tisch hinweg, während Yukie sich daran machte, eine zweite Flasche des teuren, erlesenen Rotweins aufzumachen.

"Wollt ihr wissen, was es heute Leckeres gibt?".

Tommy verteilte die Menükarten und setzte sich rechts neben Kaoru.

"Hat das mit dem Spezialessen für mich geklappt?".

Der Gitarrist hatte sich zum Produzenten rübergelehnt und ihm die Worte leise ins Ohr geflüstert.

Dieser nickte lediglich, lächelte leicht und tätschelte mit seiner linken Hand Kaorus Oberschenkel. Dann warf er einen fragenden Blick auf den Wein in Kaorus Glas und die Zigaretten.

Zerknirscht zuckte der Gitarrist mit den Schultern. Einige guten Ratschläge waren dazu da, übergangen zu werden. Aber trotzdem, er musste vorsichtig sein. Gerade jetzt, wo's stressig wurde.

"Ist Kyos Süsse immer noch nicht gekommen?", fragte Die in die Runde.

Mittlerweile zeigte die Uhr 10 nach 8.

Doch genau in dem Moment ertönte von draussen die Klingel des Aufzuges und alle im Raum atmeten erleichtert auf.
 

* * *
 

"Nun mach dich doch nicht verrückt".

Akiko hatte die Aufgabe übernommen, bei Kyo zu bleiben und ihm die Wartezeit zu verkürzen. Warum, wusste sie nicht. Es hatte sich einfach so ergeben.

"Was ist, wenn ich sie vergrault hab und sie keine Lust hat, zu kommen?".

Er sass auf dem hohen Barhocker und knetete nervös seine Finger.

"Dann hätte sie sich bestimmt bei dir gemeldet und gesagt, dass sie nicht kommt. Hast du nicht gesagt, du hättest sie gebeten, sich den Abend freizuhalten?".

Nicken.

"Na also, sie wird kommen. Wahrscheinlich hat sie nur den Zug verpasst oder unterwegs noch jemanden getroffen".

Der Sänger seufzte.

"Ich benehme mich bescheuert, oder?!".

Toshiyas Freundin grinste.

"Tun das nicht alle, wenn sie verknallt sind?".

Verknallt...?

Kyo warf ihr einen langen Blick zu.

Er war doch nicht verknallt. Er doch nicht. Seit Jahren schon bemühte er sich, sich auf Frauen nicht mehr soweit einzulassen, dass sie ihn verletzen konnten. Chieko war grad zum richtigen Zeitpunkt gekommen, um ihm aus seinem Tief rauszuhelfen - sobald er auf Tour war, brauchte er sie eh nicht mehr.

Warum hast du sie dann hierher eingeladen?, fragte eine Stimme in seinem Hinterkopf.

Und warum machst du dich verrückt, weil sie nicht ganz pünktlich ist?

"Freust du dich auf die Tour?".

Akikos Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

"Ja, doch, ich glaub, ich freu mich. Es wird stressig werden, wie immer, und wir werden einander alle saumässig auf die Nerven gehen, wie immer, aber eigentlich sind wir einzig zu dem Zweck Musiker geworden - um auf der Bühne stehen zu können. Alles andere ist ein notwendiges Übel, doch Konzerte sind der Wahnsinn!".

Die Augen des Sängers strahlten.

Das Model an seiner Seite betrachtete ihn nachdenklich. Auf der letzten Kurztour im Sommer hatte sie vom VIP-Bereich aus miterleben müssen, wie der ausdrucksstarke Sänger sich beim Performen malträtierte. Toshiya hatte ihr im Nachhinein erklärt, dass Kyo beim Singen oft in eine derartige Ekstase geriet, dass er nicht merkte, was er sich antat, dass er nach dem Konzert in der Garderobe zu sich kam und sich über die blutigen Striemen auf seiner Brust und die übermässig rote Haut in der Herzgegend wunderte. Und dass er, Toshiya, nicht wusste, ob er seinem Bandkollegen das tatsächlich abkaufen sollte...

Als die Klingel des Aufzugs ertönte, war es Akiko, die aus ihren Gedanken gerissen wurde.

Nachsichtig lächelnd schaute sie Kyo nach, der freudig aufgesprungen war, um die junge Frau zu begrüssen. Auch sie liess sich vom Hocker gleiten und wandte sich gespannt dem Eingang zu. Wie das Mädel wohl aussah?
 

Als die Tür aufging und Chieko eintrat, blieb Akiko das Herz stehen.

Sie?!?

Ungläubig starrte sie die junge, hübsche Frau an und war dankbar, dass Kyo zwei Schritte vor ihr stand und somit ihr Gesicht nicht sehen konnte.
 

+ + +

Memoria I [Chieko & Akiko ~ September 1995 - Dezember 1999]

Eine Rückblende.

Die Geschichte von Akiko und Chieko.

Wer sich für diese beiden Charaktere nicht sonderlich interessiert und nur über die Jungs von Dir en grey lesen möchte, kann dieses Kapitel gerne überspringen. XD
 

+ + +
 

Meine Ankunft in Tokyo vor etwas mehr als fünf Jahren hatte das Ende der Kirschblüte besiegelt. Die Nacht zuvor musste es heftig geregnet haben, denn als ich damals auf der Suche nach einem Hotel, das ich mir für ein paar Wochen leisten konnte, durch die Strassen wanderte, war von den herrlichen blassrosa Blütenblättern nur noch ein bräunliches, fauliges Mus am Boden übriggeblieben.

April 1998.

Dieser Monat ist unter verschiedenen Bezeichnungen in die Geschichte meiner Familie eingegangen.

Für meine Eltern ist es ,Der Monat, wo unsere einzige Tochter ausgezogen ist, das grosse, gefährliche Tokyo kennenzulernen'.

Für meinen Cousin wurde ich dadurch schlicht und einfach zum Vorbild - er hielt es dann auch nicht mehr allzu lange zuhause aus. Nicht, weil er sich mit seinen Eltern nicht verstanden hätte, im Gegenteil, aber eine unbezwingbare Kraft hatte ihn in den Bann der Rockmusik und einiger Bands gelockt - und dort gedieh er dann ganz prächtig. Aber das ist eine andere Geschichte.

Für mich allerdings hatte dieser Monat meine endgültige Abkapselung von meinem Zuhause und meinen Eltern bedeutet - ich wollte den Sprung ins kalte Wasser wagen, hatte mein Konto geplündert, meine Kleider, Schuhe, CDs, Bücher, ein paar Andenken und natürlich meine Kameras in zwei Koffer gepackt und mir eine Fahrkarte nach Tokyo gekauft - keine Rückfahrkarte, versteht sich...
 

Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Fotografin zu werden.

Mein Kunstlehrer an der Schule hatte mich nach einem sehr erfolgreich beendeten Projekt darauf hingewiesen, dass ich ein gewisses Talent fürs Fotografieren besass, sozusagen das richtige Auge und die Fähigkeit, bestimmte Stimmungen einzufangen und sie der Vergänglichkeit zu entheben. So irgendwie hatte er sich ausgedrückt.

Und in Ermangelung irgendeiner anderen Idee, was ich mit mir und meinem Leben anfangen sollte, hatte ich beschlossen, es einfach mal zu versuchen.
 

Der Anfang war hart.

Ich wohnte in einem schäbigen Hotel in irgendeiner heruntergekommenen Gasse am Rande Tokyos. Für mehr hatte es nicht gereicht.

Jeden Tag fuhr ich mit der Bahn in die Stadt und klapperte alle Fotoläden und Fotostudios ab, die ich finden konnte. Überall zeigte ich die Mappe mit den Bildern vor, die ich bisher geschossen hatte. Sie ernteten viel Bewunderung und Anerkennung - was mir bewies, dass ich mit meinem Berufswunsch wohl tatsächlich nicht allzu falsch lag.

Doch wie ich mir bereits gedacht hatte, fehlte es an Ausbildungsplätzen - oder vielmehr an Studios und Läden, die finanziell gut genug dastanden, sich überhaupt Auszubildende leisten zu können.

Fotografie - so lernte ich schnell - war ein hartes, brotloses Geschäft. Um wirklich viel Geld damit zu machen, musste man mehr als einfach nur gut sein. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich genau das war - erst hielt ich meine Einstellung für reichlich arrogant, doch als ich dann eines warmen Frühsommertages (ich war gerade sechs Wochen in Tokyo und langsam aber sicher ging mir das Geld aus) im Studio eines ziemlich schrägen Typen namens Matsushita Akio stand und mir ansehen musste, wie ihm beim Anblick meiner Fotos die Tränen kamen, dachte ich mir: ,Doch, du musst verdammt gut sein...'.

Einen Glücksfall nannte er mich. Und beschwerte sich im selben Atemzug über die Ignoranz aller seiner Berufskollegen, die mich abgewiesen hatten. Ein solches Talent könne man doch nicht einfach übersehen, murmelte er immer wieder.
 

Tja, und was soll ich sagen...

Zwei Tage später war der Arbeitsvertrag unter Dach und Fach, und ich machte mich sofort an die Arbeit.

Matsushita-sensei stellte sich als strenger, anspruchsvoller, aber überaus fairer Lehrmeister heraus.

Er fotografierte hauptsächlich Menschen - nicht diese hirnrissigen Familienportraits oder Hochzeitsfotos, nein. Matsushita-sensei hatte es sich zur Aufgabe gemacht, beim Fotografieren die Seele der Menschen herauszukristallisieren. Es wurden also immer ganz besondere Fotos, denen ein tiefes Vertrauen zwischen dem Fotografen und den Models zugrunde lag. Wer meinem Sensei sein Vertrauen nicht schenken konnte oder wollte, wurde umgehend weggeschickt oder trat von alleine den Rückzug an. Auch erlaubte er sich, die Kunden dem Studio zu verweisen, die ihm nicht sympathisch waren. Er war gut genug, sich dies leisten zu können. Für zwei durch die Lappen gegangene Aufträge kam meist am gleichen Tag einer rein, der für alles entschädigte.
 

Zu Beginn fotografierte ich nicht allzu oft.

Keine Menschen. Zumindest nicht so, wie er es machte.

Vielmehr schickte er mich beinahe täglich raus in die Natur oder auf die Strasse mit dem Auftrag, Dinge einzufangen, die mich berührten oder die mir wichtig und bemerkenswert schienen.

Dann zeigte er mir in der Dunkelkammer, wie ich das Beste aus meinen Bildern rausholen, wie ich alles kaputtmachen, aber auch wie ich beschönigen und manipulieren konnte.
 

Mein Gehalt zu der Zeit reichte gerade aus, um mir ein kleines, ungemütliches Zimmer in einem hässlichen Haus in der Nähe des Fotostudios, jeden Tag eine warme Mahlzeit und ab und zu ein paar neue Kleider oder einen Besuch im Kino leisten zu können. Ein nicht gerade glamouröses Leben für eine knapp 21-Jährige, aber es machte mir nichts aus. Mein Job machte mich happy, das war die Hauptsache. Und ich wusste, irgendwann würden bessere Zeiten kommen...
 

* * *
 

Ein Modelscout hatte mich im Frühherbst 1995 entdeckt, als ich mit Freundinnen in Shinjuku beim Shopping war. Das mag sich sehr klischeebehaftet anhören, aber genau so hat es sich zugetragen.

Wir hatten uns den ganzen Nachmittag in einem grossen Shopping-Center rumgetrieben und die Zeit totgeschlagen. Da musste ich ihm aufgefallen sein. Später gestand er, dass er mir beinahe eine halbe Stunde nachgestellt hatte. Ich musste lachen. Mir erschien das alles so lächerlich. Klar, ich hielt mich eigentlich auch für ganz gutaussehend, wenn nicht sogar richtig hübsch, aber Model? Für Fotos? Laufsteg? Ich hatte lange gelacht, als er in einem Café meine Zukunft vor mir ausgebreitet hatte.

Erst hielt ich ihn tatsächlich für einen Spinner, der die Modelsache nur als Vorwand benutzt hatte, sich an mich ranzumachen.

Diese Annahme stellte sich dann aber als falsch heraus - er war tatsächlich bei einer renommierten Agentur angestellt und in deren Auftrag tagtäglich auf der Suche nach neuen, interessanten Gesichtern und perfekten Körpern.

Vorher hatte ich mich für meine Grösse von beinahe 1,80 m oft geschämt, aber nun öffnete sie Tore in eine völlig neue Welt.

Eigentlich hatte ich Englisch und Medienwissenschaften studieren wollen - aber diese Pläne stellte ich damals erstmal hinten an, sehr zum Unmut meiner Eltern. Nachdem sie jedoch die ersten professionell geschossenen Bilder von mir gesehen und meinen Agenten und einige seiner Mitarbeitern kennengelernt hatten, änderten sie dann doch ihre Meinung und begannen, mich zu unterstützen. Meine Eltern waren keine Unmenschen - sie wollten bloss nicht, dass ich mich vollkommen naiv und unbesonnen in irgendeine dubiose Sache stürzte.

Aber die Tatsache, dass ich mein Examen geschafft hatte, stellte sicher, dass ich auch später, sobald ich für diesen Job zu alt oder mein Typ nicht mehr gefragt war, noch zur Uni würde gehen können. Ich hoffte natürlich, dass ich soviel Geld verdienen würde, um in 10 oder 15 Jahren nicht mehr arbeiten gehen zu müssen.
 

Schon nach wenigen Wochen hatte mir meine Agentur damals Aufträge im Ausland beschafft. Da ich schon immer ein sehr selbstbewusstes Auftreten und einen schönen, sicheren Gang gehabt hatte, war es nicht nötig gewesen, mich in entsprechende Kurse zu schicken - mein Entdecker hatte also tatsächlich den richtigen Riecher gehabt, als er mich ausgesucht hatte.

Ende 1995, im November, flog ich nach New York, danach weiter nach London, Mailand, Hong Kong. Viele Erinnerungen habe ich nicht an diese Zeit. Nur, dass ich fortwährend müde gewesen war, schmerzende Füsse und Heimweh gehabt hatte. Und all meine oft noch minderjährigen Kolleginnen bewundert hatte, die den ganzen Stress viel lockerer wegzustecken schienen, als ich. Doch vielleicht war mir dies auch nur so vorgekommen - wer weiss, ob sich all die starken Mädchen nicht jede Nacht in den Schlaf geweint hatten?

Was ich jedoch noch ganz genau weiss, ist, dass ich damals an Silvester nach Tokyo zurückgekehrt war und den Jahreswechsel und die Party, zu der ich eigentlich eingeladen gewesen war, verpasst hatte, weil ich, gleich nachdem ich zuhause war, ins Bett gefallen und 16 Stunden durchgeschlafen hatte.

Ja, so war das damals.

Auch 1996 war nicht minder stressig gewesen.

Viele Fotoshootings, für Zeitschriften, Mode-Kataloge, Werbung.

Weitere Reisen in die grossen Metropolen dieser Welt.
 

Zu Beginn hatte ich gedacht, dass mein Alter meiner Karriere hinderlich sein würde - bei meiner 'Entdeckung' war ich bereits 20 Jahre alt gewesen.

Die meisten meiner Kolleginnen waren mindestens 3 Jahre jünger, als sie zu modeln anfingen.

Aber wie viele meiner Landsmänninnen sah ich sehr jung aus - und meine Karriere entwickelte sich prächtig.

Schon bald hatte ich genug Geld zusammen, um mir ein wunderschönes Loft in Aoyama zu mieten. Zu der Zeit musste ich die meisten meiner Aufträge in Japan bestreiten und nur für die grossen Modeschauen ins Ausland reisen - die Wohnung in einem der schönsten Stadtteile Tokyos war also perfekt.
 

Meine Arbeit machte mir Spass.

Sie war hart, erfüllte mich aber mit einem unbändigen Gefühl der Zufriedenheit.

Und auch wenn ich oft meinen dadurch verlorenen Freundschaften nachtrauerte, wusste ich doch, dass es nichts gab, was ich lieber hätte tun wollen.

Zur Uni gehen, mich verlieben, eine Familie gründen und ein in geregelten Bahnen verlaufendes Leben führen würde ich auch später noch können. Sowas wie Torschlusspanik war ein Fremdwort für mich. Also machte ich mir auch keine Gedanken, als ich auch mit 22 noch keinen festen Freund hatte. Wie hätte ich einen Partner glücklich machen können? Ich war doch sowieso dauernd auf Achse. Ich wollte frei sein. Meinen Spass haben, mit wem ich wollte. Nicht, dass ich je unvorsichtig gewesen wäre. Nein! Ich hatte klare Prinzipien. Und hohe Ansprüche.

Falls meine Eltern meinen damaligen Lebenswandel je als liederlich empfunden hatten, hatten sie mir dies nie zu spüren gegeben. Vielleicht hatten sie auch einfach nur ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen und so getan, als ob es sie nicht störte, dass ich an die zwei- bis dreimal im Jahr stattfindenden Familienfeiern jedes Mal einen anderen "Partner" mitbrachte.

Ja, ich hatte meinen Spass...
 

* * *
 

Im Frühjahr 1999, ziemlich genau ein Jahr, nachdem ich nach Tokyo gekommen war, traf ich sie.

An dem besagten Morgen im April, die Kirschen standen in voller Blüte, war ich schon früh im Studio gewesen. Ein grosses, wichtiges Shooting stand an, und Matsushita-sensei und ich hatten noch einiges vorzubereiten gehabt.

Kunstvolle Fotos, sollten es werden. Ästhetische Fotos. Von schönen Menschen.

Ich war nervös.

Auch meinem Sensei hatte der Auftrag schon lange auf dem Magen gelegen, und ich war froh, dass der Tag endlich gekommen war.
 

Die Models wurden in Limousinen vorgefahren. Im Schlepptau eine Horde Makeup-Artisten und Stylisten oder wie diese Menschen sich nannten.

Mir waren sie alle nicht ganz geheuer, doch ich hatte einen Job zu erledigen und konnte es mir nicht leisten, Vorurteile zu haben. Stoisch erfüllte ich alle erdenklichen Wünsche unserer ,Gäste', auch wenn diese noch so hirnrissig waren.

Das war ich meinem Sensei schuldig - und hey, es gehörte nun mal zu meinem Beruf. Schliesslich konnten diese Menschen auch nichts dafür, dass sie an dem Tag mit uns zusammenarbeiten mussten, also bemühte ich mich, alle so zuvorkommend wie möglich zu behandeln
 

Der Tag tropfte dahin.

Stunde um Stunde.

Zähflüssig wie Kondensmilch aus der Tube. Aber weniger süss.

Matsushita-sensei war fortwährend mit Fotografieren beschäftigt, kommandierte mich, die Models und deren Mitarbeiter herum. Schroff. Kurzangebunden. Erst hatte ich befürchtet, dass die Models sich wegen seines rauen Umgangstones beschweren würden, doch sie liessen alles sang- und klanglos über sich ergehen. Wahrscheinlich waren sie Schlimmeres gewohnt. Oder man hatte ihnen eingebläut, ihre Allüren für einen Tag sein zu lassen - schliesslich war mein Sensei nun mal weit und breit der Beste, was das Fotografieren von Menschen betraf.
 

Den ganzen Tag über hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden.

Doch wenn ich mich umsah, konnte ich kein verdächtiges Augenpaar entdecken, das auf mir ruhte oder sich gerade von mir abwandte.

Vermutlich machte mich nur die Anwesenheit dieser perfekten Menschen vollkommen verrückt.

Sie waren alle schön - die Männer wie die Frauen. Kein Wunder, dass ich am Nachmittag das reinste Nervenbündel war.

Ganbatte, redete ich mir selbst Mut zu.
 

* * *
 

Sie war mir schon aufgefallen, als sie uns begrüsst hatte.

Ruhig. Sicher. Mit einem ehrlichen Lächeln.

Zwischen ihr und dem Fotografen schien ein Einverständnis zu herrschen, welches den Gebrauch von Worten zwischen ihnen unnötig machte. Kurze Blicke genügten und schon wusste das Mädchen genau, was er wollte.

Faszinierend.

Leider fotografierte sie den ganzen Tag nie. Wahrscheinlich, weil sie noch in Ausbildung war.

Wie alt sie wohl sein mochte?

Jünger als ich?

Ich beobachtete sie im Versteckten, wenn ich auf der Coach sass, rauchte, Wasser oder Kaffee trank, mein Make-up auffrischen liess und auf meinen nächsten Einsatz wartete.

Sie schien zu spüren, dass jemand sie genauer unter die Lupe nahm, ab und an warf sie forschende Blicke in die Runde - doch an mir blieben sie nie hängen. Ich hatte das Talent entwickelt, mich in bestimmten Situationen unsichtbar zu machen.
 

* * *
 

Gegen 22 Uhr war der ganze Spuk vorbei.

Matsushita-sensei drückte ein letztes Mal auf den Auslöser und entliess das Model mit einem dankenden Nicken.

Alle anderen Models waren bereits gegangen. Nur noch sie, die letzte, war da, und ihre Makeup-Artistin, die ihr beim Abschminken helfen würde.

Die beiden zogen sich zurück, und ich half meinem Sensei beim Zusammenpacken der ganzen Kameras und zugehörigen Utensilien. Die Kulisse, die wir eigens für dieses Shooting aufgebaut hatten, würden wir erst am nächsten Tag abbauen - auch die Requisiten, die überall im Raum standen, würden wir später in unsere Gerümpelkammer bringen. Es ging nur darum, das Wichtigste wegzuräumen und die ganzen Filme in Sicherheit zu bringen, damit wir sie dann am nächsten Tag gleich würden entwickeln können.

Ich freute mich darauf.

Ich war sicher, dass in der Dunkelkammer wahre Meisterwerke ans Tageslicht kommen würden.
 

Um halb 11 meinte mein Sensei, ich solle gehen, ich hätte sehr gute Arbeit geleistet und solle machen, dass ich ins Bett komme.

Und da er kein Mensch war, der sowas einfach nur so dahinsagte, um zu testen, ob ich nicht doch vielleicht zu noch mehr Arbeit bereit war, packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Heimweg.

Der Parkplatz vor unserem Studio war leer - Model und Maskenbildnerin waren vor wenigen Minuten weggefahren.

Die Leere kam mir seltsam gespenstisch vor.

Langsam ging ich über den Parkplatz und wollte gerade nach rechts abbiegen, als ich das Glühen einer Zigarette zu meiner Linken wahrnahm.

Erschrocken wollte ich schon schneller gehen und mich aus dem Staub machen, doch die Person im Dunkel trat ins Licht der Strassenlaterne.

Beinahe hätte ich sie nicht erkannt - ohne Make-up war sie ein vollkommen anderer Mensch.

Seltsam, dachte ich, dass ich ihr ungeschminktes Gesicht nicht erkenne, obwohl ich sie doch am Morgen ganz bestimmt auch schon so gesehen habe.

Was machte sie immer noch hier?
 

* * *
 

"Haben Sie etwas vergessen? Ich kann es Ihnen holen...".

Ihre Worte plätscherten in die Kühle der Nacht.

Ich zog an meiner Zigarette und schüttelte verneinend den Kopf.

Nun wurde ihr Blick fragend - sie war auf der Hut.

Gleich würde sie davonlaufen und mir für immer entgleiten, ich musste rasch handeln.

Mit meiner Zigarette deutete ich auf die Tasche in ihrer Hand.

"Ich sehe, Sie haben Ihre Kamera dabei?".

Verwirrt blickte sie an sich runter und nickte.

"Ich muss gesehen, ich war etwas enttäuscht, dass Sie den ganzen Tag keine Bilder geschossen haben".

Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren fremd - wie musste sie sich für sie anhören?

Nun lächelte sie leicht verlegen.

Diese Grübchen in ihrem Gesicht - so süss, richtig niedlich. Und zugleich unheimlich sexy.

"Ach, ich bin doch erst seit einem Jahr bei Matsushita-sensei in Ausbildung. Meine Fähigkeiten reichen noch nicht aus, Fotos in der Art zu machen, wie sie heute verlangt wurden...".

"Denken Sie?!".

Die Unterbrechung passte ihr nicht - ich konnte es in ihren hellen Augen lesen. Seltsame Farbe, diese Augen. Grün-braun.

"Wie bitte?!".

Ich schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, warf den Zigarettenstummel zu Boden und zerdrückte ihn mit meinem Schuh.

"Ich frage mich nur, was für Fotos Sie wohl machen".

Und bevor Sie etwas erwidern konnte, sprach ich weiter.

"Hier in der Nähe ist ein kleiner, verwunschener Park - ich bin noch nie in einem solchen Park fotografiert worden. Tun Sie mir den Gefallen?".

Entgeistert starrte Sie mich an. Vermutlich hielt sie mich für vollkommen verrückt, doch dieses Risiko musste ich eingehen.

"Jetzt? Aber...".

"Was spricht dagegen?".

Ich legte absichtlich eine gewisse Herausforderung in diese Worte.

"Warum bitten Sie nicht Matsushita-sensei darum? Er ist noch da...".

"Nein - Fotos von ihm habe ich genug, sobald er sie entwickelt hat. Wie gesagt, mich interessieren Ihre Fotos".
 

* * *
 

Was bildete diese Person sich eigentlich ein?!

Mir hier aufzulauern und mich um einen dermassen unverschämten Gefallen zu bitten. Mitten in der Nacht.

Am liebsten hätte ich sie stehenlassen und wäre schleunigst nach Hause gelaufen. Doch irgendetwas hielt mich auf.

Was wollte sie von mir?

Sie schaute mich an, als ob sie...

Innerlich schüttelte ich den Kopf.

Nein, unmöglich. Was sollte eine Frau wie sie von einer wie mir wollen?

Und doch flirtete sie mit mir - die Signale waren unmissverständlich.

Auf einmal war ich überzeugt davon, dass sie es war, die mich den ganzen Tag beobachtet hatte.

Was sollte ich tun?

Auf das Spiel einsteigen?

Oder doch endlich nach Hause ins Bett gehen - alleine?

Ich beschloss, ihre Ernsthaftigkeit zu testen.

Herausfordernd liess ich meine Blicke über sie schweifen.

Sie trug noch immer das Kleid, das sie beim letzten Shooting getragen hatte. Wegen der Dunkelheit und weil sie einen Mantel darüber trug, hatte ich es nicht gleich bemerkt.

Ein wundervolles Kleid. Ein Ballkleid. Womit sie ihre Stylisten bestochen hatte, dass sie es für eine Nacht behalten durfte, wusste ich nicht. Ich wollte es auch gar nicht wissen.

Stattdessen sagte ich nur:

"Kommen Sie".

Heute, im Nachhinein, weiss ich, dass ich schon bereit gewesen war, sie zu fotografieren, bevor sie ihren Wunsch überhaupt ausgesprochen hatte.
 

* * *
 

Die Nacht war kühl, doch ich fühlte die Kälte nicht, auch wenn ich ohne Mantel dastand.

Der Park war spärlich beleuchtet. Sie arbeitete mit Blitzlicht, gab mir konzentriert kurze, knappe Anweisungen.

Meine Nippel waren hart - es gefiel mir, mich von ihr ablichten zu lassen. Angenehme Schauer jagten durch meinen Körper, mein Herz drohte, vor freudiger Erwartung zu zerspringen - ein nur zu bekanntes Gefühl. Und doch war es dieses Mal irgendwie anders.

"Lass den Träger über die Schulter gleiten - ja, genau so!".

Sogleich blitzte es.

"Stell dich schräg hin, ich will dich im Profil haben. Genau, jetzt den Kopf senken - ich will Sehnsucht sehen!".

Ihre Anweisungen verrieten ganz klar, wer ihr Lehrmeister war.

Ich war von ihrer Professionalität überrascht.
 

Nach einiger Zeit, sie hatte bestimmt schon zwei Filme verschossen, meinte sie auf einmal:

"Ich hätte da noch ein paar Ideen, aber ich glaube, die sollten wir nicht hier im Park ausführen...".

Nun war sie in die Offensive gegangen und wollte prüfen, wie weit sie gehen konnte und wozu ich bereit war. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie Schiss vor dem hatte, was kommen würde - doch grösser als diese unbestimmte Angst musste ihre Lust auf mich sein.
 

* * *
 

Sie in meiner Bleibe zu sehen, war seltsam. Der Engel in der Absteige. Doch eigentlich war es genau das, was passte. Sie brachte etwas Glanz in die heruntergekommenen, gammligen Räume. Sie hier zu sehen erinnerte mich an Filme, die von drogensüchtigen Popsternchen handelten - genau so sah sie in dem Moment aus, wie sie sich auf meinem abgewetzten, roten Samtsofa räkelte, nur noch in ihrer Unterwäsche. Sie war dünn, nicht ungesund dünn, aber dünn. Und unter ihren Augen hatten sich von der Müdigkeit Ringe gebildet - doch wir beide dachten noch lange nicht daran, schlafen zu gehen. Genausowenig dachte ich daran, sie zu schminken. Ich wollte sie so haben, wie sie war - und nicht als die, die sie mit Make-up darstellte.
 

Sexy, wie sie ihre Zigarette rauchte.

Ihre Lippen spitzte, diese um den Filter schloss, tief einatmete und den Rauch danach lasziv durch Nase und Mund wieder ausstiess.
 

Bei ihrem Anblick fiel mir auf, dass ich seit Stunden nicht mehr geraucht hatte. Also legte ich die Kamera beiseite, wühlte in meiner Tasche nach meinen Zigaretten, fand sie, steckte mir eine an und setzte mich auf den alten, unbehandelten Holzboden.
 

Ich betrachtete sie, wie sie mich im halbdunklen Zimmer musterte. Ihr knochiger Körper schimmerte im Licht wie Bronze - was für eine schöne Haut sie hatte.
 

Auf einmal erhob sie sich aus dem Sofa und kam auf mich zu.

Sie kniete sich neben mich und begann, mein Ohr zu küssen, mit meinen Haaren zu spielen.

Wow.

Bisher hatten dies nur Männer mit mir gemacht - doch ich musste erkennen, dass mir die Zärtlichkeiten dieser Frau, deren Namen ich immer noch nicht kannte, beinahe besser gefielen.

Immer noch rauchend liess ich sie gewähren und auch, als sie die Kamera nahm und anfing, Bilder von mir zu schiessen, wehrte ich mich nicht. An meine Kamera liess ich für gewöhnlich niemanden - doch dies war keine gewöhnliche Situation mehr, ganz und gar nicht.
 

Einem plötzlichen Impuls folgend, begann ich, mich langsam vor ihr zu entkleiden - sie betätigte den Auslöser wie eine Verrückte.
 

* * *
 

Ihr Körper war wunderschön.

Nicht so dünn und knochig wie meiner, sondern straff und wohlproportioniert, mit kleinen Fettpölsterchen an genau den richtigen Stellen.

Die kleine Tätowierung auf ihrer linken Hüfte tanzte auf und ab, als sie sich ihrer Unterwäsche entledigte.

Die Hofe ihrer Brustwarzen waren gleichmässig rund und von einem hellen Braun, während die Warzen einen dunklen Mittelpunkt bildeten.
 

Irgendwann legte ich die Kamera ab und robbte mich zu ihr hin.

Mein Herz schlug zum Zerspringen und meine Hände waren feucht, und nicht nur die...
 

Kein Zurück mehr.

Für diese Nacht würde sie mir gehören.
 

* * *
 

Meine erste Liebesnacht mit einer Frau hatte ich also in meiner heruntergekommenen Bleibe erlebt - mit einem Topmodel, mitten in der Zeit der Kirschblüte. Verrückt.
 

Am nächsten Morgen, als wir im Bett lagen, schlechten, wässrigen Kaffee tranken und rauchten, bevor ich mich zur Arbeit aufmachen musste, erzählte sie mir, dass sie für einige Zeit nach New York fliegen musste, und fragte mich im gleichen Atemzug, ob ich nicht gerne in ihre Wohnung einziehen würde.
 

Natürlich habe ich damals erstmal nur gelacht - wie, zum Teufel, sollte sich eine arme Fotografin wie ich so ne Wohnung leisten können?!? Und wie kam sie überhaupt drauf, sie an mich abzutreten?
 

Daraufhin hatte sie nur gemeint, darüber solle ich mir keine Gedanken machen, hat mich fürs Wochenende zu einem Besichtigungstermin eingeladen, hat dann ihre Sachen gepackt und ist gegangen, nachdem sie sich mit einem Zungenkuss von mir verabschiedet hatte.
 

Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich mein Glück immer noch nicht fassen. Die Wohnung war ein Traum - und als Dank dafür, dass ich sie fotografiert hatte, hatte Akiko drei Monatsmieten im Voraus bezahlt. Und auch nachdem diese vergangen waren, musste ich mir keine Sorgen mehr machen, wie ich das Geld dazu aufbringen sollte, denn...
 

Naja, meine Fotos hatten sich als Meisterwerke rausgestellt - und obwohl ich sie ja eigentlich nur für Akiko und mich gemacht hatte, erschienen irgendwann doch ein paar davon in einigen Modezeitschriften und in den folgenden Monaten wurden wir regelrecht von neuen Kunden überrannt.
 

Matsushita-sensei liess mich ebenfalls selbstständig fotografieren, seit er meine Fotos gesehen hatte. "Deine Zeit ist gekommen", hatte er nur gesagt und mir von da an freie Hand gelassen.
 

Ich hatte es geschafft.
 

Arbeitete weiterhin im Studio, übernahm aber auch nebenbei weitere Auftragsarbeiten, die mich interessierten und herausforderten. Keine gewöhnlichen Arbeiten, die übernahm ich nie, dafür waren andere zuständig - nein, wer zu mir und meinem Sensei kam, war stets auf der Suche nach dem Besonderen.
 

Im Winter 1999 gab ich mehrere Interviews für Zeitungen, liess mir von Fernsehteams für TV-Dokumentationen über die Schultern gucken - allem Anschein nach war ich zu der Zeit eine kleine Berühmtheit gewesen.
 

Mittlerweile ist der Hype um mich abgeklungen, doch meine Stammkunden sind mir geblieben. Nach meiner Ausbildung hatte ich mich von Matsushita-sensei gelöst, zu ähnlich war unsere Arbeitsweise, als dass wir noch länger hätten zusammenarbeiten können und wollen. Doch wir treffen uns oft. Vergleichen Arbeiten. Diskutieren. Fachsimpeln. Auch heute noch. Seit einem Jahr leidet er an Arthritis in den Händen - an manchen Tagen kann er kaum noch seine Kamera halten. Er ist nicht mehr der Jüngste. Aber für mich immer noch der Beste, auch wenn er immer wieder behauptet, dass meine Fotos noch weit mehr beinhalten, als seine.
 

Akiko habe ich nie mehr getroffen. Ab und zu entdecke ich Fotos von ihr in irgendwelchen Zeitschriften. Doch die schönsten Bilder von ihr, die habe ich zuhause. In der Wohnung, die einmal ihr gehört hatte und in der ihr Geist noch immer lebt.
 

Ich hatte ihr damals im Mai 1999, als die Bilder fertig entwickelt waren und sie schon in New York war, Abzüge zugestellt - da der Umschlag nie an mich zurückgeschickt worden war, nahm ich an, dass sie alles erhalten hatte. Gehört habe ich aber seither nichts mehr von ihr. Kein Anruf, kein Brief, nichts.
 

Eine ganze Zeitlang noch hatte ich oft an sie gedacht - doch irgendwann war ihr Geruch aus meiner Nase verschwunden und die Erinnerung an sie nur noch ein Schatten in meinem Kopf.
 

Und jetzt...
 

Jetzt stand sie hier vor mir und ihre beiden riesengrossen Augen starrten mich über Kyos Schulter hinweg an.
 

+ + +

11.2. [Lucullus - Teil 2]

Mir geht's wieder gut, der Scheiss mit meinem Job hat sich erledigt - also hab ich mich doch gleich hingesetzt und den zweiten Teil von Kapitel 11 geschrieben! ^.^
 

Viel Spass dabei!
 

+ + +
 

In den starr auf sie gerichteten Augen blitzte Erkennen auf.

Akiko hielt dem Blick eine Weile stand und presste dann die Lider kurz aufeinander.

Für Fragen war später Zeit - jetzt mussten sie beide erstmal ihr Schauspieltalent hervorkehren.
 

Kyo schien die angespannte Nervosität nicht zu bemerken.

Kein Wunder, vermutlich hatte er auch so genug im Kopf und konnte sich nicht mit dem Erhaschen solcher Kleinigkeiten abgeben.

Zudem freute er sich, Chieko zu sehen.

Und da war er bei weitem nicht der Einzige.

Akiko trat, nachdem die beiden sich begrüsst hatten, höflich daneben, und Kyo stellte sie förmlich vor.

Jedes Erkennen war aus den grün-braunen Lichtern Chiekos verschwunden.

Ja, alle Achtung, sie konnte nicht nur blendend fotografieren, auch schauspielern schien ihr nicht allzu schwer zu fallen.
 

"Ich hoffe, du hast Hunger?!".

Soviel zum Versuch Kyos, lockeren Smalltalk zu führen.

Hinter dem Rücken des Sängers, der voran ging, tauschten die beiden jungen Frauen einen kurzen, amüsierten Blick.

Kaum zu fassen, wie nervös der Junge war.
 

Drinnen ging es weiter mit den formellen Begrüssungen.

Akiko kam der Verdacht, dass alles bestimmt ganz anders verlaufen wäre, wenn nicht Leute von Crew und Management zugegen gewesen wären.

Sie hasste diese verkrampften Treffen.

Keiner war in solchen Situationen sich selbst.

Es war zum Kotzen.
 

Als sie sich Toshiya gegenüber setzte, fing sie seinen Blick auf.

Es tut mir leid, sei mir nicht böse, las sie darin.

Mit einem nur minimal angedeuteten Lächeln bedeutete sie ihrem Freund, dass sie verstanden hatte.
 

* * *
 

Mehr Wein wurde aufgetragen. Bier. Wasser. Speisen wurden serviert.
 

Wenn Chieko nach oben ins Halbrund der Kuppel blickte, konnte sie die Rauchschwaden sehen, die sich dort sammelten.

Sie hatte den ganzen Abend noch nicht wirklich viel geredet. Bei ersten Begegnungen mit Fremden beliess sie es meist dabei, einfach nur zuzuhören, ab und zu mit jemandem ein paar Höflichkeiten auszutauschen, freundlich zu lächeln und den Rest der Zeit scharf zu beobachten.
 

Die Leute von der Crew musterten sie hin und wieder argwöhnisch. Auch wenn sie dies beinahe unauffällig taten, ihr fiel es dennoch auf.

Wie damals, ging ihr durch den Kopf.
 

Akiko war in ein angeregtes Gespräch mit Yumi vertieft - die beiden schienen gut befreundet zu sein. Auch Die's Freundin Yoshie schien sich mit den beiden blendend zu verstehen.

Ein Kleeblatt aus Freundinnen von Dir en grey-Mitgliedern.

Chieko lächelte bei dem Gedanken in sich hinein.
 

Shinya's Freundin (ihren Namen hatte sie schon wieder vergessen, irgendwas mit A) sass ihr schräg gegenüber oben am Tisch und wirkte etwas hilflos - vermutlich wusste sie nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Mit wem reden? Was sagen? Für sie war das Ganze vermutlich genauso neu wie für Chieko. Schade, dass sie beiden so weit voneinander weg sassen - Chieko hätte sich gerne mit ihr unterhalten und erfahren, was für ein Mensch sie war.

Tja, das musste sie wohl oder übel auf später oder auf ein anderes Treffen verschieben.
 

Toshiya blödelte die ganze Zeit mir Yukie herum.

Süss, die beiden. So ausgelassen.
 

Chieko fiel auf einmal wieder ein, dass sie mal ein riesengrosser Fan der Band gewesen war. Okay, zugegeben, sie war es immer noch, aber jetzt war alles anders.

Sie sass hier, inmitten all dieser Menschen, und war nicht mal annähernd nervös. Sie sass hier, als wäre es das Natürlichste der Welt.

Manchmal nahm das Leben schon seltsame Wege.

Nachdenklich klaubte sie eine Zigarette aus dem Päckchen und wollte grade nach ihrem Feuerzeug suchen, da wurde ihr auch schon eine Flamme unter die Nase gehalten.
 

Kyo. So zuvorkommend und liebenswert.
 

Sie schenkte ihm ein dankendes Lächeln und zog am Filter, bis die Zigarette richtig brannte.
 

Einmal erhaschte sie, wie Die Kaoru einen überaus seltsamen Blick zuwarf. Fragend. Nachdenklich. Unverständnis lag in den ausdrucksstarken, dunklen Augen. Doch Kaoru schien davon nichts zu bemerken.
 

Er redete die meiste Zeit mit Inoue oder diesem Tommy. Oder mit Shinya. Alles schien sich um die bevorstehende Tour zu drehen.
 

Chieko wurde aus vielem nicht ganz schlau, was sie an diesem Abend sah. Vieles heftete sich in ihr Hirn und sie beschloss, später darüber nachzudenken und jetzt einfach nur das leckere Essen zu geniessen.
 

Als die leeren Teller des Hauptgangs abgetragen wurden, hob sie die Augen und blickte direkt in die Akikos. Sie wollte mir ihr reden. Jetzt.
 

Mit einem entschuldigenden Lächeln erhob sich Chieko und verliess den Raum mit der Entschuldigung, sie müsse aufs Klo.

Draussen schlüpfte sie erstmal in die bereitgestellten Klo-Schlappen und begab sich zur Toilette.

Im grossen Spiegel erschien eine in eine dunkelbraune Hose und eine farbige Tunika gekleidete junge Frau mit dunkelbraun-roten Haaren, frech verwuschelten Haaren. Eine ganze Weile lang betrachtete sie ihr Spiegelbild. So lange, bis es sich teilte und zwei daraus wurden.
 

"Dich hätte ich am allerwenigsten hier erwartet...".

Akikos Stimme klang noch rauchiger als damals. Aber ihr Lächeln war noch dasselbe. Und sie hatte etwas zugenommen. Um ihre Augen spielten feine Fältchen.

Ihre Haare fiel in einer langen glänzenden Bahn über den Rücken.

Ihrer beider Augenpaare trafen sich im bodenlangen Spiegel.

Chieko lächelte.

"Wir sollten stolz auf uns sein - bisher hat keiner bemerkt, dass wir uns kennen".

Akiko hob sie Augenbrauen.

"Sei dir da nur nicht so sicher - einige Leute am Tisch sind feinfühliger, als man annimmt".

Die Fotografin wandte sich vom Spiegel ab und lehnte sich an die Wand.

"Wir müssen einander unbedingt mal treffen. Wie geht's dir?".

"Hervorragend. Und dir?".

Chieko nickte nur. Ja, ihr ging es auch ganz gut.

Das Model stand noch immer zum Spiegel gewandt, drehte nun aber den Kopf in Chiekos Richtung.

"Schon seltsam, jemanden wiederzusehen, von dem man nicht erwartet hatte, jemals wiederzusehen...".

"Wenn du willst, können wir es auch bei heute Abend belassen...".

Chieko bemühte sich, ihre Stimme nicht allzu enttäuscht klingen zu lassen.

"Wo denkst du hin?!".

Beinahe entrüstetes Gesicht.

"Dass wir uns wieder gefunden haben, ist ein Zeichen - wofür auch immer. Ich bin dafür, dass wir uns treffen, sobald unsere Jungs auf Tour sind".

Chieko nickte glücklich und zustimmend.

"Du und Toshiya also, hm?".

Akiko nickte lächelnd und spielte dabei selbstvergessen mit ihren Haaren.

"Und du und Kyo...unglaublich...".

"Wem sagst du das - wenn mir das jemand prophezeit hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt...".

Glockenhelles Lachen.

"Ich finde, du tust ihm gut - er scheint richtig happy zu sein".

Abwehrendes Kopfschütteln.

"Ach komm, ich kenne ihn doch erst ein paar Tage. Er kennt mich noch kaum. Wahrscheinlich geht's ihm nur einfach so gut, ganz ohne besonderen Grund...".

"Normalerweise ist er immer recht launisch und mies drauf, wenn eine Tour ansteht - glaub mir, ich weiss das...".

"Manchmal macht er mir Angst - manchmal macht mir das Ganze Angst...".

Akiko trat an ihre so lange verlorene Freundin heran und nahm sie in die Arme.

"Das wird schon. Hör auf deine Gefühle. Kyo ist in Ordnung. Ihr gebt ein hübsches Paar ab...".

Die beiden standen eine ganze Weile so da, bis Chieko sich aus den Armen des Models löste.

"Ich glaube, wir sollten die anderen nicht mehr zu lange warten lassen, sonst kommen sie uns suchen. Nur eines noch: Kennt Toshiya unsere Geschichte?".

"Nein. Einmal hat er eines der Fotos entdeckt. Er hat nicht bemerkt, wie ich ihn dabei beobachtet hab. Er hat es ganz lange und eingehend betrachtet. Und als er es wieder zurück an seinen Platz gelegt hat, hatte sein Gesichtsausdruck so etwas...hilfloses. So, wie ich ihn kenne, hat er genau gespürt, dass die Person, die das Bild geschossen hat, jemand ganz Besonderes war. Jemand, mit dem er nicht konkurrenzieren kann".

Ungläubigkeit.

"Und er hat dich nicht drauf angesprochen?".

Kopfschütteln.

"Nein, wir haben eine Abmachung: Was früher war, ist vorbei und wird nicht mehr erwähnt".

"Und das funktioniert?!".

"Bisher schon, ja...".

Mit einem letzten Lächeln an ihre Freundin schlüpfte Akiko aus dem Raum und überliess Chieko ihren Gedanken.
 

* * *
 

"Wo bleiben die beiden bloss? Sind die ins Klo gefallen?!".

Die's geflüsterte, leicht amüsierten Worte drangen an Toshiya's Ohr.

Der Bassist blickte auf die beiden leeren Plätze und zuckte die Schultern.

"Wahrscheinlich nutzen sie den Kloaufenthalt dafür, wofür Frauen ihn normalerweise nutzen - zum Klatsch austauschen".

"Aber sie kennen sich doch kaum...".

"Du weißt nicht, wozu Frauen fähig sind...".

Toshiya schenkte Die ein breites Grinsen und widmete sich danach wieder seinem Kokoseis. Hin und wieder schielte er wartend zur Tür und dann zur Uhr. Die beiden waren doch tatsächlich schon zehn Minuten weg...
 

* * *
 

Kaoru schaute auf als die Hand seiner Freundin sich auf sein Knie legte.

"Daijoubu?".

Ihre liebevolle Frage schenkte ihm Wärme.

"Ja, alles bestens".

Stolz hob er sein Zigarettenpäckchen, es fehlten nur wenige der weissen Stängel.

Bewundernd betrachtete Yumi ihren Freund.

"Sieh an - du hast also begriffen?!".

"Ich gebe mir Mühe. Aber auf Tour wird's schwierig...".

Sie ergriff seine Hand.

"Ich weiss. Weiss Tommy davon?".

"Ja, hab's ihm gestern erklärt".

Schweigen.

"Und die anderen?".

Yumi liess ihre Augen über die Bandmitglieder gleiten.

Kopfschütteln.

"Noch nicht. Ich will ihnen keine Angst machen. Eigentlich geht's mir ja gut...".

"Ja, eigentlich schon...".
 

* * *
 

Shinya sass still da und beobachtete.

Offensichtlich stimmte so einiges nicht.

Viel Ungereimtes schwebte im Raum.
 

Tommy warf Kaoru schon den ganzen Abend diese besorgten Blicke zu.

Sogar getuschelt hatten die beiden.

Und nun tuschelte Kaoru auch noch mit Yumi.

Okay, das mochte nichts zu bedeuten haben, schliesslich stand den beiden Privatsphäre zu und auch er und Akemi hatten sich an dem Abend schon mit gedämpften Stimmen unterhalten.
 

Auch Toshiya schien über etwas zu sinnieren.

Seltsam, er war doch so gut drauf gewesen.

Etwas sagte dem Schlagzeuger, dass Toshiya's Verstimmung mit Akiko und Kyo's neuer Flamme zu tun haben musste.

Aber was?

Die beiden kannten sich doch noch gar nicht, oder doch?!
 

Shinya beschloss, die beiden ganz besonders gut im Auge zu behalten.
 

Kyo...

...war happy. Verdammt happy. Und das war verdammt nochmal eine Seltenheit bei ihm. Nicht, dass Kyo dauernd schlecht gelaunt und mürrisch gewesen wäre, nein, keineswegs. Aber diese offenkundige Zufriedenheit war doch eher selten.
 

Wäre Kyo ein richtig guter Freund von ihm gewesen, Shinya hätte sich für ihn gefreut.

Fürs Erste beliess er es aber mit dem Gefühl tiefer Beruhigung - ein gut gelaunter Kyo bedeutete gute Stimmung für den Tour-Start.

Der Schlagzeuger hoffte nur, dass die Trennung von Chieko den Sänger nicht allzu sehr runterreissen würde.

So, wie er das Ganze sah, schien es, als ob Kyo noch nicht ganz wahrhaben wollte, dass ihm das Mädchen tatsächlich eine Menge bedeutete.

Die Erkenntnis würde wohl erst im Laufe der Tour kommen.

Shinya schauderte schon jetzt bei dem Gedanken daran...
 

* * *
 

Gegen 23 Uhr hielten Tommy und Inoue gemeinsam eine Ansprache und alle hörten gehorsam zu.

Einige natürlich verständlicherweise nur mit halbem Ohr, weil sie die ganzen Anweisungen zum Ablauf der Tour und die Menge an Informationen nicht wirklich was angingen, aber die Band- und Crewmitglieder wussten aus Erfahrung, dass sie sich auf das Gesagte konzentrieren mussten.

So langsam aber sicher machte sich diese Nervosität in ihnen breit, die sie immer kurz vor Tourbeginn heimsuchte. Alles war beim Alten. Alles normal. Alles wie immer.

In zwei Tagen standen sie bereits auf der Bühne. Zum ersten Mal nach dem Album-Release mit den neuen Sachen. Als sie die neuen Songs am fünften Tag im Akasaka BLITZ gespielt hatten, waren sie für alle fremd gewesen. Doch nun würde die Menge dazu abgehen. Mitsingen. Ungeahnte Energien würden freigesetzt werden.

Die Jungs wussten in etwa, was sie zu erwarten hatten.

Und es erfüllte sie mit Zufriedenheit.

Auf Tour sein bedeutete keine Privatsphäre haben. Stress. Wenig Schlaf. Reibereien. Ungesundes Essen. Zuviel Rauchen.

Und doch freuten sie sich alle darauf.

Gerade jetzt, in dem Moment, wo sie alle gemeinsam am Tisch sassen, Kaffee, Bier oder irgendwelche Cocktails tranken und den Worten ihres Managers und ihres Produzenten lauschten, fühlten sie sich wieder als die Einheit, die sie immer gewesen waren.

Auch wenn nichts mehr so war, wie noch vor ein paar Jahren, gerade jetzt, in dem Augenblick, war alles in bester Ordnung.

Doch die Erinnerung an Vergangenes schmerzte...
 

Do you remember?

The laughter and the joy

Do you remember?
 

Just the five of us

Against the rest of the world
 

Guardian Angel

Left us bleeding

Guardian Angel

Left us screaming
 

Do you remember?
 

Kaoru kriegte den Song auf einmal nicht mehr aus seinem Kopf. Er hatte ihn heute auf einer ganz neuen CD gehört, die er sich aus Europa hatte kommen lassen.

Sein Englisch war immer noch sehr mangelhaft, er hatte einfach nicht genug Zeit, sich endlich mal dran zu setzen und intensiv zu lernen, aber die Melodie hatte ihn berührt und als er den Text im Booklet nachgeschlagen hatte, waren ihm die Tränen gekommen...

Soviel Englisch konnte er dann doch noch, um diese Lyrics zu verstehen.
 

Beruhigend, zu wissen, dass auch das Leben und die Karriere anderer Bands alles andere als einfach waren. Mein Gott, das wusste er ja auch von Aiji.
 

Aber dass eine Band so dermassen ehrlich war, diese Gefühle und Erfahrungen offen in einem Song zu verarbeiten, ohne Metaphern - alle Achtung!

Wenn sie dies versucht hätten, hätte man ihnen wohl die Köpfe abgerissen.
 

Warum konnten sie nicht eine europäische Band sein?

Dort schien man viel lockerer mit dem Thema ,Missstimmungen in Bands' umzugehen...
 

Bitte lass diese Tour gut gehen!
 

Kaoru wusste selbst nicht, an wen er dieses stumme Gebet richtete - er hoffte bloss, dass irgendeine Macht, welcher Art sie auch war, seine Bitte erhören würde...
 

Vielleicht gab es ja tatsächlich Schutzengel?

Aber hoffentlich nur solche, die einen nicht blutend liegen liessen...
 

+ + +
 

[Lyrics: "Guardian Angel" © Saybia]
 

So, nun gehn sie also auf Tour...
 

Und ich muss mir überlegen, wie die Story weitergeht.

Könnte also eine Weile dauern, bis das nächste Kapitel steht - aber keine Angst, ich schreibe weiter!

Diese Geschichte ist mein Kind, sie gehört zu mir, sie ist in mir, und auch wenn ich mittlerweile ein anderer Dir en grey-Fan bin, als ich noch vor einem Jahr war, werde ich dieses Werk weiterschreiben, denn es steht und fällt mir Dir en grey...
 

Noch was, sobald ich in dieser Story genügend Songs zitiert hab, um damit ein Tape zu füllen, könnt ihr den Soundtrack bei mir bestellen! XD

12. [Mens]

Es geschehen noch Wunder - ich konnte mich endlich dazu aufraffen, weiterzuschreiben! XD
 

Möchte mich bei all denen entschuldigen, die die ganze Zeit über wie auf heissen Kohlen auf die Fortsetzung gewartet haben - ich weiss, wie das ist, und es tut mir sehr leid, dass ich euch so lange hingehalten hab. Aber ich brauchte die Zeit. Brauche immer noch Zeit. Die, die mich besser kennen, wissen, warum.
 

Aber nun geht's weiter - gleich mit einem Doppelfeature. Ihr kriegt also als kleine Wiedergutmachung gleich zwei neue Kapitel serviert! Viel Spass dabei! ^.^
 

Kleine Anmerkung (nicht, dass ihr euch beim Lesen wundert): Ich hab den Start der "OVER THE VULGAR SHUDDER"-Tour, genau wie den Albumrelease, einen Monat nach hinten verschoben.
 

+ + +
 

Grosse runde Augen betrachteten staunend jeden Winkel des Apartments, fast so, als wollten sie auch nur die kleinste Veränderung registrieren.

Die Hausherrin lehnte grinsend am Durchgang zur Küche und folgte ihrem Gast mit Blicken.

"Du hast ganze Arbeit geleistet...".

Das Model schien genug gesehen zu haben und richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder voll und ganz ihrer Gastgeberin.

Schulterzucken, bescheidenes Lächeln.

"Als ich jünger war, habe ich immer davon geträumt, meine Wohnung mal so einrichten zu können - jetzt ist mein Werk vollendet".

"Wenn ich nicht genau wüsste, dass es die selbe Wohnung ist, in der ich vor Jahren noch gewohnt habe...".

Ungläubiges Kopfschütteln.

"Ein Teil von dir ist immer noch hier - ich habe ihn nicht gehen lassen. Fühlst du ihn nicht?!".

Chiekos Augen blinzelten hintergründig, dann wandte sie sich um und werkelte am Backofen rum.
 

Ein wundervoller Duft lag in der Luft und trieb Akiko das Wasser im Mund zusammen.

Sie ging mit zwei grossen Schritten zur Bar und nahm sich ihr Glas. Der Champagner prickelte auf der Zunge, kitzelte in der Nase.

Während sie noch überlegte, was sie auf die letzte Bemerkung ihrer Freundin am besten antworten sollte, kam diese aus der Küche gestöckelt, zwei Tabletts auf den Armen, und trug diese zum Tisch im hinteren Teil des weitläufigen, hohen Wohnzimmers.

"Trinkst du auch etwas Rotwein?", rief sie Akiko über die Schulter hinweg zu, als sie die Tabletts vorsichtig absetzte.

Mit drei hastigen Schlucken leerte die junge Frau an der Bar ihr Glas, nickte und folgte danach ihrer wiedergefundenen Freundin.

"Hast das alles selbst gemacht?!".

Bewundernd betrachtete sie die liebevoll angerichteten Appetithäppchen.

Leicht beschämt zog Chieko die Schranktür auf und holte die passenden Gläser heraus, ehe sie antwortete.

"Naja, die Minipizzen, ja. Das Sushi ist vom Restaurant zwei Strassen weiter - weißt du noch, das hattest du mir damals empfohlen. Der Sohn hat den Laden vor einem Jahr übernommen, das alte Restaurant modernisiert - jetzt läuft das Geschäft besser denn je, sagt er."

"Wenn er immer noch so gute Köche hat, wie sein Vater, ist das auch kein Wunder."

Die Fotografin hob die bereits mit Wein gefüllte Karaffe und goss etwas von der roten Flüssigkeit in die Gläser.

"Natürlich hat er die Köche gleich behalten - never change a winning team!".

Die beiden Frauen lachten und prosteten sich zu, bevor sich es sich auf den mit weichem Leder bezogenen Sesseln gemütlich machten.

"Schon was von Toshiya gehört?", wechselte Chieko das Thema.

Akiko nickte.

"Ja, er schreibt mir eigentlich täglich ne SMS oder ruft kurz an. Bis jetzt scheint alles gut zu laufen. Er war auch schon einmal kurz wieder zurück in Tokyo, die andern auch, aber...".

"...keine Zeit für ein Treffen", vollendete Chieko den Satz ihrer Freundin und deutete mit der rechten Hand auf die Köstlichkeiten auf dem Tisch.

"Bedien dich".

Das Model beugte sich vor und nahm sich eine der von Chieko liebevoll belegten Minipizzen.

"Oishii!".

"Danke". Beschämtes Grinsen.

Das Model zündete sich genüsslich eine Zigarette an und betrachtete forschend ihre Freundin, die sich grad ein Stück Sushi in den Mund steckte.

"Wusstest du, dass sie in Tokyo waren?".

Nicken.

"Ja, von Kyo."

"Also ist es dir tatsächlich ernst mit ihm?!".

Blaugrauer Rauch trieb in Schwaden an die hohe Decke und löste sich dort in Nichts auf.

Seufzen.

"Ja...und nein. Ich weiss es nicht. Es gibt so vieles, was er von mir nicht weiss. So viele Geheimnisse.".

Lachen.

"Na, wenn du die Sache mit uns meinst, Toshiya weiss davon auch noch nichts...".

Abwehrendes Kopfschütteln. Grinsen.

"Ich glaube, das würde Kyo sogar gefallen! Nein, es gibt andere Dinge, von denen ich nicht weiss, wie ich sie ihm verständlich machen soll, ohne dass er sich gleich wieder von mir zurückzieht...".

Nun war Akikos Interesse geweckt. Schnell drückte sie ihre Zigarette im bereitgestellten Aschenbecher aus.

"Erzähl...".
 

* * *
 

"Also, was hast du auf dem Herzen?".

Die Stimme seiner Schwester erschien ihm genervt, und das mit gutem Grund. Schliesslich hatte er sie schon ein paar Tage nicht mehr angerufen.

"Ich brauche deinen Rat - als Frau."

Stille.

"Garabi, bist du noch dran?!".

"Ja, musste nur grad erst mal Schlucken. Etwas Blöderes hab ich von dir ja noch nie gehört!".

Verletzt.

"Hey!".

"Ja, wenn keiner deiner Freunde abkömmlich ist und auch Chieko keine Zeit für dich hat, wendest du dich halt an die kleine Schwester, bei der du dich schon ewig nicht mehr gemeldet hast - alles klar...".

"Tut mir leid".

Er klang so zerknirscht, dass sie weich wurde.

"Schon gut - komm, raus mit der Sprache."

Eigentlich wusste sie schon längst, warum ihr Bruder sie angerufen hatte, doch sie wollte es aus seinem eigenen Mund hören.

Seufzen.

Das Klicken eines Zippos.

Inhalieren von Rauch.

"Sachiko gehen zu lassen, war der grösste Fehler meines Lebens, oder?!".

Garabi liess sich für ihre Antwort eine Weile Zeit.

"Ihr habt beide hoch gepokert - und viel verloren, ohne es überhaupt zu wollen.".

"Sie hat angefangen!".

"Und du hast mitgespielt!".

"Aber...".

"Es waren Machtkämpfe, Gara. Ist dir das nie aufgefallen?! Sie wollte sehen, wie weit sie gehen kann, du hast sie in ihre Schranken verwiesen - und sie damit verletzt."

"Sie hat mich auch verletzt!".

Das Mädchen schweig.

"Sag schon was!".

Die Stimme ihres Bruders klang ehrlich verzweifelt. Also hatte Chieko doch recht gehabt.

"Ich muss dir was erzählen - aber du wirst es nicht gern hören...".

Gara drückte die Zigarette aus, nur um sich gleich wieder eine neue anzuzünden.

"Ja...?".

Ängstlich.

"Da war nie ein anderer...".

Rauch wurde scharf zwischen den Zähnen ausgestossen.

"Was?!?!?".

"Sie wollte dich bloss eifersüchtig machen - sie fühlte sich von dir vernachlässigt."

"Nein...".

"Ein alter Schulfreund von ihr hat das Theater mitgespielt - sie wollte dich rausfordern. Und du bist voll drauf eingestiegen. Leider nicht so, wie sie sich das gewünscht hatte...".

"Nein! Das ist nicht wahr! Und du...du...hast das die ganze Zeit gewusst?!".

"Sie hatte Chieko eingeweiht, und mich irgendwann auch. Wir wollten dir eigentlich nur eine Lehre erteilen. Dann ist es...ausgeartet. Und wir fanden, dass Sachiko eh viel zu gut für dich sei...".

Für einige Zeit war nur das Einatmen und Ausstossen von Rauch zu hören. Hastige, nervöse Züge.

"Du? Und Chieko auch...?".

"Mein Gott, wie hätten wir denn erwarten sollen, dass du dir gleich die nächstbeste Tussi schnappst und mit ihr ins Bett steigst?!".

"Das war nicht Rache, das war Verzweiflung! Ich habe die ganze Zeit nur an Sachi gedacht!".

"Ihr Männer seid schon seltsam...".

"Das musst du grad sagen! Ihr Weiber seid ja wohl auch nicht viel besser!".

Zugegeben - wo er recht hatte, hatte er recht.

"Der eine neue Song ist für sie, oder?!".

Sie konnte ihn nicht sehen, doch sie wusste, dass er nickte.

"Ich kann sie nicht vergessen...".

"Und du hast tatsächlich noch ihre alten SMS auf deinem Keitai?".

In der Stimme des Mädchens lag ein Lachen.

"Ja, hab ich - und?!?".

"Kawaii!".

"Hey!!!".

"Nein, echt, ich find das süss...".

"Ja, wie auch immer - was soll ich denn nun tun?!".

"Wie wär's, wenn du Sachi anrufst und mit ihr redest?!".

Zögern.

"Das bring ich nicht".

"Aha, darum willst du dir Hilfe bei mir und Chieko holen?!".

"Naja, wohl am ehesten bei dir, Chie-chan ist grad selber beschäftigt".

"Aha?".

"Ja, mit Kyo...".

"Wie? Der Kyo???".

"Hmmmhmmm...".

"Oha. Da hast aber nicht etwa du deine Finger im Spiel?!".

Verflixt, warum musste seine Schwester ihn so verdammt gut kennen?

Der Sänger von Merry antwortete etwas zerknirscht.

"Doch, hab ich...irgendwie...".

"Ich fass es nicht!".

"Ja, ich weiss, dass ich in der Scheisse stecke!".

"Allerdings...".

"Aber was ist denn nun?".

Garabi verdrehte die Augen.

"Ja, okay, ich guck, was sich tun lässt - hab da sogar schon eine Idee...".
 

* * *
 

"Gara und Kaoru haben also Kyo und dich sozusagen verkuppelt, aber er hat keine Ahnung, dass du Garas Cousine bist? Und er weiss auch nicht, dass du mal ein richtig grosser Dir en grey-Fan warst?!".

Chieko hatte sich soeben die zehnte Zigarette des Abends angesteckt und zog nun nicht mehr ganz so genüsslich dran, wie sie es bei den ersten getan hatte.

"Ja, so ist es".

"Das ist..."

"...scheisse?!", vollendete die junge Fotografin den Satz.

"So in etwa, ja".

"Ich habe Angst, Kyo die Wahrheit zu sagen. Ich will ihn nicht verletzen. Ich will auch nicht die Freundschaft von ihm und Gara gefährden. Und Kaoru möchte ich am liebsten ganz aussen vor lassen...".

"Du willst die ganze 'Schuld' auf dich nehmen?".

"Bleibt mir was anderes übrig?".

"Ja, bitte sei ehrlich zu ihm - ganz und gar ehrlich! Und rede bald mit ihm. Er wurde schon einmal von einer Frau in die Knie gezwungen. Dass er sich dir soweit geöffnet hat, ist aussergewöhnlich...".

"Das ist es ja, was es so schlimm macht!".

Frustriert und voller Selbsthass nahm Chieko ihrer Zigarette das Leben.

"Er hat dir die Geschichte schon erzählt?!".

Erstaunen schwang in Akikos Stimme, als sie sich noch einen Schluck Wein genehmigte.

"Nein. Aber Gara hat schon mal etwas diesbezügliches erwähnt. Ich weiss nicht mehr weiter, Akiko...".

Das Model sah ihrer Freundin fest in die Augen.

"Wenn du nicht riskieren willst, ihm endgültig das Vertrauen in Frauen zu nehmen, solltest du offen zu ihm sein und ihm alles erzählen. Eure Beweggründe mögen ihn erst mal schocken, aber wenn er drüber nachdenkt, nachdem seine Wut und Enttäuschung verraucht sind, wird er zu schätzen wissen, so gute Freunde zu haben."

Chieko griff erneut nach ihren Zigaretten.

"Ich hoffe, du behältst recht...".
 

* * *
 

"8 durch - 22 to go...".

Der Bassist legte den Eyeliner beiseite und richtete sich auf. Im Spiegel tauchte Die hinter ihm auf, rauchend, bekleidet mit einer Jeans im Used-Look und einem seiner geliebten Tank-Tops.

"Schon genug vom Touren?".

Toshiya fing den Blick des Gitarristen durch den Spiegel auf und hob amüsiert die Brauen.

Die zog einen der Stühle heran und setzte sich schwerfällig neben seinen Freund.

"Ach, mir tut alles weh".

Schulterrollen. Stretchen der erkalteten Finger.

Freches Grinsen.

"Du wirst alt, das ist alles!".

Freudloses Lachen.

"Jaja, witzle du nur...".

"Sorry...".

Der Gitarrist tat die Sache mit einem beifälligen Kopfschütteln ab.

"Schon gut - bin selbst Schuld, hätte mich vor den letzten Gigs besser aufwärmen sollen."

Der Bassist blinzelte.

"Komm, mir kannst du's doch verraten - du tust das nur, um von Yoshie gehätschelt zu werden, wenn wir ein paar Tage Pause haben...".

Lautes, ehrliches Lachen.

"Dazu brauche ich keine Show abzuziehen, mein Lieber. Wenn du bei Akiko so weit gehen musst, tust du mir leid!".

Toshiya verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.

"Hahaha...".

"Stimmt was nicht?!".

Der Bassist war für gewöhnlich nicht so empfindlich, was dumme Sprüche anging. Die sah ihn lange von der Seite an und wartete geduldig, bis sein Kumpel sein Makeup zu seiner Zufriedenheit vollendet hatte.

"Hm?".

"Ob was mit Akiko nicht stimmt, wollte ich wissen."

Toshiya quetschte seine Schminkutensilien zurück in die kleine Tasche und wandte sich endlich dem Gitarristen zu.

"Weiss nicht...sie war gestern am Telefon so kurz angebunden. Fast als wäre mein Anruf ungelegen gekommen."

"Vielleicht hatte sie Besuch? Oder war unterwegs?".

Leises Schnauben.

"Und warum erzählt sie mir nichts davon?".

Schulterzucken.

"Woher soll ich das wissen?".

Der Bassist zog eine Virginia aus der Packung und liess sich von Die Feuer geben.

"Das Schlimmste wäre, sie zu verlieren...".

Entgeistert starrte der Gitarrist ihn an.

"Na hör mal, wir sind grade mal zwei Wochen auf Tour - etwas mehr Vertrauen deinerseits wär ja wohl angebracht!".

Zerknirschtes Grinsen.

"Hast ja recht - es ist nur...ich liebe diese Frau, wirklich!".

"Und ich denke, sie liebt dich auch - also, reiss dich zusammen. Übermorgen hast du sie ja wieder...".

"Danke, Die".

Der hochgewachsene, schlanke Mann erhob sich und winkte ab.

"Vergiss es."

Gerade, als er schon beinahe zur Tür raus war, hielt Toshiyas Stimme ihn zurück.

"Die? Weißt du, was mit Kaoru ist?!".

Die Wunde in seinem Herzen brach auf.

Seine Stimme gefror zu Eis.

"Nein, keinen blassen Schimmer. Mir erzählt man ja nichts...".

Ohne sich auch nur noch einmal umzublicken, verliess er den Raum und liess einen nachdenklichen, verwirrten Bassisten zurück.

Ich weiss doch genau so wenig! wollte dieser seinem Freund noch nachrufen, besann sich dann aber eines Besseren und hypnotisierte nur den leeren Türrahmen, in dem der Gitarrist noch vor ein paar Sekunden gestanden hatte.

Ob Kaoru wusste, wie sehr er Die verletzte, indem er nicht mehr mit ihm redete?

Toshiya versuchte sich zu erinnern, wann er die beiden zum letzten Mal bei einem längeren Gespräch erwischt hatte - doch es gelang ihm nicht.

Sie alle hatten gehofft, dass die beiden einander auf dieser Tour wieder näher kommen würden, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Und zu allem Übel schien sich ihr Leader nun auch noch von allen anderen abgrenzen zu wollen.

Kopfschüttelnd erstickte der Bassist seine Virginia und fing an, sich seinem Hairstyling zu widmen.
 

* * *
 

Sein Gegenüber lachte los und zog damit die Aufmerksamkeit aller übrigen Gäste in dem kleinen Café auf sich.

"Du musst wirklich verzweifelt gewesen sein, dir Rat bei deiner kleinen Schwester zu holen!".

Der dünne Sänger machte ein angenervtes Gesicht und nippte an seinem Milchkaffee.

"Wenigstens habe ich so endlich erfahren, was Sache ist - und wehe du sagst mir, du habest darüber ebenfalls Bescheid gewusst!".

Böses Funkeln in den Augen.

Der Sänger von MUCC lächelte und hob seine beiden Hände.

"Ich wasche meine Hände in Unschuld - ehrlich!".

"Glück gehabt!".

"Und was wirst du jetzt tun?!".

Schulterzucken.

"Keine Ahnung - Garabi meinte, sie würde sich was überlegen."

Wieder brach Tatsurou in Gelächter aus.

"Gott, Gara, sei ein Mann! Nimm die Sache selbst in die Hand!".

Schmollen.

"Du hast leicht reden - würde dich ja ganz gern mal in so ner Situation erleben!".

"Ich gerate gar nicht erst in so ein Schlamassel rein, glaub mir."

"Wart's ab...".

Tatsurou fing Garas Blick auf und sah ihn um Entschuldigung bittend an.

"Du magst dieses Mädchen wirklich gern, was?!"

Nicken.

"Dann ist das schon übel."

Der Sänger von Merry winkte ab.

"Vergiss es, irgendwie wird sich die Sache schon regeln - und wenn nicht, hatte ich halt Pech. Gehen wir uns am 5. November Dir en grey im Forum angucken?".

"Wollte dich schon fragen, ob du vielleicht Tickets gekriegt hast - hast du?"

"Ja, darum frag ich ja. Hab zwei zuviel, Nero und Yuu können nicht...".

"Kann ich beide kriegen?".

"Ja, klar. Neue Flamme?".

Grinsen.

"Sowas in der Art...".

"Viel Glück. Oh, wir sollten gehen, der Film fängt gleich an".

"Geh du schon mal vor, ich muss noch aufs Klo."

Mit einem Nicken trank Gara seinen Kaffee aus und machte sich auf zur Theke, um die Rechnung zu begleichen, während Tatsurou hinter der Tür mit der Aufschrift "toire" verschwand.

Vor dem Toilettenspiegel hielt der Sänger von MUCC inne und grinste sein Spiegelbild an. Wenn Gara zu beschränkt war, eigene Ideen zu entwickeln, würde er wohl oder übel Schicksal für ihn spielen müssen.
 

* * *
 

Ruhig umfing ihn die Nacht als er auf die menschenleere Terrasse raustrat. Im Sommer hätte man hier wohl das ohrenbetäubende Summen der Grillen gehört, doch nun war es gespenstisch ruhig, als ob alles um ihn herum sich bereits im Winterschlaf befände.

Seine Finger schmerzten noch vom Spielen und an einem seiner Finger hatte sich eine Blase gebildet, die brannte und nässte.
 

Der Gitarrist zündete sich eine seiner Mild Seven an und bliess den hellen Rauch in den dunklen, mit Sternen übersäten Himmel.

Bisher lief die Tour gut. Keine Probleme. Keine gravierenderen Streitereien. Die Fans liebten sie heiss. Jeder Gig eine Party. Adrenalin pur.

Die letzten Tage war er ruhiger geworden - so war es immer, sobald eine gewisse Routine nach den ersten doch eher planlosen und unruhigen Tourtagen eingetreten war.

Und doch, gerade jetzt machte sich sein Magen einmal mehr schmerzhaft bemerkbar und lenkte ihn von der pochenden, kleinen Wunde an seinem Finger ab.

Er stellte sich vor, was Yumi in der Situation zu ihm gesagt hätte: Anstatt hier draussen in der Kälte rumzustehen und dir den Tod zu holen, solltest du ein Bad nehmen und dir danach etwas Schlaf gönnen.

Und sie hätte damit nicht einmal Unrecht gehabt.

Ein kaum merkliches Lächeln huschte über seine gerade sehr ernsten Züge.
 

Nur noch ein Konzert, danach hatten sie vier Tage Pause - da würde er genug Zeit zum schlafen haben. Im Hotelzimmer war ihm vorhin gerade die Decke auf dem Kopf gefallen, er hatte ganz einfach raus gemusst. Und da ihre Zimmer über keine Balkone verfügten, musste er wohl oder übel hier auf die Terrasse kommen.
 

Er drehte sich um und betrachtete die Fassade des Hotels. Hinter einigen der Fenster brannte Licht, doch oben, im obersten Stock, wo sie und ihre Crew ihre Zimmer hatten, waren nur noch zwei Fenster erleuchtet. Entweder schliefen sie alle bereits oder genehmigten sich an der Hotelbar noch ein paar Drinks. Und so sehr Kaoru auch Lust auf ein Bier hatte, um diesen langen Tag zu begiessen, er würde es bleiben lassen müssen.
 

Mit einem Seufzen warf er die sterblichen Überreste seiner Zigarette über die Brüstung und wollte gerade ein paar Schritte gehen, als das Zuschlagen der Tür und ein Niesen einen weiteren Besucher ankündigten.

Kaorus Augen suchten die Dunkelheit ab.

Die?

Mit einem leisen Räuspern machte der Bandleader sich bemerkbar und die dunkle, schemenhafte Gestalt, die sich tatsächlich als Die entpuppte, als sie vor ihm stand, näherte sich ihm.

"Schön hier draussen...".

"Mhhmmm."

Der grossgewachsene, schlaksige Gitarrist nickte nur und zündete sich eine Salem an.

Beinahe hilflos schaltete Kaoru sein Hirn auf Hochleistung auf der Suche nach einem Gesprächsthema, aber es wollte ihm keines einfallen.
 

Da standen sie nun. Er und sein ehemals bester Kumpel - und schwiegen sich an.

Es tat weh, verdammt weh. Und doch, es gab so vieles zwischen ihnen, das einer Aussprache bedurft hätte. Schon seit langem. Vermutlich war es jetzt schon zu spät, jetzt noch auf Dinge zu sprechen zu kommen, die schon viel zu lange zurücklagen. Manchmal fragte sich der Bandleader, ob Die ihr Auseinanderleben ebenso wehtat, wie ihm. Befand dann aber, dass Die, wenn ihm etwas an ihm liegen würde, ja auch um ihn 'kämpfen' könnte - die Tatsache, dass er dies nicht tat, bedeutete für Kaoru, dass Die seiner wohl schon längst überdrüssig geworden war.
 

Dafür sprach auch, dass der Gitarrist nun an seiner Seite stand und ohne etwas zu sagen in die Nacht rausstarrte. Regungslos. Nur ab und an verriet ein Schniefen, dass er überhaupt da war.

Unter anderen Umständen hätte Kaoru sich bei ihm erkundigt, ob alles in Ordnung sei, ihm ein Taschentuch hingestreckt, doch nun liess er dies bleiben. Schon während des Konzertes war ihm aufgefallen, dass Die nicht ganz so genki gewesen war wie gewöhnlich. Nun hatte er den endgültigen Beweis dafür, dass sein Bandkumpel kränkelte.

Tja, sollte sich halt Toshiya drum kümmern. Schliesslich schienen Die und er sich neuerdings verbrüdert zu haben.
 

"Hast du wieder von den Tabletten mit, die du auf der letzten Tour dabei hattest?".

Dies angenehme, sanfte Stimme durchschnitt die Ruhe und liess Kaoru zusammenzucken.

"Nein, frag doch mal die anderen".

"Hab ich schon, sie meinten, ich solle dich fragen...".

Das tat weh. Kaoru zuckte erneut zusammen - dieses Mal jedoch lediglich innerlich.

Früher war er immer erste Wahl gewesen. Immer.

Am liebsten hätte er den Gitarristen gepackt, ihn geschüttelt, aus ihm die Antworten rausgeprügelt, die er haben wollte. Doch er konnte nicht.

"Dann sag halt Inoue, er soll beim Hotelpersonal anfragen."

"Die sagen, die hiesige Apotheke habe das Zeug nicht auf Vorrat."

In der Dunkelheit verzog sich Dies Gesicht gequält, und er warf seine runtergerauchte Zigarette über die Brüstung, genau wie der Bandleader dies vorher ebenfalls getan hatte.
 

Auch wenn er dies nicht gerne zuliess, spätestens jetzt entflammte in Kaoru ein Funke Mitleid. Dass Die schon bei allen nur möglichen Stellen nach diesen Pillen gefragt hatte, zeigte, wie mies es ihm gehen musste.

Und doch, er konnte ihm nicht verzeihen, dass er letzte Wahl war. Er konnte es nicht. Und auch sonst so einiges nicht.

"Tja, Pech."

Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren grausam und er konnte regelrecht fühlen, wie verletzt Die gerade in dem Moment sein musste.

"Hmmm. Tja dann, gute Nacht...".

Mit diesen Worten wandte der Gitarrist sich von Kaoru ab, ging zurück ins Hotel und liess den Leader tief in Gedanken versunken zurück.
 

Vor dessen innerem Auge erschien die volle Pillenpackung, die er in weiser Voraussicht in seinen Koffer gesteckt hatte. Wie immer. Nie vergass er dieses Allerweltsmittel, das ihn und die anderen Jungs schon oft gerettet hatte. Es konnte zwar Erkältungen nicht wegzaubern, aber doch soweit lindern, dass sie auf die Bühne steigen konnten, ohne das Gefühl zu haben, mitten in der Show zusammenzuklappen. Oft schon, besonders bei Kyo, hatten auch diese Tabletten nicht mehr geholfen, aber Die hätten sie bestimmt Linderung verschafft.
 

Kaoru zündete sich eine weitere Zigarette an und starrte weiterhin in die Dunkelheit. Als er das nächste Mal einen Blick auf die Fensterfront warf, schien in der obersten Reihe ein gedämpftes Licht mehr raus in die Nacht.
 

Die...
 

Du benimmst dich wie das letzte Arschloch , sagte vorwurfsvoll der Engel.

Er hat es nicht anders verdient , entgegnete erbarmungslos der Teufel.
 

Genauso erbarmungslos strafte ihn sein Magen für seine Taten.
 

+ + +
 

Uh...

Ich glaube, dieses Kapitel ist reichlich konfus geworden. Bitte verzeiht mir. Ich werde mich bessern.

Die Charaktere fangen alle an, Eigenleben zu entwickeln, langsam aber sicher verliere ich die Kontrolle. XD
 

Falls jemand mit den ganzen Charakteren in der Story nicht mehr klarkommt, meldet euch, ich schick euch gern ne Liste, damit ihr die Übersicht behalten könnt.
 

Diejenigen unter euch, die damals mitbekommen haben, dass Die während der "OVER THE VULGAR SHUDDER"-Tour gekränkelt hat, werden bemerken, dass ich diese Sache etwas nach vorn verschoben hab - soweit mir bekannt ist, war dies damals gegen Ende der Tour und nicht bereits am Anfang, so wie hier bei mir. Aber es passt so halt nun mal besser in die Story rein.
 

Danke euch allen fürs Lesen! ^.^

13. [Acala]

Seine Finger knackten als Inoue seine Hände ergriff und mit der Massage begann.

Die Beine von sich gestreckt hing der ältere Gitarrist vielmehr im Stuhl als dass er sass.

"Kommst du klar?".

Er wusste genau, dass Inoues Frage nicht auf Mitgefühl gründete. Und doch waren er und Tommy die einzigen, die regelmässig nach seinem Befinden fragten. War er den anderen so gleichgültig geworden?

Mit einem Nicken bedeutete er dem Manager, dass alles in Ordnung sei.

Dieser liess nun Kaorus rechte Hand sinken und griff nach der linken.

"Du machst echt Die Konkurrenz."

Sofort blickte Kaoru auf und musterte sein Gegenüber forschend.

"Inwiefern?".

"So kalte Hände hat sonst nur er."

"Kunststück - es ist eiskalt hier drin."

Der Gitarrist liess sich noch tiefer in den Stuhl sinken, um seiner Jacke so viel Wärme wie nur möglich abzutrotzen.

"Heizung ist defekt. Wir versuchen, ne kleine Wiedergutmachung vom Veranstalter zu kriegen."

Kaoru zog die Augenbrauen hoch. Na toll, das würde ihnen viel bringen.

Doch er nickte pflichtbewusst und brachte sogar ein gemurmeltes Danke über die Lippen.

"Warum sagst du den anderen eigentlich nicht, was los ist?".

Sieh an, Inoue hatte also doch Augen für das Wesentliche.

Ein Seufzen entrang Kaorus Kehle.

"Will sie nicht unnötig beunruhigen. Sie werden's schon noch erfahren. So schlimm ist es ja nicht...".

Er sah dem Manager an, dass er ihm dies nicht abkaufte. Sah ihm an, dass er wusste, dass dies bloss die halbe Wahrheit war. Doch in Inoues kleinen Schweinchenaugen stand auch die Erkenntnis, dass Kaoru ihm den Rest der Wahrheit vorenthalten würde. Auf einmal wirkte der Manager trotz seiner Körperfülle sehr klein und verletzlich. Dass Kaoru sich immer mehr von ihm abwandte, musste ihn höllisch schmerzen. Er ertrug es nicht, die Kontrolle zu verlieren. Hatte es nie ertragen. Aber Kaoru hatte sich vorgenommen, ihn diesen Kampf nicht gewinnen zu lassen.

Und auch dies wusste Inoue.

Irgendwann würde er sich grausam an ihm rächen, damit musste Kaoru rechnen. Blieb nur zu hoffen, dass dieser Zeitpunkt noch sehr fern war.

"In einer Viertelstunde ist Showtime."

Mit diesen Worten erhob sich Inoue und liess den Gitarristen allein zurück.
 

Aus der Garderobe nebenan ertönte Dies trockener Husten.

Kaoru hatte ihn die ganze Nacht über gehört, obwohl die Wände des neu gebauten Hotels angeblich sehr gut isoliert waren. Dass er nicht lachte.

Auf der Fahrt hierher hatte Dies Anblick ihn verfolgt. Wann immer er konnte, hatte er sich einen Platz weit weg von dem grossen, schlaksigen Gitarristen gesucht und war deswegen von Toshiya mit bösen Blicken gestraft worden.

Auch jetzt, als dieser wie aus dem Nichts plötzlich in der Tür auftauchte, stand in seinen Augen ein stummer Vorwurf.

"Warum hast du ihm die Tabletten nicht gegeben?".

Eiskalter Unterton.

Kaoru wusste, dass lügen zwecklos war. Also zuckte er nur die Schultern, stand auf und zog die Jacke aus. Er musste ein letztes Mal vor dem Auftritt sein Outfit checken.

"Egal, was zwischen euch ist, das hat er nicht verdient!".

Der Bassist versuchte, seine Stimme nicht zu laut werden zu lassen. Die Aufmerksamkeit der Crew auf sich zu lenken, war das Letzte, was sie beide wollten.

Der Gitarrist betrachtete sich eingehend im Spiegel, zupfte an seinem Hemd, richtete seine Krawatte, überprüfte ein letztes Mal sein Makeup.

"Ich habe eure Gleichgültigkeit auch nicht verdient. Von Die vielleicht, aber nicht von euch anderen."

Damit drängte Kaoru sich am Bassisten vorbei raus auf den Gang, wo einige der Crewmitglieder schon nervös rumwuselten und somit die Bandmitglieder ebenfalls ganz kirre machten.
 

Um Toshiya die Gelegenheit zu nehmen, noch weiter auf ihn einzureden und ihn mit Fragen zu löchern, steuerte der Leader geradewegs auf Kyo zu, der an die Wand gelehnt dastand und seine Taschen nach Zigaretten absuchte, die bestimmt in irgend einer Garderobe vergessen rumlagen.

Wortlos hielt der Gitarrist ihm eine hin und steckte sich ebenfalls eine an, nachdem der Sänger nach dem ihm offerierten Nikotinspender gegriffen hatte.

"Freust du dich auf die Pause?".

Kyo nickte lächelnd.

"Ja, doch.".

"Schon seltsam, wie sich alles ändert, sobald zuhause jemand auf einen wartet, was?!".

Kaoru schenkte ihm ein Grinsen und zog an seiner Mild Seven.

Der Sänger fühlte sich ertappt und sein Lächeln wurde nervös.

"Ach, ich werd sie wohl erst übermorgen sehn - sie meinte, ich solle mich erst ausruhen."

"Wie uneigennützig von ihr...".

Anzügliches Zwinkern.

"Baka!".

"Noch 5 Minuten!"

Inoues Stimme hallte durch die Gänge. Die Crew machte immer mehr den Eindruck als seien sie als Menschen getarnte Ameisen.

Doch Kaoru und Kyo waren durch jahrelange Bühnenerfahrung zu abgebrüht, um sich davon ernsthaft nervös machen zu lassen.

Stattdessen standen sie weiter ganz cool da und rauchten in aller Ruhe ihre Zigaretten zuende.

Eine der vielen Türen öffnete sich und Toshiya trat in Begleitung eines sehr blassen Die heraus. Durch die schwarz umrandeten Augen kam die fahle Haut noch besser zur Geltung. Bei genauerem Hingucken erkannte Kaoru auch die feinen Schweissperlen auf der Stirn des Gitarristen.

Hastig schmiss er seine Zigarette zu Boden, trat sie mit dem rechten Fuss aus und machte sich auf zum Bühnenaufgang.

Der Anblick des kranken Die verursachte ihm Übelkeit.
 

* * *
 

Das Geschrei der Fans war ohrenbetäubend.

Es drang durch jede einzelne Faser seines kleinen Körpers und pushte ihn zu immer grösseren Anstrengungen.

Heute forderte er seiner Stimme alles ab. Er durfte. Vor ihnen lagen 4 Tage Pause. Genug Zeit, sich zu schonen. Hier und jetzt konnte und wollte er alles geben.
 

Er schrie als ginge es darum, damit sein Leben zu retten.

Pures Adrenalin jagte durch seine Adern.

Seine Brust war feucht von Schweiss und Blut. Er wusste, dass seine immer wieder von Neuem aufgekratzten Wunden nach dem Konzert brennen würden wie die Hölle, doch noch kümmerte ihn dies nicht.
 

In den zwei Stunden, wo sie auf der Bühne standen, fühlte er sich wie ein göttliches Wesen, das den Menschlein da unten die Erleuchtung bringen sollte.

Also bemühte er sich, sie nicht zu enttäuschen, und überbrachte ihnen seine Botschaften.
 

Zu seiner Rechten malträtierte Toshiya seinen Bass. Selbstvergessen. Auch er in seiner eigenen Welt. Und doch ein Teil von ihm, während sie hier oben standen und ihre Musik spielten.
 

Egal, was vor den Konzerten war, sobald sie vor ihren Fans standen, wurden sie zu einer untrennbaren Einheit. Verschmolzen durch Jahre der Freundschaft, des Zusammenhaltens, des gemeinsamen Erschaffens. Zusammengeschweisst durch viele Tiefs und schwere Stunden.
 

Brüder - für immer und ewig.
 

Egal, was kommen mochte.
 

Selbst die ganzen angestauten Probleme, unausgesprochenen Vorwürfe, zwischenmenschlichen Differenzen verwandelten sich während seiner Ekstase zu Tand.
 

Das Erwachen danach war meist schrecklich.
 

Die Wahrheit war etwas, das er gerne weiter verdrängt hätte.
 

Doch er wusste, sie holte sie alle immer wieder ein.
 

Nicht daran denken. Jetzt noch nicht. Ja nicht die Einheit zerstören.
 

Kaoru headbangte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Als wäre sein Kopf für ihn Ersatz eines Taktstocks. Seine Finger glitten über die Saiten, brachten mit traumwandlerischer Sicherheit die richtigen Töne hervor.
 

Ab und zu hob er den Kopf, schenkte Kyo und Toshiya ein kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln, warf einen prüfenden Blick nach links, wo Die sich bemühte, seinen Job so gut wie möglich zu machen.
 

An einigen Blicken der Fans in den vorderen Reihen erkannte Kyo, dass auch ihnen nicht verborgen blieb, dass der Gitarrist zu seiner Linken nicht ganz auf dem Damm war. Er hatte einige der Gesichter erkannt. Mädchen und junge Frauen, die schon seit Jahren zu ihren Konzerten kamen. Sie mussten es wissen. Ganz besonders die eine da.
 

Kein Wunder, dass sie ohne weiteres erkannt hatten, wie schlecht es Die ging.
 

Irgendwann, mitten in einem Song, setzte Toshiya sich in Bewegung und gesellte sich zu Die. Aus den Augenwinkeln konnte Kyo sehen, wie der Bassist Die den Arm um die Schulter legte und ihm ein "Daijoubu?" ins Ohr schrie, während die laute Musik und Shinyas Rhythmus immer noch durch ihrer aller Blutbahnen pulsierte.
 

* * *
 

"Wie mach ich mich?", brachte der kranke Gitarrist zwischen zwei Hustenanfällen hervor und trank gierig das ihm angebotene Wasser.

Der Glanz in seinen Augen und die Gänsehaut, die seine sehnigen Arme bedeckte, zeugten von dem Fieber, das in ihm brannte.

"Super, du machst das super!".

Toshiya trat von hinten an ihn ran und gab ihm einen sanften Klaps auf die Schultern.

Der Gitarrist schenkte ihm ein dankbares Lächeln und spülte zwei Pillen runter, die hoffentlich sein Fieber senken würden.

"In fünf Minuten müssen wir wieder raus...", informierte ihn der Bassist, bevor er auf den Gang raustrat und sich zu Kaoru gesellte.

"Nun, schenkt es dir Genugtuung, ihn so zu sehen?".

"Toshiya, ich...".

"Ich versteh dich nicht! Das hat er nun wirklich nicht verdient...".

"Meine Tabletten hätten ihm wohl eh nicht helfen können...".

"Darum geht's nicht! Es geht ums Prinzip."

Toshiya sah ihm fest in die Augen, während er ihm dies sagte.

"Es tut mir leid...".

Beinahe unhörbar.

"Wie war das?!".

Der Bassist beugte sich zu dem Gitarristen runter und nahm seinen Blick noch fester gefangen.

"Es tut mir leid!".

Lauter.

"Das solltest du nachher ihm sagen. Er braucht dich, Kaoru. Nicht dein Mitleid, nicht deinen Trost - sondern schlicht und einfach dich. Zieh dich nicht vor ihm zurück...".

"Weiss er...?".

"Was? Dass du ein Arschloch bist? Dass die Tabletten in deinem Koffer vor sich hingammeln und du sie ihm aus Gehässigkeit nicht gegeben hast?".

Pause.

Kaorus Atem ging schneller, während er drauf wartete, dass Toshiya fortfuhr.

"Nein, nein, er weiss es nicht. Das solltest du ihm schon selbst sagen - wenn du dich traust!".

Die Härte in den Augen des Bassisten liess das Blut in Kaorus Adern gefrieren.
 

* * *
 

Zieh dich nicht vor ihm zurück...

Das solltest du ihm schon selbst sagen - wenn du dich traust!
 

Toshiyas Worte klangen in ihm nach, als er wieder auf der Bühne stand und seiner Gitarre die Töne entlockte, die die Fans unter ihnen in Hysterie ausbrechen liessen.
 

Wenn es doch nur so einfach wäre.

Es war so vieles passiert die letzten Monate und Jahre und niemals hatten sie drüber geredet. All dies liess sich nicht einfach in wenigen Stunden aus der Welt schaffen.

Aber wenigstens einen Anfang konnten sie wagen.

Auch wenn Die fieberte und wohl gleich nach dem Konzert pennen wollte, wusste Kaoru, dass er noch heute mit ihm reden musste. Schon morgen würde er wohl nicht mehr den Mut dazu haben.
 

Verzeih mir, Die, bitte verzeih mir!
 

* * *
 

Um 22 Uhr, als die Bandmitglieder sich alle abgeschminkt, geduscht und ihre Sachen zusammengepackt hatten, verliess der Night Liner Hiroshima. Wenn sie ohne grössere Staus und Probleme durchfahren konnten, würden sie am frühen Vormittag bereits in Tokyo sein.
 

Ihre Roadies waren immer noch dabei, die Bühle abzubauen, sie würden erst am nächsten Tag abfahren und die Nacht noch in Hiroshima verbringen. Auch einige andere Crew-Mitglieder hatten sich wegen des Platzmangels im Night Liner entschlossen, diese Nacht doch lieber im Hotel zu übernachten.
 

Die Bandmitglieder jedoch hatten das Privileg, zusammen mit ihren Managern, den Leuten von der Security und den beiden Mädels von [aknot] im grossen Bus zu fahren und wussten dies sehr wohl zu schätzen. Vermutlich hätten auch sie eine ruhigere Nacht im Hotel verbracht, denn an schlafen war in dem Bus, trotz allem Komforts, kaum zu denken. Aber sie alle freuten sich darauf, in nur wenigen Stunden bereits in Tokyo zu sein und sich dann dort so richtig entspannen zu können, bevor sie sich auf den zweiten Teil dieser Tour begeben mussten.
 

Kaoru hatte es sich in seinem Sitz gemütlich gemacht und starrte hinaus in die vorbeiziehende Dunkelheit.

Er war müde, doch er er vor Mitternacht noch etwas zu erledigen hatte. Er musste nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten.
 

Zwei Reihen vor ihm säuselte Shinya irgendwelche Worte in sein Keitai. Die Fahrgeräusche des Busses waren zu laut, als dass Kaoru Einzelheiten hätte raushören können, doch er konnte sich lebhaft vorstellen, was der Schlagzeuger seiner Liebsten zuflüsterte.
 

Er selbst hatte Yumi bereits während des Soundchecks am Nachmittag angerufen, um seine früher als erwartete Ankunft in Tokyo anzukündigen.
 

Vorgesehen war gewesen, dass sie diese Nacht alle noch in Hiroshima verbringen würden - doch dann hatten sie alle einstimmig beschlossen, dass es doch besser wäre, Die in seinem Zustand so rasch wie möglich nach Hause zu bringen.
 

Kaoru blickte sich um.

Hier vorne sassen nur er, Shinya, Inoue, Tommy und Emiko, eine der Fanclub-Angestellten. Kyo sass gemeinsam mit den Security-Jungs und Aya, dem zweiten [aknot]-Mädel, vorne an der Playstation und spielte. Auch wenn der Sänger berühmt dafür war, sofort und problemlos an allen möglichen Orten einschlafen zu können, nach Konzerten war auch er oft noch viel zu kribbelig und aufgedreht dafür. Erst musste sich das beim Gig ausgetretene Adrenalin wieder verflüchtigen, dann vielleicht, irgendwann lange nach Mitternacht, würde Kyo endlich schlafen.
 

Toshiya und Die waren nirgends zu sehen.

Was bedeutete, dass der Gitarrist sich vermutlich auf dem Sofa im hinteren Teil des Wagens hingelegt hatte und der Bassist ihm Gesellschaft leistete.

Also hiess es noch warten. Kaoru wollte unbedingt alleine mit Die reden.
 

Der Bandleader wühlte in seiner Umhängetasche und brachte schliesslich seinen Discman zum Vorschein. Wenn er schon warten musste, konnte er dazu wenigstens gute Musik hören.
 

Shinya telefonierte immer noch.

Was zum Teufel hatte er Akemi wohl zu sagen, das nicht bis morgen warten konnte?!

Hatten sie am Ende Telefonsex?

Bei dem Gedanken wäre Kaoru am liebsten in lautes Lachen ausgebrochen, doch er konnte sich zurückhalten.
 

Die Stimme von Johnny Cash drang aus den Kopfhörern an sein Ohr.

So sehr er im allgemeinen Rockmusik liebte, je härter desto besser, manchmal mochte er es doch ruhig. Besonders jetzt, wo er seine Gedanken sammeln und zur Ruhe kommen musste.
 

Well, you're my friend

And can you see

Many times we've been out drinking

Many times we've shared our thoughts

But did you ever, ever notice

The kind of thoughts I got?
 

Well you know I have a love

A love for every one I know

And you know I have a drive

For life I won't let go
 

But can you see this oposition

Comes rising up sometimes

This terrible imposition

Comes blacking in my mind
 

And then I see a darkness

And then I see a darkness

And then I see a darkness

And then I see a darkness
 

Did you know how much I love you

Yes I know that somehow you

Can save me from this darkness
 

Well I hope that someday buddy

We'll have peace in our lives

Together or apart

Alone or with our wives

And we can stop our whoring

And draw the smiles inside

And light it up forever

And never go to sleep

My best unbeaten brother

This isn't all I see
 

Oh no I see a darkness

Oh no I see a darkness

Oh no I see a darkness

Oh no I see a darkness
 

Did you know how much I love you

Yes I hope that somehow you

Can save me from this darkness...
 

Eine Hand auf seiner Schulter liess ihn aufschrecken.

Toshiya.

Sofort schaltete er das Gerät aus und puhlte die Kopfhörer aus seinen Ohren.

Fragender Blick.

"Er schläft noch nicht, wenn du magst...ich glaube, jetzt wär's ideal...".

"Danke, Toshiya."

Aufmunterndes Lächeln.

"Ganbatte. Ihn macht die Situation auch nicht glücklich, also...".

Der Bassist ging nach vorn, von wo Kyos und Ayas Gelächter erklang.
 

Der Gitarrist atmete einmal tief durch, erhob sich und wandte sich nach hinten.

Während er den Gang abschritt, fühlte er, wie jemand ihn beobachtete.

Tommy? Inoue? Shinya?

Es spielte keine Rolle.

Ohne sich umzudrehen ging er weiter und hob den Vorhang, der das Séparée mit den ausziehbaren Sofas vom Rest des Busses trennte.
 

Dahinter empfing ihn abgedunkeltes Licht. Nur eines der Sofas war ausgezogen worden - und darauf lag Die in der Embryostellung, eine dünne Decke um den schlanken Körper geschlungen.

"Toshiya meinte, du würdest vielleicht vorbeikommen - das ging ja schnell."

Sehr heiser. Und leise, um die Stimme nicht noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen.

Kaoru setzte sich auf eines der Sofas gegenüber von Dies Bettstatt, wühlte in den Taschen seines Kapuzenpullis und brachte schliesslich zwei weisse Packungen zum Vorschein.

Dies Augenbrauen wanderten in die Höhe.

"Nein, das hast du nicht...?".

Der Bandleader senkte beschämt die Augen.

"Tut mir leid, ich bin ein Arschloch."

"Das kann man wohl sagen. Weißt du, wie mies ich letzte Nacht gepennt hab?! Weißt du, wie scheisse es mir heute ging?!".

Die richtete sich langsam auf und blickte Kaoru aus traurigen Augen an.

"Ich sagte, es tut mir leid."

"Ja, passiert ist passiert. Mehr als dir verzeihen kann ich nicht, oder?!".

Kaoru zuckte die Schultern.

"Ich schätze, für die Tabletten ist es jetzt zu spät, aber...die Schlaftabletten müssten eigentlich dafür sorgen, dass du durchschlafen kannst, bis wir in Tokyo sind...".

"Brauchst du sie nicht selbst?!".

Der bissige Ton in seiner Stimme verriet Kaoru, dass Die noch immer sehr aufgewühlt war. Zurecht.

"Nein, hab sie nur während der Aufnahmen gebraucht. Und weil...wegen Yumi...".

Verständnisvolles Nicken. Trotz allem.

"Danke. Wie geht's ihr?!".

"Gut. Soweit keine Komplikationen. In drei Tagen begleite ich sie zum Arzt.".

"Nervös?"

"Und wie! Es ist alles so neu - und kam völlig unerwartet...".

Die hustete und schenkte Kaoru ein aufmunterndes Lächeln.

"Hey, keine Angst. Du wirst einen wunderbaren Vater abgeben - davon bin ich überzeugt."

Bei diesen Worten aus dem Mund seines schon längst verloren geglaubten Freundes wurde dem Bandleader warm ums Herz.

"Danke. Manchmal fühle ich mich schon sehr überfordert - und bin so froh, dass wenigstens Yumi cool bleibt."

Grinsen.

"Sie ist die Mutter, was erwartest du?! Und du gewöhnst dich auch noch dran - du konntest doch immer so gut mit Kindern...".

Kaoru nickte nur und blickte ins Leere.

Wenn er Die doch nur irgendwie hätte sagen können, wie glücklich ihn seine Worte machten. Doch er traute sich nicht. Noch nicht.

Stattdessen goss er ihm ungefragt Wasser nach und lehnte sich vor.

"Die, was auch immer zwischen uns war und immer noch ist - es tut mir leid. Es ist wohl ein denkbar schlechter Zeitpunkt, das alles besprechen und aufarbeiten zu wollen, aber...

Der Gitarrist schüttelte bloss den Kopf und sah Kaoru an.

"Ja, ist es, ich bin müde und mein Kopfweh killt mich. Aber es ist schön, dass du hier bei mir bist. Weißt du, dass dies wohl bei weitem das längste Gespräch ist, das wir seit Wochen geführt haben?".

"Und auch bei weitem das persönlichste."

"Wenn es mir besser geht, müssen wir länger reden. Ich denke, es gibt einiges zu sagen."

Seine Stimme war nur noch ein Krächzen, doch er schien nicht gewillt zu sein, jetzt schon mit Reden aufzuhören.

"Aber Kaoru, was ich wissen muss...was ist mit dir los? Und red dich nicht raus, du weißt genau, was ich meine...".

Der Bandleader lehnte sich mit einem Stöhnen zurück und fuhr sich durch die Haare.

Dann beugte er sich wieder nach vorn und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln.

"Wenn du mich dies früher gefragt hättest, hätte ich dir gestern die Pillen gegeben...".

"Du stolzes Arschloch!". Bitteres Lachen. "Und ich habe die ganze Zeit drauf gewartet, dass du irgendeinen von uns einweihst - und das hätte nicht mal ich sein müssen. Wie konntest du Tommy und Inoue einweihen und uns nicht?".

"Oh Die...ich wollte euch nicht belasten. Wir hatten so schon genug Stress."

Husten.

"Ich fass es nicht. Wirklich nicht...".

"Ich sagte schon, es tut mir lied. Und diese Entschuldigung beinhaltet alles, was die letzten Monate, vielleicht sogar Jahre zwischen uns war."

"Ich weiss - aber so einfach wird es trotzdem nicht...".

"Das ist mir klar...".

"Also, was ist jetzt mit dir?".

"Eigentlich nichts Schlimmes, ich muss nur aufpassen. Der Arzt meinte, es seien nervöse Magenbeschwerden, wahrscheinlich hervorgerufen durch den ganzen Stress. Erst hatte ich Schiss, ich hätte ein Magengeschwür, aber das war's dann zum Glück nicht."

"Aber wenn du nicht aufpasst, könnte sich doch noch ein Geschwür entwickeln?!".

"Vermutlich, ja...".

Die räusperte sich und spülte die Trockenheit in seinem Hals mit Wasser weg.

"Wenn du uns Bescheid gesagt hättest, hätten wir dir einiges abnehmen können. Das weißt du. Verdammt, warum willst du immer die Kontrolle haben?!".

Schulterzucken.

"Wenn man mal die Führung hat, ist es schwer, diese wieder abzugeben."

"Aber darum geht's doch nicht - auch wenn wir dich unterstützen, bist du immer noch der Leader. Manchmal denke ich, du machst dir dein Leben absichtlich schwer. Nicht mal die Sache mit Yumi hast du mit uns geteilt. Auch da mussten wir uns das Meiste selbst zusammenreimen."

"Du weißt, wie ungern ich euch mit meinem Mist belaste."

"Ja, aber ich hatte gehofft, du hättest die letzten Jahre gelernt, doch ab und zu mal etwas von deinem Ballast auf uns abzuwälzen. Habe mich wohl getäuscht."

"Ich werde dran arbeiten...".

Stirnrunzeln.

"Das hoffe ich für dich, sonst könnte es sein, dass wir die Vernunft in dich reinprügeln!".

Die beiden jungen Männern brachen in Gelächter aus, wobei Dies in einem Hustenanfall endete.

Kaoru stand auf und streckte sich.

"Ich schlage vor, dass du jetzt ne Schlaftablette nimmst und etwas schläfst - so fertig hab ich dich noch selten gesehn..."

Die nickte und befolgte widerstandslos Kaorus Vorschlag.

Bevor der Schlaf ihn übermannte, schenkte er seinem älteren Freund ein Lächeln und murmelte ein Danke.

Kaoru stand noch eine Weile da und betrachtete die schlafend daliegende Gestalt, die in Zukunft wieder sein Freund sein würde, wenn sie beide sich Mühe geben würden, sich einander wieder anzunähern und einander das Vertrauen zu schenken, das verloren gegangen war.
 

+ + +
 

[Lyrics: "I see a darkness" © Bonnie 'Prince' Billy, gesunden von Johnny Cash]
 

So, mein Wochenend-Schreibmarathon ist zuende - zwei Kapitel innerhalb von 24 Stunden, nicht schlecht! XD
 

Würde mich über Kommis freuen - es interessiert mich, wie euch die Entwicklung meiner Geschichte gefällt. ^.^
 

[Edit]
 

Es gibt jetzt auch nen Zirkel zu dieser Fanfic, offen für alle eure Fragen, Anregungen und Diskussionen zu dieser Geschichte: http://animexx.4players.de/community.php/akaitsuki/

14. [Conspiracea]

Bereits am frühen Morgen waren die Strassen von Tokyo stark befahren. Der Night Liner schlängelte sich sicher seinen Weg durch die anderen Autos, LKWs und Motorräder, die über die dreispurige Autobahn brausten. Noch brannten die Strassenbeleuchtungen, noch begrüssten blinkende Schriftzüge den neuen Tag.
 

Ein diffuses Grau lag über der Stadt. Wolken hingen tief. Feiner Regen benetzte die Strasse.
 

Kaoru richtete sich langsam in seinem Sitz auf und streckte vorsichtig seine verkrampften, kalten Glieder.
 

Wie erwartet hatte er kaum geschlafen. Wohl keiner von ihnen. Die ganze Fahrt über war immer wieder jemand aufgestanden, war im Bus rumgeschlichen, hatte Ablenkung gesucht. Erst vor einer oder zwei Stunden waren die meisten in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf gefallen, aus dem sie nun wegen der von draussen einfallenden Morgendämmerung nach und nach erwachten.
 

Der Bandleader blieb noch eine Weile sitzen, betrachtete mit müden, trockenen Augen die draussen vorbeiziehenden Hochhäuser, Strassenschluchten, spärlichen Grünflächen, Tempel.

Endlich zuhause.
 

Inoue kam den Gang entlang und blieb an seiner Seite stehen.
 

"Wir fahren euch alle gleich direkt nach Hause, nicht dass ihr noch in der Rush Hour rumfahren müsst."
 

Kaoru schluckte und nickte. Ein schaler, unangenehmer Geschmack lag ihm auf der Zunge. Ein klares Zeichen dafür, dass er nicht ganz auf dem Damm war, aber wenigstens hatten die Schmerzen schon länger nicht mehr so richtig zugeschlagen.
 

"Wie geht es Die?".
 

Der Gitarrist richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Manager. Schulterzucken.
 

"Ich hoffe besser. Habe ihm gestern ein Schlafmittel gegeben, damit er durchschlafen kann. Fahren wir zuerst zu ihm?".
 

Mit einem Nicken ging Inoue langsam nach vorne, um dem Fahrer Bescheid zu sagen.
 

Gerade als Kaoru aufstehen wollte, um Die wecken zu gehen, erhob sich auch Toshiya. Ihrer beider Blicke trafen sich. Ein unausgesprochener Vorwurf lag in den verschlafenen Augen des Bassisten. Stummer Zweikampf.

Du hast dich die letzten Wochen nie um ihn gekümmert - meinst du etwa, auf einmal ist alles wieder beim Alten? , schien der Jüngere zu sagen.

Auch wenn Kaoru wusste, dass Toshiya froh war, dass er mit Die geredet hatte - er wusste ebenso gut, dass der Bassist weiterhin ein wachsames Auge auf sie beide halten würde. Die war für ihn zu einem Freund geworden, den er Kaoru nun nicht einfach so kampflos wieder überlassen würde. Erst würde er Toshiya beweisen müssen, dass er Die's Freundschaft wieder verdiente.
 

Kaoru liess als Erster die Augen sinken, liess Toshiya gewinnen. Nach allem, was gewesen war, hatte er an diesem frühen Morgen in Tokyo, nach einer stundenlangen Fahrt, keine Kraft mehr, zu kämpfen.
 

* * *
 

Leise liess er die Tür hinter sich ins Schloss fallen, ganz vorsichtig, um Akemi nicht zu erschrecken und die Hunde nicht in Aufruhr zu versetzen. Koffer und Handgepäck liess er achtlos in der Eingangshalle stehen, zog die Schuhe aus und ging auf Zehenspitzen die dreistufige Treppe runter ins Wohnzimmer.
 

Beim Anblick der sich ihm bot, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Soviel Liebe.
 

Der Tisch war gedeckt. Akemi hatte ihr schönstes Geschirr aus dem Schrank geholt. Sogar neue Sets und Servietten hatte sie gekauft. Farblich perfekt auf Geschirr und Einrichtung des Raumes abgestimmt.

Frische, weisse Lilien vollendeten das Bild.
 

So gerührt und verzaubert war er, dass er die Schritte hinter sich nicht hörte. Arme schlossen sich um seinen schlanken, muskulösen Körper. Sanfte Finger strichen das Haar aus seinem Nacken und leicht feuchte, warme Lippen bedeckten seine weiche Haut mit Küssen.
 

"Endlich..."
 

Shinya drehte sich langsam um und nahm seine Liebste zärtlich in die Arme. Blickte ihr lange tief in die Augen. Genoss ihren Anblick nach den Tagen der Trennung.
 

"Schön, dass du wieder da bist - ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen vor Aufregung...".
 

Ihr leicht verlegenes Lächeln liess sein Herz schneller schlagen.
 

"Und ich erst. Bin so froh, dass wir so früh schon abgefahren sind. Wir haben vier Tage, vier Tage...".
 

Sie verschloss seinen Mund mit ihren Lippen. Seine vom Schlagzeugspielen rauen Hände wanderten liebkosend über ihren seidenen Morgenmantel. In seinem Körper breitete sich eine wohltuende Wärme aus. Sein Kopf fühlte sich auf einmal sehr leicht und schwebend an.
 

Ein Kratzen und Bellen erweckte seine Aufmerksamkeit.
 

"Du hast Miyu und Yuyu doch nicht etwa eingesperrt?!". Gespieltes Entsetzen.

"Doch, für einmal wollte ich dich ganz für mich allein haben...".

Akemi grinste frech, strich ihren Morgenmantel glatt, ging zu einer der Türen, die in ein Gästeschlafzimmer führten, und liess die beiden bereits ganz verrückt gewordenen Hunde raus. Sofort war Shinya in Beschlag genommen, was seiner Freundin Zeit gab, sich um die letzten Vorbereitungen fürs Frühstück zu kümmern.
 

* * *
 

"Ich muss jetzt los...".
 

In ihrem Gesicht lag eine zerknirschte Entschuldigung.

Unwillig blickte er auf.

Keine halbe Stunde war er zuhause und schon verliess sie ihn wieder. Eine bisher ungekannte Traurigkeit nahm von ihm Besitz.

Sie tut nur ihren Job. Sie kann nichts dafür.

So sprach die Vernunft in ihm. Und sein Realitätssinn gab ihr recht.

Nur...

Sie hatte gewusst, wann er nach Hause kommen würde. Hätte sie den Termin nicht verschieben können?
 

Als ob seine Gedanken für sie ein offenes Buch wären, stand sie auf einmal vor ihm und sah auf ihn runter.
 

"Toshiya...es tut mir leid. Ich hab's dir schon vorhin gesagt. Dieses Shooting ist wichtig. Wir müssen dazu noch einiges besprechen. Ich kann da nicht wegbleiben...".
 

Am nervösen Spiel ihrer gepflegten Finger sah er, dass ihr die Sache wohl genau so weh tat, wie ihm.

Und er sass da und machte ihr unausgesprochene Vorwürfe.

Sie musste arbeiten, genau wie er auch.

Auch sie hatte Verpflichtungen, nicht nur er.

Manchmal liess er dies ausser Acht.
 

Mit einem beschämten Lächeln nahm er ihre eine Hand. Kühl. Aber trocken. Und weich. Frisch eingecremt.

"Ich weiss. Sorry. Manchmal vergesse ich, dass ich nicht der Einzige bin, der seinen Job zu machen hat. Aber heut Abend bist du da, ja? Ich koche was für uns...".

Nun lächelte sie ebenfalls und drückte seine schwielige Hand.

"Ja, wahrscheinlich bin ich bereits gegen 15.00 Uhr wieder da - dann kochen wir zusammen. Und du musst mir von den Konzerten erzählen."

Mit diesen Worten löste sie ihre Hand von der seinen, nahm ihre Handtasche vom Tisch und machte sich auf zur Besprechung mit ihrem Agenten und den Auftraggebern.
 

Der Bassist blieb allein auf dem Sofa zurück. Seine Knie angezogen und mit beiden Armen umschlungen sass er da und starrte vor sich hin.

Sogar zum Nachdenken war er zu müde.

Es kam ihm vor, als wäre sein Hirn so voller Gedanken, dass er diese nicht mehr ordnen konnte.

Sein ganzer Körper tat weh. Wie immer nach Tourneen. Und verdammt, sie hatten grade mal 11 Konzerte gespielt - bis Ende des Jahres standen nochmal so viele an.

Ein Bad würde jetzt Wunder wirken.

Hatte Akiko nicht gesagt, sie hätte neue Badezusätze gekauft?!

Mit einem Stöhnen streckte Toshiya die Beine von sich, wartete, bis sie wieder richtig durchblutet und zu Kräften gekommen waren, und ging dann ins Bad.

Dem noch vollen Koffer mitten im Eingangsbereich schenkte er keine Beachtung - auspacken konnte er später. Nun musste er erstmal wieder zu sich selber kommen.
 

* * *
 

Zärtlich streichelte er ihren gewölbten Bauch unter dem Pulli und brachte sie damit zum kichern.

"Ich werde fett...". Gespieltes Schmollen.

"Du bist wunderschön."

Er streichelte sie weiter, konnte nicht von ihr ablassen.

"Bin ja gespannt, ob du das in fünf Monaten auch noch sagst...".

"Noch in 50 Jahren werd ich das sagen...".

Nun lachte sie.

"Grosse Worte, mein Liebster, grosse Worte!".

Kaoru wurde ernst.

"Und ich meine sie so, wie ich sage. Es hört sich verdammt kitschig an, aber...ich gedenke, dich bis zu meinem Tod zu lieben."

Yumi fuhr mit dem Zeigefinger über sein Tattoo am Unterarm, malte die einzelnen Buchstaben nach.

"Wenn man dich so anschaut, würde man dir nicht zutrauen, dass du so mit ner Frau redest."

Fragender Blick.

"Wie wirke ich denn? Wie der harte, abgebrühte, coole Rocker?".

"So ähnlich." Wieder erklang ihr Lachen.

"Selbst die hartgesottensten Rocker haben nen weichen Kern und sehnen sich nach einem Halt in ihrem Leben."

Yumi schwieg.

Es war hart gewesen, Kaoru so bald nach dem Wiederzusammenfinden ziehen zu lassen. Als er weg gewesen war, hatte sie bereut, dass sie schon wieder zurück in ihre gemeinsame Wohnung gezogen war. So lang und einsam kamen ihr die Tage ohne ihn vor. Doch dann hatte sie doch keine Lust verspürt, noch einmal zu ihrer Schwester zu fahren. In der Wohnung hatte es genug zu tun gegeben. Als sie sie zum ersten Mal nach der Versöhnung wieder betreten hatte, hatte sich eine kalte Hand um ihr Herz gekrallt. So kalt. So unendlich kalt hatten die ehemals so vertrauten Räume auf sie gewirkt. Kaoru hatte den grössten Teil des Abfalls bereits weggeräumt gehabt und auch Staub gesaugt, abgestaubt - doch eine Frau wie Yumi liess sich von solch oberflächlicher Reinlichkeit nicht täuschen.

Also hatte sie sich während Kaorus Abwesenheit die Zeit genommen, ihr Heim wieder richtig wohnlich zu machen. Hatte das Sofa neu beziehen lassen, neue Kissen gekauft, neue Bettwäsche, neue Vorhänge.

Nun erstrahlte das Wohnzimmer in warmen Orange-, Rot- und Ockertönen, ebenso das Schlafzimmer.

Erst hatte sie befürchtet, Kaoru würde die Farben nicht mögen, doch seine Augen hatten beim Anblick der neu dekorierten Zimmer so gestrahlt, dass kein Zweifel bestand - er hiess die Änderungen gut.
 

Draussen hatte sich die Nacht über die Stadt gesenkt.

Seit 12 Stunden war er zuhause - und es kam ihr vor, als sei er schon ewig wieder da.

"Die meinte übrigens, ich würde nen guten Vater abgeben...".

Kaorus Stimme durchschnitt die entstandene Stille.

"Natürlich wirst du das!". Yumi schmiegte sich eng an ihn.

Der Gitarrist grinste.

"Ich werde mir auf jeden Fall alle Mühe geben."
 

Wieder schwiegen sie.

Yumi wusste, dass Kaoru etwas auf dem Herzen hatte, doch sie wollte nicht in ihn dringen.

Nervös spielte er mit seinem Zippo. Seit er von Yumis Schwangerschaft wusste, rauchte er in der Wohnung nicht mehr, sondern verzog sich jedes Mal auf den Balkon. Wenn man sich vor Augen führte, wie viele Zigaretten er früher im Laufe eines Abends im Wohnzimmer geraucht hatte, erkannte man, wie gross das Opfer war, dass er damit für sie brachte.
 

Fast schon erwartete Yumi, dass Kaoru erst eine rauchen gehen würde, bevor er mit der Sprache rausrückte, doch dann legte der Bandleader das Feuerzeug weg.
 

"Ich werde die Tage mit Die eine Aussprache halten müssen - und verdammt, ich weiss nicht, wie ich anfangen soll."

Yumi sah ihn von der Seite an. Die leicht gerunzelte Stirn. Die ins Leere blickenden Mandelaugen. Die an der Spitze minim gebogene Nase. Die Aknenarben, die es nicht schafften, diesem Gesicht die Schönheit zu nehmen.

"Musst du denn irgendwo anfangen? Könnt ihr euch nicht einfach von der Seele reden, was euch belastet?".

Seufzen.

"Dann würde ich ganz bestimmt etwas vergessen, das ich zur Sprache bringen wollte. Ich möchte aber ein für allemal alles klären."

"Ist das nicht etwas too much? Ich glaube kaum, dass eine Aussprache dafür reicht...".

Genau diesen Zweifel teilte er ebenfalls.

"Das befürchte ich ja auch...".

"Hey, mach dir nicht so nen Kopf deswegen. Die weiss bestimmt ebenfalls, was da auf euch zukommt. Auch er wird sich Gedanken machen, wie er die Sache angehen soll."

"Manchmal hab ich Schiss, dass es eh schon zu spät ist. Dass dieser Schritt, den ich letzte Nacht getan hab, uns nur noch näher an den Rand des Abgrunds geführt hat."

Erstaunen.

"Warum das?".

"Es ist so viel geschehen. So vieles steht zwischen uns. Wir haben uns von einander so weit entfernt, dass ich Schiss hab, dass uns nichts mehr zusammen führt. Gar nichts mehr."

"Nun hör mal auf! Auch wenn ihr einander vielleicht nie mehr so nah kommt, wie ihr euch einmal wart, versucht doch einfach, was Neues aufzubauen. Vergesst, was war. Tut so, als würdet ihr euch neu kennen lernen."

Kaoru dachte über das Gehörte nach.

Yumi's Vorschlag klang vernünftig - aber so sehr er sich gewünscht hätte, ihn umsetzen zu können, ein Teil von ihm wusste bereits jetzt, dass es umsonst sein würde.

"So sauer kann er ja auf dich nicht sein, wenn er so nette Worte für dich findet."

"Was?".

"Na, das mit dem Vater sein. Ich glaube kaum, dass er dir ein solches Kompliment machen würde, wenn er nicht doch noch ein kleines Quäntchen Zuneigung für dich empfinden würde."

Der Gitarrist beugte sich vor und behändigte wieder sein Feuerzeug. Das nervöse Spiel ging von vorne los.

"Vermutlich kann auch er nicht vergessen, was mal war. Dass wir mal sowas wie beste Freunde waren. Das macht es uns jetzt beiden so schwer, wieder zueinander zu finden. Für andere mag diese Tatsache es leichter machen, jemandem zu verzeihen - bei uns schwebt unsere verlorene Freunschaft über uns wie ein Damoklesschwert...".

Bei seinen Worten lief ein kalter Schauer durch Yumi's Körper. Kaorus düstere Worte gefielen ihr ganz und gar nicht.

"Versucht es trotzdem - um eurer Selbst Willen."

"Weißt du, als ich gestern mit ihm gesprochen hab, als er mich mit diesen fiebrigen Augen angeguckt hat, da hätte ich alles für ihn getan. Alles. Und jetzt, auf einmal, krieg ich wieder Schiss. Schiss davor, zuviel von mir zu offenbaren. Zu nachsichtig zu sein. Zu schnell zu vergeben...".

Seine Freundin legte ihm tröstend den Arm um die Schulter, streichelte ihn beruhigend.

"Meinst du nicht, dass ihn ähnliche Gedanken quälen? Es sagt ja keiner, dass ihr euch von einem Tag auf den anderen wieder 100 %-ig vertrauen sollt. Keiner verlangt, dass ihr wieder ein Herz und eine Seele seid. Von eurer Freundschaft ist vermutlich nur noch ein ganz kleiner Funke übrig - den Atem, der sie wieder zum lodern bringt, müsst ihr ihr schon selbst einhauchen...".

Stille.

Yumi's letzte Worte hallten in Kaoru nach wie ein Echo.

"Sobald's ihm besser geht, geh ich ihn besuchen...".
 

* * *
 

Ganz leise tapste sie ins dunkle Schlafzimmer.

Im Licht, das durch die halb geöffnete Tür aufs Bett fiel, wirkte er sehr friedlich.

Doch beim genaueren Hinsehen entdeckte man die tiefen Ringe unter den geschlossenen Augen, die gerötete Nase, die Fieberblasen an den Lippen, hörte das unregelmässige, schwere Atmen.
 

Seit 12 Stunden schlief er nun schon.

Wie ein Stein.

Leichenblass war er gewesen, als er zur Tür hereingekommen war. Völlig am Ende.

Ohne grosse Erklärung hatte er sein Gepäck stehen lassen, hatte sich die verschwitzten Kleider vom Leid gerissen, war in eine frische Boxershorts und eines seiner geliebten Puma-Shirts geschlüpft und hatte sich sofort ins Bett verzogen.
 

Yoshie wusste aus Erfahrung, dass man ihren Freund am besten alleine liess, wenn er krank war. Kleine Aufmerksamkeiten und eine gewisse Anteilnahme wusste er zu schätzen, doch angenehm war es ihm nie dabei. Sich pflegen und bemuttern zu lassen, hiess für ihn, Schwäche zu zeigen. Und darin war er noch nie sonderlich gut gewesen.
 

Sie hoffte nur, dass die vier freien Tage reichten, ihn wieder aufzupäppeln. Der Gig im Forum würde openair sein, in der kühlen Novemberluft.
 

Ach was, sie würde ganz einfach dafür sorgen, dass er bis dahin wieder soweit okay war, dass ihn nicht noch ein weiteres Mal ein paar Bazillen ausser Gefecht setzen konnten.
 

Grimmig nickte Yoshie vor sich hin, wandte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Ihr Nachtlager - das ausziehbare Sofa, das sie sonst ihren Gästen anboten - wartete auf sie. Viel lieber wäre sie in Die's Armen eingeschlafen, aber darauf würde sie nun wohl oder übel warten müssen.
 

Die Vorhänge waren noch nicht zugezogen. Yoshie trat ans Fenster. Unter ihr breitete sich das Lichtermeer der Stadt aus wie ein Teppich. Auch nach all den Malen, die sich ihr dieser Anblick schon geboten hatte, liess er sie doch einmal mehr vor Erfurcht erzittern. Seine Schönheit tat ihr im Herzen weh.
 

Im gleichen Atemzug tauchte Die's Gesicht vor ihrem inneren Auge auf.
 

* * *
 

Lustlos öffnete er den Kühlschrank. Nichts. Was hatte er auch anderes erwartet. Schliesslich hatte er vor der Abreise nicht mehr eingekauft. Heinzelmännchen waren halt doch nur eine Legende.
 

Kyo kratzte sich die Seite und stiess die Tür zu.
 

Er war zuhause - doch heimisch fühlte er sich trotzdem nicht. Alles kam ihm so kalt und falsch vor. Beinahe bereute er es, Chieko gesagt zu haben, er wolle sie erst später sehen. Er hätte sie anrufen können, doch das liess sein Stolz nicht zu. Überhaupt, woher wusste er denn, dass sie um die Zeit zuhause war, alleine, und Lust hatte, ihn zu sehen.
 

Während der einsamen Tage auf Tour hatte er viel nachgedacht - wie immer. Vielleicht war es ein Fehler, dieses Mädchen so nah an sich ranzulassen? Sie hatte ihm keinen Grund für sein Misstrauen gegeben, und doch...
 

Zuviel war geschehen. Zuviel Schmerz war noch immer in ihm, liess ihn keine Ruhe finden. Andere mochten gescheiterte Beziehungen ohne weiteres wegstecken - er nicht. Und trotz aller Vernunft konnte er sich seiner Vergangenheit nicht stellen und sie ein und für allemal hinter sich lassen.
 

Der Sänger nahm sich die Flasche Cola, die er sich aus dem Night Liner hierher mitgenommen hatte, und schlurfte ins Wohnzimmer. Staub lag in der Luft. Das war der Nachteil, wenn man niemanden hatte, der regelmässig mal in der Wohnung vorbeischaute und lüftete. Gara oder Daisuke hätten diesen Job bestimmt übernommen, doch Kyo hatte ganz vergessen, sie darum zu bitten.
 

Unwillig ging er zum Fenster und riss es weit auf.

Kühle Nachtluft und entfernter Strassenlärm drangen herein.
 

Einen Moment verharrte der selbsternannte Prophet, füllte seine Lungen mit der frischen Luft.

Dann wandte er sich um und trat vor das Tischchen, auf dem Telefonstation und Anrufbeantworter standen. Aufgeregt blickte das rote Lämpchen.
 

Wollte er sich tatsächlich die Mühe nehmen, alle für ihn hinterlassenen Nachrichten abzuhören?

Dann rief er sich ins Gedächtnis, dass so gut wie niemand seine Nummer kannte. Seine Familie. Die Leute von Band und Crew. Seine engsten Freunde. Chieko.
 

Also, los. So schlimm konnte es ja nicht werden.
 

Hey. Ich weiss, du wolltest dich melden. Will dich auch nicht nerven, wollte dir nur Hallo sagen - welcome home! Hoffe, es geht dir gut. Ruf mich an, wenn du Lust hast, ja?! Baibai.
 

Chieko. Kawaii. Ihre Art, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, ohne ihm dabei die Luft zum Atmen zu nehmen - jetzt wusste er wieder, warum diese Frau ihm so gefiel.
 

Vielleicht war sie's ja doch wert, dass er sich ihr öffnete?
 

Kyo-sama? Hab heute schon dreimal versucht, dich anzurufen! Jetzt reicht's - wenn du diese Message hörst, ruf zurück, ja? Irgendwann musst du ja aufwachen und deine Nachrichten abhören. Und schalt dein Keitai ein, verdammt...
 

Typisch Gara.
 

Kyo verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
 

Sein Magen machte sich zornig bemerkbar. Kein Wunder, seit gut 24 Stunden hatte er nichts Richtiges mehr gegessen. Obwohl, wenn's nach Shinya ginge, konnte man auch Hamburger und Pommes nicht als richtiges Essen bezeichnen.
 

Beim Gedanken an Shinya fing er an, den Kopf zu schütteln. Dann schnappte er sich sein schnurloses Telefon und tippte Gara's Nummer ein. Wenn man keinen Bock hatte, raus zu gehen und sich Essen zu holen, musste man dafür sorgen, dass einem jemand was vorbei brachte.
 

* * *
 

"Gara, dein Keitai...!".
 

Nero's Geschrei drang durch die geschlossene Toilettentür.
 

"Ja!".
 

Der Sänger von Merry zog den Reissverschluss zu, betätigte die Spülung, wusch sich schnell die Hände und ging zurück ins Wohnzimmer.

Irgendwo aus dem Berg all ihrer Jacken und Mäntel schrie sein Handy nach ihm. Nach einigem Wühlen bekam er es endlich in die Finger und drückte den Empfangsknopf, ohne auf den Display zu gucken.
 

"Moshi moshi?".

"Das hat ja gedauert...".

"Kyo?!".

"...".

"Genki? Genug gepennt?".

Ein amüsiertes Grinsen klang in Gara's Stimme und spielte um seine Lippen.

"Werd nur ja nicht frech - was ist das für ein Lärm bei dir?!".

Der Sänger von Merry sah sich um. Der einzige Lärm, von dem Kyo sprach, musste die Musik im Hintergrund sein. Die anderen im Raum verhielten sich verdächtig ruhig. Vermutlich waren Miya und Tatsurou längst weggeratzt. Nur Nero schien noch wach zu sein und blätterte in einer der Porno-Zeitschriften, die bei Tatsurou en masse rumlagen.

"Lärm? Nicht so empfindlich, ja. Wir haben nur Mucke laufen...".

"Marilyn Manson?".

Oh, ja, es war Marilyn Manson. Leicht betreten ging Gara zur Stereoanlage und drehte die Lautstärke runter.

"Besser so?".

"Warum hört ihr die Scheisse?".

"Wir haben Vergleiche angestellt...".

Der Dir en grey-Sänger liess ein verächtliches Schnauben hören.

"Wenn ihr meint...wo bist du eigentlich?".

"Bei Tatsurou, zusammen mit Nero und Miya. Aber ich denke, die Party ist vorbei...".

"Alle k.o.?".

"So gut wie."

"Lust auf ne Party zu zweit?!".

"Lass mich raten: Du bist grad erst aufgestanden und hast gemerkt, dass du nichts zu futtern da hast?!".

Kyo lachte.

"Sollte es mir Angst machen, dass du mich so gut kennst?!".

"Vielleicht...". In Gara's Stimme lag ein Lachen, verbunden mit tiefer Zuneigung zu seinem Sempai. "Worauf hast du Lust?".

"Chinesisch? Irgendwas aus dem Wok, mit Fleisch und Nudeln."

"Alles klar. Bin in ner halben Stunde bei dir."

"Okay, ja ne!".
 

Der dünne Sänger beendete den Anruf, zog seinen Mantel aus dem Kleiderhaufen und wandte sich an Nero, den Einzigen, der ihm noch ansprechbar schien.
 

"Ich geh dann mal...".

"Jaja, der grosse Kyo ruft, Klein-Gara rennt...".

Verletzt starrte Gara seinen Bandkumpel an, hatte aber keine Lust, sich mit ihm einmal mehr wegen diesem Thema zu streiten.

Stattdessen schlüpfte er in seinen Mantel, knöpfte diesen bis unters Kinn zu und band sich sein Halstuch um. Die Luft draussen war kühl, und er musste auf seine Stimme Acht geben.

"Gara?".

Die Stimme des Merry-Schlagzeugers hielt ihn zurück.

"Pass auf, ja?!".

Der Sänger winkte ab.

"Es sind grad mal zwei Stationen...".

"Trotzdem, man weiss nie...".

"Du redest schon wie Tetsu!".

"Jaja - hau schon ab!".

"Viel Spass noch, ne, und sag Tatsurou und Miya Tschüss von mir."

Doch der Schlagzeuger ging nicht mehr darauf ein - er hatte sich schon wieder in seine Zeitschrift vertieft.
 

* * *
 

Nur wenige Minuten nachdem Gara die Wohnung verlassen hatte, ging eine Wandlung mit Tatsurou vor. Der Sänger, der die ganze Zeit scheinbar im Halbschlaf dagelegen hatte, stand plötzlich voller Energie auf und wühlte im Haufen nach seiner Jacke.
 

Verwundert blickte Nero von seiner 'Lektüre' auf.
 

"Willst du weg? Verdammt, ich dachte, du seist total besoffen...".

Der Sänger von MUCC zwinkerte verschwörerisch.

"Gehört zum Plan - muss noch was erledigen. Hab schon gedacht, Kyo meldet sich gar nicht mehr."

"Du wolltest Gara los sein? Warum hast du uns nicht einfach weggeschickt?".

"Dann hätte er sofort gemerkt, dass was nicht stimmt...".

"Was hast du denn vor?".

"Ich muss nen kurzen Abstecher ins "Cyber" machen."

Erstaunen.

"Ins "Cyber"? Da waren wir ja schon ewig nicht mehr...".

"Genau. Und den Grund dafür kennst du ebenso gut wie ich...".

"Sachiko?!?". Nun liess der Drummer seinen Porno endgültig sinken.

Nicken.

"Du weißt, was du da tust, oder?".

Abermals ein Nicken.

"Wenn Gara nichts auf die Reihe kriegt...".

"Na dann viel Glück."

"Die beiden warten nur drauf, dass man ihnen unter die Arme greift."

Nero zuckte nur die Schultern. Er hatte die Sache damals mitbekommen - es würde bestimmt nicht leicht werden.

"Ist's okay, wenn ich noch ne Weile bleibe?".

"Ja, klar, kannst dir auch Videos angucken, wenn dir die Heftchen nicht mehr reichen." Tatsurou schenkte ihm ein anzügliches Grinsen.

"Idiot, nicht alle sind so pervers und notgeil wie du!".

"Wie du meinst..."
 

Mit diesen Worten liess der hoch gewachsene Sänger den Schlagzeuger sitzen und machte sich auf zum "Cyber".
 

* * *
 

Aufgeweckte, mandelförmige Augen musterten ihn forschend.
 

"Lange nicht gesehn."
 

Sie sprach laut, um die Musik zu übertönen, kümmerte sich um ein paar Cocktails und Tatsurou's Bier, liess ihn dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen.
 

"Dôzo."
 

Mit einem geschäftlich-höflichen Lächeln stellte sie das Glas vor ihn hin.
 

Der grosse Sänger rutschte unbequem auf dem Barhocker rum. Das Ding war eindeutig zu klein für seine langen Beine.
 

Der Klub hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum verändert. Er war immer gern hier gewesen, hatte sich aber dann Gara gegenüber solidarisch gezeigt und angefangen, den Ort zu meiden. Blöd, aber was tat man nicht alles für gute Kumpels.
 

Es war also keine Überraschung, dass Sachiko ihn immer wieder von oben bis unten musterte. Fragend. Ratlos.
 

Als sie das nächste Mal in seiner Nähe stand, sprach er sie zum ersten Mal in dieser Nacht von sich aus an.
 

"Kannst du mal Pause machen?".
 

Verwunderung zeigte sich auf ihren hübschen Zügen. Dann aber wechselte sie ein paar Worte mit ihrer Kollegin und gab Tatsurou danach zu verstehen, dass sie in einer Viertelstunde Zeit für ihn haben würde.
 

Der Sänger nippte geduldig an seinem Bier und rauchte zwei Zigaretten, während er wartete.
 

Später standen er und Sachiko sich in einem Hinterzimmer gegenüber. Immer noch schien sie nicht genau zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Kein Wunder.
 

"Also, was gibt's?."

"Wie geht's dir?".

Sie hob leicht die rechte Augenbraue.

"Hör zu - erspar mir das Geplänkel. Ich hab 5 Minuten für dich und die solltest du nicht mit Small Talk vergeuden. Also?!".

Soso, sie wollte also in die Offensive gehen und die Starke spielen? Gut, konnte sie haben.

"Wie du willst. Ich möchte, dass du mich am 5. November zum Dir en grey-Konzert begleitest."

Ihr Gesicht blieb unbewegt. Doch an ihren Augen sah er, dass ihre Gedanken rasten.

"Klingt nett - wo ist der Haken?".

"Kannst du dir das nicht denken?".

"Wie rührend - du spielst Verkuppler."

Tatsurou spitzte seine vollen Lippen und spreizte seine Finger.

"Nenn es, wie du willst. Also, was meinst du?".

Die junge Frau blickte ihm abschätzend in die Augen.

"Sobald er mir auf den Geist geht, werde ich gehen, ist das klar?!".

"Hauptsache, du gibt's ihm ne Chance...".

"Die er nicht verdient hat!".

"Es ist nicht an mir, das zu beurteilen. Ich würde aber sagen, dass schon ein paar Monate einen Menschen verändern können...".

"Hat er das denn? Sich verändert?".

"Das musst du schon selbst rausfinden."
 

* * *
 

Seine Wohnung war leer, als er gegen halb 3 wieder nach Hause kam.

Nicht einmal Miya lag schnarchend in seinem Bett. Normalerweise blieb der Bandleader von MUCC gleich bei ihm, wenn er zuviel getrunken hatte - doch vermutlich war er dieses Mal nicht ganz so arg dran gewesen und war mit Nero weitergezogen.
 

Schaler Zigarettenrauch lag in der Luft.
 

Tatsurou öffnete eines der Fenster, trug den überquellenden Aschenbecher in die Küche und leerte ihn dort.

Die Bierflaschen hatte Nero bereits ausgespült und fein säuberlich auf der Anrichte aufgereiht. Es musste Nero's Werk sein, Miya hätte sowas nie im Leben getan.
 

Der Sänger kratzte sich in den Haaren, machte das Fenster wieder zu, löschte das Licht und begab sich in sein Schlafzimmer.
 

Wie gewöhnlich zog er sich ganz aus und legte sich nackt ins Bett. Dank der Bodenheizung war seine Wohnung auch im Winter immer wohlig war - ein Glück, dass er diese moderne Bleibe gefunden hatte. Eine wahre Wohltat nach all den Löchern, in denen er früher gelebt hatte.
 

Schnell wurde ihm warm unter der Decke.
 

Seine Gedanken schweiften zu Gara. Der Kleine verdiente es, von Sachiko eine zweite Chance zu bekommen. Schliesslich war sie damals auch nicht ganz unschuldig an all den Missverständnissen gewesen. Genau genommen hatte sie die ganze Misere heraufbeschworen. Unabsichtlich, aber trotzdem.

Blieb nur zu hoffen, dass Sachiko auch bereit war, sich noch einmal auf ihren Ex-Freund einzulassen. Sie war genau so eigensinnig und stolz wie Gara - es würde nicht einfach werden. Doch in ihren Augen hatte er gelesen, dass sie immer noch eine tiefe Zuneigung für den jüngeren Sänger empfand. Es war also nicht alles verloren.
 

Tatsurou drehte sich auf den Bauch und zog die Decke bis über seine Schultern, wickelte sich darin ein.
 

Ein wohlbekanntes Ziehen meldete sich zwischen seinen Beinen.
 

Da schmiedete er Pläne, um einem seiner Kumpel zu helfen, und wer half ihm? Wer kümmerte sich je darum, ob er sich alleine fühlte? Ob es ihn ankackte, mit immer wechselnden Partnern zu ficken? Ob er genug davon hatte, es sich selbst zu besorgen, wenn keiner da war?
 

Kein Wunder, dass ihn so viele seltsame Träume heimsuchten.
 

Der von vor ein paar Wochen...
 

Der Sänger drehte sich wieder auf den Rücken und machte sich an die Arbeit. Egal wie frustrierend es war - wenigstens verdrängte es die Erinnerung an diesen Traum.
 

+ + +
 

Lang geworden, das Kapitel. ^^
 

Sylvia, ich hab Nero ne Gastrolle verschafft - extra für dich! ^__^v
 

Würde mich wieder sehr über Kommentare freuen! Danke fürs Lesen! ^__^

15. [Mantis]

Entschuldigt die lange Schreibpause! Die war nicht geplant - tut mir wirklich leid!
 

Dieses Kapitel widme ich Ravanna (deine Begeisterung für diese Geschichte ist Schuld, dass ich dieses Kapitel nun doch recht schnell abgeschlossen habe) und Rei-ka (als kleine Entschädigung dafür, dass du so lange warten musstest! XD).
 

+ + +
 

"Magst du meinen Rest auch noch?"

Mit einem Schmunzeln betrachtete der Sänger von Merry, wie sein Freund fein säuberlich mit den Fingern den kleinen Alubehälter ausputze.

Kyo blickte auf die ihm hingehaltene, noch halbvolle Schale und musterte Gara eingehend.

"Entweder esse ich zu schnell oder du zu langsam...".

Schulterzucken.

"Willst du nun oder willst du nicht?"

Der Sänger von Dir en grey schüttelte verständnislos den Kopf und nahm Gara das Essen ab.

"Aber nicht, dass es irgendwann heisst, ich würde dir alles wegfressen!".

Gespielt-drohender Blick.

Die dünne Gestalt ihm gegenüber erhob sich und begann, das dreckige Geschirr in die Küche zu räumen, während Kyo sich über die letzten Happen des mit Ei gebratenen Reises hermachte.
 

Als er das nächste Mal aufschaute, lehnte Gara am Türrahmen und führte gemächlich eine Zigarette an seine vollen Lippen.

"Man könnte meinen, du hättest die letzten Wochen Hunger gelitten...".

Breites Grinsen.

Der ältere Sänger setzte die mittlerweile leere Schale auf dem Glastischchen ab und lehnte sich zufrieden zurück.

"Und du schaust aus, als würdest du das die ganze Zeit tun...".

Noch im selben Moment bereute er die so lakonisch daher gesagten Worte - so früh morgens sollte er es wohl doch unterlassen, Witze zu reissen.

"Sorry...".

Sein Freund kam wieder zu ihm rüber, die Lippen aufeinander gepresst, und drückte den nur halb runtergerauchten Stummel im bereitgestellten und bereits überquellenden Aschenbecher aus.

"Sorry, ich wollte echt nicht...".

Gara schenkte seinem Sempai ein nachsichtiges Lächeln, fläzte sich aufs Sofa und gähnte.

"Warum entschuldigst du dich? War doch nichts...".

Das Lächeln wurde...traurig?

Kyo vermochte nicht, es zu deuten. Doch genau so wenig konnte er die Worte zurücknehmen, die ihm vorhin so leichtfertig rausgerutscht waren.

Sie sprachen nie darüber, und doch wusste er, wenn auch nur aus zweiter Hand, dass sein Kouhai manchmal unter seiner Figur litt. Nicht, dass sie sich um vieles von der anderer Musikern in der Szene unterschieden hätte - doch während die meisten sich kasteiten und quälten, um am Ende so auszusehen, konnte er, Gara, nichts, aber auch gar nichts daran ändern. Und verdammt, Kyo konnte sich nur zu gut vorstellen, wie gerne der Sänger von Merry manchmal in einen anderen Körper geschlüpft wäre.
 

Um die Gedanken einzudämmen, die sich gerade zu formen versuchten, stand der kleingewachsene Sänger auf und räumte das restliche Geschirr vom Tisch.

Aus dem Schutz der Küche wagte er einen Themawechsel.

"Du kommst doch am 5., oder?!".

Das bekannte Klicken von Garas Zippo ertönte, bevor Kyo eine Antwort bekam.

"Ja, klar. Und Tetsu und Ken auch. Daruma hat ebenfalls Tickets. Und Tatsurou wollte auch kommen...".

"Und Daisuke?".

Erstaunen klang in Kyos Stimme mit, als er wieder ins Wohnzimmer trat.

Schulterzucken.

"Lange nichts von ihm gehört, aber ich schätze, Tatsurou nimmt ihn mit - schliesslich hab ich ihm zwei Tickets gegeben".
 

Das kurze Gespräch versiegte und die beiden sassen eine ganze Weile einfach nur da und rauchten vor sich hin. Stille umfing sie. Gespenstisch. Doch für zwei Nachtschwärmer wie sie durchaus vertraut.
 

"Wie läuft's eigentlich mit Chieko?".

Raus war sie, die Frage, die der Jüngere so lange zurückgehalten hatte.

Immer, wenn er seinen Sempai sah, fing das schlechte Gewissen an ihm zu nagen an. Heimtückisch und unerbittlich. Wie Nidhögg an Yggdrasil.

Die Unbefangenheit, mit der Kyo darauf reagierte, sagte Gara jedoch, dass sein Freund auch nach wie vor keine Verbindung zwischen seinem Kouhai und seiner neuen Flamme herstellte.

Erneute Schonfrist also.

Der selbsternannte Prophet beugte sich mit einem sinnigen Lächeln vor und fuhr sich leicht verlegen durch die verstrubbelten Haare.

"Soweit ganz gut...".

"Und warum bin ich dann hier und nicht sie?".

Kurze Denkpause.

"Weil...ich nichts überstürzen will. Aber...als ich vorhin in dieser leeren Wohnung aufgewacht bin...habe ich sie seltsamerweise vermisst...".

Ungläubiger, resignierender Seitenblick.

"Und weil du sie vermisst, hast du mich angerufen?"

Seufzen, gepaart mit einem hilflosen Grinsen.

"Ich wusste doch nicht, ob sie mich überhaupt sehen will. Es war schon so spät...".

"Gibt's zu, du hast dich nicht getraut!".

Schweigen.

Dann, mit leiser Stimme:

"Ja...ja...vermutlich war es das". Tiefer Seufzer. "Gara...ich habe solche Angst. Dies ist mehr als...diese kurzen Fick-Sachen, die ich zwischendurch am Laufen hatte. Ich darf nichts vermasseln, verstehst du?!".

Der Sänger von Merry streckte seine Hand aus und drückte den Unterarm seines Sempai, ganz sanft nur und spielerisch, doch er hoffte, seinem Freund dadurch Mut zu machen. Und ihn nicht spüren zu lassen, in welchem Dilemma er sich befand.

Erstaunlich genug, dass Kyo dabei war, sich einer Frau zu öffnen, sie nicht nur als Objekt zur Befriedigung seiner Lust zu sehen. Dass er allerdings auch noch mit dem Gedanken spielte, sie in sein Leben zu lassen, ihr Einblick in seine Welt zu gewähren, dass war allerhand. Und damit hatte Gara nun definitiv nicht gerechnet. Nicht, dass er es sich für seine Cousine nicht gewünscht hätte, aber...

"Nun denk nicht so viel nach - tu einfach, was du als richtig erachtest".

"Wenn ich bloss wüsste, was richtig ist. Es ist so lange her, dass...".

Verdrossen verzog sich der Mund des Älteren.

Gara wagte einen scheuen Blick in sein Gesicht. Seine Augen.

Schmerz. So viel Schmerz in diesen dunklen Seen. Und Müdigkeit. Ja, Kyo schien der Dämonen in sich endgültig müde zu sein - und doch hatte er nicht die Kraft, sie zu verbannen. Sie, die ihn seit Jahren peinigten.

"Lass deine Vergangenheit dir nicht deine Zukunft verbauen! Bitte...".

Die Stimme des Jüngeren durchbrach beinahe flehend die eingetretene Stille.

Anstelle einer Antwort liess der Dir en grey-Sänger bloss ein hämisches Grinsen hören. Und schämte sich gleich darauf dafür. Was war heute nur mit ihm los? Gara war hier, bei ihm, hatte sich Zeit für ihn genommen, hörte ihm zu - und was tat er?! Wenn er so weitermachte, würde sein Kouhai bald frustriert und angenervt das Feld räumen.

"Aber... sie ist immer noch da! Ich träume von ihr ! Ich sehe Chieko in meinen Träumen, aber sie hat ihr Gesicht!".

Verzweiflung begleitete den Ausbruch des älteren Sängers - und in Gara machte sich immer mehr Hilflosigkeit breit.

Was hatte er getan? Was taten er und Chieko Kyo an? Und vor allem...was sollten sie tun?!

"Und...wenn du Chieko von ihr erzählst?"

Ganz leise nur brachte der Jüngere den Vorschlag hervor. Fast so als fürchte er, seinen Freund dadurch noch stärker zu belasten.

Doch dieser nickte nur und zündete sich eine Zigarette an.

"Vermutlich wird es nicht anders gehen - es muss etwas passieren, ich muss etwas tun. Ich hoffe bloss, Chieko wird stark genug sein, sie aus mir zu vertreiben".

"Das ist nicht Chiekos Job. Dafür bist allein du zuständig. Stelle dich deinen Dämonen und biete ihnen die Stirn...".

Ergebenes Nicken.

"Ich weiss...aber manchmal hilft es mir, mir einzubilden, dass nicht die ganze Last auf mir liegt. Dass irgendwo da draussen jemand ist, der mich errettet...".

Einem plötzlichen Impuls folgend legte Gara seinem Sempai den Arm um die schmale Schulter und zog ihn vorsichtig an sich.

"Du trägst diese Last nicht alleine. Ich bin doch da, und auch Daisuke, und das weißt du...".

Tiefes Luftholen.

"Ja, ich weiss, danke...es ist nur...die letzte Schlacht werde ich ganz alleine schlagen müssen, da kann mir niemand helfen...".

Mit einem Seufzen liess der Jüngere von Kyo ab und fuhr sich hilflos mit beiden Händen übers Gesicht. Seine trockene Haut spannte sich unangenehm über die hohen Wangenknochen. Wahrscheinlich war es doch langsam an der Zeit, dass er in sein Bett kam. Doch konnte er seinen Freund so alleine lassen?

Als hätte er die Gedanken seines Kouhais gehört, erhob sich der Ältere plötzlich und war auf einmal wieder ganz unbefangen. Was für ein verdammt guter Schauspieler er doch war.

"Du schaust aus, als könntest du etwas Schlaf vertragen...".

Er bedachte Gara mit einem breiten Grinsen.

Der Jüngere nickte bloss und erhob sich ebenfalls.

"Danke, dass du gekommen bist, ne...".

Liebevolles Lächeln.

"Keine Ursache, immer gern...".

"Soll ich dir ein Taxi rufen?".

Der Merry-Sänger holte sich seinen Mantel, kramte sein Keitai hervor und warf einen schnellen Blick aufs Display.

"Nein, die ersten Züge fahren schon wieder...".

Kyos Augen wurden riesengross.

"Haben wir so lange gelabert?! Wow...".

"Hat gut getan...".

"Naja...wohl nur mir - du hast ja kaum was erzählt...". Zerknirscht.

Gara schlüpfte in seinen Mantel und lächelte gutmütig.

"Na und? Irgendwann komm ich auch wieder auf meine Kosten...sorg du jetzt erstmal dafür, dass die Sache mit Chieko Gestalt annimmt".

Und er würde dafür sorgen, dass seine Cousine Kyo die Wahrheit beichtete - er konnte es nicht.

"Genau, apropos Chieko, was ich noch fragen wollte...meinst du, sie mag Ryokans?".

Amüsiert hob der Jüngere die Augenbrauen.

"Gegenfrage: Wer mag sie nicht?!". Lachen.

"Naja...ich bin mir halt nicht sicher...".

"Ich sag's dir nochmal: Tu, was du für richtig hältst!".

Nun musste der Ältere ebenfalls lachen.

"Okay, okay, hab schon verstanden...und nun hau ab, du schaust verdammt fertig aus".

Gara band sich sein Halstuch um und drehte den Schlüssel der Eingangstür.

"Gleichfalls!". Freches Grinsen.

"Komm gut nach Hause, ne, und danke nochmal!".

Der grosse, dünne Sänger nickte und trat ins Treppenhaus. Gerade als er schon die Treppe runtergehen wollte, wandte er sich noch einmal um und sah seinem Sempai fest in die Augen.

"Kyo, schaue ich echt so furchtbar aus?".

"Natürlich nicht - keine Angst, die Leute auf der Strasse werden schon nicht schreiend vor dir davonlaufen...".

"Das meinte ich nicht - ich meinte...du weißt schon...".

Sofort erstarb das Grinsen des Älteren und machte tiefer Betroffenheit Platz.

"Gara...nein...vergiss meinen doofen Spruch, das war nicht so gemeint!".

Am liebsten hätte der Sänger von Dir en grey seinen Freund zurückgezogen und ihm die dummen Gedanken ausgeredet, doch Gara wandte sich nun endgültig zum Gehen.
 

Und während Kyo reglos in der offenen Tür stehen blieb und Nidhögg wieder an sich nagen fühlte, trat Gara raus in die kalte Morgenluft, begleitet von seinen eigenen Dämonen.
 

* * *
 

Der Kloss in seinem Hals wuchs mit jeder verstreichenden Minute, und sein Herz wurde schwer. Gerne hätte er jetzt Zigarette um Zigarette geraucht, doch nach der Erkältung, die er gerade durchgemacht hatte, erschien ihm dies nicht allzu vernünftig. Stattdessen tigerte er - schon seit er aufgestanden war - nervös durch die ganze Wohnung.

"Meinst du nicht, es reicht? So schlimm wird's doch wohl nicht werden...".

Yoshie schaute von ihrem Magazin auf.

Der Angesprochene zuckte nur die Schultern und fuhr sich durch die kurzen Haare.

"Du hast gut reden. Ich fühl mich, als ob Kaoru und ich heute entscheiden würden, ob unsere Freundschaft Begnadigung kriegt oder ob wir sie aufs Schafott schicken...".

"Naja, ganz so abwegig ist das Bild nicht, dass du da vor dir hast".

"Und da sagst du mir, ich solle ruhig sein?! Danke auch...".

Die junge Frau legte die Zeitschrift beiseite, stand auf und zog Die in ihre Arme.

"Was ich meine ist: Die Sache wird so ausgehen, wie sie ausgehen muss. Egal, ob ihr danach bereit seid, euch eine Chance zu geben, oder nicht - diese Aussprache muss sein. Aber es bringt doch nichts, dass du dich hier verrückt machst".

Die letzten Worte nur noch ein Flüstern an seinem Ohr.

Statt zu antworten, drückte der Gitarrist seine Freundin ganz fest und liess erst von ihr ab, als die Türklingel ertönte.

"Okay, es ist soweit...".

Mit einem unsicheren Grinsen ging der junge Mann zur Gegensprechanlage, um den Buzzer zu betätigen, während Yoshie sich eine Stola umlegte und ihre Tasche schnappte.

"Kopf hoch, das wird schon".

Ein ermutigendes Lächeln.

"Denk an mich. Und viel Spass mit Yumi...".

Ein noch breiteres Lächeln, ein Küsschen von rosa Lippen auf eine blasse Wange, dann war die junge Frau auch schon zur Tür raus.
 

Die atmete tief durch.

Sollte er hier stehen bleiben? Nein, das wirkte so linkisch.

Mit ein paar langen Schritten machte er sich auf ins Wohnzimmer, um seinen Gast auf der Couch sitzend zu erwarten.
 

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und fiel gleich danach wieder ins Schloss.

Leise Schritte.

Das Knistern von Stoff.

Kaoru war oft genug hier gewesen, um zu wissen, wo er seine Sachen ablegen konnte.

Als Die schliesslich den Kopf zur Tür wandte, stand sein alter Freund da und starrte ihn an.

"Hallo, komm rein...".

Auch Kaoru war unsicher. Sein flackernder Blick wanderte unstet im Zimmer umher.

"Hi...geht's dir besser?!".

Nicken.

"Ja, geht so. Hab seit gestern Abend kein Fieber mehr, von daher...Willst du was trinken?".

Nun nickte der ältere Gitarrist und nahm auf dem komfortablen Sofa Platz.

"Kaffee? Bier? Wasser? Saft? Tee?".

"Kein Kaffee. Und auch kein Bier. Apfelsaft?".

Die erhob sich und machte sich kurz in der Küche zu schaffen, bevor er zu Kaoru zurückkehrte.

Verdammt, das würde so schwer werden...

"Wie geht's Yumi?!".

Small Talk

"Gut. Der Arzt ist zufrieden. Und ich erst. Hab die Kleine heute zum ersten Mal auf dem Bildschirm gesehen".

Ein Strahlen stahl sich in die nervösen Augen.

"Nun kriegt ihr also eure Aiko...". Die lächelte.

Erstaunen.

"Du erinnerst dich noch dran?".

Der jüngere Gitarrist schlug die Beine übereinander und liess seinen Blick auf Kaoru ruhen.

"Naja, du hast oft genug davon gesprochen".

Nicken.

"Ja, stimmt...".

Befangene Stille kehrte ein.

Beide nippten an ihren Getränken, liessen eine Minute verstreichen.

Erst dann brachte Die wieder ein paar Worte über die Lippen.

"Ich freu mich für dich und Yumi. Wirklich. Egal, was zwischen uns war und ist, ich gönne euch dieses Glück".

Kaoru liess sein Glas sinken und das Gesagte auf sich wirken.

"Danke, Die. Erinnerst du dich, was du im Tourbus zu mir gesagt hast? Dass ich mit Sicherheit einen guten Vater abgeben werde? Alle haben diese Erwartung an mich, alle sehen mich in der Rolle des Vaters. Aber sag mir: Warum hab ich solche Mühe damit? Warum kann ich Yumis Schwangerschaft nicht geniessen?! Verdammt, ich wollte das doch immer! Ich liebe Kinder! Doch jetzt, wo's soweit ist, schneidet mir die Angst die Luft ab...".

Die spülte seinen trockenen Mund mit Bier.

"Hast du dich schon gefragt, ob deine Ängste nicht eher mit anderen Dingen zusammenhängen?".

Nicken.

"Ja. Und sehr wahrscheinlich tun sie das. Die, was geschieht mit uns?".

Jetzt kamen sie also auf den Punkt. Wesentlich schneller, als Die erwartet hatte. Vermutlich konnte auch Kaoru es kaum abwarten, alles hinter sich zu bringen.

Bevor er antwortete, putzte er sich die Nase, doch danach konnte er das Unvermeidliche nicht mehr länger rauszögern.

"Das vermeintliche Paradies ist zu einer Hölle geworden, der wir nicht entrinnen können. Doch statt zusammenzuwachsen, driften wir auseinander, weil wir nicht anders können. Weil es in unseren Naturellen liegt. Weil zuviel geschehen ist. Scheisse, Kaoru, 7 Jahre, beinahe 7 verdammte Jahre! Hättest du am Anfang je gedacht, dass du mich einmal hassen würdest?".

Der Ältere zuckte zusammen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

"Warum sollte ich dich...", fing er an, doch sofort schnitt Die ihm das Wort ab. Wenn er jetzt nicht weitermachte, würde er sich nie wieder trauen.

"Du tust es, und ich weiss es! Und das im Endeffekt nur wegen eines bescheuerten Songs. Musstest du dich deshalb so grausam an mir rächen? Nur weil dein verdammter Stolz dich nicht einsehen lässt, dass du nicht immer die erste Geige spielen musst, obwohl du der Leader bist?!".

Die letzten drei Worte waren so voller Verachtung, dass der Jüngere sich vor sich selbst erschreckte.

Doch er war noch nicht fertig.

"Ich habe dieses Mädchen damals sehr gern gehabt. Wirklich. Und ich weiss bis heute nicht, wie du's angestellt hast. Aber vermutlich stehen solche Weiber auf Leader-Typen, da kann so einer wie ich natürlich nicht mithalten. Doch weißt du was? Im Nachhinein gesehen bin ich dir dankbar, dass es so gelaufen ist; deine Aktion hat mir die Augen geöffnet und nun hab ich Yoshie. Eigentlich hatte ich gehofft, dass du dich änderst, als du Yumi kennen lerntest. Sie ist ein gutes Mädchen. Aber selbst bei ihr baust du nur Mist. Du hast so viele Gesichter - und das für mich strotzt vor Hass. Ich hatte gehofft, irgendwann, vielleicht sogar noch vor drei Tagen im Tourbus, dass alles wieder so wird, wie es mal war. Dass wir alle wieder die Freunde werden würden, die wir waren. Doch wie du heute zu dieser Tür rein gekommen bist, wurde mir bewusst, dass es kein Zurück mehr gibt. Für keinen von uns. Wir haben unsere Seelen dem Teufel verkauft".

Dies Stimme brach ab, und er leerte sein Bier in schnellen Zügen.

Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich leer. Er hatte gehofft, eine grosse Erleichterung zu verspüren, doch da war nichts als Leere.

Von Kaoru kam eine ganze Weile keine Reaktion. Nur als er das Glas an seine Lippen führte, nahm der jüngere Gitarrist das Zittern seiner Hand wahr und wusste, dass gleich ein Sturm losbrechen würde.

"Ja, ich hasse dich! Für dein Aussehen, deine Figur, deine Ausstrahlung! Dafür, dass alle dich mögen. Für dein Lächeln. Und dafür, dass du bessere Solis spielst als ich. Und dass deine Songs alle gleich beim ersten Hören umhauen. Und noch für einiges mehr, aber das tut nichts zur Sache. Und ja, du hast Recht, ich bin ein ganz schönes Arschloch - aber weißt du was? Ich bin gern eins! Anders komm ich in dieser Welt nicht mehr klar. Aber pass bloss auf, was du über Yumi sagst - ich liebe sie und gebe mein Bestes! Ich hab auch Gefühle und Bedürfnisse, selbst wenn du mich für ein Monster hältst."

Der Jüngere grinste verächtlich, sagte aber nichts.

"Deshalb sag mir eins, Die, und sei ehrlich, ich muss das wissen: Gibst du mir die Schuld an dem, was mit Dir en grey geschehen ist?".

Diese Frage hatte er nun allerdings gar nicht erwartet. Dies Kopf fuhr herum und seine grossen Augen richteten sich auf den Bandleader. Er hätte ihn ohne weiteres anlügen können - hier und jetzt. Am liebsten hätte er es getan und den Älteren damit bis ins Mark getroffen. Doch wenn es etwas gab, wozu Die nicht neigte, waren es Unfairness und Boshaftigkeit.

"Nein, Kaoru. Er ist Schuld. Wir waren alle blind. Vermutlich hätten wir auf dich gehört, wenn du schon zu Beginn Zweifel gehegt hättest, doch...du warst genau so enthusiastisch wie wir alle. Verdammt, es ging schliesslich um die Verwirklichung unseres gemeinsamen Traums. Wer denkt da schon an die Folgen?!". In Die keimte plötzlich ein Verdacht auf. "Wie lange hast du dir die Schuld daran schon eingeredet?".

"Schon viel zu lange. Manchmal erscheint mir alles, was wir getan haben, falsch, so schrecklich falsch".

Kopfschütteln.

Seufzen.

"Es hat keinen Zweck, dass wir uns deswegen verrückt machen. Die Dinge sind nun mal so geschehen. Du hättest schon viel früher mit einem von uns drüber reden sollen, dann wär dir vermutlich das mit deinem Magen erspart geblieben".

Kaoru nickte und trank seinen Apfelsaft aus.

"Ja, vermutlich".

Wieder herrschte Schweigen, bis der Leader erneut das Wort ergriff.

"Können wir uns auf etwas einigen, Die?".

Der Angesprochene blickte erwartungsvoll auf.

"Versuchen wir, so gut es geht auszukommen? Die anderen wissen auch, wie's um uns steht, aber sie haben ihre eigenen Probleme und kämpfen ihre eigenen Schlachten, wir sollten sie nicht zu sehr mit reinziehen".

Die holte tief Luft.

"Ja, wollt ich auch vorschlagen. Ich fürchte nur, Toshiya wird sich nen Deut darum scheren - er steckt schon zu sehr mit drin".

"Das ist ja wohl aber deine Schuld!".

"Ja, klar, hab ja nichts anderes behauptet". Der Jüngere ging in die Defensive.

"Okay, dann...weisst du, ich hatte auch gehofft, dass wir alles irgendwie klären können, aber wie du schon gesagt hast, es hat keinen Sinn mehr. Versuchen wir einfach, uns zu arrangieren, okay?".

"Was anderes bleibt uns wohl kaum übrig...".

Seufzen.

"Redest du mit Toshiya?!".

"Traust dich wohl nicht, was?". Die rang sich ein Grinsen ab.

"Es besteht die Gefahr, dass er mir eine reinhaut".

"Toshiya? Das glaubst du wohl selber nicht!".

Nun musste der Jüngere ehrlich lachen und schüttelte dabei den Kopf.

Kaoru wurde sofort wieder ernst.

"Wie auch immer. Ich wollte, ich könnte dir verzeihen. Aber ich kann es genauso wenig, wie du mir. Belassen wir es dabei und tun, was das Beste für die Band ist. So ist es eigentlich recht fair, findest du nicht?".

Nein, fand er nicht. Was Kaoru ihm bis heute nachtrug, hatte er, Die, nicht selber verschuldet, während der Bandleader mit voller Absicht gehandelt hatte. Wie ein schwarzer Racheengel. Bei dem Gedanken fröstelte der Jüngere. Er würde sich hüten, Kaoru zu widersprechen. Stattdessen nickte er bloss.

"Ja, konzentrieren wir uns auf die Band und versuchen wir, das Persönliche auszuklammern, wo es nur geht."

"Es sollte nicht beim Versuch bleiben."

Der ältere Gitarrist schien sich plötzlich an etwas zu erinnern und zog einen zusammengefalteten Umschlag aus der Gesässtasche seiner Jeans.

"Die erste Feuerprobe gibt's schon bald."

Neugierig und auch etwas ängstlich nahm Die den Umschlag entgegen, riss ihn auf und widmete sich dem Inhalt.

Das Augenpaar das sich danach auf Kaoru richtete, schien voller Leid.

"Dieser verdammte Sadist!".

"Da stimme ich dir ausnahmsweise zu - lass dir aber ja nichts anmerken, ja?! Oh, und keine Angst, ich werde nicht den ganzen Nachmittag bleiben können - muss an dem Tag noch zum Arzt".

"So ganz zufällig?"

"Natürlich".

Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, verschwörerisch, als hätten sie gerade eben einen Pakt geschlossen. Dann erhob sich der Ältere und brach den Zauber.

"Schön, dann wär also alles geklärt. Bleib ruhig sitzen - ich find schon alleine raus."
 

Als die Tür ins Schloss fiel, stieg Verzweiflung in Die auf. Gehässig starrte er auf die Eintrittskarte zum Universal Park und steckte sie zurück in den Umschlag. Auf so eine Idee konnte auch nur Tommy kommen. Ihn und Kaoru zusammen in nen Vergnügungspark zu schicken, und das nur, um gegenüber den Fanclub-Mitgliedern den schönen Schein zu wahren.
 

Schön, dann wär also alles geklärt.
 

Ja, das war's dann wohl.

Eine jahrealte Freundschaft - geopfert für einen Traum, der zum Albtraum geworden war.

Der Schlund zur Hölle hatte sich endgültig geöffnet und nie war dem Gitarristen der Himmel ferner erschienen.

You in the dark

You in the pain

You on the run

Living a hell

Living your ghost

Living your end

Never seem to get in the place that I belong

Don't wanna lose the time

Lose the time to come
 

Whatever you say it's alright

Whatever you do it's all good

Whatever you say it's alright

Silence is not the way

We need to talk about it

If heaven is on the way

We'll wrap the world around it

If heaven is on the way

If heaven is on the way...
 

* * *
 

Der Sänger von Merry schob seine schmale Gestalt durch die vielen Fans und bahnte sich mühevoll seinen Weg zum VIP-Bereich. Er spürte, wie einige Blicke an ihm haften blieben und ihm folgten, doch der Anstand seiner Landsleute verbot es ihnen, ihn anzusprechen. Also gelang es ihm nach einigen Minuten, unbedarft den etwas erhöht stehenden, abgesperrten Teil der Halle zu erreichen, wo er vom Sicherheitsdienst ungefragt durchgelassen wurde. Unter und neben ihm Wogen von Köpfen. Aufgeregtes Getuschel lag in der Luft, durchbrochen von den oft surreal anmutenden Klängen der Nine Inch Nails.

Irgendwann musste er Kyo dazu bringen, für andere Background-Mucke zu sorgen.

Rauchend stand er da und warf einen Blick auf die Bühne. Düster, wie immer. Dir en grey-Konzerte hinterliessen bei ihm meist einen schalen Nachgeschmack, und doch freute er sich, die Band eines seiner besten Freunde wieder einmal zu sehen.

Seltsamerweise war er nervös - und konnte sich nicht erklären, warum. Irgendetwas bahnte sich an, er konnte es praktisch fühlen, und doch konnte er nicht bezeichnen, worauf sich seine Empfindungen stützten.
 

Das Eintreffen seiner beiden Bandkollegen lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Ken und Tetsu hatten in der Menge noch Bekannte getroffen gehabt und es erst jetzt bis hierher geschafft.

"Hey, warum bist du denn so schnell weitergegangen?".

In Kens Stimme lag ein leichter Vorwurf.

Schulterzucken.

"Hatte grad einen Bock, mit den Leuten zu reden".

"Deine Laune ist ja mal wieder berauschend", murmelte Tetsu mit verzogenem Mund und wandte sich dann ab. Er hatte in einer Ecke des Bereiches Daruma entdeckt, ihren Freund und Illustrator vieler ihrer CD-Cover.

Mit einem Seufzen blickte Gara ihm nach und schenkte Ken danach ein entschuldigendes Lächeln.

"Hältst du's für ne gute Idee, dir heute Abend Dir en grey anzuschauen?".

Ken kannte den Sänger, wenn er in dieser lustlosen Stimmung war.

"Meinst du, zuhause hocken wär mir besser bekommen? Ausserdem bin ich es Kyo schuldig...".

Der Gitarrist nickte nur und schwieg. Gara hatte ja recht. Hier konnte er sich wenigstens von dem ablenken, was ihn quälte. Was auch immer es war. Manchmal wünschte er sich, sein Bandkumpel wäre offener zu ihm. Ihn seit Wochen in einem Gefühlschaos dahindümpeln zu sehn, gefiel Ken gar nicht. Aber da er nicht einmal wusste, was Gara so sehr beschäftigte, hatte es keinen Sinn, tiefer in ihn zu dringen.
 

Schon in der nächsten Minute jedoch dämmerte ihm, was mit Gara los war.
 

Eine hochgewachsene Gestalt näherte sich der VIP-Zone. Es fiel Ken nicht schwer, Tatsurou zu erkennen. Und hinter ihm...
 

...Garas Ex-Freundin.
 

Ken brauchte nur einen Blick auf den Sänger zu werfen, um zu sehen, dass dieser Sachiko ebenfalls erkannt hatte. Unauffällig entfernte er sich, um sich zu Tetsu und Daruma zu gesellen; hier war er eindeutig fehl am Platze.
 

Garas Herz tat einen Sprung, als er Tatsurous Begleitung sah. Was zum Teufel sollte das denn bitte? Gehetzt sah er sich nach einem Fluchtweg um, doch der MUCC-Sänger und die junge Frau hatten ihn bereits erblickt und steuerten nun direkt auf ihn zu. Verdammt, was dachte Tatsurou sich dabei?
 

Der grosse Sänger war als Erster bei ihm; Sachiko blieb etwas abseits stehen und tat so, als würde sie der Soundcheck auf der Bühne brennend interessieren.
 

"Was soll das?!".

Garas Stimme war nur ein Zischen.

"Guten Abend, freue mich auch, dich zu sehen".

Ein selbstüberzeugtes Lächeln zeigte sich auf Tatsurous Gesicht.

"Warum ist sie hier?!?".

Das Lächeln verschwand.

"Kannst du dir das nicht denken? Ich hab das ganze Getue endgültig satt und dachte mir, ich helf nach".

Entsetzen stand Gara ins Gesicht geschrieben. Seine Vorahnung hatte ihn also nicht getäuscht. Verdammt, ja, er hatte sich nach Sachi gesehnt, er hatte sie wiedersehen wollen - doch eine gewisse Vorbereitung darauf wäre nicht schlecht gewesen. Jetzt traf ihn ihre Anwesenheit wie ein Schlag.

"Hättest du mir nicht wenigstens Bescheid sagen können?!".

"Was denn? Damit du dich dann einfach drückst?! Nein, mein Lieber!".

Tatsurou schüttelte bestimmt den Kopf, seine fransigen Haare wippten hin und her.

"Hat sie gewusst, dass ich hier bin?".

Nicken.

"Ja - und weißt du, ich glaube, sie wollte dich insgeheim auch endlich wieder sehn. Vermassel es bloss nicht!".

Fassungslos starrte Gara seinem Freund nach, als dieser sich zwinkernd abwandte und mit einem breiten Grinsen zwischen den Anwesenden verschwand.
 

Die junge Frau hatte sich ihm zugewandt und ihre Blicke trafen sich im Halbdunkel. Als die brachialen Klänge von "G.D.S." aus den Boxen drangen und die Fanmenge in Hysterie versetzten, machte Gara einen Schritt auf Sachiko zu. Und auf einmal konnte das bevorstehende Konzert unwichtiger nicht sein...
 

* * *
 

Als sie die Backstage-Räumlichkeiten durch die Hintertür verliess, wusste sie nicht, ob sie vor Freude hüpfen oder vor Verzweiflung in Tränen ausbrechen sollte.

Eigentlich hätte sie allen Grund gehabt, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein - und doch wog das schlechte Gewissen schwerer. Sie fühlte sich wie eine Verräterin und wusste nicht, wie sie alles sollte klären können, ohne Kyo zu sehr zu verletzen und am Ende auch noch seine Freundschaft zu Gara zu gefährden.

Was hatten sie bloss angerichtet? Warum war sie auf Garas wie ihr jetzt schien blöde Idee eingestiegen?

Sie wusste nicht, wie Kyo auf ihre Eröffnungen reagieren würde - doch die reine Vorstellung erfüllte sie mit Furcht.
 

Kühler Wind wehte über den mittlerweile menschenleeren Platz. Nur liegengelassene Flyer, Zigarettenstummel und ein paar vergessene PET-Flaschen zeugten davon, dass hier noch vor zwei Stunden erschöpfte, aber aufgedrehte Fans das Konzert verlassen hatten.

Sie war länger bei der Band geblieben, als sie vorgehabt hatte. Eigentlich war nicht vorgesehen gewesen, dass sie backstage ging, doch einer der Crew hatte sie nach dem Gig gesehen und nach hinten geholt, wo ihr Misstrauen entgegen geschlagen war, bis Kyo auf der Bildfläche erschien. Und auch nachdem er bei ihr war, konnte sie sich des Gefühls nicht verwehren, dass ihre Anwesenheit einigen Leuten nicht passte. Sie hoffte bloss, dass Kyo für diese Aktion keine Scherereien bekommen würde. Ganz offensichtlich hatte keiner der anderen Jungs seine Freundin dabei.
 

Kaoru und Shinya waren früh gegangen und auch die Leute von Crew und Security hatten sich nach getaner Arbeit verabschiedet. Am Ende war sie nur noch mit Kyo, Die, Toshiya, Yukie, Inoue und einem der Fanclub-Mädchen rumgelümmelt und hatte mit ihnen Bier getrunken, geraucht und das Konzert Revue passieren lassen.
 

Aus Inoue wurde sie auch jetzt, wo sie ihn etwas besser kannte, nicht schlau. Doch auch er schien nicht mehr als in kleines Rädchen in der grossen Maschinerie zu sein. Er war freundlich zu ihr gewesen, um nicht zu sagen zuvorkommend - aber die Art, wie Kyo sich ihm gegenüber verhielt, hatte sie wachsam gemacht und sie wusste, dass sie dem Manager nicht trauen konnte.
 

Mittlerweile hatte sie den Platz überquert und bog in eine der schmalen Strassen ein, die von der Halle wegführten. Trotz der späten Stunde waren immer noch viele Menschen unterwegs und bevölkerten die Cafés, an denen sie vorbei ging. Wenn sie sich beeilte, würde sie es mit der Subway bis nach Hause schaffen und kein Taxi rufen müssen. Eigentlich hatte Kyo drauf bestanden, dass sie mit ihm und den anderen im bandeigenen Van nach Hause fuhr, doch sie hatte Inoues Toleranz nicht noch mehr ausreizen wollen und hatte sich verabschiedet, bevor Kyo weiter in sie dringen konnte. Der Sänger hatte es sich jedoch nicht nehmen lassen, ihr bei der Verabschiedung einen kleinen Zettel in die Hand zu drücken, den sie, sobald sie vor dem Backstage-Raum im Gang stand, gelesen hatte.
 

Komm in zwei Wochen nach Osaka. Wir spielen dort zweimal - und ich kenn ein tolles Ryokan...
 

Vermutlich hatte Kyo den ganzen Abend darauf gehofft, ihr diese Worte persönlich sagen zu können, doch Inoue war nie von seiner Seite gewichen und wahrscheinlich war der Sänger auch nicht sonderlich erpicht darauf, dass seine Bandkollegen über seine Pläne Bescheid wussten. Soweit Chieko von Gara gehört hatte, war es den Jungs von Dir en grey nicht erlaubt, sich auf ner Tour in einem anderen als dem vom Management ausgesuchten Hotel einzuquartieren. Kyo schien also gewillt zu sein, für sie jede Menge Ärger in Kauf zu nehmen. Und sie hatte es immer noch nicht geschafft, ihm die Wahrheit zu sagen...
 

Mittlerweile hatte der Wind noch mehr aufgefrischt und trug den Geruch des nahenden Regens in sich. An den Tischen draussen vor den Cafés sassen nur noch vereinzelt junge Leute, alle anderen hatten sich nach drin in die Wärme verzogen. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie im Pärchen am Tisch, an dem sie gerade vorüber ging, Gara und Sachiko. Voller Überraschung blieb sie stehen und näherte sich den beiden.

"Dass ich das noch erleben darf - konban wa".

"Chie-chan...". Sachikos Gesicht begann zu strahlen. "Setz dich doch zu uns - hab dich beim Konzert gar nicht gesehen!".

Chieko liess sich auf einem der Holzstühle nieder und erwiderte mit einem grinsenden Blick auf Gara: "Na, kein Wunder...".

Der Sänger zog eine Grimasse.

"Und wo warst du? Bei deinem Koibito?".

"Ja, erzähl, gibt's was Neues?!", schlug Sachi in die selbe Kerbe.

"Ja und ja. Und ich erzähl nur weiter, wenn du mich morgen anrufst und mich aufklärst, was das hier soll".

Sachiko wusste auch ohne weitere Erklärung, worauf ihre Freundin ansprach, und gab ihr mit einem geheimnisvollen Lächeln zu verstehen, dass sie ihr einiges zu erzählen hatte. Garas empörtes Gesicht wurde von beiden Mädchen konsequent ignoriert.
 

Nachdem Chieko sich ein Glas Rotwein bestellt hatte, klaubte sie Kyos Zettel aus der Tasche ihres Blazers und hielt ihn den beiden anderen hin.

"Kuso!".

Sachi blickte verwirrt von ihrer Freundin zu Gara.

"Was ist denn?".

"Kyo weiss noch immer nicht, dass sie meine Cousine ist und dass..."

"...das alles deine blöde Idee war!", vollendete Chieko den Satz und zündete sich eine Zigarette an.

"Hey, ich hab's nur gut gemeint! Ihr mögt euch doch!".

Verteidigend erhob der Sänger seine Stimme.

"Du weißt genau, dass das nicht reicht! Wir sitzen ganz schön in der Tinte!".

Chieko nahm den Zettel wieder an sich und steckte ihn sorgsam zurück in ihre Tasche.

Seufzend nippte Gara an seinem Bier und starrte vor sich hin.

Eine ganze Weile sagte keiner was. Nur Chiekos Inhalieren des Rauches war zu hören.

Dann ergriff der Sänger wieder das Wort.

"Ich weiss, warum er dich dahin einlädt. Er hat mich gefragt, ob du sowas magst. Er möchte dir gern mehr von sich erzählen...".

"Und das sagst du mir erst jetzt?!".

"Ich weiss es doch auch erst seit vier Tagen!".

"Na toll...er vertraut mir - und dann komme ich und mache alles wieder zunichte. Super".

Gehässig nahm Chieko ihrer Zigarette das Leben.

"Aber je länger ihr wartet, umso härter wird's, oder?!", meldete sich Sachiko zu Wort.

Gara und seine Cousine nickten.

"Weißt du, was er mir erzählen will?".

Chieko mustere Gara forschend.

Dieser atmete erstmal tief durch und rückte danach mit der Sprache raus.

"Die Sache mit seiner Verlobten, du weißt schon. Er ist noch immer nicht drüber weg - und er meint, wenn er's dir erzählt, wird's vielleicht besser...".

Verzweifelt reib seine Cousine sich die Stirn.

"Das wird ja immer schöner - er schüttet mir sein Herz aus und als Dank dafür ramme ich ihm gleich danach ein Messer rein. Na denn Prost!".

Sprach's und stürzte den bisher unangetasteten Wein in wenigen Schlucken runter.

"Versuch halt, ihm zuvor zu kommen - da hat er wenigstens noch die Möglichkeit, dich aus dem Ryokan zu schmeissen".

Sachikos witzig gemeinte Bemerkung lockerte die Stimmung etwas auf - doch sie alle wussten, dass Chieko eine schwere Aufgabe bevorstand.

"Naja, wie auch immer - jetzt seh ich ihn erstmal ne Weile nicht und hab genügend Zeit, mir die richtigen Worte zurecht zu legen. Ich hoffe nur, er versteht, wie wichtig er mir ist, auch wenn ich ihn angelogen habe...".

Gara lächelte seiner Cousine aufmunternd zu.

"Keine Angst, das wird schon".

Zweifelndes Grinsen.

"Tu nicht so, ich weiss genau, wie nahe dir die Sache geht...".

Mit diesen Worten erhob sich die junge Frau, hänge sich ihre Handtasche um und zündete sich eine weitere Zigarette an.

"Okay, ich lass euch dann mal wieder. Danke fürs Zuhören."

"Gern geschehen - ich ruf dich morgen an, dann reden wir weiter".

Chieko nickte ihrer Freundin dankbar zu, bedachte Gara mit einem Zwinkern und verschwand in die Nacht, deren schwarzgewandeter Himmel gerade anfing, Tränen zu vergiessen.
 

* * *
 

"Na, wie ist's gelaufen? Ihr scheint euch ja prächtig amüsiert zu haben".

Tatsurous gut gelaunte Stimme drang an sein Ohr.

"Ich weiss gar nicht, wie ich dir danken soll...".

"Oh Gott, nun werd ja nicht rührselig, ja!".

"Alleine hätte ich mich aber nie überwinden können, wieder mit ihr zu reden, geschweige denn mich überhaupt bei ihr zu melden".

"Und da ich dein Kumpel bin und mir das alles bekannt war, habe ich gehandelt. So einfach ist das".

Gara grinste über die Worte das anderen Sängers und setzte sich bequemer hin.

"Wie gesagt: Danke!".

"Keine Ursache. Wie schaut's denn jetzt mit euch beiden aus?".

"Wir haben lange geredet. Haben uns nur die Hälfte des Konzerts angeschaut und uns dann abgesetzt".

"Kyo wird Verständnis dafür haben".

Das war es, was Gara an Tatsurou schätzte - seinen trockenen Humor.

"Das will ich doch sehr hoffen".

Für eine Sekunde übermannte ihn wieder das schlechte Gewissen, wenn er an die Sache mit Chieko dachte. Dafür würde Kyo bestimmt weniger Verständnis aufbringen können. Tatsurou gegenüber sprach er seine diesbezüglichen Ängste jedoch nicht aus. Es reichte, wenn Chieko, Sachiko und er sich Sorgen machten - mehr Leute würde er nicht mit reinziehen.

"Und, wie geht's jetzt weiter? Komm schon, red mit mir!".

Tatsurous Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

"Naja, mal sehn. Wir treffen uns morgen wieder. Sie hat noch Gefühle für mich - und du weißt ja selbst, wie ich zu ihr stehe. Wir wollen nur nichts überstürzen, aber...es schaut ganz gut aus".

"Dann kann ich also davon ausgehen, dass meine Aktion ein Erfolg war?".

"Auf der ganzen Linie!".

"Ha - ich bin so gut!".

Gara konnte hören, wie der MUCC-Sänger im Zimmer umhersprang und so tat, als würde er sich vor Freude nicht mehr einkriegen.

"Baka! Wie schaut's eigentlich mit deinem Liebesleben aus?".

Der plötzliche Themenwechsel brachte Tatsurou dazu, sich wieder zu beruhigen. Er blieb jedoch stehen und kratzte sich am Hinterkopf.

"Wie kommst du darauf?".

"Weiss nicht - ich vermisse deine Fick-Geschichten. Keine Eroberungen mehr gemacht?".

"Klar doch, hab dir nur nicht mehr davon erzählt, um dich nicht zu frustrieren".

Trotz des Lachens in der Stimme des Anderen wusste der Merry-Sänger, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte und Tatsurou dabei war, sich rauszureden.

"So viel Rücksicht kenn ich von dir ja gar nicht...".

Schweigen.

Gara konnte hören, wie sein Freund sich hinsetzte und eine Zigarette ansteckte.

"Naja...ehrlich gesagt...hatt ich schon länger keinen anständigen Fick mehr. Letzthin hab ich sogar geträumt, wie ich's mit Miya getrieben hab - meinst du, ich sollte mir Sorgen machen?!".

Am anderen Ende der Leitung konnte Gara gerade noch das Lachen unterdrücken, das die Vorstellung von Miya und Tatsurou in Aktion bei ihm auslöste.

"Öh...mir scheint, du brauchst tatsächlich mal wieder ne Braut...".

"Und was ist, wenn ich auch endlich sowas haben möchte wie du mit Sachi hast?".

Okay, das kam nun wirklich überraschend.

"Es klingt blöd, wenn ich sage, dass dir die Frau fürs Leben auch noch irgendwann über den Weg läuft, oder?!".

"Ja, schon".

"Du wirst sie aber nicht finden, indem du wahllos rumfickst".

Entrüstetes Schnauben.

"Was heisst hier wahllos? Ich hab meine Ansprüche!".

"Jaja, schon klar. Du weißt, wie ich's gemeint hab".

"Und wie hast du gemerkt, dass Sachi die Frau für dich ist?".

Kurzes Nachdenken.

"Ich weiss ja noch nicht mal, wie's mit uns genau weitergeht. Ich weiss nur, dass sie immer noch die Einzige ist, mit der ich mir eine feste Beziehung für längere Zeit vorstellen könnte. Mach dir ganz einfach klar, was du willst. Und dann geh raus und schau dich um - gibt genug süsse Mädels".

"Und woher weiss ich, dass die mich wollen und nicht mich, den Sänger von MUCC?".

"Sorg halt dafür, dass du eine findest, die deine Band noch nicht kennt. Oder treib eine auf, mit der du in der Schule befreundet warst".

Nun musste Gara endgültig lachen - er konnte nicht fassen, dass Tatsurou sich tatsächlich über sowas Gedanken machte. Unglaublich, wie naiv der Sänger von MUCC sich manchmal anstellte.

Dieser grinste am anderen Ende der Leitung nur gutmütig vor sich hin - doch tief in ihm drin nagte ein bisher nie gekannter Schmerz und er fühlte sich mit einem Mal sehr unverstanden und allein auf dieser Welt.
 

+ + +
 

[Lyrics: "Letting the cables sleep" © Bush]

16.1. [Pele - Teil 1]

Irgendetwas war gestorben.

Er konnte es fühlen. Und sehen. Den Crew-Mitgliedern, die erst seit kurzem mit dabei waren, schien es nicht aufzufallen, sie fielen auf die Charade rein. Doch ihm konnte keiner mehr was vormachen. Nicht nach all den Jahren
 

Der junge Hairstylist hob nachsichtig lächelnd Toshiyas Kapuzenpulli vom Boden auf und legte ihn über eine Stuhllehne. Durch die labyrinthischen Gänge der Halle drangen die Klänge des Soundchecks dumpf an seine Ohren. Er war allein. Die meisten machten sich oben nützlich, während er sich seine Arbeitsutensilien zurecht legte.

Haarspray, Gel, Pomade, Wachs, Schere, Kamm, Fön.

Alles fein säuberlich aufgereiht, bis die Jungs kommen und alles durcheinander schmeissen würden.
 

Er nahm eine angebrochene Flasche Mineralwasser, goss sich einen Becher ein und setzte sich in einen der ausgeleierten Ledersessel. Seine Gedanken wanderten zurück zu den letzten Tagen.
 

Shinya, wie er sich noch mehr als gewöhnlich von allen abkapselte und seine eigenen Wege ging.

Toshiya, dessen Verhältnis zu Die mit jedem Tag inniger zu werden schien.

Kyo. Verknallt. Jedoch ohne rosarote Brille. Stets wachsam, beobachtend, sich seine Meinung bildend.

Die, der in Toshiya einen Ersatz für den Freund gefunden hatte, der ihm endgültig abhanden gekommen war.

Und Kaoru. Stoisch, als könne nichts ihn von seinem eingeschlagenen Weg abbringen. Und kalt, so kalt. Doch Yukie wusste, dass die Lava in seinem Innern brodelte.
 

Der Hairstylist wusste nicht, worin Kaorus und Dies Abmachung bestand. Dass es eine gab, ja geben musste, war ihm jedoch sonnenklar. Während die beiden noch zu Beginn der Tour und auch in den vergangenen Monaten versucht hatten, den schönen Schein zu wahren und so zu tun, als sei alles beim Alten, taten sie nun nichts Dergleichen mehr. Fast so, als hätten sie einander die Erlaubnis erteilt, sich gegenseitig zu ignorieren und damit zu versuchen, sich nicht zu sehr in die Haare zu geraten.

In Hiroshima, als Die sich mit seiner Erkältung rumgeschlagen hatte, hatte er Hoffnung geschöpft. Doch jetzt war ihm bewusst, dass dies sein letzter verzweifelter Versuch gewesen war, die Augen vor der Realität zu verschliessen. Optimismus war hier fehl am Platz. Und wahrscheinlich waren auch die beiden Gitarristen zu diesem Entschluss gelangt.
 

Mit Wehmut dachte Yukie an alte Tage zurück, längst vergangen, doch in seiner Erinnerung festgebrannt, für immer. An den Spass, den sie backstage gehabt hatten. An die Nächte, wo sie alle gemeinsam um die Häuser gezogen waren. An die ausgelassene Stimmung, die bei Konzerten auf der Bühne geherrscht hatte. An das Vertrauen.

Jetzt daran zurückzudenken tat unglaublich weh - und doch schätzte er sich glücklich, die letzen Jahre mit der Band verbracht und in den fünf Musikern sowas wie Freunde gefunden zu haben, auch wenn man nur seine Beziehung zu Toshiya als richtig eng bezeichnen konnte.
 

Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, den fünf Jungs irgendwie zu helfen, verdammt, er hätte es getan. Doch so, wie die Sache stand, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Bangen auf den Ausbruch des Vulkans zu warten - und darauf, dass die Lava alles unter sich begraben und ersticken würde
 

* * *
 

"Warum suchst du dir keinen Nebenjob als Partnervermittler?".

Daisuke zeigte ein freches Grinsen.

"Sehr witzig - ich hab dir das nicht erzählt, damit du dich über mich lustig machst".

Verletztes Schmollen.

Sofort wurde der Sänger von Kagerou ernst und blickte Gara aufmerksam an.

"Warum hast du dich da überhaupt eingemischt?".

"Weil Kyo es nicht zu schaffen scheint, sich ein anständiges Mädchen anzulachen. Aber wie konnte ich denn ahnen, dass er gleich so sehr auf Chie-chan abfährt?!".

"Ach komm, du hattest doch drauf gehofft, dass sie ihm gefällt! Und sie ist ein süsses Mädchen".

"Ja, aber...wir haben Kyo angelogen. Beide. Und mir graut davor, dass Chie ihm in Osaka die Wahrheit sagt...".

Daisuke schwieg und wartete.

"Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubt Kyo in Chie die Frau gefunden zu haben, die ihn Kazuko vergessen machen könnte. Ich hatte gehofft, dass er eines Tages so jemanden findet - aber wenn Chie ihm die Wahrheit sagt, ist sein Vertrauen ein für allemal dahin. Und was dann geschieht, wage ich mir noch gar nicht vorzustellen...".

Der Sänger von Kagerou bemerkte erschrocken, dass er ihren Namen vergessen gehabt hatte. Den Namen, den Kyo nie aussprach und den sich in seiner Gegenwart niemand zu erwähnen traute. Und der doch dem Namen des Bassisten seiner Band so ähnlich war.

"Kyo mag sensibel sein, aber wenn er sich eure Beweggründe vor Augen führt, wird er es verstehn".

"Meinst du?".

Nur ein Nicken.

"Ich hoffe, du behältst recht - andernfalls könnte ich mir die Sache nie verzeihen".

"Noch ist ja alles okay".

Der Sänger von Merry verzog seine Schmolllippen und steckte sich eine Zigarette an.

"Und wie war das mit Tatsurou? Ich kann's ja kaum fassen, dass er dir sowas erzählt hat!".

Gara war froh über den Themawechsel - wenigstens hier hatte er noch keinen Mist gebaut.

"Ja, ne, ich dachte bisher auch, er sei ganz happy mit diesen unverbindlichen Beziehungskisten, die er am Laufen hat".

"Ist das ein Zeichen dafür, dass Tata-sama alt wird?!".

Herzliches Lachen.

"Naja, wahrscheinlich fühlt er sich ausgeschossen, jetzt, wo sich so ziemlich alle um ihn rum in ernstere Beziehungen stürzen".

Daisuke zog eine Schnute.

"Und was ist mit mir?"

"Oh, fühlt Puchi-Daisuke sich auch ungeliebt?!".

"Ja, Puchi-Daisuke hat sich deshalb schon überlegt, ins Wasser zu gehn".

"Baka!".

Gelächter.

"Nein, ehrlich gesagt bin ich grad ganz froh, niemanden zu haben. Wir haben im Moment so viel zu tun, ich hätte eh keine Zeit für ein Mädchen. Und wenn's passt, wird sich dann schon irgendwann was ergeben".

"Die richtige Einstellung".

"Hm, man kann nichts erzwingen, ne?".

Eine Weile sagte keiner der beiden was. Gara rauchte gedankenverloren seine Zigarette zuende, und Daisuke sinnierte ebenfalls vor sich hin.

"Wie war eigentlich das Konzert? Hast du überhaupt was davon mitbekommen?".

Der Sänger von Merry zerdrückte den Stummel im Aschenbecher und blickte verschmitzt grinsend auf

"Aus bekannten Gründen nur die Hälfte - und auch die nur sehr wage".

Nachsichtiges Lächeln.

"Trotzdem, wie war's?".

"Ehrliche oder beschönigende Antwort?".

Der Sänger von Kagerou seufzte auf.

"So schlimm?".

Schulterzucken.

"Wie man's nimmt - man gewöhnt sich an alles...".

"War wohl doch ganz gut, dass ich nicht kommen konnte".

"Wenn du es schaffst, die Bilder von früher aus deinem Kopf zu verdrängen, dann geht's...".

Daisuke schluckte leer.

"Es tut verdammt weh, das mit ansehen zu müssen...".

Sein Freund nickte bloss.

"Gara?".

"Ja?".

"Manchmal habe ich Angst, dass wir auch mal so enden...".

Der Merry-Sänger schüttelte beschwichtigend den Kopf.

"Ach was - denk doch nicht an sowas!".

"Dir en grey hätten es bestimmt auch nie für möglich gehalten...".

"Daisuke, bitte, du bist doch sonst immer so optimistisch!".

Entschuldigender Blick.

"Sorry, aber...wenn ich Kyo so sehe, kann ich dabei nichts Positives finden".

"Hat er dir was erzählt?".

"Nein, wir hatten schon länger keinen Kontakt mehr. Aber...für mich reichen schon Bilder und PVs...".

Mit einem Mal wurde Gara wieder bewusst, wie viel enger Daisukes Verbindung zu ihrem gemeinsamen Sempai sein musste. Er selbst respektierte und schätzte Kyo, bewunderte ihn sogar. Doch die Gefühle, die Daisuke dem Sänger von Dir en grey entgegen brachte, gingen eindeutig tiefer, grenzten an bedingungslose, platonische Liebe. Und doch wusste er, dass, falls Kyo sich eines Tages von ihm abwendete, sein Herz in tausend Stücke brechen würde.

Plötzlich kam dem Sänger von Merry eine Idee.

"Daisuke?".

"Hm?".

"Was hältst du davon, wenn wir Kyo überraschen?".

"Womit denn?".

"Er hat doch nach den beiden Konzerten an Silvester/Neujahr frei, oder? Und wir beide auch. Wie wär's, wenn wir uns für ein paar Tage nach Hokkaido verziehn? Nur wir Drei?".

Grosse Augen begegneten den seinen.

"Sugee na!".

"Gute Idee?".

"Ja, und wie!".

"Tetsus Eltern haben da oben ein Ferienhaus - soweit ich weiss, fliegen sie über Weihnachten nach Hawaii, und wenn sie nicht selbst rauf fahren, vermieten sie das Haus im Winter immer. Wenn ich also Tetsu früh genug Bescheid sage, kann er uns die Hütte frei halten".

Ein Strahlen stahl sich in die dunklen Augen seines Gegenübers.

"Das wär ja perfekt - ich war schon lange nicht mehr so richtig im Schnee. Und Kyo würde die Abwechslung bestimmt gut tun".

"Denk ich auch. Ich red heute gleich mal mit Tetsu".

Das Klingeln von Garas Handy unterbrach die Unterhaltung.

"Sachi?", erkundigte sich Daisuke, neugierig wie immer.

"Nein, Kyo...".

Verwundert nahm der Sänger von Merry den Anruf entgegen.

"Moshi, moshi?!".

"...".

"Hey, alles klar?".

"...".

"Was ist denn los?".

"...".

Garas Gesicht verhärtete sich zu Stein, als er Kyos Worten lauschte. Daisuke rückte näher an seinen Freund ran, im Versuch, mitzubekommen, was ihr Sempai so wichtiges auf dem Herzen hatte.

"Das ist nicht wahr?! Jetzt sind die beiden da? Was denkt DT sich dabei?!".

"...".

"So ein Arschloch!".

Die Stimme des Merry-Sängers wurde lauter, und er rollte kopfschüttelnd die Augen.

"...".

"Ja, ganz deiner Meinung. Und wo bist du grad?".

"...".

"Okay, verstehe. Dann macht euch mal nen schönen Tag - und hey, macht euch nicht zu viele Gedanken, wird schon werden".

"...".

"Keine Ursache, immer gern. Tut gut, wenn man seinem Ärger Luft machen kann, ne?!".

"...".

Daisuke rückte wieder ab. Er hatte kein Wort mitbekommen und starb vor Neugier. Garas angewidertem Gesichtsausdruck nach zu schliessen, hatte Dir en greys Management mal wieder so richtig scheisse gebaut. Wie so oft. Bevor der Telefonierende die Verbindung unterbrechen konnte, bedeutete ihm sein Freund, Kyo von ihm zu grüssen.

"Na, wenigstens das. Daisuke lässt dich übrigens grüssen, er sitzt grad hier bei mir...".

"...".

"Ja, klar...".

Der Sänger von Merry hielt seinem Freund mit einem Grinsen das Telefon hin.

"Er will mal wieder deine Stimme hören".

Das jungenhafte Strahlen, das daraufhin Daisukes Gesicht schmückte, war herzerfrischend.

"Kyo? Genki desu ka?".

"...".

"Hab's mir schon gedacht. Gara kann mir nachher alles erzählen. Aber sonst alles okay?".

"...".

"Da bin ich froh".

"...".

"Ja, bei mir ist alles klar. Muss morgen zum Arzt, damit wir die nötigen Vorkehrungen für die Tour treffen können, aber sonst...alles bestens".

"...".

"Nein, mir geht's wirklich gut! Keine Angst!".

Gara grinste in sich hinein. Typisch Kyo, immer besorgt um seinen Kouhai.

"Wann sehn wir uns denn mal wieder? Hast du Zeit, dir einen unserer Gigs anzuschauen?".

"...".

"Ja, klar, tu das. Meld dich einfach, damit ich dich auf die Gästeliste setzen kann, ne!".

"...".

"Ja, ich freu mich auch...".

"...".

"Danke, kann ich brauchen - bin schon ganz schön nervös".

"...".

"Okay, dann...schönen Tag noch! Und ganbatte, ne!".

"...".

"Ja, du auch. Bai!".

Gara musterte seinen Freund skeptisch, nachdem dieser ihm das Keitai zurückgegeben hatte.

"Du bist rot".

"Bin ich nicht".

"Doch - steht dir gut".

"Depp!".

Der Sänger von Merry entfachte einmal mehr eine Zigarette und blies Daisuke den Rauch ins Gesicht.

"Danke auch! Was war denn nun mit DT? Warum ist Kyo so sauer?".

"Der Idiot hat Kaoru und Die heute zusammen in den Universal-Park geschickt".

Die Worte wirkten sofort."

"Was?!?".

Unglaube.

"Ja. Womit einmal mehr klar wird - der Kerl ist ein Sadist".

Daisuke fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte.

"Sie sind ihm alle scheissegal - Hauptsache, die Kasse klingelt und die Fans haben keinen Grund, die Idylle anzuzweifeln".

"Haargenau".

"Wenn wir ihnen nur helfen könnten...".

Kopfschütteln.

"Vergiss es. Das ist gefährlich, das weißt du genau so gut wie ich".

"Ja, klar. Es ist nur so sauschwer, sich nicht einzumischen".

"Verstehst du jetzt, warum ich mich wegen der Sache mit Chieko so furchtbar fühle? Er hat doch so schon genug Ärger...".

Mit einem Nicken nahm Daisuke sich eine Zigarette aus Garas Packung und zündete sich zum ersten Mal seit Tagen wieder einen der zeitweiligen Nervenberuhiger an.
 

* * *
 

Nach einer Weile konnte er sich einen bösen Kommentar nicht mehr verkneifen.

"Hattest du nicht gesagt, du müsstest aufpassen?".

Der ältere Gitarrist machte seinen Mund, den er zwecks Abbeissen eines Stückes seines Riesenburgers weit aufgerissen hatte, wieder zu und bedachte Die mit einem finsteren Blick.

"Das geht dich nen Dreck an, okay?!".

Der Jüngere hob abwehrend die Hände und widmete sich wieder seinem Essen.

Er fühlte sich erbärmlich. Nicht physisch, aber psychisch.

Erst zwei Stunden unterwegs und mit den Nerven bereits am Ende. Toller Tag.

Er hätte mit Toshiya hier sein sollen. Oder seinetwegen auch mit Kyo. Am allerliebsten natürlich mit Yoshi. Aber nein, er hing hier mit der Person fest, um die er im Moment am liebsten einen weiten Bogen gemacht hätte.

Und beide waren sie gezwungen, für ein paar Fotos auf heile Welt zu machen. Was konnte es schöneres geben?
 

Inoue tippte ihn von der Seite an.

"Ich weiss, dass ihr beide auf das hier null Bock habt, aber könnt ihr euch zusammenreissen? Wird doch wohl nicht so schwer sein...".

Der jüngere Gitarrist presste seine Zähne zusammen und nickte mechanisch.

Klar doch. Kein Problem. Sie hatten ja schon die letzten zehn Tage nichts anderes getan.

Trotzig nahm er einen grossen Bissen seines Hamburgers und spülte diesen mit Bier runter. Das Essen war lecker - wenigstens etwas Positives.
 

Ihm gegenüber mühte Kaoru sich mit seinem Burger ab. Er schien sich diese grossen, amerikanischen Portionen nicht mehr gewohnt zu sein. Wie lange war es her, dass sie beide mitten in der Nacht nach einer langen Bandprobe Imbissbuden gestürmt hatten? Wie lange war es her, dass sie beide, nur sie beide, überhaupt was zusammen gemacht hatten?
 

Die schluckte seinen letzten Bissen runter und wischte sich die Hände so gut es ging an der billigen Papierserviette sauber. Er wollte hier raus. Diese gedrückte Stimmung war kaum mehr auszuhalten. Draussen strahlte die Sonne, es war ein herrlicher Herbsttag, perfekt für den Besuch eines Vergnügungsparks. Und hier sass er und wünschte sich, der Tag wäre bereits vorbei. Mehr noch, er sehnte das Ende dieser Tour herbei.
 

"Argh, ich kann nicht mehr...".

Kaoru musste sich endgültig geschlagen geben und stiess den Teller mit den Essensresten weit von sich. Mit einem wehmütigen Blick auf die übrig gebliebenen Pommes und den letzten Drittel des Burgers erinnerte Die sich daran, dass er sich früher den Teller geschnappt und Tabula rasa gemacht hätte. Der ältere Gitarrist schien sich in genau dem Moment ebenfalls darauf zu besinnen und fing seinen Blick auf. Stand da etwa sowas wie Bedauern in seinen müden Augen? Vermutlich würden sie beide von nun an für den Rest ihres Lebens ihrer verlorenen Freundschaft nachtrauern und alle ihre Fehler bedauern.
 

Die zwang sich zu einem Lächeln und warf einen Blick in die Runde.

"Wie schaut's aus? Gehen wir weiter? Mir ist nach Action! Diesen ,Back to the Future'-Ride muss ich mir unbedingt antun!".

Kaorus leidender Miene nach zu urteilen, war ihm nach was ganz anderem, aber er nickte tapfer und folgte ihnen allen zur Kasse, wo Inoue die Rechnung beglich. Wenigstens brauchte keiner von ihnen an diesem Tag auch nur einen Yen locker zu machen. So lief das, wenn man aus dem Spesenkonto des Managements lebte.
 

* * *
 

"Es ist wunderschön, Kyo".

Nach langem waren dies die ersten Worte die über ihre Lippen kamen.

Immer noch sah Chieko sich ergriffen in dem kleinen Raum um. Alles war sehr schlicht gehalten. Schränke und ein kleiner Tisch mit zugehörigen Stühlen aus dunklem, lackierten Holz, helle Wände, ein grosser Futon, beige, im Wind leicht wogende Vorhänge. Sie hatten die Fenster offen gelassen, um nach dem Bad die kühle Nachtluft zu geniessen. Der Duft der bestimmt erst vor kurzem neu verlegten Tatami vermischte sich mit dem Geruch von Feuchtigkeit, Bäumen und Nacht. Aus dem Garten waren Geräusche von Nachttieren zu vernehmen: Zirpen, Fiepen, Rascheln im Laub.

Ansonsten war es still. Hier waren sie in ihrer eigenen, kleinen Welt. Abseits der lauten Strassen Osakas und ihrer blinkenden Lichter.

Statt einer Antwort nickte Kyo nur. Sie konnte es im diffusen Licht der Nachtlampe erahnen. Er lag bereits ausgestreckt auf dem Futon, während sie immer noch sass und ihre Augen durch den Raum schweifen liess. Wie schöne Fotos man hier machen könnte. Sie sah die Szenen schon vor sich, auch die Models, die Kleider, die sie trugen, wie sie geschminkt werden sollten. Fast bereute sie es, ihre Kamera in Tokyo gelassen zu haben, doch heute war sie nicht beruflich hier. Diese Nacht gehörte nur Kyo.

"Ich hab diesen Ort vor zwei Jahren aus purem Zufall entdeckt und habe mir vorgenommen, mit einer Frau herzukommen, die mir wichtig ist".

Das Herz der jungen Frau setzte beinahe aus. Wenn sie ihm in dieser Nacht nicht die Wahrheit sagte, würde sie für immer mit ihrer Lüge leben müssen. Und Gara mit seiner.

"Und da hast du dich ausgerechnet für mich entschieden?!".

In ihrer Stimme lag ein Lachen. Mit einem Male war sie sehr nervös und war sich sicher, dass ihre Wangen eine leicht rosafarbene Tönung angenommen hatten.

"Naja, du hattest grad Zeit...".

Es sollte neckisch klingen, doch sie konnte darin die Unsicherheit hören, die Kyo zu verbergen versuchte.

Trotzdem tat sie ihm die Gefallen und kicherte.

"Baka".

Sie warf einen letzten Blick aus dem Fenster und liess sich dann auf den Rücken fallen. Der Futon fühlte sich herrlich unter ihrem Körper an. Nicht zu weich, nicht zu hart - perfekt. Mit einem genüsslichen Seufzer streckte sie sich.

Der Sänger neben ihr wandte den Kopf und liess seinen Blick über die junge Frau gleiten, die, genau wie er, immer noch die Yukata trug, die sie sich nach dem Baden übergezogen hatten. Unter dem weissen Stoff liessen sich ihre Brüste erahnen. Hastig blickte er zurück zur Decke und zwang sich, ruhiger zu atmen. So gerne er auch ihren Körper erkundet wäre, er durfte es nicht. Noch nicht. Erst musste er sie mit seinen Dämonen bekannt machen. Und wenn sie nach dem, was er zu sagen hatte, immer noch da war und sich nicht gleich ein Taxi zum Bahnhof rief, dann...

Ein besonders kalter Lufthauch fuhr ins Zimmer und liess sie beide erschaudern.

"Soll ich das Fenster schliessen?".

Ihre Stimme klang ehrlich besorgt. Auch ohne dass sie es erwähnte, wusste er, dass sie gemerkt hatte, wie müde und angeschlagen er von den letzten Konzerten war.

Eigentlich hätte er jetzt schlafen und seinem Körper die Erholung gönnen sollen, nach der er verlangte, aber das hier war wichtiger.

"Nein, nicht nötig. Mir ist immer noch warm".

In der darauf folgenden Stimmen hörten sie sich gegenseitig beim Atmen zu. Chieko unterdrückte das Verlangen, sich zu ihm umzudrehen, mit der Hand unter seine Yukata zu fahren, seine malträtierte Brust zu liebkosen, seinen Herzschlag zu spüren.

"Kyo?".

Er schluckte und schaute sie unverwandt an.

"Ich muss dir was erzählen...".

Jetzt oder nie mehr.

"Ich dir auch. Und ich möchte anfangen".

Sie presste die Augen zusammen und sog Luft durch die Nase ein.

"Aber...".

"Bitte - ich hab's mir vorgenommen. Ich muss das los werden, bevor wir weiter gehen, verstehst du?".

Seine Stimme klang beinahe verzweifelt. Flehend.

Chieko hätte versuchen können, ihm klar zu machen, dass das, was sie ihm zu sagen hatte, eine gemeinsame Zukunft im Keim ersticken konnte, dass er sich nicht dazu überwinden musste, mehr von sich preiszugeben - doch sie brachte keinen Ton raus.

Stattdessen nickte sie und tastete nach seiner Hand, um ihm mit sanftem Druck ihr Einverständnis zu geben. Und vielleicht auch, um ihm damit die Kraft zu vermitteln, anzufangen.

"Ich mach uns noch etwas Tee - es könnte lange dauern".

Damit löste er seine Hand aus der ihren, setzte sich auf und ging rüber zum Tisch. Seine Füsse versanken in den wohlriechenden, weichen Tatami. Während er den Wasserkocher einschaltete und die richtige Menge Teeblätter in die dafür vorgesehene Kanne gab, konnte er Chiekos Blicke in seinem Rücken spüren.

Er konnte sich nicht vorstellen, was sie ihm wohl zu erzählen hatte - aber wie jeder andere Mensch hatte auch sie eine Vergangenheit. Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er über diese so gut wir gar nichts wusste. Er hatte sie noch nicht einmal nach ihrer Familie gefragt. Aber das würde er nachholen, nachdem er sich von der Last, die auf ihm lag, befreit hatte. Vermutlich würde auch diese Nacht nicht ausreichen, sie ganz von ihm zu nehmen, doch immerhin war es ein erster Schritt. Er wusste nicht, was ihn so sicher machte, dass Chieko die Richtige war, alles zu hören. Er wusste es einfach - und dieses Wissen kam aus seinem Herzen.

Im Bett hatte die junge Frau sich auf ihre Ellenbogen gestützt und betrachtete den Sänger, wie er das kochende Wasser in die Kanne goss, den Deckel drauf setzte, zwei Tassen auf das Tablett stellte und alles zurück ans Bett trug. Der dampfende Tee verbreitete sofort einen würzigen Duft.

Kyo legte sich wieder auf den Futon, suchte eine bequeme Position und nach den richtigen Worten, die alsdann die Stille des Raumes füllten und Chiekos Herz erbeben liessen.
 

+ + +

Memoria II [Kyo - Die Wiege der Dämonen]

"Wie du weißt, bin ich in Kyoto aufgewachsen. Es war schön da, ich will mich nicht beklagen. Und so beschissen, wie alle immer meinen, waren meine Kindheit und Jugend auch nicht. Nur, weil ich in meinen Lyrics über häusliche Gewalt schreibe, heisst das nicht, dass meine Eltern gewalttätig waren. Natürlich hatten wir immer wieder unsere Differenzen, doch in welchen Familien kommt das nicht vor? Mag sein, dass ich kein einfaches Kind war. Ich hatte schon früh meine ganz eigenen Ansichten, und die habe ich auch immer stur vertreten und ließ mich nur schwer davon abbringen. Als ich mich mit 15 dazu entschloss, die Schule hinzuschmeißen und nur noch in Bands zu singen, war - wie du dir bestimmt lebhaft vorstellen kannst - die Hölle los. Aber ich musste meinen eigenen Weg finden - und für mich war eine akademische Laufbahn undenkbar. Schon die Jahre vorher, als ich noch zur Schule ging, erschien mir das alles sinnlos. Ich sah nicht ein, warum ich mir bestimmte Dinge hätte eintrichtern sollen, die ich später nie wieder würde gebrauchen können. Damals war ich sehr unglücklich. Es ist furchtbar, ohne Ziel vor sich hin zu leben. Meine damalige Einstellung mag ignorant scheinen - die meisten sagten und sagen mir immer wieder, wie essenziell Sprachen seien, wie wichtig es sei, über alles, auch wenn es einem noch so unsinnig erscheint, wenigstens annähernd Bescheid zu wissen. Ich könnte von mir jedoch nicht behaupten, dass meine Allgemeinbildung schlecht ist. Im Gegenteil. Manchmal denke ich, dass ich Dinge weiß und erkenne, die anderen für immer verborgen bleiben. Wenn ich mich für ein bestimmtes Thema zu interessieren beginne, bin ich gerne bereit, mich reinzuknien und mich darüber schlau zu machen. Aber, wie gesagt, ich muss darin einen gewissen Sinn erkennen können.
 

Meine letzten Schuljahre waren also recht öde. Ich ging dahin, weil ich musste. Und nebenbei verdiente ich mein erstes Geld mit Nebenjobs, die genau so öde waren. Doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ging die Sonne auf - in Form einer Kassette, die mich meine Banknachbarin in der Schule während einer Pause hören ließ. Ich hatte mich schon vorher immer gewundert, wer diese Typen waren, deren Poster an der Innenseite ihres Pultes klebten. Und als ich dann diese Musik hörte - ja, da verspürte ich zum ersten Mal so etwas wie Begeisterung in mir aufkeimen. Mir gefiel, was ich da hörte - und das Mädchen versorgte mich mit immer mehr Kassetten und Cds, bis ich schließlich anfing, mich selber damit einzudecken und mich auch über die Leute zu informieren, die hinter dieser Musik steckten.
 

Ich fing an, Buck-Tick zu vergöttern. Und X. Mir tat sich eine völlig neue Welt auf - eine Welt, zu der ich auch gehören wollte, irgendwann.

Da war also das Ziel, von dem ich schon so lange geträumt hatte. Nun musste ich mich darum bemühen, in die Szene rein zu kommen. Das war die Zeit, in der man mich immer seltener in der Schule antraf. Viel lieber hing ich bis tief in die Nacht in den kleinen, schäbigen Konzertlokalen rum, guckte mir lokale Bands an, knüpfte Kontakte. Irgendwann kriegte ich eine der Bands so weit, mich als Roadie einzustellen. Kein leichter Job. Ich war noch so jung damals und stand unter dem Druck, unbedingt dabei zu bleiben, bei den richtigen und wichtigen Leuten anzukommen. Und du weißt, was das heißt, oder? Fuck, wenn ich daran denke, was da für Geschichten gelaufen sind. Saufgelage, stumpfsinnige Wetten, Mutproben. Und das alles nur, um sich einen Namen zu machen, kannst du dir das vorstellen?".
 

Hier brach der Sänger zum ersten Mal ab und genehmigte sich einen Schluck Tee. Chieko hing gebannt an seinen Lippen. Einige dieser Dinge waren ihr bereits bekannt gewesen - doch alles aus Kyos eigenem Mund zu hören, in seinen eigenen Worten, hatte etwas seltsam Berührendes.
 

"Nach einiger Zeit fing ich an, in Bands zu singen. Nichts Berauschendes. Ich würde sogar sagen, wir waren ziemlich schäbig. Aber hey, wir waren jung, und Musik machen war alles, was wir wollten. Das war die Zeit, wo ich endgültig von der Schule abging. Tagsüber hing ich also zuhause rum, spielte Videospiele (wie ich es früher auch schon so oft getan hatte), kritzelte Lyrics, schlief - und abends, ja, abends ging die Post ab."
 

Er verstummte wieder und sagte eine Weile nichts. Chieko hätte das bisher Erzählte kommentieren können, doch sie schwieg mit Kyo mit. Eine Anspannung hatte sich über sein Gesicht gelegt, und die junge Frau konnte sehen, wie es hinter der leicht gerunzelten Stirn arbeitete. Gerne hätte sie nach seiner Hand gegriffen, wäre sie ihm eine Stütze gewesen - doch sie traute sich nicht. Noch nicht. Nach einem tiefen Seufzer setzte Kyo seine Reise in die Vergangenheit fort.
 

"Eines Abends hab ich sie kennen gelernt. Sie stand einfach da, wie aus dem Nichts. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Später hab ich rausgefunden, dass sie noch nicht lange in Kyoto wohnte und dazu noch am anderen Ende der Stadt - kein Wunder, hatten sich unsere Wege noch nie gekreuzt. Freunde hatten ihr von meiner Band erzählt, wie toll wir seien. Also war sie gekommen. Nach dem Konzert haben wir uns an einen Tisch gesetzt, Bier getrunken, geraucht und geredet. Ich mochte sie auf Anhieb. Und meinen Kumpels aus der Band fielen die Augen aus dem Kopf. Nicht aus Neid. Sie war keine umwerfende Schönheit, aber...sie hatte was. Sie war hübsch, auf ihre eigene Weise. Mich hatte sie im Sturm erobert. Was meine Freunde umso mehr erstaunte war die Tatsache, dass ich dieses Mädchen so schnell an mich ranließ. Natürlich hatte ich auch schon öfter was mit Mädels am Laufen gehabt, aber sie schienen zu ahnen, dass sich da was wirklich Ernstes anbahnte.
 

Wir haben uns danach öfter gesehen. Sind spazieren gegangen. Auf Gion. Haben gemeinsam Tempel besucht. Sind schwimmen gegangen und einkaufen. Sie kam oft zu unseren Konzerten. Manchmal hab ich sie sogar zum Fischen im Biwa-See mitgenommen. Nach einiger Zeit war für alle klar, dass wir fest zusammen waren - auch für uns. Im Haus meiner Eltern war die Wohnung im Obergeschoss frei geworden, und wir zogen da ein. Eigentlich hätte ich auch gerne mal etwas weiter weg von zuhause gewohnt, doch es hat sich halt so ergeben, und wir waren ganz zufrieden mit unserem Daheim."
 

Wieder brach er ab. Am nervösen Spiel seiner Finger erkannte Chieko, dass er gerne eine Zigarette geraucht hätte. Doch der Anstand verbot es ihnen beiden, an einem Ort wie diesem eine anzustecken.
 

"Wir waren glücklich. Wirklich. Oder...vielleicht sollte ich besser sagen, dass ich es war. Ich habe sie geliebt. Wie noch keine zuvor. Und ich hatte geglaubt, sie empfände das Selbe für mich."
 

Schmerz schlich sich in seine Stimme.
 

"Kannst du dir das vorstellen? Ich, der seit ich das erste Mal, als ich Buck-Tick gehört hab, davon träumte, eine Karriere als Sänger anzustreben - dass ich auf einmal mit dem Gedanken spielte, das alles sein zu lassen? Ein sogenannt normales Leben zu führen. Gemeinsam mit ihr. Ich hätte meine Träume für sie aufgegeben. So sehr habe ich sie geliebt. Unsere Verlobung war die selbstverständliche Fortführung unserer Beziehung. Und ich fing an, mich nach nem "normalen" Job umzusehen. Es wäre nicht einfach geworden, einen zu finden, das war mir bewusst. Wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine anständige Schulbildung geschweige denn eine Ausbildung hat? Doch für sie wäre ich bereit gewesen, mein Leben zu ändern. Es ganz auf den Kopf zu stellen, nur um sie glücklich zu machen und mit ihr alt zu werden."
 

Chieko fühlte Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie wusste, was nun kommen würde. Gara hatte ihr eine Kurzversion dieser Geschichte schon einmal erzählt.
 

"Verdammt, ich habe mit ihr eine Familie gründen wollen. Mein Leben zu der Zeit richtete sich nur noch nach ihr. Ich war noch in meiner Band, aber...ich begann, sie sträflich zu vernachlässigen. Die Jungs müssen ganz schön enttäuscht und sauer auf mich gewesen sein. Ich beging Verrat an mir selbst, an meinem mir mühsam erarbeiteten Idealismus. Aber ich war nun mal verliebt. Und so sicher, dass ich dabei war, das Richtige zu tun. Weißt du, auch wenn man mir das nicht zutraut, ich sehne mich nach Geborgenheit. Nach einem Halt. Im Endeffekt bin ich wohl ein Familienmensch. Zumindest war ich das, damals. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher...".
 

Er setzte sich auf. Erneuter Griff zur Teetasse. Doch dieses Mal stellte er sie nicht weg, nachdem er daraus getrunken hatte, sondern behielt sie in den Händen. Umschlang sie, als würde sie ihm den Halt geben, den er brauchte. Das traurige Stechen in Chiekos Herz wurde stärker. Gerne wäre sie dieser Halt für ihn gewesen, aber in Anbetracht dessen, was sie ihm später zu beichten hatte, ließ ihr Gewissen dies nicht zu.
 

"Eines Tages war sie weg. Als ich von der Bandprobe nach Hause kam, war sie unauffindbar. Ihre Reisetasche war weg. Auch ein paar ihrer Kleider. Ich wusste, dass sie Stress in ihrem Job gehabt hatte. Sie hatte davon gesprochen, endlich mal raus zu wollen. Weg von allem. Ich hatte angenommen, dass wir demnächst mal zusammen wegfahren würden, um uns irgendwo eine schöne, ruhige Zeit zu machen. Aber sie war alleine gegangen. Einfach so. Nicht einmal eine Nachricht hatte sie hinterlassen. Damals hatten wir noch keine Handys gehabt, also konnte ich sie nicht anrufen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber an diesem Abend machte ich mir noch keine Sorgen. Sie würde schon wieder kommen, dachte ich. Trotzdem wartete ich die ganze Nacht auf einen Anruf von ihr. Sie konnte sich doch denken, dass ich mir Sorgen machte, oder? Aber ich hörte nichts. Irgendwann gegen Morgen schlief ich ein, träumte wirres Zeug. Am nächsten Tag hatte ich noch immer keine Nachricht von ihr. Den ganzen Tag saß ich zuhause und hoffte, dass das Telefon endlich mal klingeln würde. Doch nichts tat sich. Abends ging ich zur Probe. War aber so unkonzentriert und fahrig, dass die Jungs beschlossen, die Übung abzubrechen. Wir gingen einen trinken. Ich erzählte ihnen alles. Sie meinten, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei ja erst einen Tag her, sie würde bestimmt wieder auftauchen, schließlich seien wir doch schon zwei Jahre zusammen, sie würde mich doch lieben. Ich glaubte ihnen und ging, etwas beruhigter, nach Hause. Doch schon dort überwältigen mich wieder meine Ängste. Ich konnte nicht einmal klar definieren, wovor ich eigentlich Angst hatte. Doch die ganze Situation lähmte mich."
 

An dieser Stelle überwand Chiekos Drang, ihren Freund zu trösten, ihr nagendes Gewissen. Sie setzte sich ebenfalls auf, rückte sachte auf dem Futon näher an ihn ran und legte ihm ihren Arm um die Schulter. Zu ihrer immensen Erleichterung ließ er es geschehen, rutschte nicht weg, sondern lehnte sich zutraulich an ihre Brust. Die leere Teetasse landete auf dem Futon. Sanft spielte sie mit seinen Haaren, als er mit brechender Stimme fortfuhr.
 

"Sie kam nicht zurück. Und mit jedem verstreichenden Tag schwand meine Hoffnung, sie je wiederzusehen. Eine böse Stimme in meinem Kopf flüsterte mir ein, dass es das gewesen war. Ein Teil von mir, der Teil, der in dieses Mädchen verliebt war, wollte dies nicht wahr haben. Es konnte nicht sein. Warum? Was war geschehen? Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben.
 

An Proben mit der Band war nicht mehr zu denken. Immer, wenn ich es doch versuchte, musste ich mitten im Song abbrechen, weil die Verzweiflung und die Tränen mich übermannten. Die Jungs sprachen mir Mut zu, versuchten mich zu trösten, so gut es eben ging. Doch auch für sie schien mittlerweile klar zu sein, dass es kaum noch Hoffnung gab. Wie klar es einem von ihnen schon die ganze Zeit über gewesen war, sollte ich erst später erfahren, doch ich greife vor...
 

Eine Woche verstrich, dann die zweite, dritte. Ich saß tagelang nur apathisch in meinem Zimmer. Ging kaum mehr raus. Ass kaum was. Ich muss ausgeschaut haben, wie eine Leiche. Meine Eltern hatten es nach den ersten paar Versuchen aufgegeben, zu mir durchzudringen - gleich ging es meinen Freunden.
 

Nach einem Monat, nach dem ich vor lauter Weinen keine Tränen mehr übrig hatte, fasste ich einen Entschluss. In Kyoto konnte ich nicht mehr bleiben. Hier erinnerte mich alles an sie. Die Wohnung. Die Band. Die Konzertlokale. Die Plätze, an denen wir uns in schönen Stunden vergnügt hatten. Egal, wohin ich ging - sie war da. Ich fing an, zu halluzinieren. In den Nächten wachte ich schweißgebadet auf. Mein Leben war zur Hölle geworden. War wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Meine Band war nicht mehr. Das Mädchen, auf das ich meine Zukunft bauen wollte, war weg."
 

Das Zittern des in sich zusammengesunkenen Körpers in ihren Armen verriet Chieko, dass Kyo weinte. Leise nur, doch er vergoss Tränen. Voller Mitleid zog sie den so hilflos und verloren wirkenden jungen Mann noch näher an sich ran. Murmelte tröstende Worte, von denen sie nicht wusste, ob sie ihn erreichten.
 

"Ich packte meine Sachen, die wenigen, die ich hatte, und zog zu einem Bekannten nach Osaka. Kisaki. Auch er spielte damals schon in Bands, und ich hatte ihn einmal bei einem Konzert kennengelernt. In meiner Verzweiflung war er der Einzige, an den ich mich wenden konnte und wollte. Er konnte die Trauer, die über mich gekommen war, nicht von mir nehmen, doch wenigstens fing ich wieder an, zu leben. So gut es eben ging. Der Sänger seiner Band hatte diese gerade verlassen, und ich steig bei ihnen ein. Das Singen half mir. Sehr sogar. Und die dunklen Texte, die ich in meinen schlaflosen Nächten verfasste, kamen gut an. So ganz nebenbei hatte ich auch einige Geschichten mit Mädels am Laufen - nichts Ernstes; wir gingen einfach nur ab und zu mal zusammen weg und fickten danach. Nach zwei Monaten hatte ich mich tatsächlich wieder soweit gefasst, dass ich nicht immerzu nur an sie denken musste. Aber gerade, als ich glaubte, einigermaßen drüber hinweg zu sein, bekam ich den Beweis, dass Menschen schlecht sind und man nur den wenigsten Vertrauen schenken sollte."
 

Bei diesen Worten musste Chieko sich zwingen, nicht zusammen zu zucken. Scheiße, Verdammte Scheiße.
 

"Wir gaben ein Konzert in Osaka, an dem noch andere Bands aus der Region auftraten. Darunter auch die neue Band meiner alten Freunde aus Kyoto. Vermutlich hatten sie nicht erwartet, mich da zu sehen. Ich hatte jeglichen Kontakt zu ihnen abgebrochen gehabt. Sie waren überrascht, doch erfreut, dass es mir wieder besser ging. Nur einer von ihnen schien geschockt - und eine halbe Stunde später wusste ich auch, woran das lag. Sie kam daher. Einfach so. Es traf mich wie ein Schlag, zu erfahren, dass sie die ganze Zeit über, in der ich so gelitten hatte, bei ihm gewohnt hatte und mit ihm zusammen gewesen war. Die anderen aus meiner früheren Band hatten es gewusst - und ihn gedeckt. Es war, als bohre sich eine Katana durch mein Herz. Ich stand an dem Abend blutend auf der Bühne. Und hatte das Gefühl, dass sie sich ganz hinten, in der finsteren Ecke, wo sie stand, daran ergötzte. So wie er es bestimmt auch tat. Ich stellte mir während des Singens vor, wie die beiden sich über meine Trauer lustig gemacht hatten. Was für ein bedauernswerter Haufen Elend ich doch sei. Ironischerweise war meine Performance an diesem Abend eine meiner besten überhaupt."
 

Ein tiefer Seufzer entrang Kyo. Chieko ließ von ihm ab, stand auf, holte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Sich dankbar ein Lächeln abmühend putzte er sich lautstark die Nase. Nachdem seine Freundin sich wieder zu ihm gesetzt hatte, fuhr er fort.
 

"Die darauf folgenden Tage und Wochen war ich von Selbstzweifeln geplagt. Was hatte ich getan, dass die Menschen, die mir bisher am nächsten gestanden hatte, mich dermaßen verletzten? Wieder zog ich mich von allen zurück, fand aber doch Befriedigung in meiner Band und der Musik, die wir spielten. Und war mehr denn je überzeugt davon, dass ich mich in Zukunft wieder intensiv um eine Karriere als Sänger kümmern wollte. Das Singen verschaffte mir Erleichterung. Auf der Bühne und bei den Proben konnte ich all meinen aufgestauten Frust und die Verzweiflung aus mir raus schreien und singen. Zu der Zeit verließ uns unser Schlagzeuger, und Shinya, den wir alle auch schon eine Weile kannten, stieß zu uns. Schon seltsam, dass derjenige, mit dem ich am längsten zusammen Musik mache, der mir am fernsten ist. Egal. Irgendwann lernten wir dann Kaoru und Die kennen. Vermutlich hielten sie mich am Anfang für ziemlich verschroben, wenn nicht gar asozial, weil ich so wenig Wert auf zwischenmenschliche Kontakte legte, aber ich wusste, dass sie mich als Sänger respektieren, genau so, wie ich sie als Gitarristen respektierte. Hast du mal Bilder von Kaoru aus der Zeit gesehen? Scheiße, sah der gruslig aus. Viele sagen ja, dass er ihnen Angst machte. Bei mir war das nicht so. Auf mich wirkte er nicht grausam, eher hatte ich das Gefühl, dass er ein Mensch war, mit dem man es sich nicht verscherzen sollte. Dies hatte aber eher mit Achtung und Respekt und weniger mit Angst zu tun. Vielleicht war ich aber damals auch zu sehr von meinen eigenen Problemen eingenommen, als dass ich gemerkt hätte, wie furchteinflössend und ungeheuerlich er tatsächlich war...und ist. Nach ein paar Monaten lief es in unserer Band nicht mehr so gut, und Kisaki, Die, Kaoru, Shinya und ich beschlossen, uns zusammen zu tun. Wir waren enthusiastisch. Passten ganz gut zusammen. Hatten Spaß. Zu der Zeit wohnte ich noch immer bei Kisaki, aber ich spielte mit dem Gedanken, auszuziehen und mir was Eigenes zu suchen. Seltsamerweise hatte er sich seit der Gründung von La:Sadies verändert. Zum Negativen. Du musst wissen, er war (und ist immer noch) eine sehr starke Persönlichkeit. Er war es gewohnt, Entscheidungen selber zu treffen, den Ton anzugeben. Ich ließ ihn gewähren, denn mir war das egal. Ich bin kein Führer. Natürlich wehrte ich mich, wenn mir etwas gar nicht in den Kram passte, aber meist hatte ich mich zurückgehalten und ihn sein Ding machen lassen. Jetzt aber, bei La:Sadies, stieß er auf einmal auf harten Widerstand und musste erkennen, dass Kaoru genau so stark wenn nicht gar stärker war als er. Dies machte ihn wild, brachte ihn in Rage. Die beiden fingen an, Machtkämpfe auszutragen - und ich, Shinya und Die spielten die Unbeteiligten. Hielten uns raus, so weit wir konnten. Wenn wir denn aber trotzdem mal Partei beziehen mussten, stellten wir uns meistens auf Kaorus Seite. Was natürlich in Kisaki noch mehr Wut hervorrief. Wenn wir abends nach Hause kamen, wurde ich oft zum Sündenbock, und er ließ seinen ganzen aufgestauten Frust an mir aus. Nicht körperlich. Egal, was einige der Gerüchte von damals besagen, er hat mir nie physisch wehgetan. Aber die ganze Situation wurde für mich unerträglich. Zu all dem Mist, den ich eh schon mit mir rumschleppte, kam auch noch der Ballast dazu, den er mir aufbürdete.
 

Ich zog also aus. An der bandinternen Lage änderte sich jedoch kaum etwas. Es wurde sogar noch schlimmer. Kaoru begann damit zu liebäugeln, Major zu gehen. Davon hatte er schon immer geträumt. So wie ich ja auch. Und Die und Shinya gefiel die Idee ebenfalls. Kaoru hatte nach einem unserer Lives Dynamite Tommy kennengelernt, der ihm versichert hatte, dass wir ganz groß werden könnten. Und dies trieb endgültig einen Keil zwischen uns und Kisaki. Ich wusste, dass Kisaki mich immer für mein Talent zu performen bewundert hatte. Schon in unserer früheren Band war ich die treibende Kraft gewesen. Gegen außen. Unsere Band hatte sozusagen durch mich gelebt - aber das war mir erst im Laufe der Zeit klar geworden. Kisaki hingegen war sich dessen schon immer bewusst gewesen. Und weil er merkte, dass er gegen Kaoru nicht ankam, erkor er mich zu seinem Opfer. Oft kriegte ich mitten in der Nacht Drohanrufe von irgendwelchen Leuten, die ich nicht kannte. Am Anfang erschien es mir unsinnig, dass Kisaki dahinter stecken könnte, der doch mein Freund war, doch einmal mehr wurde mir bewusst, dass Freundschaft da aufhörte, wo eigener Stolz und Selbstbestimmung anfingen.
 

La:Sadies zerbrach. Es gab für uns keine Zukunft, keinen gemeinsamen Nenner mehr. Auf der Suche nach einem neuen Bassisten erinnerten wir uns an Toshiya, dessen Band wir schon öfter live gesehen hatten. Von seinem Können beeindruckt entschlossen wir uns, ihn für uns zu gewinnen. Du kennst die Story, wie wir nach Nagano gefahren sind und ihn hergeholt haben, oder?".
 

Ein Grinsen stahl sich auf Kyos Gesicht und vertrieb für einen Moment die Verzweiflung darin.
 

"Ja, und somit war, im Jahre 1997, Dir en grey geboren. Kaoru tat sich als alleiniger Leader hervor - und wir anderen fügten uns. Wir waren so erleichtert, dass die Anspannung der letzten Monate endlich vorüber war, dass uns erstmal alles egal war. Und es passte so. Zum ersten Mal waren wir alle richtig zufrieden, mit dem, was wir waren und taten. Natürlich hatten wir auch damals schon Meinungsverschiedenheiten, aber in welcher Band gibt's die nicht? Wenn ich allerdings gewusst hätte, wie unsere Geschichte weitergeht, dann...hätte ich mich wohl nie auf dieses Projekt eingelassen. Fürs Erste aber waren wir voller Elan und machten uns an die Proben, komponierten Songs, spielten "MISSA" ein, gaben Konzerte, erlangten immer mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung innerhalb der Szene. Dynamite Tommy sollte Recht behalten - uns gelang tatsächlich der Sprung ganz an die Spitze. Sogar Yoshiki wurde auf uns aufmerksam und war bereit, "GAUZE" zusammen mit uns zu produzieren. Das war ein Meilenstein. Wir alle hatten X geliebt. Shinya hatte ihren Schlagzeuger sogar vergöttert, er war sein Idol. Und eben dieser Drummer holte uns nach L.A. und ging mit uns ins Studio."
 

Hier hielt der Sänger einmal mehr inne und machte eine längere Pause. Sein Mund war trocken. Chieko nahm die Tasse vom Futon und schenkte Kyo und auch sich selber Tee nach, der schon merklich abgekühlt war. Wie lange redete Kyo schon? Sie hatten das Zeitgefühl vollkommen verloren. Der Wind von draußen war nun merklich kühler geworden. Regen fiel, als ob der Himmel mit Kyo leiden würde. Die junge Frau zog die Decke am Fuße des Bettes hoch. Über die sehnigen Muskeln des Sängers spannte sich Gänsehaut; er kuschelte sich dankbar mit seiner Freundin zusammen in den leichten Stoff.
 

"Ich weiß nicht, wie viel du über unsere Karriere weißt, aber von da an ging's richtig los. Es ging sehr schnell. Wenn ich zurückdenke, sind die letzten sieben Jahre wie im Flug vergangen. Und wie bei La:Sadies, stehen wir auch jetzt wieder vor einem Trümmerhaufen. Und dieses Mal ist es Kaoru, der alleine dasteht. Genau wie Kisaki damals. So viel unterscheiden sich die beiden nämlich nicht. Es war uns nur nicht so schnell aufgefallen, weil Kaoru damals noch unser Freund war. Aber er hat sich in den letzten Jahren verändert. Und ich musste meine Meinung über ihn revidieren: Auch er kann ein grausames Ungeheuer sein, wenn ihm dies Vorteile verschafft. Es gibt Tage, da ist er wieder ganz der Alte. Leider werden diese guten Stunden immer seltener. Irgendwann werden sie ganz verschwinden. Nur können wir Dir en grey nicht so einfach den Todesstoss geben. Unsere Band ist ein Unternehmen geworden. Es geht nicht mehr nur um uns, sondern um eine ganze Reihe anderer Menschen. Und alle stehen wir unter Tommys Kontrolle. Eigentlich kann er mit uns machen, was ihm passt. Natürlich haben wir immer noch unsere kreativen Freiheiten - er schreibt mir zum Glück noch nicht vor, wie ich meine Texte zu schreiben habe. Aber was das Geschäftliche angeht, haben wir so gut wie nichts mehr zu melden. Wie auch? Wir sind viel zu sehr mit Touren, Komponieren, Interviews und Foto- und Videoshootings beschäftigt. Wenn wir mal Zeit für uns haben, denken wir an alles andere, nur nichts ans Geschäft. Zumindest reden wir uns das ein. Eigentlich machen wir uns alle Sorgen. Wir wissen nicht, wie lange es noch so weitergehen soll und kann. Aber solange unser Vertrag mit Free Will läuft, kommen wir nicht raus. Ganz schön beschissen, was?! Es ist nicht so, dass ich bereue, zu dieser Band gehören. Sie hat mich geprägt. So wie alles andere, was ich dir erzählt hab, mich geformt hat. Nur so bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Vermutlich wäre ich ein anderer geworden, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Wenn ich sie geheiratet hätte. Aber ich muss lernen, mit demjenigen klarzukommen, der ich jetzt bin. Einfach ist es nicht, aber ich glaube, ich mache mich ganz gut. Viele halten mich für einen von Selbstmitleid und Selbstzweifeln gebeutelten, armseligen Knilch. Und ich lasse diejenigen in ihrem Glauben. Sollen sie doch von mir denken, was sie wollen.
 

Es gibt Tage, an denen mich diese nur allzu bekannte Verzweiflung überfällt. Das ist, wenn Erinnerungen aufsteigen. Noch heute fällt es mir nicht leicht, nach Kyoto zu fahren. Dort rumzulaufen. Meine Eltern zu besuchen. Ich liebe Kyoto über alles, aber ihre Präsenz liegt wie ein Ölfilm auf meinen Gedanken. Sie hat mir einen Teil meiner Selbstachtung genommen. Das ist eine Tatsache und hat nichts mit Einbildung zu tun. Ich habe es seither nicht mehr geschafft, eine Beziehung aufzubauen. Damit haben wir alle so unsere Probleme, schließlich ist die Zeit, die wir unseren Partnerinnen widmen können, sehr begrenzt, aber mir fällt es ganz besonders schwer. Selbst wenn ich eine Frau gern hab und sie mich ebenfalls zu mögen scheint, kriege ich Schiss, dass sie's am Ende doch nicht ernst meint und mich ohne ein Wort zu sagen sitzen lässt. Und verdammt, auch wenn da jemand Neues kommt, sie ist immer da. Verfolgt mich in meinen Träumen. Manchmal höre ich immer noch ihr Lachen. Nach all den Jahren."
 

Chieko hielt den Atem an. Sie ahnte, worauf er hinaus wollte.
 

"Ich habe dir das alles erzählt, damit du mich richtig kennenlernst. Nicht durch die Dinge, die man einfach mal so irgendwo aufschnappt, sondern durch mich. Und falls du jetzt, nachdem du das alles weißt, keinen Bock mehr auf mich hast, kann ich das verstehn. Aber ich musste es riskieren, verstehst du? Ich will ein und für allemal einen Schlussstrich ziehen unter das, was war. Aber das schaffe ich alleine nicht. Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann. Eine neue Zukunft. Ein Licht, das aufgeht und für mich scheint. Wie der rote Mond in meinem Zimmer."
 

Zum ersten Mal, seit Kyo seinen Monolog begonnen hatte, ergriff Chieko das Wort.
 

"Und du meinst, ich könnte dieses Licht für dich sein?".

Ängstlich.

"Ich hatte es gehofft, ja".

Angst auch in seiner Stimme.

"Dann hör dir erstmal an, was ich dir zu erzählen habe...".
 

+ + +

16.2. [Pele - Teil 2]

Kyos dunkle, runde Augen suchten im Halbdunkel die ihren. Sie wirkten immer noch feucht. Beim Gedanken daran, ihm mit ihrer Enthüllung wehtun zu müssen, wurde ihr schlecht. Doch es gab kein Zurück mehr. Jetzt nicht mehr.
 

Er hat ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu hören , liess sich eine Stimme tief in ihr vernehmen.
 

Ja, das hatte er.
 

Was aber ist, wenn ich ihn dadurch verliere? , wollte Chieko von der Stimme wissen. Eine Antwort blieb aus.
 

Die Augen des Sängers ruhten noch immer auf ihr. Erwartungsvoll. Und auch voller Angst. Er konnte sich nicht vorstellen, was nun kommen würde. Bestimmt fragte er sich, ob sie auch dunkle Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit mit sich rumtrug. Wer tat das nicht? Doch diese Nacht war noch nicht der richtige Zeitpunkt für diese Art von Enthüllungen.
 

"Ich wünschte, du hättest mich als erstes erzählen lassen. Ich weiss, wie viel Überwindung es dich gekostet haben muss, dich mir zu öffnen."
 

Kyo schüttelte verständnislos den Kopf. Was konnte denn bloss so schlimm sein?
 

"Bist du verheiratet? Verlobt?".
 

Er grinste dazu. Auch Chieko konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
 

"Nein". Sie schwieg. Dann: "Ich bin Garas Cousine".
 

Der Sänger schaute sie nur an. Ganz ruhig. Ab und zu blinzelte er. Doch sie konnte sich lebhaft vorstellen, woran er dachte, an welche Ereignisse er sich zurückerinnerte.
 

Gara, der ihn, nach Absprache mit Kaoru, zum Bowling mitgeschleppt hatte.

Sie, Chieko, die dort als angebliche Freundin eines der Crew-Mädels aufgetaucht war.

Wie konnte er nur so blöd gewesen sein, zu denken, dass sie sich tatsächlich für ihn interessierte? War ja klar, dass eine solche Frau ihn nur deshalb beachtete, weil sie auf ihn angesetzt wurde. Aber warum tat Gara, einer seiner besten Freunde, ihm das an? Konnte er denn gar niemandem mehr trauen? Er war also doch ganz alleine auf der Welt.
 

"Kyo?".
 

Die Augen, die sich nun auf sie richteten, schienen scharf wie Messer.
 

"Du brauchst mir nichts zu erklären, ich weiss schon, das da läuft".
 

Kalt.

Der Mann, der noch wenigen Minuten weinend in ihren Armen gelegen hatte, erschien ihr auf einmal zu Eis erstarrt. Wer konnte es ihm verdenken?

Aber sie wollte, dass er sie anhörte, wenigstens das war er ihr schuldig.
 

"Es war nie unsere Absicht, dich zu verletzen. Ich hatte von Anfang an Bedenken. Gara auch. Er würde nie etwas tun, das dir schadet oder wehtut - das weißt du ganz genau. Die letzten paar Wochen waren eine Qual für uns beide. Wir wussten, wir müssen dir die Wahrheit sagen, aber wir wussten nicht wie. Und jeder Tag, den wir verstreichen liessen, machte die Sache nur noch schlimmer. Meinst du nicht, dass wir genauso gelitten haben, wie du jetzt? Wenn ich dir damals beim Bowling schon gesagt hätte, wer ich bin, hättest du dann überhaupt mit mir geredet? Hättest du nicht Gara an den Kopf geworfen, du wolltest nicht verkuppelt werden, und wärst dann einfach abgehauen und hättest mich stehen lassen? Ohne mir überhaupt eine Chance zu geben? Wir haben uns näher kennengelernt, Kyo, und ich habe jede Minute mit dir genossen. Was meine Gefühle angeht, hab ich dich nie angelogen und dir auch nie was vorgemacht. Was ich für dich empfinde ist echt. Am ersten Abend wusste ich nicht, dass ich so weit gehen würde, dass du mich überhaupt so nah an dich ranlassen würdest - aber es ist passiert. Und ob du's glaubst oder nicht, ich war glücklich. Ich wollte, ich hätte dir dies alles erzählen können, bevor du mir deine Geschichte erzählt hast. Jetzt fühle ich mich wie eine Verräterin, ein Mensch mehr, der dein Vertrauen missbraucht hat. Aber weißt du, im Gegensatz zu ihr oder allen anderen habe ich dich nicht absichtlich verletzt. Wäre es besser gewesen, ich hätte dich für immer im Unwissen gelassen? Wenn du erst in einigen Monaten erfahren hättest, was Sache ist? Kannst du mir meine Ehrlichkeit nicht anrechnen?".
 

Chieko hatte immer schneller geredet und verhaspelte sich jetzt.

Kyo war vor ihr erstarrt. Nicht einmal atmen hörte sie ihn mehr, und seine Augen waren tot auf einen Punkt jenseits von ihr gerichtet.
 

Die junge Frau atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe.
 

"Ich weiss, dass du mich hörst. Ich verstehe deine Wut und deine Enttäuschung, wir wussten, dass du so reagieren würdest. Aber ich verdiene eine Chance! Hörst du? Ich habe dich sehr gern, und ich wollte mich auf ein Uns einlassen. Kannst gerne Gara fragen, was es für mich heisst, eine Beziehung zu führen, zu versuchen, eine zu führen. Es ist ein Kompliment, Kyo. Ich bin nicht eingebildet, ich halte mich nicht für etwas Besseres, aber dass ich dich so nah an mich rangelassen habe, ist ein ebenso grosses Kompliment, wie die Tatsache, dass du mir eben aus deiner Vergangenheit erzählt und mich in dein Leben gelassen hast. Das solltest du nie vergessen."
 

Die dunklen Augen ruhten nun wieder auf ihr. Nicht mehr ganz so kalt, aber unendlich traurig. Trotzdem hoffte Chieko, er würde ihr hier und jetzt schon verzeihen, doch...
 

"Bitte geh. Lass dir unten ein Taxi rufen".
 

Leer.

Tonlos.

Kraftlos?
 

Der junge Mann, der auf einmal um Jahre gealtert schien, wandte sich von ihr ab, legte sich hin und rollte sich wie ein Embryo zusammen.
 

Das war's dann also.
 

Chieko seufzte. Ihre Augen wurden feucht, doch sie war zu stolz, ihn ihr Weinen hören zu lassen. Stattdessen unterdrückte sie die heissen, hinter ihren Augen brennenden Tränen, während sie sich im Dunkeln ihrer Yukata entledigte, ihre Kleider zusammensuchte und sich leise anzog.
 

Kyo stellte sich schlafend. Ganz ruhig lag er da. Dies durfte kein Abschied für immer werden. Sie wäre so gerne da geblieben und mit ihm eingeschlafen, am nächsten Morgen mit ihm aufgewacht - genau so, wie er es (vermutlich) geplant hatte. Alles, was sie verlangte, war eine zweite Chance. Doch starrsinnig, wie Kyo war, würde er ihr wohl nicht mal diese gewähren.
 

Laut sagte sie:
 

"Sayounara".
 

Nur dieses eine Wort. Es wäre ihr noch viel mehr eingefallen. Sie hätte sich für den schönen Abend bedanken können. Für Kyos Vertrauen. Sie hätte ihn wieder und wieder um Verzeihung bitten, ja sich sich sogar weigern können, das Zimmer zu verlassen. Doch sie war es sich nicht gewohnt, Männer anzuflehen. Und ihnen ihre Schwächen und ihre Verletztheit zu offenbaren erst recht nicht.
 

Also überliess sie Kyo sich selbst und liess die Tür ins Schloss fallen.
 

Nun mauere ich

den schmalen Durchgang,

den ich nicht ohne Mühe

zwischen uns geöffnet habe,

wieder zu.

Was nicht geht, geht nicht,

sage ich mir und setze

Stein auf Stein.

Enttäuschte Hoffnung

ist ein tüchtiger Maurer.
 

Nur den letzten Stein,

der die Mauer schliesst,

kann ich nicht setzen.
 

Denn du stehst

auf der anderen Seite

und schaust mich an.
 

+ + +
 

[Gedicht © Hans Kruppa]
 

Es ist mal wieder Zeit, allen, die so treu mitlesen und auch mal Kommentare schreiben, zu danken. Danke, dass ihr mitleidet, mitlebt, mitfühlt.
 

Wenn jemand von euch Fragen zu dieser Geschichte hat oder sich ganz einfach gerne mit anderen Lesern austauschen möchte, es gibt einen Zirkel dafür:
 

http://animexx.4players.de/community.php/akaitsuki/beschreibung/
 

^.^

17. [Setech]

Gegen 2 Uhr früh wurde es Nero zu bunt. Er legte seine Drumsticks beiseite und stand auf. Sein Oberkörper glänzte leicht vor Schweiss und jetzt, wo er nicht mehr auf die Felle einschlug, wurde ihm erst bewusst, wie kühl es im Proberaum war. Er nahm sich eines der bereitliegenden Frottiertücher und trocknete sich ab. Eine Erkältung war das Letzte, was er gebrauchen konnte.
 

Ein Blick durchs Fenster in den angrenzenden Raum ergab dasselbe Bild wie noch vor einer Stunde.
 

Gara sass da - Schal um den Hals, die Haare zerzaust - und kritzelte vor sich hin.

Normalerweise ein gutes Zeichen, doch der Schlagzeuger konnte an der Haltung des Bandleaders erkennen, dass bei diesen Kritzeleien nicht allzu viel Produktives rauskam.
 

Sie beide waren die letzten, alle anderen bereits gegangen. Die Stille, die den Schlagzeuger nun umfing hatte Etwas seltsam bedrohliches. Nero fröstelte.
 

Er zog sich seinen Pulli über und machte sich auf zu Gara. Es musste etwas geschehen.
 

"Du bist ja ganz schön fleissig...".
 

Sarkastisch. Trocken.
 

Der Sänger fuhr erschrocken zusammen und blickte zu seinem Bandkollegen auf. Jetzt erst sah Nero die vielen aufgekratzten Pickel in Garas Gesicht. Gar nicht gut.
 

"Ich...".
 

Voller Unmut wurden die vielen Notizblätter zusammengeknüllt und landeten auf dem Boden.
 

"...ach, alles scheisse!".
 

Frustriert liess Gara sich im Stuhl zurückfallen und rieb sich das malträtierte Gesicht.
 

"Vielleicht solltest du mal ne Pause machen. So geht das schon seit Tagen."
 

Nero zog einen Stuhl heran und setzte sich. Es war nicht seine Art, andere auszuquetschen, besonders dann nicht, wenn es sich um seine Bandkollegen handelte, aber verdammt, wenn Gara nicht von sich aus redete...
 

Böses Funkeln.
 

"Ach Nero...".
 

Der Sänger griff nach seiner halbleeren Zigarettenpackung. Eine leere lag bereits inmitten allen Papiers auf dem Boden.

Der Schlagzeuger gab ihm Feuer.
 

Schweigen.
 

Nero gab Garas Verschlossenheit gerade so lange, bis die Zigarette aufgeraucht war.

Also wartete er geduldig.
 

"Ich bin ein Idiot...".
 

Doch schneller als erwartet.
 

"Probleme mit Sachi?".
 

Trauriges Grinsen.
 

"Nein, mit ihr ist alles bestens."

"Und warum bist du dann nicht bei ihr?".

"Sie kümmert sich um Chieko".
 

Der Schlagzeuger hob die Augenbrauen. Dieses Gespräch nahm eine andere Wendung, als er erwartet hatte.
 

"Deine Cousine? Die mit Kyo was hat?".
 

Der Sänger nickte langsam und zuckte gleichzeitig die knochigen Schultern.
 

"Ja und nein. Ich weiss es nicht. Wir haben Scheisse gebaut. Ich habe Scheisse gebaut."
 

Und dann plätscherten die Worte wie ein Wasserfall.

Drei Zigaretten und weitere kleine Wunden in Garas Gesicht später war Nero im Bild.
 

"Im Endeffekt ist doch alles Kaorus Schuld, nicht?!".

"Nein, meine. Ich hätte gar nicht erst mitmachen sollen".

"Nun hör aber auf! Immerhin war es immer noch Kyo, der Chie kennenlernen wollte, oder?!".

"Wenn er gewusst hätte, wer sie ist, hätte er's nicht gewollt".
 

Auflachen.
 

"Ach komm, das ist doch hirnrissig! Warum stellt er sich denn so an?!".

"Er hat mir vertraut, er hat Chie vertraut - und nun ist alles hin".

"Verdammte Scheisse, Gara! Kyo ist erwachsen! Ihr kennt euch schon so lange - wenn er dir diese Sache nachträgt, ist er echt nicht mehr zu retten! Und lass verdammt nochmal deine Pickel in Ruhe!".
 

Ertappt liess Gara die Hand sinken und verbarg sie in seinem Schoss.
 

"Warum magst du Kyo nicht?".
 

Seufzen.

Nero zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an und nahm zwei Züge, bevor er zu einer Erklärung ansetzte.
 

"Ich mag Kyo, er ist ein netter Kerl. Aber ich mag die Art nicht, wie du dich verhältst, sobald es um ihn geht. Du hinterfragst alles oder auch nichts, du verzeihst ihm alles, du idealisierst ihn und stellst ihn auf ein verdammtes Podest".
 

Schmollen.
 

"Ich kenne ihn besser als du, Nero. Ich habe meine Gründe".
 

Langsam verlor der Schlagzeuger die Geduld. Das war doch nicht zu fassen.
 

"Wir alle hatten mal schwere Zeiten. Nur weil Kyo es nicht schafft, endlich die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ist es noch lange kein Grund, ihn mit Samthandschuhen anzufassen. Lass ihn doch einfach in Ruhe und warte ab - er wird schon wieder angekrochen kommen, wenn er dich braucht".

"So ist es doch gar nicht".

"Ich weiss. Ich versuche nur, dir Vernunft einzutrichtern".

"So erreichst du aber bloss das Gegenteil".

"Na wenigstens ist dir das bewusst...".
 

Nero erhob sich.
 

"Ich geh dann nach Hause - und das solltest du auch tun. Mach dir ne schöne Nacht mit Sachi und vergiss Kyo".

"Das kann ich nicht".
 

Garas Stimme klang wie die eines kleinen Jungen - trotzig, uneinsichtig, verloren. Er sass nun auf dem Stuhl, wie er es bei Merrys Konzerten oft auf seinem Pult tat - die dürren Beine angezogen, die Arme darum geschlungen.

Der Schlagzeuger fuhr sich verzweifelt durch die verstrubbelten Haare.
 

"Dann kann ich dir auch nicht helfen, tut mir leid...".
 

* * *
 

Die junge Frau liess ihr Keitai sinken und steckte es zurück in ihre Handtasche. Die Bar war beinahe leer. Normalerweise vermied sie es, an ihren freien Abenden in Nachtclubs rumzuhängen, doch Chieko hatte Lust darauf gehabt, und Sachiko konnte ihrer Freundin nur schlecht etwas abschlagen.
 

Müde nippte sie an ihrem Ginger Ale. Schon halb 3 durch. Um 10 begann ihre Englisch-Vorlesung. Zu viel Schlaf würde sie nicht mehr kommen
 

Als Chie an den Tisch zurückkam, gähnte ihre Freundin laut.
 

"Nanana - halt dir wenigstens die Hand vor den Mund!".
 

Ein breites Lachen zierte Chiekos Gesicht. Wenigstens das. Als sie um 11 in der Bar aufgetaucht war, war sie ein Häuflein Elend gewesen.
 

"Ich dachte, das könntest du für mich tun...".
 

Sachiko grinste und blinzelte schläfrig.

Ihre Freundin setzte sich schwerfällig und konnte nun ihrerseits ein Gähnen nicht unterdrücken.
 

"Wir sind betrunken und reif fürs Bett, was?!".
 

Mit einem Nicken schob Sachi ihr ihr Glas hin.
 

"Trink, das hilft. Ich werd aber wohl jetzt mal gehen - Gara hat grad getextet, er ist auf dem Weg nach Hause".

"Kannst du ihn auch so easy aufheitern wie mich?".

"Leider nein - he's having a hard time".

"Ich hoffe, du behältst Recht und Kyo wird sich wieder einkriegen".

"Auf jeden Fall - er hat dich bestimmt gern, und du weißt, wie sehr er an Gara hängt".

"Ja. Aber darum wird das alles für ihn umso schlimmer sein".

"Jetzt fang nicht wieder an. Das hatten wir doch alles schon".

"Sorry. Ich vermisse ihn, weißt du?".

"Wenn du ihn auch nur halb so sehr vermisst, wie ich Gara all die Monate vermisst hab, dann...".

"Du hast ihn ja wieder!". Chie knuffte ihre Freundin in die Seite. "Tatsurou hat grad zur rechten Zeit eingegriffen, wenn Gara dich jetzt nicht hätte, wäre er wohl richtig arm dran".

"Hör auf, so schlimm ist es doch nicht".

"Doch, ist es...".

"Müsste ich eigentlich neidisch auf Kyo sein?". Lachen in der Stimme. "Er nimmt meinen Freund und meine beste Freundin für sich ein".

Nun lachte auch Chieko.

Doch eine passende Erwiderung auf das Gesagte wollte ihr nicht einfallen.
 

* * *
 

Der Gitarrist streckte seine langen Beine von sich und seufzte.

Die Tour begann an ihm zu zehren.

Seit ein paar Tagen plagte ihn Muskelkater in den Beinen - von den ewigen Verspannungen in der Schulter und im Nacken ganz zu schweigen.

"Noch zehn Tage...".

Toshiyas Stimme hinter ihm. Der Bassist war so leise in den Raum getreten, dass der Gitarrist ihn gar nicht hatte kommen hören.

Die wandte sich halb um und nickte.

"Wird auch Zeit, ich komm mir vor wie ein Krüppel".

"Es wird immer schlimmer, ne?!".

"Ja, allerdings. Freu mich ja schon auf die paar freien Tage nach Neujahr".

"Und ich erst".

Der Bassist steckte sich eine Zigarette an und blieb neben seinem Freund stehen.

"Wo sind denn die anderen alle?".

"Kaoru hat was Wichtiges mit Inoue zu bereden", der Gitarrist zog verächtlich die Augenbrauen hoch. "Shinya ist schon auf der Bühne. Und Kyo...keine Ahnung. Er macht mal wieder auf Einsiedler. Ich hasse es, wenn er so drauf ist". Die rümpfte angewidert die Nase.

"Wer hasst es nicht. Weißt du, was mit ihm ist?".

Schulterzucken.

"Keine Ahnung - wohl das Übliche".

"Die übliche Unlust? Meinst du? Bis vor ein paar Tagen ging's ihm doch noch ganz gut".

Der Gitarrist überlegte kurz.

"Stimmt eigentlich. Seit er sich mit Chieko abgesetzt hatte, ist er so".

"Eigentlich müsste es ihm doch gerade seit da super gehen, oder?".

Der Bassist zwinkerte anzüglich und zog sich einen Stuhl heran.

"Aber nur, wenn er bekommen hat, was er wollte".

"Du meinst Chieko hat ihn noch nicht rangelassen?!".

Toshiyas Grinsen wurde breiter, anzüglich.

"Woher soll ich das wissen, frag ihn doch".

Verletzter Blick.

"Du bist ja auch nicht viel besser drauf. Was ist dir über die Leber gelaufen?".

Die fuhr sich durch die ungestylten Haare.

"Ach, ich weiß auch nicht - hab keinen Bock mehr. Will nach Hause. Yoshie fehlt mir. Ich glaub, ich werde alt".

Lachen.

"Nun stell dich nicht so an - schließlich geht's uns allen gleich".

"Ich hab mich selten so sehr auf das Ende einer Tour gefreut".

Sein Freund drückte seine Virginia im bereitgestellten Aschenbecher aus.

"Hast du schon Pläne für Januar?".

"Zuhause rumgammeln, vielleicht meine Eltern besuchen - ich bin froh, mal gar keine Pläne zu haben. Du?".

"So ziemlich dasselbe. Vielleicht hol ich mal wieder meine Stifte hervor - ich hab schon viel zu lange nicht mehr gezeichnet".

Die nickte bedächtig.

Draußen ertönten schnelle Schritte und einer der Roadies steckte den Kopf zur Tür herein.

"Toshiya? Wir brauchen dich oben...".

Seufzend stand der Bassist auf und lächelte Die aufmunternd zu.

"Komm schon - noch sechs Konzerte. Das Ende ist absehbar".

Bevor der Gitarrist etwas erwidern konnte, war Toshiya auch schon verschwunden.
 

* * *
 

Der Daisuke, der seine Wohnung betrat, wirkte blasser als sonst.

Wortlos streifte er sich die Chucks von den Füssen und folgte Gara ins Wohnzimmer, wo bereits Daruma saß.

"Oh, ich wollt euch nicht stören...".

Der Sänger von Kagerou blieb etwas unschlüssig stehen.

"Tust du nicht, wir haben nur ein paar Illustrationen besprochen - alles schon erledigt".

Daruma lächelte freundlich und steckte gerade eine Zeichnungsmappe zurück in seine königsblaue Umhängetasche.

Erleichtert ließ Daisuke sich in einen der Sessel fallen und zauberte aus eine Papiertüte hervor.

"Donuts?!". Die Augen des Illustrators blitzten.

Verhaltenes Nicken.

"Bedien dich".

Der begabte Zeichner ließ sich nicht zweimal bitten und langte zu. Sich zwischen zwei Bissen die Lippen und Finger leckend, wandte er sich an den Sänger:

"Wie läuft eure Tour? Gut gestartet?".

Von einem Lächeln begleitetes, enthusiastisches Nicken.

"Ah, sugee na! Die richtige Einstimmung auf die Tour im Februar. Bin ganz froh, dass wir vor Ende Jahr noch etwas zum Spielen kommen."

Daisuke schluckte und fuhr sich durch die Haare.

Genau wie auf der Bühne, ging es dem Illustrator durch den Kopf, bevor er sich wieder eingehend seinem Donut widmete.

Der Sänger stand auf und ging in die Küche, wo Gara gerade eben Instantkaffee in zwei Tassen löffelte.

"Machst du mir nen Tee?".

Überrascht blickte der Sänger von Merry auf.

"Ich dachte, du magst den Kaffee so gern...".

"Ja, aber nicht heute. Sorry".

Etwas ratlos schüttete Gara das Pulver aus der einen Tasse zurück in die Dose und suchte im Schrank nach vorrätigem Tee.

"Ich hab nur ganz hundsgewöhnlichen Grüntee. Hoffe, der ist überhaupt noch genießbar...".

"Passt schon. Ich bin hart im Nehmen".

Gara schaltete den Wasserkocher ein und musterte seinen Freund eingehend. Daisuke stand gedankenverloren da und spielte mit einem Löffel.

"Du hast auch ne Weile nichts von Kyo gehört, oder?!".

Der Sänger von Merry wandte sich um. Wachsam.

"Wie kommst du darauf?".

"Nero hat vorhin irgendwas angedeutet".

"Du warst bei uns im Proberaum?". Erstaunen.

"Ja. Normalerweise findet man dich so kurz vor nem Live ständig dort".

"Ich war bis heute früh um 3 da. Warum hast du nicht angerufen?".

"Dein Handy ist aus...".

"Oh...sorry!".

Gara grinste zerknirscht und goss das kochende Wasser auf.

Seit er sich vor ein paar Monaten entschlossen hatte, seinen Festanschluss zu kündigen, war er tatsächlich nur noch über sein Keitai erreichbar.

Daisuke winkte ab und griff sich vorsichtig die Teetasse.

"Danke. Ich hab Donuts mitgebracht - falls Daruma sie noch nicht alle vertilgt hat, hat's für dich noch einen übrig".

Der Sänger von Merry brachte es nicht übers Herz, seinem Freund zu sagen, dass das Letzte, worauf er im Moment Lust hatte, süße, klebrige Donuts waren.

Zusammen gingen sie zurück ins Wohnzimmer und machten es sich in den Polstersesseln gemütlich. Daruma hatte zwei Donuts vertilgt, kritzelte nun konzentriert auf seinem Sketchbuch vor sich hin und schien die beiden nicht weiter zu beachten.

"Also, was ist nun, hast du von Kyo gehört oder nicht?".

Daisuke nippte am heißen Tee und verzog schmerzhaft den Mund.

Gara schüttelte den Kopf.

"Nein, gar nichts. Nicht seit Chie ihm reinen Wein eingeschenkt hat".

"Also nimmt es ihn doch ganz schön mit...".

"Sieht so aus. Ich fühle mich so schuldig, verdammt!".

Der dünnere Sänger setzte seine Tasse so hart auf, dass die gläserne Tischplatte klirrte.

Sein Freund schwieg und rührte in seinem Tee.

Auf einmal fiel es Gara wie Schuppen von den Augen.

"Er meldet sich bei dir auch nicht mehr".

Traurige Augen trafen seine. Nicken.

"Warum tut er das? Was hab ich denn mit der Sache zu tun?".

"Vergiss nicht, er ist auf Tour...", setzte Gara beruhigend an.

"Das hat ihn aber bisher nicht daran gehindert, auf Nachrichten zu antworten oder mal kurz anzurufen. Und ich bin auch auf Tour".

Der Punkt ging an Daisuke.

Gara suchte nach den richtigen Worten.

"Dass Chie und ich seine Wut zu spüren kriegen, war klar - aber dass er dich auch mit reinzieht...".

"...ist verdammt nochmal nicht fair! Ich habe nichts getan."

Daruma sah kurz auf und musterte die beiden. Dann widmete er sich wieder seiner Zeichnung.

"Wenn er ans Telefon ginge, würde ich ihm alles erklären, aber...".

Gara hob bloß hilflos die Schultern. Der Kaffee schmeckte auf einmal bitter und verursachte ihm Brechreiz.

"...ich komm nicht an ihn ran", brachte er den Satz mühsam zu Ende.

Daisuke nahm einen großen Schluck Tee und nickte verständnisvoll. Seine Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen.

"Ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen. Eigentlich hattest du mich vor sowas gewarnt, ne? Ich konnte mir damals so schlecht vorstellen, dass Kyo so reagieren würde. Hoffe bloß, er kriegt sich wieder ein. Die ganze Situation ist bescheuert. Er wollte doch auf eines unserer Lives kommen. Und für Beautifool's hat er sich doch auch interessiert, oder?!".

Der Sänger von Merry nickte langsam. Vor seinen Augen drehte sich auf einmal alles. Wenn er daran dachte, dass er nachher noch zur Probe musste, wurde ihm anders. Fröstelnd ließ er sich tiefer in den Sessel sinken und zog die Beine an.

Schweigen breitete sich aus.

Das Kratzen von Darumas Stiften auf dem rohen Sketchpapier wirkte einschläfernd und lullte die beiden Sänger ein.

"Wann musst du denn zur Probe?".

Gara sperrte die halb zugefallenen Augen auf.

"Eigentlich in einer halben Stunde...".

"Eigentlich?". Daisukes Stimme klang besorgt.

Daruma setzte den Stift ab und musterte Gara forschend.

Statt einer Antwort fuhr der Sänger von Merry hoch und rannte eine Entschuldigung murmelnd ins Bad.

Seine beiden Freunde blickten ihm mit großen Augen nach und tauschten danach wissende Blicke.

"Sorgst du dafür, dass er zuhause bleibt? Ich fahr ins Studio und sag den anderen Bescheid". Daruma packte seine Zeichenutensilien nun endgültig weg und stand auf.

Der Sänger von Kagerou nickte.

"Ja, nen Tag relaxen wird ihm ganz gut tun".

Der Illustrator räusperte sich zustimmend.

"Ich glaub, ich geh dann - es reicht, wenn du ihn in dem Zustand siehst". Er wusste sehr wohl, wie ungern Gara vor anderen Schwäche zeigte. "Es sei denn, du hast überhaupt Zeit?". Wie konnte er bloß erwarten, dass Daisuke tatsächlich den ganzen Nachmittag bei Gara bleiben konnte und wollte?

Doch der Sänger zeigte mit einem Nicken sein Einverständnis und lächelte.

"Geh nur, ich kümmer mich schon um ihn".

"Sachi müsste gegen 4 von der Uni kommen...".

"Kein Problem, ich hab ja heute frei - hau schon ab!".

Daruma grinste, reichte Daisuke kumpelhaft die Hand, warf sich seine Tasche um und verließ Garas kleine Wohnung mit großen Schritten.

Der Sänger von Kagerou räumte die Tassen in die Küche und bereitete dort frischen Tee zu. Gara würde bestimmt keinen Kaffee mehr trinken wollen.

Durch die dünne Wand hörte Daisuke seinen Freund aus dem angrenzenden Badezimmer würgen. Seltsamerweise war ihm dies peinlich. Er wollte diese Töne nicht mit anhören müssen. Vorallem nicht erzeugt von einem Menschen, den er so gern mochte.

Als das Teewasser kochte und der junge Sänger den Tee aufbrühte, nahmen die unangenehmen Geräusche ein Ende. Die Klospülung wurde betätigt, Wasser lief, danach erklangen Schritte auf dem Gang.

Fast schon dachte Daisuke, dass Gara sich gleich ins Bett verzogen hätte, doch als er beladen mit dem vollen Tablett aus der Küche trat, sah er seinen Freund in seine Bettdecke eingekuschelt auf dem Sofa liegen.

"Ist dir bequem so?". Vorsichtig stellte er das Tablett auf den Tisch.

Gara lächelte matt. "Im Bett kommen mir eh nur dumme Gedanken. Geht Daruma ins Studio?".

Nicken. "Ja, er sagt den anderen Bescheid. Am besten machst du einfach mal nen Tag Pause, ne".

Der Sänger von Merry schürzte die Lippen. "Hast ja Recht. Du bleibst aber noch ne Weile, oder?!". Hoffnungsvoll, beinahe ängstlich.

"Klar, wenn du mich erträgst...". Freches Grinsen.

"Danke". Nur dieses eine Wort. Und doch verstand Daisuke, wieviel darin lag.

Er goss den herb duftenden Tee in die Tassen und stand dann auf.

"Gucken wir uns ne DVD an?".

Gara nickte. Etwas Ablenkung würde ihnen beiden gut tun.

"In meinem Zimmer liegen ein paar neue, such dir eine aus".

Als Daisuke verschwunden war, setzte der Merry-Sänger sich vorsichtig auf. Noch immer fühlte er sich leicht beduselt, doch er zwang sich, ein paar Schlucke des heißen Tees zu trinken. Sofort breitete sich eine wohltuende Wärme in ihm aus. Gerade als er sich wohlig wieder hinlegen wollte, fiel sein Blick auf ein Papier unter dem Tisch. Hatte Daruma das vergessen? Für gewöhnlich ließ er nie was liegen.

Gara streckte den Arm aus und angelte sich das Blatt.

Das Bild darauf sah aus wie eine einfache Kritzelei, nichts besonderes. Aber nur auf den ersten Blick. Als der Sänger die Zeichnung eingehender betrachtete, beschleunigte sich sein Puls.
 

Daruma hatte ihn, Daisuke und Kyo gemalt. In einfachen Strichen nur und doch so treffend genau. Das Beängstigende aber war nicht diese Genauigkeit, sondern ein weiteres Detail. Dieses blutrote Herz in der Mitte, der einzige Farbklecks. Ein Herz für sie alle drei. Ein einziges Herz, das Blut durch alle ihre Blutbahnen pumpte. Ein Herz, das sie am Leben erhielt. Hätte Daruma die Venen und Adern, die aus den offenen Brustkörben der drei Gestalten auf dem Bild quollen und sich zum Herz schlängelten, ebenfalls in Farbe gemalt, wäre Gara bestimmt wieder übel geworden. Doch so saß er einfach nur fasziniert da und betrachtete das Werk in ungläubigem Staunen.
 

Der Illustrator hatte die Zeichnung absichtlich da gelassen. Daran zweifelte der Sänger keine Sekunde. Und die Botschaft war unübersehbar. Nicht nur Daisuke und er hingen von Kyo ab, sondern dieser auch von ihnen beiden. Egal wie enttäuscht und verletzt er sich fühlte, sie beide spürten denselben Schmerz - und damit kam auch die Erkenntnis, dass er sich bei ihnen melden würde, sich bei ihnen würde melden müssen, weil er nicht anderes konnte.
 

Doch das Warten würde ihn, Gara, krank machen. Genauso wie es Daisuke wahnsinnig vor Sorge und Enttäuschung machen würde. Aber da mussten sie durch. Kyo musste sich wieder klar darüber werden, wem er vertrauen konnte und wollte. Und Gara hoffte sehnlichst, dass Kyo Daisuke und ihn nicht wegen der Sache mit Chieko (die für andere eine Lappalie gewesen wäre, für Kyo jedoch einen Vertrauensbruch darstellte) aus seinem Leben strich.
 

"Ich dachte, wir könnten uns 'The Fellowship of the Ring' reinziehen, wo doch der zweite Teil schon bald ins Kino...".

Daisukes fröhliche Stimme brach ab als er Garas Gesicht sah.

"Stimmt was nicht?!".

Sofort war er an der Seite seines Freundes und warf einen Blick auf Darumas Zeichnung.

"Holy Shit...". Erschrocken ballte der Sänger von Kagerou die Faust vor seinem Mund und ließ die trockenen Lippen über die zarte Haut seiner Hand gleiten.

"Es ist toll, oder?!". Gara schielte zu ihm hoch.

Stummes Nicken.

Dann:

"Aber es macht mir Angst...".

"Weil es wahr ist?".

"Ja".
 

* * *
 

Der erschöpfte Sänger tippte den für sein Vorhaben erforderlichen Code in sein Keitai ein. Seine Hände zitterten leicht. Er saß ganz hinten im kleinen Bus, der sie von der Konzerthalle zum Hotel brachte. Durch die abgedunkelten Scheiben sah er aus den Augenwinkeln die Lichter der Stadt vorbeiziehen. Im Bus war es dunkel. Alle waren still. Nur ganz vorne redete Inoue auf den Fahrer ein. Irgendwelche Belanglosigkeiten. Gerade rubbelte Die sich mit einem Frotteetuch durch die verschwitzten Haare. Toshiya saß, ein Tuch um die Schultern gelegt, neben dem Gitarristen und rauchte eine Zigarette. Der süßliche Mentholgeruch verbreitete sich im Fahrzeug. Shinya und Kaoru waren größtenteils vom Bassisten und vom Gitarristen verdeckt. Doch Shinyas Körperhaltung verriet, dass er ebenfalls mit seinem Handy rumfingerte. Was Kaoru tat, war Kyo eigentlich egal. Er hatte die letzten Tage sehr wenig mit dem Bandleader zu tun gehabt. Vermutlich war der Gitarrist immer noch sauer auf ihn, weil er ihm nicht Bescheid gesagt hatte, als er mit Chieko ins Ryokan gegangen war.
 

Kyo rümpfte die Nase und tippte eine weitere Taste seines Keitais.
 

Seine Brust brannte. Seine Vorderarme auch. Er hatte sich in der Garderobe schon mal notdürftig gewaschen. Richtig verarzten konnte er sich im Hotel.
 

Er hob das Mobiltelefon ans Ohr und lauschte.
 

Seine Mutter. Ihre guten Wünsche für die letzten paar Konzerte. Lieb.
 

Der Typ von READ. Er würde ihm die Tage ein paar Exemplare des Magazins zukommen lassen. Nett.
 

Die nächste Stimme ließ seinen Atem aussetzen. Sein Herz tat einen Sprung.
 

"Bitte lösch diese Nachricht nicht gleich, ich hab dir ein paar Sachen zu sagen. Ich hoffe, es geht dir gut, trotz allem. Es war nie meine Absicht, dich zu verletzen. Du hast meine Erklärung gehört. Und ich kann nicht mehr tun als dir zu versichern, dass ich dich nie verarschen wollte. Nie.
 

Und denkst du wirklich, Gara hätte dir weh tun wollen? Einer deiner besten Freunde?! Und hältst du's für fair, ihm nun die kalte Schulter zu zeigen? Genau diese Reaktion von dir hat Gara befürchtet. Deshalb haben wir auch so lange gewartet, dir alles zu erzählen. Nun hat er verdammte Angst, dich zu verlieren, dich bereits verloren zu haben.
 

Und Daisuke! Was denkst du dir dabei? Er hat doch überhaupt nichts damit zu tun! Also hör bitte auf, ihn zu ignorieren, ja?! Er verdient sowas nicht.
 

Die beiden würden sich unheimlich freuen, dich bei einem ihrer Gigs zu sehn. Ich weiß, dass du dir Beautifool's anschauen wolltest. Und Daisuke hält dir für jedes ihrer Lives ne Karte frei. Es würde beiden sehr gut tun, dich wieder mal im Publikum zu wissen...
 

Naja, vermutlich red ich hier eh gegen ne Wand. Dachte mir nur, dass es dich vielleicht interessiert, dass die beiden tatsächlich leiden. Wenn du mich nie mehr sehen willst, bitte, deine Entscheidung. Aber überleg dir gut, wie du deine Freunde behandelst.
 

Sie vermissen dich. Und ich dich auch, weißt du...".
 

Kyo liess den Hörer sinken und starrte Löcher in den Sitz vor sich.
 

Von links vor ihm betrachtete Die ihn nachdenklich. Er hatte den Sänger die ganze Zeit beobachtet, seit dieser den Hörer ans Ohr gehoben hatte. Hatte sein Gesicht sich verändern sehen. Von einem nachsichtigen Lächeln, über ein businesslikes Grinsen bis hin zu dieser...Verlorenheit, dieser Leere.
 

Als Kyos Augen die seinen nach einer halben Ewigkeit trafen, konnte der Gitarrist erkennen, dass der Sänger eine Entscheidung gefällt hatte.
 

+ + +
 

Danke fürs Lesen! ^.^
 

Bevor ihr euch wundert: Mir ist bewusst, dass Kagerou im Dezember 2003 nicht auf Tour waren, aber es passt so halt grad ganz gut in die Geschichte rein.
 

Ich hab mir übrigens überlegt, einen Fanart-Wettbewerb zu starten. Hätten einige von euch Lust, das Bild von Daruma zu malen, das ich in diesem Kapitel beschreibe? Würde mich mal interessieren, wie ihr diese "Vorlage" umsetzt. ^.^

Schreibt mir bei Interesse doch ne ENS oder macht nen Thread im Akai Tsuki-Zirkel auf.
 

So, und ich meld mich dann wohl mal bis nach dem MUCC-Konzert schreibenderweise ab. Hab jetzt zwei Wochen Ferien und möchte die so richtig geniessen, was bedeutet, dass ich nicht allzu viel an dieser Geschichte weiterschreiben werde. Muss den neuen "Harry Potter" lesen. Und sonst viele schöne Dinge tun. ^.~

18. [Samhain]

"Noch zwanzig Minuten".

Der Ruf verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Gängen und Backstageräumen.

Daisuke richtete sich auf und betrachtete zufrieden sein Werk im Spiegel.

Das Makeup passte schon mal, nun musste er sich um seine Haare kümmern. Gerade als er nach dem Glättstab griff, betrat Kazu den Raum, die Mundwinkel zu einem verschmitzten Grinsen hochgezogen.

Fragend fing der Sänger den Blick seines Bandkollegen im Spiegel auf.

"Was ist?".

Das Lächeln des Bassisten wurde grösser.

"Gute Neuigkeiten".

"Was denn?". Eine Ahnung keimte in ihm auf. Konnte es tatsächlich sein...?

"Die für Kyo reservierte Karte wurde abgeholt".

Daisukes Puls fing an zu rasen.

"Er ist hier?!".

Kazu lächelte nachsichtig und setzte sich neben seinen Freund.

"Anzunehmen. Die würden die Karte ja nicht sonst wem geben".

Der Sänger nickte und verfiel in nachdenkliches Schweigen.

"Freust du dich nicht?". Kazu rückte seinen Stuhl näher zum Spiegel und begann, seinem Makeup den letzten Schliff zu geben.

"Doch, schon. Aber jetzt bin ich nervös".

Der Bassist zog die Augenbrauen hoch.

"Hätte ich bloss nichts gesagt...". Er legte den schwarzen Kajalstift beiseite und blickte Daisuke im Spiegel fest an. "Ganbatte, ne. Ich weiss, du packst das. Ganz hervorragend sogar, wie immer, wenn er im Publikum steht".

Damit erhob sich der Schlaksigere und liess den Sänger allein zurück.

Dieser griff mit leicht zitternden Händen nach Kamm und Haarspray.

In seiner Brust pochte das Herz wie wild.
 

* * *
 

Gara stellte das leere Wasserglas auf den Tresen und liess seine Augen umher schweifen. Er fühlte sich noch immer etwas matt, obwohl er die letzten Tage einen Gang zurückgeschaltet hatte. Doch alle Ruhe half nichts, wenn Kyo sich weiterhin rar machte. Diese Erkenntnis schmerzte und zeigte ihm, wie machtlos er war. Mit einem Seufzen wandte der Sänger sich an Yuu und brachte so etwas wie ein Lächeln zustande.
 

"Kagerou werden immer populärer, was?!". Yuu zog genüsslich an seiner Zigarette und bedachte die Menge der Fans in der Halle mit einem anerkennenden Blick.

Gara nickte stolz. Er freute sich für die Band und vor allem für Daisuke. Nach all den Hindernissen, den Entbehrungen, der harten Arbeit und nicht zuletzt Daisukes Kampf ums Leben konnten die vier jungen Männer, die in wenigen Minuten die Bühne stürmen würden, endlich die Früchte ernten. Entgegen aller Vorbehalte und der Kritik von Pessimisten oder vielmehr Neidern, die das Potential des jungen Sängers sehr wohl erkannt hatten, dessen Aufblühen aber im Keim zu ersticken hofften. Gara konnte sich schon gar nicht mehr an den Daisuke erinnern, der hinter dem Schlagzeug gesessen war. Sein Freund war Sänger geworden - und hatte somit den Platz gefunden, der ihm zustand. Ja, es war unbändiger Stolz, der den Sänger von Merry heute erfüllte.
 

"So wortkarg? Woran denkst du?". Yuu hatte ihn beobachtet.

"An Äpfel, die hoffentlich nicht so bald verrotten".

Das Gesicht des Gitarristen war ein einziges Fragezeichen. Gerne hätte er Gara über die Bedeutung dieser Metapher ausgefragt, doch dieser griff in dem Moment in die Tasche seiner grünen Oldschooljacke und brachte ein vibrierendes Handy zum Vorschein.

"Daisuke?" Garas Stimme klang erstaunt. Was konnte der Jüngere von ihm wollen, so kurz vor Konzertbeginn. "Stimmt was nicht?".

An Garas immer grösser werdenden Augen sah Yuu, dass der Sänger von Kagerou überaus schockierende Neuigkeiten haben musste. Hoffentlich war mit der Band alles in Ordnung.

"Nein, hab ich nicht".

Täuschte er sich oder zitterte Garas Stimme? Nun war Yuus Neugier endgültig geweckt. Unauffällig lehnte er sich über den Tresen näher an seinen Freund. Lauschen war unanständig, aber hier war etwas im Gange, das er, soviel war ihm klar, nicht verpassen durfte.

"Ich kann mir denken, wo er ist".

Des Bandleaders haselnussbraune Augen wanderten zum Balkon, zur dunkelsten Ecke des VIP-Bereichs.

Auf einmal wusste Yuu, um wen sich die Unterhaltung drehte. Er senkte den Blick und widmete sich wieder seinem Bier. Kyo war da? Schön. Das bedeutete jedoch, dass er, Yuu, es sich abschminken konnte, das Konzert mit Gara anzugucken. So, wie er den Sänger kannte, würde dieser sich gleich nach Beendigung des Anrufs absetzen.

"Lass mich nur machen. Und jetzt macht, dass ihr auf die Bühne kommt, ihr seid eh schon zu spät dran". Garas tadelnder Ton sollte aufmunternd klingen, doch der Merry-Gitarrist bezweifelte, dass Daisuke dies so auffassen würde.

"Ich weiss. Aber du bist ein wundervoller Sänger und genau das findet Kyo auch. Mach dich nicht verrückt. Hier ist ne Halle voller Leute, die ganz wild drauf sind, euch zu sehn - also rockt, verdammt nochmal!".

Yuu grinste und leerte sein Bier.

"Okay, alles klar? Wir sehen uns nachher, ja? Viel Spass! Oh, und Daisuke, ich bin stolz auf dich...".

Der Gitarrist traute seinen Ohren kaum. Gara zeigte gerne Anerkennung, wenn sie gerechtfertigt war, und sein Lob war immer aufrichtig. Neu jedoch war der Tonfall. Da war gerade eine Zärtlichkeit mitgeschwungen, die sich äusserst selten in seine Stimme stahl. Yuu hatte bisher nicht allzu oft die Gelegenheit gehabt, persönliche Gespräche zwischen Daisuke und Gara mitzuverfolgen. Eigentlich hatte er angenommen, dass sich der Merry-Gara nicht allzu sehr von dem Gara, der privat mit Freunden sprach, unterschied - aber nun wurde er eines besseren belehrt. Daisuke und Kyo waren für Gara weit mehr als nur gute Freunde - und dies wurde Yuu erst jetzt so richtig bewusst. Wie hatte er auch so naiv sein und etwas anderes erwarten können?!
 

Vorwurfsvolle Augen trafen Garas unbehaglich, ratlos zwinkernde.

Der Sänger heilt sein Handy noch immer in der Hand und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte.

Yuu erbarmte sich und nahm ihm die Entscheidung ab.

"Nun geh schon, such Kyo. Und nein, es macht mir nichts aus. Hau ab!".

Die letzten zwei Worte unterstrich er mit einem breiten Grinsen. Gara sollte seine Enttäuschung nicht allzu offensichtlich zu spüren bekommen. So wie er den Sänger kannte, wusste er jedoch, dass dieser es schon längst bemerkt hatte. Nichts entging Gara. Oft kam es dem Gitarristen von Merry vor, als ob sein Bandkollege ganz tief in seine Mitmenschen reinsehen konnte. Zumindest in die, in die er Einblick haben wollte. Meistens versuchte Gara zu vermeiden, andere wissentlich vor den Kopf zu stossen oder gar zu verletzen. Heute jedoch hatte Wagamama-Gara von ihm Besitz ergriffen, heute scherte er sich nicht um die Gefühle anderer.

Und Yuu liess ihn ziehen.
 

* * *
 

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er oben an der Treppe ankam. Sein Puls raste. Und dies bestimmt nicht, weil er so schnell gerannt war. Seine Kondition liess in keiner Weise zu wünschen übrig.

Die Halle war bereits dunkel, die Show konnte jeden Moment losgehen.

Wo war er denn bloss?
 

Gehetzt scannten die ungeschminkten Augen die Sitzreihen und blieben schliesslich an einem kleinen, allzu bekannten Gesicht hängen, das in einem gespenstischen Hellblau die einzigen Lichtquellen im Saal, die Scheinwerfer auf der Bühne, reflektierte.
 

Mit einem zufriedenen Grinsen nahm Gara die letzten vier Tritte rechterhand und stahl sich schnell, Entschuldigungen und gelegentlich auch kurze Begrüssungen murmelnd durch die Sitzreihe an sein Ziel. War ja wohl typisch, dass Kyo sich an das äusserste Ende gesetzt hatte. Der jüngere Sänger konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wortlos setzte er sich auf den freien Platz neben seinem Sempai und starrte auf die Bühne.
 

Am liebsten hätte er ihn mit Fragen bestürmt, ihm gezeigt, wie sehr er sich freute, ihn endlich wiederzusehen - und ihn um Verzeihung gebeten. Doch er zwang sich zu Zurückhaltung. Ein falsches Wort konnte seinen Freund gleich wieder vergraulen.
 

Auf der Bühne tat sich immer noch nichts. Langsam wurde die Menge unruhig. Gerade als Gara anfing, sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht backstage gegangen war, um Daisuke zu beruhigen, erklang die so lange vermisste Stimme an seinem linken Ohr.

"Habt ihr mir nachspioniert?".

Noch immer wandte Gara sich nicht seinem Freund zu.

Er nickte bloss mit einem angedeuteten Grinsen, blieb aber weiter so sitzen und blickte geradeaus.

"Und was ist nun, müssen sie Daisuke da hinten erst noch wiederbeleben?".

Der trockene und doch so humorvolle Unterton brach das Eis.

"Das hab ich mich auch grad gefragt - meinst du, wir müssen uns Sorgen machen?".

Kyos Lippen erzeugten ein Lächeln, das sich auch in seine Augen stahl.

Sein Kouhai drehte sich nun doch zur Seite und musterte ihn eingehend. Das kleine, runde Gesicht. Die freundlichen, haselnussbraunen Augen, in denen immer ein Schimmer von Trauer lag. Die breite Nase. Die vollen, trockenen Lippen. Die kleinen Narben. Die durchgestuften, verwuschelten Haare. Wie sehr hatte Gara vermisst, all dies zu sehen.

So viel Zuneigung stieg in ihm auf, dass sein Herz beinahe übersprudelte.

Am liebsten hätte er Kyo umarmt, doch hier gab es zu viele Augen, für die dies zu sehen nicht bestimmt war, also beschränkte er sich darauf, kurz und herzlich den muskulösen Oberarm des älteren Sängers zu drücken. Und er wusste, alles, was er hatte sagen wollen, würde er nicht aussprechen müssen, denn sein Freund verstand ihn auch ohne Worte. Sicher, es gab einiges zu bereden, aber nach dem Konzert würde sich dazu backstage bestimmt eine Gelegenheit ergeben.
 

Entspannt lehnte Gara sich zurück. Alle Sorgen waren von im abgefallen. Alles würde gut werden.

Und als ob Daisuke eine Verbindung zu ihm aufrecht gehalten und nur auf diesen Moment gewartet hätte, stürmte die Band die Bühne.
 

* * *
 

"Und dann hat das Puchi sich doch tatsächlich das ganze Wasser in den Schritt geleert!". Garas Stimme überschlug sich beinahe vor Vergnügen.

Neben ihm hielt Tatsurou beim Schminken inne und gluckste belustigt. "Scheisse, warum hab ich mir das nicht auch angeguckt - er wird ja immer besser".

"Ja, so ein kleiner Perversling".

Tatsurou verzog amüsiert das Gesicht. "Da fragt man sich doch, woher er das wohl hat...".

"Hey!!!". Der Sänger von Merry drehte so schnell den Kopf, dass die langen Extensions in seinem Gesicht hängen blieben.

"Was denn? Fühlst du dich etwa betroffen?". Unschuldsmiene.

Nero, der gerade in den Raum kam, um eine seiner extravaganten Brillen zu suchen, lachte los.

"Dass ihr beide euch auch immer streiten müsst". Klischeeschwuler Tonfall. "Vertragt euch".

Gara befreite seinen Mund von den Kunsthaaren und zog die Augenbrauen hoch. "Ich bin von Irren umgeben - bin ich froh, muss ich euch Anfang Januar ne Weile nicht sehn".

Erstaunt suchte der Sänger von MUCC den Blick seines Freundes im Spiegel.

"Warum? Fährst du weg?"

"Ja. Nur Kyo, Daisuke und ich. Da bist du neidisch, was?!".

Tatsurou lächelte nachsichtig und widmete sich wieder seinem Makeup. Enttäuschung nagte an seinem Herzen. Sie hatten ihn nicht mal gefragt. Nicht, dass er mit Kyo seinen Urlaub hätte verbringen wollen, aber...es ging ganz einfach ums Prinzip.

"Und du? Was hast du vor?". Garas Stimme klang arglos.

Tatsurou war stolz auf sein Pokerface und zuckte leichthin die Schultern.

"An Silvester wird gefeiert, und sobald's mir wieder gut geht, fahr ich zu meinen Eltern".
 

Erstaunlich, wie leicht ihm diese Lüge von den Lippen kam. Naja, eine so deftige war es auch nicht. Seine Eltern hatten ihn eingeladen gehabt - aber er hatte abgelehnt. Das war gewesen, bevor er erfahren hatte, dass die meisten seiner Kumpels Anfang Januar wegfahren würden. Und nun waren also auch Gara und Daisuke weg. Hätte er sich nur mal eher umgehört.
 

Um das Gespräch aufrecht zu halten, fragte er: "Wann fahrt ihr denn los? Wohin geht's eigentlich?", nur um sich danach wieder in seinen Gedanken zu verlieren. Die Antwort seines Freundes bekam er nur zur Hälfte mit.

"An Silvester gucken wir uns das Jahresendkonzert von Dir en grey an, an Neujahr wird entkatert und gepackt und am 2. Januar geht's los nach Hokkaido. Tetsus Eltern haben da ein Haus. Schade, dass du zu deinen Eltern fährst, wir hätten bestimmt noch nen Platz für dich gefunden".

Tatsurou schreckte auf.

"Was?! Ach so, ja...danke, aber...nein...".
 

Die beiden verfielen in Schweigen und widmeten sich voll und ganz ihrem Styling.

Der Sänger von MUCC beobachtete fasziniert, wie sich Garas hübsches Gesicht immer mehr in eine gruslige Fratze verwandelte. Er betrachtete sich selbst. Prüfte peinlich genau das ihm eigene schwarze Makeup und gab sich schliesslich zufrieden.
 

Nero war inzwischen fündig geworden und verliess unbeachtet und nachdenklich den Raum. Gara war doch sonst nicht so schwer von Begriff, warum war ihm Tatsurous Enttäuschung nicht aufgefallen? Bevor der Schlagzeuger sich weiter mit dieser Frage beschäftigen konnte, wurde er beinahe von Yuu und Kenichi umgerannt, die vor Lachen prustend durch den Gang stürmten. Alles, was der Schlagzeuger unter dem Gelächter und den Heiterkeitsbekundungen mitbekam, war irgendwas von Miyavi und einem ominösen Kuss.
 

Auch die beiden Sänger, die sich noch immer für ihre Auftritte stylten, hörten den Aufruhr.

Resignierend schüttelte Tatsurou den Kopf. "Dass der Kerl aber auch immer übertreiben muss".

"Man sollte meinen, diese Zeiten wären mittlerweile auch für ihn vorbei", doppelte Gara nach.

Die beiden tauschten im Spiegel einen verschwörerischen Blick.

Der Sänger von MUCC stand auf und zupfte an seinem Outfit rum.

"Schaut wirklich gut aus". Garas Stimme klang ehrlich bewundernd.

Überrascht musterte der Jüngere seinen Freund. "Danke. Ich find's auch nicht schlecht".

"Untertreib nicht - die Sachen stehen dir blendend". Überaus bestimmt.
 

Auf Tatsurous Gesicht zeigte sich ein glückliches Lächeln. Dieses Kompliment war genau das gewesen, was er gebraucht hatte. Mit einem Mal war ihm egal, dass Gara und Daisuke ohne ihn Urlaub machten. Denn ihm wurde wieder bewusst, dass die beiden trotz allem zwei seiner besten Freunde waren. Und auch wenn er sich für einmal ausgeschlossen fühlte, war das kein Grund, neidisch zu sein.

Ihm fiel ein Interview ein, das er vor etwas über einem Jahr zusammen mit den beiden für Fool's Mate gegeben hatte. Während des Interviews hatte Gara zugegeben, dass er am Anfang, als Daisuke und Tatsurou sich kennengelernt hatten, eifersüchtig auf Tatsurou gewesen war, aus Angst, er würde Daisuke an ihn verlieren.

Nun konnte der MUCC-Sänger endlich nachvollziehen, von welcher Art Neid Gara damals gesprochen hatte und wie weh er tat.
 

Um sich abzulenken, half er Gara dabei, sich fertig zu machen.

"Strippst du heute?".

Der Sänger von Merry grinste breit und zeigte dabei die Zähne. "Worauf du dich verlassen kannst!".

"Rawrrrrr...". Tatsurou imitierte eine Raubkatze und erntete dafür eine freundschaftliche Kopfnuss.

"Baka! Hättest du wohl gern, was?! So viel zu sehen gibt's dann doch nicht".

Schmollen.

"Schade. Aber einen Blick auf deinen knochigen Arsch darf ich mir doch erhaschen, oder?!".

Mit einem verächtlichen Schnauben und einem erneuten "Baka!" liess Gara seinen Freund stehen und wandte sich zur Tür. Bevor er auf den Gang hinaustrat, hielt ihn Tatsurous Stimme noch einmal zurück.

"Hey...toi toi toi! Tu dir nicht weh."

Verwunderung. Abwinken.

"Ich doch nicht. Aber danke. Gleichfalls. Ihr seid doch nach der Show auch noch da, oder?".

"Klar, wir wollen euch doch unter den Tisch saufen".
 

Tatsurous Grinsen erstarb, sobald Gara den Raum verlassen hatte. Er setzte sich wieder hin und hypnotisierte sein Spiegelbild, bis ihm die Augen weh taten. Eine ihm unbekannte Angst brodelte in seiner Brust. Fast so, als ob er an einer Weggabelung gestanden wäre und sich nach den ersten Schritten in die eine Richtung bewusst wurde, dass er den falschen Weg gewählt hatte. Und nicht mehr würde zurückgehen können.
 

* * *
 

"Ich hätte es nicht ertragen, diesen Mist ins neue Jahr rüberzuschleppen."

Daisuke betrachtete seinen Freund und bezeugte mit einem Nicken, dass es ihm genau so ging.

"Meinst du aber, wir wären auf Kyo zugegangen, wenn er nicht den ersten Schritt getan hätte? Hätten wir den ersten Schritt gewagt?". Die Stimme des jüngeren Sängers klang ängstlich.
 

Gara setzte sein Champagnerglas ab und überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein, vermutlich nicht. Oder doch. Vielleicht wären wir genauso hier auf dem Balkon gesessen und hätten uns aufs Konzert gefreut. Und wären danach backstage gestürmt und hätten Kyo und den anderen alles Gute gewünscht. Vermutlich wäre so oder so alles gut geworden."
 

Der Jüngere sinnierte eine Weile, nippte an seinem Glas und nickte wieder. "Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich bin froh, dass Kyo uns die Last abgenommen hat. So erleichtert wie die letzten paar Tage war ich schon lange nicht mehr."

"Und ich erst. Auch wegen Chieko. Sie tut Kyo gut, es wäre schade, wenn er sich wegen dem Mist von ihr abgewandt hätte."

"Schaut so aus, als ob Kyo sehr wohl wüsste, wer gut für ihn ist." Daisuke nahm einen weiteren Schluck und blickte sich um.
 

Die Halle unter ihnen füllte sich mit immer mehr Menschen. Hauptsächlich jungen Frauen. Der VIP-Bereich war auch gut gefüllt. Familienmitglieder und Partnerinnen der Bandmitglieder. Kollegen aus anderen Bands. Angestellte der Plattenfirma und des Managements. In einer Ecke erkannte der Sänger von Kagerou Kyos Bruder, einen von Dies Brüdern, Toshiyas Eltern. Etwas abseits standen Shinyas Eltern und seine Freundin. Unmittelbar neben Gara und ihm tauschten Chieko, Sachiko, Akiko, Yoshie und Yumi den neusten Tratsch aus. Yumi sah davon ab, sich in Umstandskleidung zu verstecken, dazu war sie viel zu modebewusst - dementsprechend klar zeichnete sich ihr kleines Bäuchlein im enganliegenden, schicken Wollpulli ab.

Daisuke erinnerte sich daran, dass er Kyo bei nächster Gelegenheit fragen musste, wie es zwischen Kaoru und ihr lief. Doch dies würde er erst tun, wenn sie gemütlich in der Hütte von Tetsus Eltern sassen und alle Zeit der Welt hatten. Er freute sich auf die Tage mit zwei seiner besten Freunde. Es gab so vieles zu bereden, zu fragen, zu ergründen. Weil er in letzter Zeit keinen Kontakt mehr zu Kyo gehabt hatte, war er bezüglich bandinterner Probleme bei Dir en grey nicht mehr auf dem neusten Stand. Und genauso ging es Gara auch.
 

Chiekos helles Lachen drang ans Ohr des Kagerou-Sängers. Interessiert betrachtete er die junge Frau eingehender. Die Stupsnase. Die frechen, verwuschelten Haare. Die strahlenden Augen. Es erstaunte ihn, dass Kyo sich eine so sehr vor Lebensenergie sprühende Partnerin ausgesucht hatte - aber vielleicht war es genau dies gewesen, was ihm gefehlt hatte. Kyo war ein eher lethargischer Mensch, da konnte es nicht schaden, wenn er eine energetische Frau an seiner Seite hatte. Fragte sich bloss, ob Kyo es schaffen würde, trotzdem das Sagen zu behalten. Chieko erschien ihm nicht wie jemand, der sich von irgendwem etwas vorschreiben liess. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Er würde Gara bei Gelegenheit genauer über dessen Cousine ausfragen müssen.
 

Ein Seufzen des Merry-Sängers liess ihn aufhorchen.

"Schon müde?".

Der Ältere verzog das Gesicht und zog an seiner Zigarette.

"Ich möchte dich mal sehen, wenn du gestern und vorvorgestern einen Gig gehabt hättest und jetzt hier stehen müsstest."

"Oh, armer alter Mann...". Daisuke begleitete die neckenden Worte mit einem Grinsen, und Gara schüttelte nur ergeben lächelnd den Kopf.

"Wart nur, bis es dir auch mal so geht!". Der Sänger von Merry blickte auf seine Freundin und dann zurück auf seinen Freund. "Aber ein Gutes hat es - Sachi ist immer viel zärtlicher, wenn ich so kaputt bin."

"Aha, so kriegt man also die Weiber dazu, zu machen, was man will." Lachen.

"Sag bloss, du hast das bisher noch nicht rausgefunden gehabt."

Schmollen. "Nein, ich bin ein ehrlicher Mensch."

Garas Arm fand seinen Weg kumpelhaft um Daisukes Schultern.

"Ach komm, vor mir musst du diese Unschuldsmaske nicht aufbehalten, du Schurke."

"Warum denken alle, das sei ne Show?".

"Warum nicht? Nach all dem, was du auf der Bühne abziehst!".

"Aber... das ist die Show!".

Gara sah seinen Freund in die Augen und liess sich für ein oder zwei Sekunden darin treiben

"Das glaubst du also? Tatsächlich? Du wirst Kyo mit jedem Tag ähnlicher...".

Gerade als Daisuke etwas darauf erwidern wollte, wandte Chieko sich zu ihnen um.

"Was ist mit Kyo?".
 

Gara winkte grinsend ab und machte die paar Schritte zur aufgebauten Bar, um für sich und Daisuke mehr Champagner zu holen. Als er wieder zu seinem Freund zurück kam, fand er diesen schweigend und in Gedanken versunken vor.

"Gara? Wollt ihr nicht lieber mit Chie und Sachi in die Hütte fahren?".

Vor lauter Erstaunen liess der ältere Sänger beinahe die Gläser fallen.

"Was?! Wie kommst du denn darauf?".

"Ich...dachte nur...jetzt, wo ihr euch alle wieder richtig vertragen habt, möchtet ihr vielleicht zusammen Urlaub machen...".

"Daisuke, ich hatte die Idee, mit Kyo und dir da hinzufahren. Es war als Männerurlaub geplant, und genauso wird's durchgezogen. Mit den Mädels können wir auch sonst mal wieder was machen. Wie kommst du denn auf einmal auf solche Gedanken?".

Schulterzucken. Leicht gerötete Wangen.

"Manchmal fühlt man sich seltsam, wenn man die besten Freunde auf einmal mit Frauen teilen muss, von denen man weiss, dass sie im Leben eben dieser Freunde einen höheren Stellenwert haben, als man selbst...".

Gara brauchte eine Weile, um diese Worte zu verdauen. Dann atmete er einmal tief ein und blickte Daisuke fest an.
 

"Richtig, ich liebe Sachiko. Und Kyo liebt Chieko, zumindest macht es den Anschein. Aber das heisst nicht, dass die beiden zwischen Kyo, dir und mir stehen. Haben wir dich vernachlässigt, seit wir die beiden haben? Sind wir anders seither? Du bist einer von Kyos und meinen besten Freunden - und wie wir gesehen haben, sind die Bande zwischen uns stark. Worüber also machst du dir Sorgen?!".

Der Jüngere leerte das prickelnde Nass in einem Zug und musste mehrmals nacheinander niesen, bevor er zu den Worten seines Freundes Stellung nehmen konnte.

"Sorry. Ich...manchmal überkommen mich diese Gefühle einfach. Und heute...liegt dies wohl am Jahresend-Blues."

"Baka! Vergiss nie, Kyo und ich sind immer für dich da, egal, wen wir an unserer Seite haben. Und jetzt sollten wir uns wohl mal nen guten Platz suchen, bald geht's los...".
 

In Daisukes Augen, die trotz des jungen Alters ihres Besitzers schon so viel Weisheit ausstrahlten, stahl sich ein erregter Glanz, wie bei einem Kind zu Weihnachten. Und in Garas Herz breiteten sich Wärme und Zufriedenheit aus. Sachiko stand auf einmal neben ihm und liess sich von ihm umarmen. Kurz bevor aller Uhren Mitternacht zeigten, liess der Merry-Sänger seinen Blick umher schweifen und bemerkte, dass nicht nur Daisukes Augen vor Freude glänzten. Alle Anwesenden schienen sich ganz unheimlich auf Dir en greys erstes Konzert des Jahres 2004 zu freuen. Und Gara hoffte, dass die Freude und die Energie, die von ihm, Daisuke, Sachi, Chieko und allen anderen auf dem Balkon und unten in der Halle ausgingen, ihren Weg zur Bühne finden würden, um sich dort in den Herzen der fünf Musiker einzunisten und ihnen für das nächste Jahr die Kraft zu geben, die sie brauchten.
 

+ + +
 

Macht das, was ich hier fabriziert hab, noch irgendeinen Sinn?

Ich hab mir die Geschichte schon so lange nicht mehr ganz durchgelesen, ich weiss nicht, ob sie noch in sich stimmig ist. Falls dem nicht so sein sollte, weist mich bitte darauf hin. ^^;
 

Mir ist bewusst, dass ich mir ein paar Freiheiten erlaubt habe, was die Tourdaten von Kageoru und Merry angeht - aber ich bin die Autorin, ich darf das. ^^
 

Genauso wie ich für dieses Kapitel den Titel "Samhain" setzen darf, obwohl dies ja Halloween bezeichnet und nicht etwa Silvester. Ich fand aber, es passt sehr schön.
 

Danke fürs Lesen! ^__^

19. [Pandora]

Ihr dachtet, es sei jetzt alles in Ordnung und es könne nicht mehr schlimmer kommen, als es schon war? Hehehe, dann lest mal schön weiter... XD
 

+ + +
 

Nass geschwitzt und keuchend ließ er sich neben sie fallen.

Sein langes Haar klebte an Gesicht und Schultern.

Benommen lag er da und starrte an die renovierungsbedürftige Decke.

Die Stehlampe mit dem abgenutzten Blumenmuster flackerte.

Ebenso die Leuchtreklame vor dem Fenster.

Das Bett verströmte einen muffigen Geruch, der ihm erst jetzt, mit abklingender Erregung, auffiel.

Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er ihr lächelndes Gesicht.

Doch genauso wie ihre Liebkosungen und Liebesschwüre war auch dies nur aufgesetzt. Er wollte gar nicht wissen, wie viele Männer dieselben Worte schon gehört hatten und noch hören würden.

Beim Gedanken daran, dass sie gerade erst mit ihren Händen seinen ganzen Körper bedeckt, ihn mit ihrem Schweiß bespritzt und ihn mit dem Mund befriedigt hatte, wurde ihm plötzlich ganz anders. Wenn er bedachte, dass er vor Sekunden noch mit ihr verbunden gewesen war, durchlief ihn ein Schauer des Ekels. Ihre rot lackieren, langen Fingernägel schimmerten im schummrigen Licht wie Blutstropfen, die von ihren blutroten Lippen getropft zu sein schienen.

Tatsurou presste die Augen zu und atmete tief durch, fast so als hoffte er, sich woanders wiederzufinden, wenn er die Lider wieder aufschlug.

Aber weder sein Zimmer zuhause noch eines sonst wo begrüßte ihn, als er erneut um sich blickte. Nur die Fratze des Mädchens war immer noch da. Sie verursachte ihm Brechreiz. Als es den Arm ausstreckte und seine Krallen über seinen Bauch gleiten ließ, setzte er sich abrupt auf.

Er musste hier raus.

Sofort.

Weit weg von dieser Frau und ihrem Zimmer. Raus aus diesem Bett voller fremdem Schweiß und toter Spermien.

Was hatte er sich bloß dabei gedacht?

Wie tief war er gesunken?

Dass er sich eine Nutte genommen hatte, war nichts Neues. Das kam ab und zu vor, wenn er das Bedürfnis danach hatte. Aber wie war er an diese Fotze gekommen? Wie verklärt war er gewesen, als sie ihn mit säuselnder Stimme angesprochen hatte. Er hatte kaum Alkohol getrunken gehabt. Dies konnte er als Ausrede kaum anbringen.

Eine Entschuldigung vor sich hinbrummend rutschte er an den Rand des Bettes und angelte nach seiner Pants, die inmitten seiner restlichen Kleider auf dem fleckigen Teppich lag.

Verseucht. Alles verseucht.

Warum hatte er sich überhaupt gerade bei dem Mädchen entschuldigt? Es war sich solche Behandlung gewöhnt, keiner brachte diesen Frauen Respekt entgegen. Sie taten es sowieso nur fürs Geld. Dass sie dafür vielleicht selbst nichts konnten und einige von ihnen keine andere Wahl hatten, darüber wollte er nicht nachdenken. Nicht jetzt.

Angeekelt stand er auf, schlüpfte in die Unterhose und zog sich sein T-Shirt über.

Aus der Tasche seiner abgewetzten, stylischen Jeans klaubte er einen zerknüllten 5'000 Yen-Schein und warf ihn aufs Bett. Wenigstens war sie billig.

Im beinahe blinden Spiegel über dem versifften Spülbecken begegnete ihm sein eigenes blasses Gesicht. Zitternd drehte er den Hahn auf und schwenkte seine Hände im kühlen Wasser. Doch selbst dieses stank. Litt er schon an Paranoia? Seufzend strich er sich notdürftig die Haare glatt und zog seine Klamotten zurecht. Zum Glück waren alle, die ihm wichtig waren, nicht in der Stadt. So wollte er ihnen auf keinen Fall begegnen.

Wenn sie in der Stadt wären, wärst du nicht hier gelandet... , wisperte eine feine Stimme in seinem Kopf.

Ohne sich noch einmal nach dem Mädchen umzusehen, verließ er das Zimmer. Nachdem er in seine Turnschuhe und den schwarzen Mantel geschlüpft war, rannte er den Gang runter, stolperte die Treppe hinab und taumelte auch auf der Strasse noch ein paar Meter in schnellen Schritten weiter. Erst an der nächsten beleuchteten Straßenecke kam er zu stehen und kotzte in den dreckigen, angehäuften Schnee, bis ihm nur noch bittere Galle aus dem Mund tropfte.
 

* * *
 

"Seltsam...". Gara legte sein Handy weg und lehnte sich auf der gemütlichen Couch zurück. Direkt neben ihm stand ein mobiler Heizkörper und verbreitete eine angenehme Wärme. Wenn Daisuke schon den Kotatsu für sich in Anspruch nahm und Kyo das Bad in Beschlag genommen hatte, konnte er sich sehr wohl die Heizung schnappen.

Draußen fiel wieder Schnee. Schon als sie vor zwei Tagen angekommen waren, hatte es dicke Flocken geschneit, die die Landschaft in ein Winterparadies, wie aus einem Märchen entsprungen, verwandelt hatten. Beim Spaziergang, den sie nachmittags unternommen hatten, waren sie mehrmals unter großem Gelächter eingesunken und nach einer Stunde mit klammen Kleidern und eiskalten Händen, Füssen und Nasenspitzen wieder in die Hütte zurückgekehrt.

Sie waren Tetsus Eltern unendlich dankbar dafür, dass sie ihnen diesen Urlaub ermöglicht hatten. Das Haus war klein, man konnte sich kaum aus dem Weg gehen, doch die absolute Ruhe, die Gemütlichkeit und die Abgeschiedenheit machten alles wett. Diese paar Tage Entspannung war genau das, was sie gebraucht hatten.

"Was ist seltsam?". Daisukes Stimme klang schläfrig.

Gara schielte zu ihm rüber und grinste. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und schien sich nur noch mit Mühe wach halten zu können.

"Hey, du weißt, dass es dir nicht bekommen würde, in dem Ding einzupennen."

Der Jüngere nickte nur träge und wiederholte seine Frage von vorhin.

"Was ist seltsam?".

"Tatsurou. Sein Handy ist aus. Den ganzen Abend schon. Wo steckt er bloß?"

"Vielleicht ist er nach Hawaii geflogen?". Der Sänger von Kagerou kicherte, doch Gara war nicht ums Scherzen.

"Ach, hör doch auf! Ich mein's ernst. Keiner weiß, wo er steckt!".

"Gara...er hat doch wohl das Recht, mal für nen Abend nicht erreichbar zu sein. Komm schon. Vielleicht wollte er sich ein paar schöne Stunden mit nem Mädchen machen."

"Und warum lügt er uns dann an? Warum sagt er, er verbringe die Tage mit Miya und anderen Kumpels, wenn es gar nicht so ist?"

Gara war aus allen Wolken gefallen, als Miya ihn vor ein paar Stunden angerufen und sich nach Tatsurou erkundigt hatte, und die seltsame Reaktion des MUCC-Sängers in der Garderobe beim Beautifool's Fest war ihm wieder eingefallen. Damals hatte er sich nicht sonderlich viel dabei gedacht, aber nun...

"Ich glaub immer noch, dass er mit irgend ner Tussi zusammen ist", bemerkte Daisuke bestimmt und schloss wieder die Augen.

"Hmmm...". Gara nickte und nippte an seinem Jasmintee.

Aus irgendeinem Grund fühlte er sich schuldig. Und er machte sich Sorgen. Normalerweise war Tatsurou niemand, um den man sich sorgen musste, aber der Sänger von Merry spürte, dass etwas nicht stimmte. Und es frustrierte ihn, dass er tatenlos hier sitzen musste und nichts tun konnte.

Er spielte mit dem Gedanken, Sachi anzuklingen, verwarf ihn aber gleich wieder. Stattdessen schickte er Tatsurou eine kurze Nachricht, stand dann auf, holte seinen beigefarbenen Wintermantel und schlüpfte in die gefütterten Boots.

"Ich geh eine rauchen."

Daisuke nickte nur wage und schlaftrunken.

Auf der kleinen Terrasse empfing Gara kalte, schneedurchtränkte Luft und ein Wind, der ihm beinahe den Atem nahm. Dennoch zündete er sich unbeirrt eine Zigarette an und nahm nervöse Züge. Schnee legte sich sachte auf seinen Mantel und seine Haare.

Wenn ich die ganze Nacht hier draußen bliebe, würde ich in Totenstarre verfallen, wie all die Bäume und der See. Würde all den Ballast verlieren, der grad auf mir liegt. Nur würde ich im Frühling nicht mehr wieder aufwachen...

Der Gedanke ließ ihn leicht schnauben und er schnippte Asche von seiner Zigarette. Sie verglühte mit einem Zischen im unbefleckten Schnee.

Auf einmal sah er Tatsurou vor sich. Auf der Bühne. In rotes Licht getüncht inmitten eines Schneesturms.

Mochte Daisuke denken, was er wollte. Etwas stimmte nicht.

Resignierend nahm Gara einen letzten Zug, warf den Stummel ins Leere und blickte ihm nach, wie er vom Wind getragen im weißen Meer landete.

Der junge Sänger wusste: Solange er keine Nachricht von Tatsurou hatte, würde er den Kurzurlaub nicht mehr genießen können.
 

* * *
 

Chieko fuhr zusammen, als in der Stille ihres Apartments auf einmal ihr Handy klingelte.

Kyo?

Nein. Akiko.

Neugierig nahm sie den Anruf entgegen.

"Hey, wie geht's?".

Erstmal Stille. Dann:

"Willst du's wirklich wissen?".

Alarmiert setzte Chieko sich aufs Bett und zog die Decke um sich. Etwas sagte ihr, dass dies ein längeres Gespräch werden würde.

"Was ist los?".

"Ich versteh's ja selbst nicht. Ich...".

In Akikos Stimme lag eine Verzweiflung, die Chieko fremd war.

"Komm, ganz ruhig. Erzähl mir, was passiert ist."

Der Seufzer am anderen Ende war so tief, dass die junge Fotografin sich nun ernsthafte Sorgen machen. Was zum Teufel...?

"Du wirst mich verachten."

"So schlimm?!".

"Alle werden mich verachten, aber ich konnte nicht anders..."

Anstatt weiter in Akiko zu dringen, schwieg Chieko, griff nach den Zigaretten auf dem Tischchen neben dem Bett und zündete sich eine an. So ruhig wie möglich stieß sie den Rauch aus. Dann begann ihre Freundin zu erzählen.

"Du weißt, ich liebe Toshiya. Wirklich. Zumindest...dachte ich, dass ich das tue. Es war so perfekt. Aber nun ist alles anders."

Chiekos Augen wurden groß. Worauf lief Akikos Beichte hinaus?

"Hat er dir was getan? Hat er ne andere?".

Schweigen.

"Nein. Ich hab nen anderen."

"WAS?!?" Beinahe hätte Chieko ihre Zigarette fallen lassen.

"Siehst du, wenn du schon so reagierst, was werden die anderen sagen?"

Chieko zwang sich zur Ruhe.

"Wer ist es? Warum?"

"Kaoru". Akikos Stimme war nur noch ein Flüstern. In der Leitung knisterte es auf einmal, als müsste die Telefonverbindung ihrem Unglauben ebenfalls Gehör verschaffen.

"Kaoru...? Akiko...warum?"

Am liebsten hätte Chieko die Verbindung gekappt, wäre persönlich zu ihrer Freundin gefahren und hätte ihr Vernunft eingeprügelt. Hatte Akiko den Verstand verloren?

"Ich weiß nicht warum, es ist einfach passiert."

Chieko atmete tief durch und drückte ihre Zigarette im bereitstehenden Aschenbecher aus. Ihre Freundin klang so verzweifelt, dass sie ihr leid tat. Sie musste ihr eine Chance geben und sich anhören, es kam nicht in Frage, dass sie sie einfach aburteilte. Egal wie gerne sie dies auch getan hätte.

"Also, los, ich hör dir zu."

"Wir sind uns vor zwei Wochen zufällig über den Weg gelaufen. Ich hatte einen Präsentationsjob bei ner Vernissage gehabt, davon hatte ich dir erzählt, oder?! Wie auch immer...danach war ich mit Kollegen in ner Bar in der Nähe was trinken. Ich wollte nicht lange bleiben, wollte mir nur einen Cocktail genehmigen und dann nach Hause gehen. Ich wusste, Toshiya würde auf mich warten, er hatte einen freien Abend. Auf einmal kam Kaoru rein. Mit Aiji und ein paar anderen im Schlepptau. Sie haben sich an unseren Nebentisch gesetzt und naja...ein paar meiner Freundinnen kannten die Begleiterinnen der Jungs und...ach, du weißt, wie das ist, oder?"

"Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend, und Toshiya hat zuhause Däumchen gedreht?"

"So in etwa, ja."

"Und du hast ihn nicht einmal angerufen?"

Chieko wusste, dass ihre schöne Freundin den Kopf schüttelte.

"Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht..."

"Akiko, so besoffen kannst du nicht gewesen sein!".

"Nein, aber...Kaoru war da."

"Und du hast dich Hals über Kopf in ihn verliebt, oder wie?!".

Langsam aber sicher zweifelte Chieko tatsächlich an Akikos Verstand.

"So war das doch gar nicht!". Verteidigend. Und doch schuldbewusst.

"Warum? Hat er dich erst später gevögelt?"

"Chieko, bitte!". Bettelnd.

"Sorry, aber du kannst doch nicht erwarten, dass ich das verstehe!".

"Hast du sowas noch nie erlebt?"

"Nein."

"Ach komm, verarsch mich nicht."

"Nein!".

"Und wie war das damals mit uns?"

"Nun hör aber auf, das kann man doch nicht vergleichen!". Entrüstet.

"Nein?"

"Nein! Ich hatte niemanden. Ob du jemanden hattest, wusste ich nicht. Es spielte auch keine Rolle, denn es war einmalig, verstehst du? Ich habe deswegen niemandem das Herz gebrochen."

"Aber aus anderen Gründen schon..."

"Was soll das denn jetzt? Das mit Kyo hat hier ja nun wohl überhaupt nichts zu suchen. Und sowieso, es hat sich erledigt, wir haben's geklärt..."

Hilfloses Seufzen.

"Tut mir leid. Ich wollte dich nicht angreifen. Du hörst dir geduldig den ganzen Mist an, und ich mach dir Vorwürfe. Es ist nur...ich fühl mich grad so scheiße."

"Zu Recht, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst."

"Ja, stoß das Messer nur noch weiter rein."

"Was erwartest du? Dass ich mich für dein neues Glück freue? Verdammt, was ist in euch gefahren? Wie ernst soll das denn sein? Was ist mit Toshiya? Und Yumi?".

"Wir werden es ihnen beichten müssen. Was dann geschieht, liegt nicht mehr in unserer Hand."

"Ich fasse es nicht...".

Vor Wut zitternd zündete sich Chieko einen weiteren Nikotinspender an. Wenn das so weiterging, würde sie sich vergessen.

"Chieko, hör zu...ich hab mir das auch nicht ausgesucht. Es ist einfach passiert. Meinst du, ich wollte mich in Kaoru verlieben? Meinst du, ich will Toshiya wehtun? Und Yumi? Sie ist eine meiner besten Freundinnen."

"Gerade deshalb erschreckt es mich so."

Wenn du dich in Kyo verliebt hättest - hättest du mir dasselbe angetan?

Akiko blieb still. Auch sie rauchte. Nervös.

"Kaoru. Von allen Kerlen, die dir täglich über den Weg laufen, suchst du dir ausgerechnet Kaoru aus."

"ICH HAB IHN MIR NICHT AUSGESUCHT, VERDAMMT!!!".

Die Stimme ihrer Freundin überschlug sich, und Chieko hielt erschrocken ihr Handy weiter vom Ohr weg. Akiko hatte Recht. Man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. Egal was die Vernunft einem sagte, dem Herz war dies ziemlich gleichgültig. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihrer Freundin die ganze Zeit Vorwürfe machen. Es fiel ihr nur so schwer, zu verstehen. Und die Folgen dieses Ereignisses wagte sie sich noch gar nicht auszumalen. In wenigen Monaten brachte Yumi ihr und Kaorus gemeinsames Kind zur Welt. Was sollte nun werden? Toshiya hatte Akiko über alles geliebt. Wenn sie ihn verließ, unterschrieb sie sozusagen sein Todesurteil. Und was würde aus Dir en grey werden? Die und Kyo waren eh schon schlecht auf Kaoru zu sprechen. Dies alles würde den Keil, der die Band auseinander trieb, nur noch tiefer einschlagen. Womit hatte Toshiya das verdient? Und Yumi?

"Chie-chan, bist du noch dran?"

Die Verwendung des Kosenamens ließ darauf schließen, dass Akiko wieder ruhiger geworden war.

"Ja. Ja, klar."

"Zum Glück, ich dachte schon...tut mir Leid, wollte dich nicht so anbrüllen. Es ist nur...ich wollte das alles doch auch nicht. Kannst du dir vorstellen, wie weh es mir tut?"

Mitleid für Akiko stieg in Chieko auf.

"Ja, das kann ich. Nur...was gedenkst du nun zu tun? Ich nehme an, ich bin die Erste, die davon weiß."

"Umhmmm. Ich dachte, wenn es jemanden gibt, der mir zuhört, ohne gleich wieder aufzulegen, dann bist du's."

"Richtig gedacht. Aber sag, was wird jetzt? Lohnt es sich tatsächlich, für Kaoru die Beziehung mit Toshiya hinzuschmeißen?".

"Auch, wenn du mich jetzt für verrückt erklärst...ja, ja, das tut es. Ich meine, wäre es fair, Toshiya was vorzuspielen, nur um ihn nicht zu verletzen? Sollen Kaoru und ich mit einer Lüge leben?".

"Nein, natürlich nicht. Ich möchte nur, dass ihr euch gut überlegt, ob die zwei letzten Wochen reichen, um euch eurer Sache sicher zu sein."

"Hmmm...".

"Trefft eure Entscheidung weise."

Leises Kichern.

"Du erwartest von Kaoru und mir tatsächlich Weisheit? Du bist gut. Aber sag, wird sich, falls ich mich für Kaoru entscheiden sollte, zwischen uns etwas ändern? Ganz ehrlich."

"Ich hoffe nicht."

"Ich verstehe."

"Hör zu, ich kann dir nichts versprechen. Ich kann die Auswirkungen nicht abschätzen."

"Du verurteilst mich doch."

"Ja und nein. Gib mir Zeit, okay? Ich muss das alles erstmal verarbeiten und mich an den Gedanken gewöhnen, dich in Zukunft vielleicht an Kaorus Seite zu sehen."

"Und bestimmt kommt es auch darauf an, was Kyo davon hält."

"Was er davon halten wird, kann ich dir jetzt schon sagen."

"Wirst du es ihm erzählen?"

"Für wen hältst du mich? Er wird es noch früh genug erfahren."

"Sorgst du dafür, dass er Kaoru am Leben lässt, sobald er davon weiß?"

"Ich denke, wenn Kaoru für eine andere Frau seine Beziehung mit Yumi aufs Spiel setzen und seinem Bandkumpel die Freundin ausspannen kann, dann kann er auch auf sich selbst aufpassen."

"Ich nehme an, das war's dann."

"Vorläufig ja."

"Dann...danke fürs Zuhören."

"Keine Ursache. Danke für dein Vertrauen. Gute Nacht."

"Darauf hoffe ich auch...".
 

Nach dem Anruf saß Chieko noch eine ganze Weile wie erschlagen im Bett. Sie wollte noch immer nicht ganz wahr haben, was sie soeben gehört hatte. Es erschien ihr so unbegreiflich, so sinnlos. Ihr fiel ein, dass in der Küche noch eine volle Weinflasche stand. Am liebsten hätte die junge Frau ihre Wut und Verzweiflung runtergespült, doch die darauf folgenden Kopfschmerzen würden ihr auch nicht weiterhelfen. Im Gegenteil.
 

Das Allerschlimmste war, dass sie all das Erfahrene mit niemandem würde teilen können. Nicht einmal mit Kyo. Sie hatte ihn die letzten paar Tage schrecklich vermisst, doch nun war sie froh, dass er nicht da war. Es war wohl besser, wenn sie in dieser Verfassung niemanden um sich rum hatte. Hinter ihren Augen kündigen sich Tränen an, doch sie wollten und wollten nicht fließen.
 

Chieko raffte sich auf und stakste zu ihrer Handtasche, die an einem Haken hinter der Tür hing. Musik. Was sie jetzt brauchte, war Musik.
 

Ihren neuen, pinkfarbenen MP3-Player liebevoll in der Hand haltend, lag sie kurz darauf wieder im Bett. Um sie herum war es dunkel, und die unverwechselbare Stimme von Matt Bellamy lullte sie ein.
 

You could be my unintended choice to live my life extended

You could be the one I'll always love
 

You could be the one who listens to my deepest inquisitions

You could be the one I'll always love
 

I'll be there as soon as I can

But I'm busy mending broken pieces of the life I had before
 

First there was the one who challenged all my dreams and all my balance

She could never be as good as you
 

You could be my unintended choice to live my life extended

You could be the one I'll always love
 

I'll be there as soon as I can

But I'm busy mending broken pieces of the life I had before
 

Before you...
 

Und mit den ins Dunkel entschwebenden, sphärischen Klängen kamen die Tränen und brachten Chieko die Erleichterung, die sie endlich einschlafen ließ.
 

+ + +
 

[Lyrics: "Unintended" © Muse - wohl eines der schönsten Liebeslieder aller Zeiten, mit Sicherheit aber das ehrlichste]

20. [Phoebus]

An der Ginza-Station trennten sich ihre Wege. Gara und Daisuke standen auf dem Bahnsteig, ihre Reisetaschen geschultert, und tauschten ein paar letzte Worte aus. Kyo hatte sich bereits am Tokyoter Hauptbahnhof verabschiedet und es vorgezogen, mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Das Letzte, worauf der älteste Sänger nach fünf Tagen Ruhe und Entspannung Lust hatte, waren Leute, die ihn anstarrten, und Fans, die ihn bedrängten. Nicht, dass dies allzu oft vorkam, meist konnte er sich frei und unbescholten durch Tokyo bewegen. Aber es gab Tage, da konnte er Aufmerksamkeit überhaupt nicht ertragen, und an denen sorgte er am liebsten gleich vor.
 

Da Gara und Daisuke trotz ihres steigenden Bekanntheitsgrades noch immer selten auf der Strasse erkannt wurden, hatten sie beschlossen, die Subway zu nehmen. Das Taxi zu teilen, hätte keinen Sinn gemacht, wohnten sie doch alle in verschiedenen Stadtteilen.
 

Die Zugfahrt hatte sie alle schläfrig und träge gemacht. Nachdem sie am Vormittag noch rege miteinander geredet hatten, war die Agilität nach einem kurzen Mittagsimbiss merklich gesunken und hatte mit einbrechender Dunkelheit vor den Fenstern in Lethargie umgeschlagen. Kyo war schon früh weggenickt und hatte den Kopf in seinen am über ihm angebrachten Haken angehängten Parka gegraben.

Daisuke und Gara hatten sich noch etwas länger um Unterhaltung bemüht, Mangas ausgetauscht, gemeinsam MP3s gehört, über Songtexte gefachsimpelt. Aber irgendwann waren auch den beiden die Augen zugefallen und sie waren eingedöst.
 

Als der Zug durch die Außenbezirke von Tokyo gefahren war, war Gara wieder aufgewacht und hatte mit leeren Augen auf die vorbeisausenden Lichter geblickt. Wie automatisch war seine rechte Hand in seinen Kulturbeutel gefahren und hatte nach dem Handy gesucht. Auch wenn er ohnehin gewusst hatte, dass keine Nachricht und erst recht kein Anruf auf ihn warten würden, hatte er sich doch davon überzeugen wollen. Man konnte ja nie wissen. Doch das Display war leer gewesen. Die letzte Nachricht, die er bekommen hatte, war in der vorigen Nacht von Sachi gekommen. Sie musste heute arbeiten und hatte sich entschuldigt, dass sie nicht würde zu Hause sein können, wenn er zurückkam.

Was sollte er also mit dem ganzen, noch vor ihm stehenden Abend machen? Ein Blick auf die Leuchtschrift über der Tür des Waggons hatte ihm gesagt, dass es grad mal kurz nach 19 Uhr war. Sie würden pünktlich ankommen.
 

Der Geräuschpegel, der ihn umgeben hatte, hatte ihn irritiert. In seinem Kopf hatte sich ein zäher, hartnäckiger Schmerz ausgebreitet gehabt. Zu schwach noch, um tatsächlich störend zu wirken. Und doch zu penetrant, um ignoriert zu werden.

Der Sänger von Merry wusste, die Schmerzen würden zunehmen, wenn er sich nach dem bevorstehenden Aussteigen durch das Gewühl von Menschen kämpfen musste.
 

Um seinen verkrampften Nacken etwas zu lockern, hatte er sich gestreckt und war dabei mit seinem Knie an Daisukes gestoßen. Sofort war Leben in den jüngeren Sänger und wenig später auch in Kyo gekommen, der sich mit missbilligend verzogenem Mund umgesehen hatte.
 

"Argh, ich hasse Züge."
 

Gara und Daisuke hatten sich schelmisch-verschwörerische Blicke zugeworfen. Sie mochten Kyos Unstimmigkeiten, wenn sie genau wussten, dass diese nicht allzu ernst waren.
 

"Was? Das ist nicht lustig - mir tut alles weh!".
 

Garas Mundwinkel hatte verdächtig gezuckt, und auch Daisuke hatte ausgesehen, als müsste er jeden Augenblick loslachen.

Der älteste Sänger hatte sich augenrollend abgewandt gehabt und seine Sachen zusammengesucht. Am besten überging er diesen Ausdruck von Infantilismus einfach.
 

Daisuke war aufgestanden und hatte seinen kleinen Koffer aus dem Gepäckfach geholt. In wenigen Minuten würden sie Tokyo erreichen.
 

Nur Gara war noch sitzen geblieben. Er war wieder ernst geworden gewesen und hatte ins Dunkel geblickt. Das Fenster hatte sein Gesicht reflektiert. Die haselnussbraunen Augen, die M-förmigen Lippen, die ebenmäßige Nase. Wieder hatte er an Tatsurou denken müssen. Fünf Tage lang keine Nachricht. Fünf Tage lang schon hatte der MUCC-Sänger sein Handy ausgeschaltet gehabt. Entweder war er tatsächlich im Ausland oder aber...
 

Als Gara nun mit Daisuke auf dem Bahnsteig stand und sich von seinem Freund verabschiedete, hatte er sich bereits einen Plan zurecht gelegt. Er würde, bevor er nach Hause ging, bei Tatsurou vorbei schauen. Schaden konnte es nicht. Und solange Miya, Satochi, Yukke und viele andere von Tatsurous Kumpels nicht in der Gegend waren, um zu schauen, ob alles mit rechten Dingen zuging, würde er dies halt übernehmen. Ganz einfach. Seltsamerweise schien er der einzige zu sein, der sich so wirkliche Sorgen machte. Vielleicht bewertete er die Situation über und sah Geister, doch man konnte nie wissen. Er hatte schon genug Dokumentationen über halb verweste, wochenlang nicht entdeckte Leichen gesehen. Gut möglich, dass er sich nachher gleich zum Affen machte und Tatsurou ihn auslachen würde, aber darauf wollte er es ankommen lassen.
 

Erst musste er sich aber von Daisuke absetzen. Um zu Tatsurou zu kommen, hätte Gara noch ein paar Stationen mit seinem Freund fahren können, doch aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass Daisuke von seinen Plänen erfuhr. Er wollte alleine zum MUCC-Sänger fahren. Benahm er sich kindisch? Daisuke war genauso ein Freund von Tatsurou, wie er es war. Zu allem kam noch hinzu, dass sich die beiden schon länger kannten. Und doch...er nahm dem Sänger von Kagerou übel, dass er den ganzen Urlaub über so sorglos gewesen war. Wenn er sich keine Gedanken machte, sollte er ihn auch nicht begleiten. Basta.
 

Der Sänger von Merry verabschiedete sich also nach ein paar weiteren gewechselten Sätzen und dem Versprechen, sich bald wieder zu treffen, von seinem Freund und tat so, als würde er zu der Subway-Linie begeben, die ihn nach Hause bringen würde. Stattdessen hielt er auf der Mitte der Treppe inne, machte rechtsumkehrt und ging wieder hoch. Um etwas Zeit verstreichen zu lassen und sicherzugehen, nicht noch einmal mit Daisuke zusammenzustoßen, verplemperte er einige Minuten in einem Combini, kaufte sich dort Zigaretten, Lemon Water, etwas Gemüse und Tofu fürs Abendessen und ein Päckchen der Kekse, die Tatsurou so gerne mochte.
 

Es war Rush Hour, und Gara fluchte während der Fahrt mehrmals in sich rein. Nach den letzten paar Tagen in Ruhe, Frieden und Beinahe-Einsamkeit gingen ihm die vielen Menschen und das Gedränge auf die Nerven. Seine Schläfen pochten.
 

25 Minuten und einmal umsteigen später, fand er sich an der frischen Luft wieder. Ihn fröstelte und er zog seine Kapuze hoch. Winter in Tokyo war nicht schön. Ungemütlich. Nass. Dreckig.

Je näher er Tatsurous Wohnung kam, umso schneller schlug sein Herz.

Was war bloß los? Er hatte doch seinen Freund vor gut zehn Tagen noch gesehen, alles war in Ordnung gewesen. Warum sollte jetzt alles anders sein?
 

Gara blickte die Fassade des Wohnhauses empor. Ganz oben, wo Tatsurous Wohnung war, war alles dunkel. Gespenstisch. So früh ging der MUCC-Sänger nie schlafen. War er krank? Oder am Ende doch in Urlaub?
 

Entschlossen ging der Sänger von Merry auf die Eingangstür zu und betätigte die Klingel.
 

* * *
 

Kaoru saß im Auto und knetete nervös seine Hände. Sie waren ganz kalt und nass vor Angst.

Ja, er hatte Angst.

Angst davor, was er gleich würde tun müssen.

Er war dabei, die Beziehung zu der Frau wegzuwerfen, die seine Tochter in sich trug. Zu der Frau, die er so viele Jahre geliebt hatte. Noch immer war ihm unerklärlich, wie es so hatte kommen können.

Akiko war in sein Leben getreten wie ein Wirbelsturm. Unerbittlich, unaufhaltsam, zerstörerisch. Nie zuvor hatte er sie mit den Augen gesehen, mit denen er sie an dem Abend kurz vor Weihnachten erblickt hatte. Wie kam es, dass jemand, der einem über so lange Zeit gleichgültig gewesen war, auf einmal die ganze Welt bedeuten konnte? Und wie sollte er dies Yumi bloß klar machen?

Sie hatte ihm, nach all dem Mist, den er veranstaltet gehabt hatte, eine Chance gegeben. Sie hatte es noch einmal mit ihm versucht, obwohl er sie schon so oft verletzt hatte. Und so dankte er es ihr? Respektable Leistung.

Aber er konnte es nicht ändern. Er hatte sich in Akiko verliebt. Mit Haut und Haar. Die letzten zwei Wochen hatte er wie im Rausch verbracht. Tagsüber hatte er sich mit Akiko getroffen, wann immer es ging, und abends war er brav wieder nach Hause zu Yumi gegangen. Es hatte ihn innerlich zerrissen.

War er ein dermaßen guter Schauspieler, dass Yumi ihn noch nie auf seine Veränderung angesprochen hatte? Er glaubte kaum, dass er die Gefühle, die in ihm tobten, so gut hatte überspielen können. Er kannte Yumi. Und sie kannte ihn, in- und auswendig.

Warum also hatte sie nicht nachgebohrt?

Hielt sie diese Sache einmal mehr für eines seiner berüchtigten Abenteuer?

Zugegeben, er hatte sie im Laufe ihrer Beziehung ein paar Mal betrogen gehabt, aber nie war aus diesen Geschichten etwas Ernstes entstanden. Er hatte immer nur Yumi geliebt. Doch nun war es anders. Er spürte es mit jeder Faser seines Körpers.

Wie sollte er vorgehen? Was sollte er sagen? Yumi würde ihn umgehend verlassen. Aber wer konnte es ihr verübeln? Sie war so oft nachsichtig gewesen, hatte ihm so oft verziehen - das Fass würde überlaufen.

Kaoru hoffte bloß, der kleinen Aiko in Yumis Bauch würde nichts passieren. Dies würde er sich nie verzeihen können. Er freute sich auf das Baby. Und er freute sich darauf, es gemeinsam mit Yumi großzuziehen. Vor welche Probleme sie beide dabei gestellt sein würden, war ihm sehr wohl klar. Aber er konnte Yumi nicht um Aikos Willen die Wahrheit vorenthalten und sich zu etwas zwingen, das irgendwann sowieso zum Bruch ihrer Beziehung geführt hätte. Wenn er sich nicht jetzt von Yumi trennte, würde er es vielleicht in zehn Jahren tun, vielleicht auch erst in fünfzehn Jahren. Wurde dadurch nicht alles noch viel schlimmer? War es nicht besser, jetzt für reinen Tisch zu sorgen?
 

Der Gitarrist atmete tief durch.

Die Scheiben hatten sich mittlerweile beschlagen. Im Auto war es kalt. Er hatte die Heizung ausgeschaltet gehabt, nachdem er einparkiert hatte.

Wie lange saß er hier schon, grübelnd? Stand Yumi oben am Fenster? Blickte sie auf ihn herab und wusste genau, was kommen würde?
 

Kaoru presste die Augen zusammen.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

Akiko.

Wie fühlte sie sich wohl jetzt?

Hatte sie schon mit Toshiya geredet?

Beim Gedanken an seinen Bandkollegen fühlte er sich noch schuldiger.

Zugegeben, sie hatten sich in letzter Zeit nicht sonderlich gut verstanden. Doch was er Toshiya jetzt antat, würde ihrer Freundschaft, falls man dies überhaupt noch so nennen konnte, den Rest geben.

Aber musste er sich überhaupt schuldig fühlen?

War er nicht seinerseits genauso ein Opfer?

Er konnte doch nichts für seine Gefühle? Hätte er sich zwingen sollen, Akiko aus seinem Herz zu verdrängen, bloß weil er Rücksicht auf Toshiya und Yumi nehmen sollte?

Sollten nicht alle das Recht haben, mit dem Menschen zu leben, den sie liebten?
 

Seine Eltern hätten bestimmt eine ganz andere Meinung vertreten. Und bestimmt auch einige seiner Freunde. Selbst wenn sie alle in einer relativ modernen Generation aufgewachsen waren, die Traditionen saßen immer noch tief. Und es war nicht einfach, sie abzulegen, auch wenn die Zeiten dabei waren, sich zu ändern.

Menschen wie Akiko und er wären früher geächtet worden.

Doch mittlerweile kamen solche Geschichten wohl öfter vor, als man dachte. Und man geriet heute weniger in Verruf, als früher.

Dennoch, wohl war ihm nicht. Es würde kein Zurück mehr geben. Diesmal nicht. Die Entscheidung, die Akiko und er getroffen hatten, war endgültig. Und sie müssten ihre Folgen zu tragen haben - mit allem, was kam.
 

Entschlossen zog der junge Mann endgültig den Schlüssel aus dem Zünder, steckte den Bund in seine Jackentasche, stieg aus und schlug die Autotür laut hinter sich zu.
 

* * *
 

Lohnt es sich tatsächlich, für Kaoru die Beziehung mit Toshiya hinzuschmeißen?

Ich möchte nur, dass ihr euch gut überlegt, ob die zwei letzten Wochen reichen, um euch eurer Sache sicher zu sein.
 

Die Worte ihrer Freundin klangen in Akikos Kopf nach.

Auch jetzt noch, drei Tage nach ihrem Gespräch.

Die erste Frage musste sie mit jein beantworten. Für Kaoru lohnte sich so einiges. Aber dass sie Toshiya verletzen musste, nur weil sie sich Hals über Kopf in seinen Bandkollegen (seinen Bandkollegen!!!) verliebt hatte, das lohnte sich nicht. Und doch gab es keine andere Lösung. Was hätte sie sonst tun sollen?
 

Aus dem angrenzenden Bad erklang das Prasseln der Dusche.

Bis das Wasser abgestellt wurde und Toshiya sich wieder zu ihr aufs Sofa gesellte, hatte sie Gnadenfrist. Nicht länger. Kaoru und sie hatten eine Abmachung getroffen, sie würde sie einhalten müssen.

Die Angst vor Toshiyas Reaktion schnürte ihr beinahe den Atem ab.

Die Vorstellung, wie er sich fühlen würde, trieb ihr Tränen in die Augen.

Sie hatte ihn geliebt. Über alles. Und beinahe ein Jahr lang hatte sie gemeint, es würde reichen. Hatte sie gedacht, sie würde mit diesem Mann vielleicht den Rest ihres Lebens (oder doch zumindest eine sehr lange Zeit) verbringen. Doch es hatte nicht gereicht. Das hier war noch stärker.
 

Ihr gepresstes Atmen klang in der angebrochenen Stille unangenehm laut.
 

* * *
 

Gerade als er unverrichteter Dinge wieder abziehen wollte und einen letzten Blick zu den obersten Fenstern warf, meinte er eine Bewegung dahinter wahrzunehmen. Hatte er sich getäuscht? Oder war Tatsurou tatsächlich zuhause, beobachtete ihn von seinem Wohnzimmer aus, ließ ihn aber nicht rein? Was sollte das?
 

Gara beschloss, bei einem der Nachbarn zu klingeln. Als sich jemand meldete, erklärte er kurz sein Problem und kriegte zu hören, dass der junge Mann aus dem obersten Stock die Wohnung wohl schon seit Tagen nicht mehr verlassen hatte. Vielleicht sei er aber auch weggefahren, es sei so still.

Der Merry-Sänger bedankte sich, ließ sich die Tür öffnen und beschloss, es direkt oben an der Wohnungstür nochmal zu versuchen. Wenn dies nicht klappte, würde er sich geschlagen geben. Aber erst dann.
 

Oben angekommen klingelte er und klopfte gleichzeitig leise an die Tür.
 

"Tatsurou? Ich weiß, dass du da bist - lass mich rein."
 

Er versuchte, seine Stimme so eindringlich und überzeugt wie möglich klingen zu lassen.

Hatte er in der Wohnung gerade Schritte gehört? Er lehnte sich vor und lauschte am Holz. Nein, nun war wieder alles still. Gingen seine Nerven endgültig mit ihm durch? Vermutlich war Tatsurou tatsächlich weg und er bildete sich alles nur ein.

Aber halt! Das Rasseln von Schlüsseln! Sein Freund war zuhause.

Wie als Bestätigung wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und langsam umgedreht. Die Klinke wurde betätigt, die Tür sprang auf - es war Gara endlich gelungen, Tatsurou aus der Reserve zu locken.
 

Beinahe schüchtern tat er einen Schritt, stieß die Tür ganz auf und ging rein. Nun brannte in der Wohnung Licht. Zumindest im Flur und auch im Wohnzimmer an dessen Ende.
 

"Tatsurou?".
 

Gara stellte seine Taschen ab, schlüpfte aus Schuhen und Mantel und ging den Flur runter.
 

"Hallo."
 

Tatsurou saß auf einem Sessel vor dem Fernseher und tat so, als sei er mit der Lektüre einer Motorradzeitschrift beschäftigt.

Gara blickte sich um. Erleichterung durchströmte ihn, als er sah, dass die Wohnung sauber und aufgeräumt war und auch Tatsurou einen gepflegten Eindruck machte. Bei Kyo hatte es immer ganz anders ausgesehen. Aber Tatsurou und Kyo waren schwerlich zu vergleichen.
 

"Hallo."
 

Immer noch etwas verunsichert erwiderte Gara den Gruß zurück und nahm auf dem zweiten Sessel im Raum Platz.

Sein Freund machte keinen kranken Eindruck. Aber irgendwas stimmte trotzdem nicht. Er beschloss, aufs Ganze zu gehen.
 

"Was soll das? Wir haben uns Sorgen gemacht! Warum war dein Handy nie an? Warst du die ganze Zeit hier?".
 

Die Fragen sprudelten nur so aus ihm raus. Im Moment wusste er nicht, ob er wütend oder erleichtert sein sollte.
 

Der Sänger von MUCC legte die Zeitschrift beiseite und musterte ihn.
 

"Wer hat sich Sorgen gemacht?"
 

Gara guckte erstaunt.
 

"Na...wir! Ich, Miya und vermutlich auch deine Eltern. Miya wollte sie anrufen und nach dir fragen. Warum hast du gesagt, du fährst zu ihnen? Was hast du getrieben?"
 

Der dunkelhaarige Sänger seufzte und verzog seinen Mund für eine Sekunde zu einem Grinsen.
 

"Getrieben ist gut."
 

Nur das. Dann erhob er sich und schlurfte in die Küche.
 

"Du nimmst doch auch ein Bier, oder?".
 

Gara verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass er viel lieber einen Tee getrunken hätte. In seinem Kopf pochte der immer heftiger werdende Schmerz wie wild. Mit einem leisen Stöhnen lehnte er sich nach vorn, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in seine Hände. Warm. War sein Kopf tatsächlich so heiß oder waren bloß die Hände eiskalt?
 

"Willst du wirklich wissen, was war?"
 

Tatsurou hatte sich wieder hingesetzt und trank das Bier mit wenigen Zügen halb leer.
 

Verwirrt brachte sein Freund nicht mehr als ein Nicken zustande und hörte zu, als der jüngere Sänger anfing, zu erzählen.
 

* * *
 

"Was erwartest du, was ich nun sage?"

Yumis Stimme klang kühl und distanziert. Emotionslos.

Doch dies war nur gespielt. Unter der Oberfläche mussten die Gefühle gerade Amok laufen. Wer konnte es ihr verübeln.

Kaoru rieb sich das mit einem dünnen Schweißfilm bedeckte, leicht klebrige Gesicht.

Er hatte alles gesagt, was es zu sagen gab.

Nun war sie dran.

Aber wie hatte er erwarten können, dass sie gleich eine Antwort auf all das parat haben würde.

Mit zusammengekniffenem Mund schüttelte er den Kopf.

Wenn es nach ihm ging, musste sie nicht Stellung nehmen, noch nicht. Ihre scheinbare Ruhe erfüllte ihn jedoch trotzdem mit Angst.

Er hätte es am liebsten gehabt, wenn der Sturm gleich losgebrochen wäre. Er wollte, dass sie ihn anschrie. Fluchte. Ihn sogar schlug. Aber nicht dieses Schweigen.

"Kaoru, wie hast du dir das gedacht?"

Dachte sie am Ende jetzt schon an das Praktische? War sie tatsächlich so abgebrüht?

Wieder schüttelte er nur den Kopf. Die Worte, die er sich irgendwann mal zurecht gelegt hatte, wollten nun nicht über seine Lippen treten.

"Ihr seid mir schöne Helden. Habt ihr euch überhaupt irgendwas überlegt? Du trägst Verantwortung. Nicht nur für dich selbst, sondern für alle Menschen, die du Freunde nennst oder mit denen du arbeitest. Noch vor wenigen Wochen hast du mir Besserung geschworen. Du bist beinahe vor mir auf die Knie gegangen, als wir uns wieder hatten. Du hattest dich nach mir verzehrt. Und nun gedenkst du auf einmal, mich auszutauschen? Gegen eine Frau, die ich einmal meine Freundin genannt hab?".

Da. Eine erste Konsequenz hatte Yumi also bereits gezogen. Dies würde Akiko wohl am allermeisten wehtun. Aber es war nun mal nicht zu ändern. Sie würde damit leben müssen. Genauso wie er sich in den nächsten Tagen den vorwurfsvollen Gesichtern seiner Bandkollegen würde stellen müssen. Denn so, wie er Toshiya kannte, würde er nicht allzu lange Stillschweigen darüber behalten.

Kaoru nahm Atem, um sich bei der Frau, die er einmal geliebt hatte und eigentlich immer noch liebte (nur war seine Liebe zu Akiko noch stärker), zu entschuldigen. Wieder und wieder. Und sie um Verzeihung zu bitten. Mehr konnte er nicht tun. Doch in diesem Augenblick schaffte er auch dies nicht mehr. Seine Zunge quittierte ihren Dienst.

Die junge, hübsche Frau schenkte ihm einen abschätzigen Blick, in dem man bei genauem Hingucken sogar etwas Mitleid erkennen konnte.

Jedoch nicht ehrliches, sondern vielmehr gehässiges Mitleid. Sie verabscheute ihn. Kein Wunder.

Und doch besaß sie die Klasse, weder laut zu werden noch ihn verbal fertig zu machen.

Aber trotzdem bereitete sie ihm Qualen. Mit ihrer Ruhe, ihrer scheinbaren Überlegenheit. Sie sorgte mit jeder Pore ihres Seins dafür, dass er sich wie ein mickriger, hässlicher, verabscheuungswürdiger Käfer fühlte. Am liebsten hätte er sich irgendwohin verkrochen, wie sie ihn nicht finden konnte.

Nun schüttelte Yumi den Kopf und erhob sich.

Die Erhabenheit, die sie ausstrahlte, ließ ihn sich noch kleiner fühlen.

"Ich werde ein paar Sachen packen und wieder zu Haruka ziehen. Es gelten die gleichen Regeln, wie beim letzten Mal: Ruf mich nicht an! Am besten vergisst du mich für eine Weile. Ich melde mich schon früh genug. Aber vergiss nicht, wenn ich nachher aus der Tür gehe, gibt es kein Zurück mehr."

Es klang so, als würde sie ihm noch eine allerletzte Chance geben wollen. Vielleicht hätte er nur die Hand ausstrecken und ihre Hand nehmen müssen.
 

Take your hands off me

I don't belong to you, you see

And take a look in my face, for the last time

I never knew you, you never knew me

Say hello goodbye

Say hello and wave goodbye
 

Doch Kaoru saß da wie erstarrt. Er konnte sich nicht rühren.

Wenn er Yumi aufhielt, würde er damit Akiko verraten und sein neues Glück verlieren.

Wenn er Yumi gehen ließ, würde er sie verlieren.

Ich melde mich schon früh genug.

Wenigstens würde sie dafür sorgen, dass er bei der Geburt dabei sein konnte, wenn es soweit war. Zumindest glaubte und hoffte er, dies ihren Worten entnehmen zu dürfen.

Und irgendwann würden sie Themen wie "Erziehungsberechtigung" und "Besuchsrecht" ausdiskutieren müssen, aber jetzt noch nicht.

Mit zitternden Händen klaubte er sein Keitai aus seiner Jacke, die er schludrig über die Couch geworfen hatte.

Noch keine Nachricht von Akiko.

Also steckte sie noch mittendrin im Schlamassel. Oder hatte vielleicht noch gar nicht mit der Beichte angefangen.

Ihrer Abmachung entsprechend, fasste er sich kurz: "Ich hab's und bin erledigt. Yumi zieht aus. Ruf mich an."

Blieb nur zu hoffen, dass Akiko nicht schwach wurde. Auch sie liebte Toshiya noch. Sie war in der genau gleichen Situation wie er. Er war stark geblieben, er hatte es durchgezogen. Doch wie stand es bei Akiko? Er traute Toshiya zu, dass er sie mit seinem Hundeblick erweichen konnte. Der Gedanke daran ließ ihn erschauern. So, wie die Dinge standen, bestand die Möglichkeit, dass er vielleicht gerade jetzt beide verloren hatte, Yumi und Akiko.
 

Wie um seine Ängste noch zu verstärken, fiel draußen die Tür ins Schloss.
 

* * *
 

Es zerriss ihr das Herz, ihn so zu sehen.

Das schöne Gesicht rot und angeschwollen vom vielen Weinen.

Die Augen blind vor Tränen.

Auch sie weinte. Bitterlich.

Die Richtung, die dieses Gespräch nahm, und die Wirkung, die es hatte, übertrafen ihre schlimmsten Erwartungen.

Bisher hatte sie noch nie eine Beziehung beenden müssen. Ihre früheren Liebschaften hatten sich alle nach einiger Zeit in Wohlgefallen aufgelöst. Sie hatten sich immer auseinander gelebt gehabt oder waren sich gar nie erst so nah gekommen, dass das Ende dermaßen wehgetan hätte.

Dies hier jedoch war ein Albtraum. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als alles hinter sich zu lassen.

Die Tränen. Die Vorwürfe. Das Betteln. Seine Stimme. Sein Gesicht. Seine Augen. Seinen Geruch. Diese ganze Wohnung. Jeder Quadratmeter hier erinnerte sie an ihre gemeinsame Zeit. Jede Wand, jedes Bild, jede Ecke. Alles.

Und ihr wurde bewusst, dass die Trennung zu früh kam, für sie beide.

Für Toshiya war es ohnehin ein Schock. Sie hatte sich wenigstens drauf vorbereiten können. Aber deswegen tat es ihr nicht weniger weh. Im Gegenteil. Sie litt Höllenqualen.

Doch auch wenn sie noch nicht völlig bereit war, ihn loszulassen - es musste sein.

Toshiya hatte sich mittlerweile etwas gefasst und schluchzte nicht mehr. Er saß nur noch da und zog ab und zu die Nase hoch.

Auch Akikos Tränen waren versiegt. Nun fühlte sie sich leer.

Mit einem gezielten Griff in ihre Handtasche behändigte sie ein Päckchen Papiertaschentücher, zog eins raus, schnäuzte sich gründlich und bot dann auch Toshiya eines an.

Dieser jedoch rührte sich nicht und schniefte weiter vor sich hin.

In ihrer Tasche vibrierte ihr Handy. Bestimmt eine Nachricht von Kaoru. Scheiße, sie wollte endlich hier raus. Sie wollte zu ihm. Er brauchte sicherlich genau so viel Trost, wie sie.

Und Toshiya.

Was würde er tun, sobald sie weg war? An wen würde er sich wenden? Die? Kyo? Oder würde er versuchen, mit seinem Kummer alleine fertig zu werden? Wie lange würde er brauchen, um über sie hinweg zu kommen?

"Ich möchte, dass du gehst."

Das Model zuckte zusammen. Die tränenerstickte, heisere Stimme rammte ihr einen weiteren Stich ins Herz.

"Pack deine Sachen und geh."

Akiko nickte nur.

Darauf hatte sie gewartet. Toshiya war immerhin vernünftig genug, ihr nicht noch eine weitere Szene zu machen. Zumindest jetzt nicht. Sie durfte jedoch davon ausgehen, dass er in nächster Zeit noch einige Male versuchen würde, sie umzustimmen. Er mochte nicht so wirken, aber er war eine Kämpfernatur.

Sie erhob sich, sehr darum bemüht, das Zimmer weder zu langsam noch zu übereilt zu verlassen.

Weil sie ein so ordentlicher Mensch war, hatte sie schnell die wichtigsten Sachen gefunden und in einen mittelgroßen Koffer gepackt. Den Rest würde sie in den kommenden Tagen abholen - am besten dann, wenn Dir en grey Probe hatten. Dies mochte feige erscheinen, doch immer, wenn Toshiya sie sehen würde, würde es ihm wieder wehtun

Mit einem letzten Blick auf das Bett, in dem sie so viele schöne gemeinsame Stunden verbracht hatten, wandte sie sich um.

Sie hatte nie gewollt, dass sie einem Menschen, der ihr so sehr am Herzen lag, einmal so sehr würde weh tun müssen.

Aber es gab Dinge, die musste man tun, wollte man nicht selbst zugrunde gehen.

Toshiya saß noch immer genau gleich da. Unbeweglich. Vor sich hinstarrend.

Sie wollte ihm winken, einen Abschiedsgruss schon auf den Lippen, besann sich dann aber eines besseren und ging schweigend, den Koffer hinter sich herziehend, zur Tür.
 

* * *
 

"Du hast nicht mal verhütet?"

Tatsurous Schweigen war Antwort genug.

Gara schüttelte fassungslos den Kopf und leerte sein Bier.

Sowas Verantwortungsloses. Was war bloß in Tatsurou gefahren?

"Warum?"

Der MUCC-Sänger verzog nur den Mund.

"Ich sagte doch schon, dass ich wie weggetreten war. Vollkommen. Bis mir klar wurde, was eigentlich geschehen war."

"Weiß ich. Aber die Gründe dafür würden mich interessieren."

Der Jüngere zuckte die Schultern.

"Darüber hab ich in den letzten Tagen nachgedacht. Ich schätze...ich fühlte mich einsam und war auf der Suche nach etwas Wärme."

Der Sänger von Merry zündete sich eine Zigarette an und suchte nach Worten.

"Warum, zum Teufel, bist du nicht mitgekommen? Warum hast du dich nicht Miya und den anderen angeschlossen?"

Seufzen.

"Ich hatte auf einmal das Gefühl, ich würde mich aufdrängen."

"Ich hatte dich gefragt, ob du mitkommen willst. Verflucht, ich kann doch nicht hellsehen!".

Tatsurou blickte seinen Freund traurig an. Gara hatte ja Recht. Er hatte sich völlig unvernünftig verhalten, konnte seine Beweggründe auch jetzt nicht mehr wirklich nachvollziehen.

"Warum so eine? Als ob du keine anderen Möglichkeiten hättest...". Der ältere Sänger verzog angeekelt den Mund.

Der Sänger von MUCC hob bloß hilflos die Schultern. "Ich schätze, ich wollte eine Fremde. Keine Bindung, kein Vertrauen."

Schnauben.

"Soviel zum Thema Wärme...".

"Du verstehst mich nicht!".

"Nein!". Gara wurde lauter. "Aber ich würde gern. Hilf mir." Nun wieder sanfter.

Der Jüngere senkte den Kopf. Er traute sich nicht, seinem Freund in die Augen zu schauen, als er erwiderte:

"Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen. Die nächsten drei Monate werden verdammt lang...".
 

* * *
 

But in doing so

In letting you go

It only serves to show me

That I'm still in love with you
 

Sie war gegangen.

Und doch war nicht er es, der sie gehen ließ, sondern sie, die ihn gehen ließ.

Natürlich sah er es im Moment noch nicht so. Aber in ein paar Tagen würde ihm die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen fallen.

Sie hätte ihm eine Szene machen können.

Sie könnte ihm auch in Zukunft das Leben zur Hölle machen.

Dies jedoch hatte sie nicht vor.

Auch wenn der Mann, den sie für so lange Zeit geliebt und dem sie immer wieder seine Eskapaden verziehen hatte, ihr vor einer Stunde endgültig das Herz gebrochen und ihr jegliche Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft genommen hatte. Rachsucht lag ihr fern. Und sie wusste, mit der stoischen Ruhe, mit der sie ihm vorhin gegenübergetreten war, hatte sie ihn mehr verletzt, als sie ihn mit Worten je hätte verletzen können.

Über so viele Jahre hatte er ihre Liebe als selbstverständlich betrachtet. Egal, was gewesen war, sie war immer wieder zu ihm zurück gegangen. Weil sie ihn liebte und wusste, dass er sie brauchte. Doch nun hatte er Ersatz gefunden. Akiko würde von nun an ihre Rolle übernehmen.

Akiko.

Nicht, dass Kaoru sich in jemand anderen verliebt hatte, war das, was sie am traurigsten machte. Sie hatte es kommen sehen. Dass diese Person aber eine ihrer besten Freundinnen sein musste, das tat weh. Nicht genug, dass sie den Mann verlor, den sie liebte. Nein, er nahm eine ihrer engsten Vertrauten auch noch gleich mit. Worin lag bloß der Sinn darin? Steckte tatsächlich Sinn in allem, was einem während eines Lebens wiederfuhr?
 

Yumi seufzte und starrte weiter in die vorbeiziehende, triste Landschaft hinaus.
 

Sie hoffte es. Hoffte darauf, irgendwann einen Sinn in dem Ganzen erkennen zu können.

Vielleicht war der Sinn das Leben, das sie in sich trug. Kaoru hatte sie verloren, aber in ihr wuchs ihre gemeinsame Tochter heran. Sie würde die Mutter von Kaorus erster Tochter sein. Allein dies würde sie für ihn unsterblich machen. Das Mädchen würde ihn immer an sie erinnern.

Sie hatte immer gehofft, ihre Kinder in einer intakten Familie aufwachsen lassen zu können. Nun aber konnte sie diese Hoffnungen begraben.

Kaoru würde seinen Verpflichtungen nachkommen - das stand außer Frage. Er war ein verantwortungsvoller Mensch. Und er liebte Kinder. Die kleine Aiko würde niemals unter dieser Trennung leiden müssen.

Aiko.

Diesen Namen hatte Kaoru ausgesucht gehabt. Er hatte immer gesagt, seine erste Tochter solle Aiko heißen. Kind der Liebe.
 

Heiße Tränen sammelten sich in ihren Augen.

Hastig wühlte sie in der Tasche nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie auf. Sie wollte nicht, dass jemand ihrer Mitreisenden sie weinen sah und mit mitleidigen Blicken bedachte. Die einzige, die nachher ihre Tränen sehen würde, war ihre Schwester.
 

Irgendwann während der Fahrt in der Subway von Kaorus Wohnung zum Bahnhof hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Toshiya anzurufen. Aber vermutlich war sie im Moment - abgesehen von Kaoru und Akiko - die letzte, mit der der Bassist reden wollte. Was war geschehen, dass Akiko diesem Mann den Laufpass gab und ihr stattdessen Kaoru nahm? War es nicht perfekt gewesen, so wie es war? Hatte Akiko in Toshiya nicht den Partner gefunden gehabt, den sie sich immer gewünscht hatte?
 

Nun standen sie also vor den Trümmern ihrer Beziehungen.

Und nicht einmal die beiden, die frisch verliebt waren, konnten von sich behaupten, ganz und gar zufrieden zu sein.
 

* * *
 

Er hatte nicht gedacht, dass sie wirklich gehen würde.

Als er die Worte laut ausgesprochen gehabt hatte, hatte er noch gehofft, sie würde es sich anders überlegen und doch bei ihm bleiben. Aber er hatte die Worte gesagt - und sie war ihnen nachgekommen.
 

Allein.

Nun war er allein.

In dieser Wohnung, die viel zu groß war für nur eine Person. Er wusste, die Leere würde ihn erdrücken. Früher oder später.
 

Was sollte er nun tun?

Er musste mit jemandem reden.

Andernfalls würde er platzen vor unterdrückter Gefühle und Hoffnungslosigkeit.

Doch an wen sollte er sich wenden?

Seine Eltern? Nein, die hatten sowieso nie viel von Akiko gehalten. Diesen Triumph wollte er ihnen nicht gönnen, noch nicht.

Die war mit Yoshie zu seinen Eltern gefahren.

Kyo war mit Daisuke und Gara in Urlaub.
 

Toshiyas Blick schweifte zum großen Kalender an der Wand.

Es dauerte eine Weile, bis er sich in Erinnerung gerufen hatte, wann Kyo zurück sein wollte.

Heute.

Ob er es versuchen sollte?
 

Der Bassist rang mit sich. Wägte Dafür und Dawider ab.

Und entschied sich schließlich dagegen.

Wenn eine Charaktereigenschaft ihm so gut wie gänzlich fremd war, dann war es Egoismus. Er konnte Kyo jetzt nicht stören. Bestimmt war er müde von der Reise und entspannt und zufrieden vom kurzen Urlaub. Zudem wartete bestimmt Chieko auf ihn.
 

Toshiya verzog das Gesicht.

Wie schnell sich alles ändern konnte.

Noch vor drei Monaten war Kyo allein gewesen.

Und nun? Nun war er dabei, sich ein Leben mit einem Mädchen aufzubauen, dass es wider Erwarten geschafft hatte, sich in sein Herz zu stehlen.

Und er, Toshiya, er derjenige, der alleingelassen in seiner auf einmal sehr leer erscheinenden Wohnung saß. Akikos Lachen und ihr Optimismus hatten diese Wände mit Wärme erfüllt. Und sein Leben mit Sinn.

Was sollte nun aus ihm werden?
 

You touched my heart, you touched my soul

You changed my life and all my goals

And love is blind and that I knew when

My heart was blinded by you

I've kissed your lips and held your head

Shared your dreams and shared your bed

I know you well, I know your smell

I've been addicted to you
 

Goodbye my lover

Goodbye my friend

You have been the one

You have been the one for me
 

I am a dreamer, but when I wake

You can't break my spirit - it's my dreams you take

And as you move on, remember me

Remember us and all we used to be

I've seen you cry, I've seen you smile

I've watched you sleeping for a while

I'd be the father of your child

I'd spend a lifetime with you
 

Goodbye my lover

Goodbye my friend

You have been the one

You have been the one for me
 

I'm so hollow, baby, I'm so hollow

I'm so, I'm so, I'm so hollow...
 

+ + +
 

[Lyrics 1: "Say hello, wave goodbye" © David Gray]
 

[Lyrics 2: "Luv" © Travis]
 

[Lyrics 3: "Goodbye my lover" © James Blunt]

21. [Mitra]

I've always found this a trying time of year.

The leaves not yet out,

mud everywhere you go.

Frosty mornings gone,

sunny mornings not yet come.

Give me blizzards and frozen pipes,

but not this nothing time.

Not this waiting room of the world.
 

* * *
 

"Ha...habt ihr was von Toshiya gehört?". Akikos Stimme am anderen Ende der Leitung klang ungewohnt brüchig. Beinahe tat sie Chieko leid. Doch sie blieb hart. Vorläufig.

"Nein. Noch nicht. Und ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein oder ausrasten soll."

"Ausrasten? Wieso?".

Kyos Freundin verdrehte die Augen.

"Meinst du, es ist toll, alles vor Kyo verheimlichen zu müssen? Er spürt, dass etwas nicht stimmt. Ich wär schon froh, wenn's endlich rauskommen würde."
 

Stille.

Ein Rauschen in der Leitung.
 

Dann:

"Es tut mir leid, Chie-chan. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich wollte dir diese Last nicht aufbürden."

"Hör auf, es ist nun mal passiert."
 

Ihre Worte hörten sich selbst in ihren eigenen Ohren hart an. Sie spürte Akikos Schuldgefühle und Gewissensbisse, als ob sie auch auf ihr lasten würden. Aber gerade deswegen konnte sie ihrer Freundin nicht so böse sein, wie sie es gerne gewesen wäre. Was Kaoru und Akiko getan hatten, war unverzeihlich - und doch konnte Chieko die Handlungen der beiden nachvollziehen. Sowas passierte nun mal. Die beiden hatten sich diesen Fortlauf der Dinge auch nicht ausgesucht.
 

Dennoch, bei allem Verständnis, sie wollte es Akiko nicht zu leicht machen. Schließlich war sie Schuld dran, dass Kyo sich seit seiner Rückkehr Sorgen machte, mit seiner Freundin sei etwas nicht in Ordnung. Natürlich hatte er sich nichts anmerken lassen, aber Chieko konnte die Rädchen in seinem Kopf zeitweise regelrecht rotieren hören. Fragte er sich, ob sie sich während seiner Abwesenheit mit einem anderen getröstet hatte? Warum behielt er dann diese Vermutung für sich? Warum konfrontierte er sie nicht mit seinen Anschuldigungen? Vielleicht, weil er meinte, ihr schon einmal Unrecht getan zu haben. Vielleicht, weil er die Harmonie, die derzeit zwischen ihnen herrschte, nicht zerstören wollte.

Chieko befürchtete jedoch, dass bei ihm die Sicherungen durchbrennen würden, sobald er hörte, dass sie ihm schon wieder etwas verschwiegen hatte. Warum immer sie? Warum wurde sie immer als Geheimnisträgerin missbraucht? Und warum bloß ließ sie sich immer darauf ein?
 

Sie war einfach zu nett, so sah's aus. Immer versuchte sie, anderen zu helfen, und landete sich dadurch doch immer selbst im Schlamassel.

Die einzige Hoffnung, die ihr blieb, war, dass Kyo so wütend auf Kaoru sein würde, dass er darüber ihre Rolle in dem Ganzen vergaß. Sehr wahrscheinlich würde es so sein.

Stellte sich nur die Frage, ob dies dann so viel besser wäre.
 

"Es tut mir wirklich leid, ich wollte, es wäre alles anders gekommen."
 

Nun klang Akikos Stimme tatsächlich verloren. Das Model war den Tränen nahe.

Zu Recht. Chieko vermutete, dass ihrer Freundin erst jetzt richtig bewusst wurde, was sie und Kaoru mit ihrer Entscheidung angerichtet hatten. Es ging hier nicht nur um die beiden Menschen, denen sie das Herz gebrochen hatten. Nein, auch das Weiterbestehen Dir en greys wurde so in arge Gefahr gebracht.
 

"Ihr könnt es nicht mehr ändern, Akiko. Ich kann nicht einschätzen, wie Kyo reagieren wird, aber Kaoru sollte sich auf ein paar harte nächste Wochen einstellen...".
 

* * *
 

Als sie nach dem Abwasch wieder ins Wohnzimmer kam, saß er noch genau so da, wie sie ihn verlassen hatte. Und zum wiederholten Male fragte sich Sachiko, was Gara im Urlaub widerfahren war. Es erschien ihr unvorstellbar, dass ihr Freund sich, so kurz nachdem sich das dumme Missverständnis mit Kyo geklärt hatte, schon wieder in einer ähnlichen Situation verfangen haben sollte.

Auf einmal bereute sie es, am Abend von Garas Rückkehr nicht zuhause gewesen zu sein. Als sie nach Mitternacht von der Arbeit gekommen war, hatte er schon geschlafen. Und die letzten zwei Tage hatte er sich in seine Arbeit gestürzt und Texte en masse verfasst. Nicht, dass dies schlecht gewesen wäre - im Gegenteil. Die Aufnahmen für ein neues Album standen vor der Tür und bis dahin musste der größte Teil der Songs in einer ersten Version vorliegen. Etwas beängstigend war es allerdings schon gewesen, Gara derart verbissen und selbstvergessen zu sehen.
 

Die junge Frau trat an die Couch heran, beugte sich vor, legte sanft die Hände auf die Schultern ihres Freundes und knabberte neckisch an seinem rechten Ohr. Erschrocken fuhr der Sänger aus seinen Gedanken auf.

"Sachi...". Erleichtert wandte er sich ihr zu.

"So schreckhaft?". Seine Freundin zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, umrundete die Sitzgelegenheit und setzte sich schließlich neben ihn.

Entschuldigend zuckte Gara die Schultern, wich aber ihrem Blick aus.

"Was ist los?". Langsam aber sicher verlor Sachiko die Geduld. Er konnte doch nicht ernsthaft glauben, sie ließe sich so abspeisen. Aber da: Er wollte sich schon wieder rausreden. Sie sah es in seinen Augen, in denen sie lesen konnte, wie in einem offenen Buch.

"Gara, bitte...was ist passiert? Ist was mit Kyo und Daisuke?".

Vehement schüttelte er den Kopf.

"Nein. Mit den beiden ist alles okay...".

Aha, richtig geraten. Sachikos Herz frohlockte.

"Aber?". Nun hatte sie ihn in der Falle.

Gara fuhr sich unsicher durch die Haare. Was war bloß vorgefallen, das es ihm so schwer machte, darüber zu reden? Zugegeben, Gara brauchte eine Weile, bis er jemandem sein Vertrauen schenkte. Es gab Musikerkollegen, mit denen er sich immer noch so unterhielt, als würde er sie kaum kennen, selbst wenn er schon seit einigen Jahren mit ihnen zu tun hatte. Daisuke und Tatsurou hatten sich früher öfter über diese Eigenheit beschwert, doch mittlerweile gab es dafür keinen Anlass mehr: Sobald Gara sich entschieden hatte, jemandem zu vertrauen, änderte sich sein Verhalten gegenüber dieser Person grundlegend. Es kam jedoch immer noch vor, dass er einiges für sich behielt und seine Freunde im Ungewissen über bestimmte Vorkommnisse ließ.
 

Mit genau diesem Verhalten sah Sachiko sich nun konfrontiert, als sie neben ihrem Freund saß. Es war zum Verzweifeln. Wie konnte er nur so verstockt sein?

Nach einem Seitenblick auf ihn wurde ihr jedoch klar, dass er drauf und dran war, ihr alles zu erzählen. Er suchte nur nach den richtigen Worten.

"Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüsstest, dass einer deiner besten Freunde vielleicht unheilbar krank ist?".

Sachikos Herz tat einen Sprung. Krank?

"Wer?!".

Ihre Gedanken fingen an zu rasen. Von wem redete Gara? Daisuke und Kyo hatte er bereits ausgeschlossen. Was Sachiko erleichterte, denn sie alle wussten, dass der Sänger von Kagerou wohl für den Rest seines Lebens Gefahr lief, von einer Sekunde auf die nächste in Lebensgefahr zu schweben. Dies zu akzeptieren und sich nicht ständig Sorgen zu machen, hatte Gara erst lernen müssen. Ein langwieriger Prozess. Doch mittlerweile ging es Daisuke so gut, dass wahrscheinlich nicht einmal mehr er selbst sich Gedanken um seine Gesundheit machte.

Wer aber kam sonst in Frage? Jemand von Merry?

Gerade als Gara den Mund öffnete, ging ihr der Name durch den Kopf, den ihr Freund eine Sekunde später aussprach.

"Tatsurou."

Tatsurou? Krank? Lächerlich. Das musste ein Witz sein. Doch Sachiko schwieg. Sie wollte Gara in aller Ruhe erklären lassen.

"Er ist vielleicht HIV-positiv, kann sich aber erst Anfang April testen lassen. Ich...wenn ich schon nur dran denke, dass er wirklich positiv sein könnte, wird mir übel. Als er es mir erzählt hat, hätte ich ihn am liebsten verprügelt, so wütend war ich. Er hat irgendeine dreckige Hure gevögelt. Und dabei nicht einmal verhütet. Völlig gedankenlos. So absolut untypisch. Man sollte meinen, was andere hinter sich haben, hätte ihm eine Lehre sein wollen. Aber nein. Er meint, er hatte seine Gründe dafür, und egal wie unbegreiflich die sind...irgendwie fühle ich mich schuldig. Und hilflos. Ich will nicht dran denken müssen, und doch kann ich nicht anders."

Sachiko hob sachte ihre Hand und ließ sie tröstend über Garas Unterarm gleiten.

Kalt.

Gänsehaut.

"Und dann frage ich mich: Wie muss es Tatsurou gehen? Wenn es mich schon dermaßen runterzieht, in was für einem Loch steckt er? Wie schafft er es überhaupt, jeden Tag aufzustehen und so zu tun, als sei alles okay?".

"Bist du der einzige, der Bescheid weiß?".

Langsames Nicken. "Ja, ich denke schon. Außer er hätte mittlerweile mit Miya gesprochen."

Sachiko ließ von ihrem Freund ab und erhob sich.

"Ich mach uns einen Tee. Dann erzählst du mir mehr. Mir scheint, Tatsurou braucht unsere Hilfe. Und ihr beide etwas Ablenkung."
 

* * *
 

Sie wusste sofort, wer dran war, als kurz vor 22 Uhr das Telefon klingelte.

Nun war es also soweit.

Chieko blickte von der Fotozeitschrift auf und musterte ihren Freund von weitem. Noch tauschten die beiden Bandkollegen das übliche Geplänkel aus, noch war Kyo entspannt, obwohl er sich zu wundern schien, warum Toshiya ihn anrief. Doch dies würde sich bald ändern.

Die Fotografin versuchte, sich wieder in den Bericht über die neuste KODAK-Kamera zu vertiefen, was ihr - natürlich - nicht gelang.

Stattdessen ließ sie ihre Augen wieder Richtung Kyo schweifen.

Moment. Etwas stimmte nicht.

Hatte er tatsächlich Toshiya am Draht?

Chieko spitzte die Ohren.

"Dieses verdammte Arschloch!!! Seit wann?". Die Stimme des kleingewachsenen Sängers überschlug sich beinahe. Toshiya wäre nie so schnell mit der Sprache rausgerückt. Ebenso hätte Kyo sich bestimmt etwas mehr zurückgehalten, hätte er mit dem Bassisten gesprochen.

Wer also war dran?

Natürlich! Die!

Chieko schalt sich selbst, dass sie nicht eher drauf gekommen war.

Eigentlich klar, dass Toshiya erst Die alles erzählt hatte. Die beiden waren ja in den letzten Wochen und Monaten richtig eng geworden.

Fragte sich bloß, ob Die nicht einen Vertrauensbruch beging, indem er Kyo alles brühwarm erzählte. Aber vermutlich wollte er sichergehen, dass Kyo Bescheid wusste, bevor die Band in zwei Tagen Probe haben würde.
 

Chieko seufzte.

Von nun an war es vorbei mit dem Frieden.

An der Art, wie Kyo die Hände verwarf und das Gesicht verzog, erkannte sie, dass er sich Mühe geben musste, die Beherrschung nicht zu verlieren.

Kein Wunder. Sie war ja auch kurz davor gewesen, Akiko die Freundschaft zu kündigen, als diese ihr alles gebeichtet hatte.
 

Eine ganze Weile ging die Diskussion weiter.

Mehr Kraftausdrücke fielen. Doch auf Chieko wirkte es so, als ob Die am anderen Ende versuchte, den wütenden Sänger zu beruhigen.
 

Sie legte die Zeitschrift weg. Um ihre Konzentration war es ohnehin geschehen.

Kyo sprach nun leiser, und die junge Frau konnte nicht mehr verstehen, was er sagte. Nur gelegentlich drangen ein paar Gesprächsfetzen zu ihr durch, wenn er wieder lauter wurde.
 

Sobald er aufgelegt hatte, würde sie einmal mehr eine schauspielerische Glanzleistung hinlegen müssen. Er durfte nicht merken, dass sie schon längst Bescheid gewusst hatte. Ihr Herz schlug schmerzvoll in ihrer Brust, als sie daran dachte, Kyo noch einmal belügen zu müssen. Was, wenn er irgendwann rausfand, dass sie ihm schon wieder etwas verschwiegen hatte?

Doch was hätte sie tun sollen? Akikos Vertrauen missbrauchen?
 

Sie musste mit Gara telefonieren. Er würde sie bestimmt verstehen. Sie hatte ihn sowieso anrufen wollen, als Kyo ihr erzählt hatte, welche Sorgen sich ihr Cousin um Tatsurou gemacht hatte. Nun waren schon wieder zwei Tage vergangen, und sie hatte doch tatsächlich noch nicht nachgefragt, ob der MUCC-Sänger wieder aufgetaucht sei. Aber sie war entschuldigt: Schließlich hatte sie selbst grad genug Probleme. Und überhaupt hätte Gara sich bestimmt von selbst gemeldet, wenn etwas passiert wäre. Oder?
 

Chiekos Blick fiel auf den Blumenstrauß vor ihr auf dem Wohnzimmertisch.

Seit sie gelegentlich bei Kyo übernachtete, sorgte er in seiner kleinen Wohnung für Sauberkeit, Ordnung und liebevolle Details. Nicht, dass er tatsächlich ein Messy gewesen wäre, aber an Tagen, an denen er keinen Besuch erwartete, was öfter der Fall war, oder sich ganz einfach nicht dazu aufraffen konnte, ließ er das Putzen und Aufräumen sein.

Nachdem er allerdings bei Chieko zuhause gewesen war und gesehen hatte, wie sie wohnte, war er wohl zum Schluss gekommen, dass sie sich bei ihm nicht wohl fühlen würde, wenn er alles so ließe wie gehabt.

Selbst den alten, verwaisten Käfig, den einst seine beiden Wüstenspringmäuse bewohnt hatten, hatte er mittlerweile entsorgt.

Wenn sie kam, waren die Jalousien stets hochgezogen. Kyo wusste, wie sehr sie helle Räume schätzte.

Ihr Herz tat einen freudigen Sprung, als sie an alle diese Einzelheiten dachte. Der Sänger war, wenn es um Liebesbezeugungen ging, eher wortkarg. Vermutlich auch, weil er sich keine Blöße geben und Chieko noch nicht zuviel Macht eingestehen wollte. Bezeugten aber diese kleinen Dinge nicht, dass er schon längst Wachs in ihren Händen war, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein?

Was war es bloß, das alle glauben ließ, sie müssten ihn kontrollieren, ihn gar bevormunden?

Und woran lag es, dass dieser arme Mann immer wieder enttäuscht wurde, obwohl er sich doch eigentlich nur nach etwas Zuneigung und Geborgenheit sehnte?

Selbst sie war nicht besser als all die anderen Frauen, die er früher hatte und die ihn jedes Mal von neuem davon überzeugt hatte, dass sein Herz dazu da sein musste, drauf rumgetrampelt zu werden. Sie war drauf und dran, ihn ein zweites Mal zu verletzen - und sie kannten sich noch nicht einmal ganz drei Monate.

Beeindruckende Leistung - gut gemacht, Chieko!
 

Wie sie ihn so beobachtete, sah, wie aufgebracht er war, schwor sie sich, ihm niemals zu sagen, dass Akiko ihr bereits alles erzählt hatte. Sie konnte es nicht. Diesen Schmerz und diese Erniedrigung wollte sie ihm ersparen.

Ehrlichkeit war ihr immer als das wichtigste Gut erschienen, nun jedoch erkannte sie, dass es oft besser war, etwas für sich zu behalten.

Sie wollte diesen Mann, der sich ihr voller Hoffnung auf ein neues Glück geöffnet hatte, nicht verlieren. Sie hatte sich ebenfalls schon lange nach jemandem an ihrer Seite gesehnt. Dass dieser Jemand Kyo sein würde, der Sänger einer der populärsten Rockbands Japans, war nicht geplant gewesen, doch was im Leben verlief schon nach Plan?
 

Sie bemerkte erst, dass Kyo das Telefonat längst beendet hatte, als er vor ihr stand. Die Augen dunkel vor Zorn, die vollen Lippen aufeinander gepresst, die Stirn in tiefen Falten.
 

"Was ist los?"

Mit großen Augen blickte die junge Fotografin zu ihm auf. Verdammt, sie hätte wirklich eine brillante Schauspielerin abgegeben.

Kyo schüttelte den Kopf, ungläubig. Vermutlich konnte und wollte er immer noch nicht glauben, was er eben gehört hatte. Und so langsam aber sicher wurde er sich auch über das wirkliche Ausmaß dessen klar.

Chieko rutschte etwas zur Seite, um ihrem Freund Platz zu machen. Er ließ sich schwer neben ihr nieder und blickte sie hilflos an.

"Kaoru hat Yumi sitzen lassen."

"WAS?! Warum? Was...?".

"Das war eben Die. Toshiya hat ihm alles erzählt."

"Was hat Toshiya damit zu tun?". Schändlich. Was sie hier tat, war schändlich und unverzeihlich, aber es musste sein.

"Kaoru hat ihm Akiko ausgespannt! Dieses Arschloch! Und Yumi lässt er im Stich. Dieser verfickte Bastard! Hurensohn! Alles macht er kaputt, alles!!! Kein Wunder, ist er Tommys Liebling. Mich ekelt davor, mich mit ihm ins Studio zu setzen, mit ihm auf der Bühne zu stehen." Kyo bedachte die Fool's Mate mit dem Dir en grey-Cover, die neben anderen Zeitschriften auf dem Tischen lag, mit einem Blick, als würde er am liebsten draufspucken. "Mit diesem Abschaum bin ich auf so vielen Fotos zu sehen. Muss mit ihm arbeiten. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle? Es war schon seit einiger Zeit vieles im Argen, aber nun...nun geht alles den Bach runter."
 

Kyo war immer leiser geworden - der letzte Satz war nur noch ein weinerliches Flüstern.

Bestürzt sah Chieko, wie sich Wasser in den haselnussbraunen Augen sammelte, aus denen aller Ärger gewichen war und tiefer Verzweiflung Platz gemacht hatte. Mechanisch legte sie den Arm um den schmächtigen Körper und zog diesen näher an sich ran. Erstaunlicherweise sträubte der Sänger sich nicht dagegen, sondern ließ geschehen, dass Chieko ihn ganz fest drückte.

Nun ebenfalls den Tränen nahe wurde ihr bewusst, dass dies wohl das Mindeste war, was sie ihm geben konnte. Etwas Trost.

Beinahe hätte sie gesagt, er könne sich glücklich schätzen, noch Die und Toshiya an seiner Seite zu wissen. Und viele andere Freunde im Rücken zu haben. Doch sie ließ es bleiben. Es gab Dinge, die besser ungesagt blieben.
 

* * *
 

"Ich brauche keine Aufpasser - ich tu mir schon nichts an."

Tatsurous Stimme hatte einen gefährlichen Unterton, als er Gara diese Worte ins Ohr zischte.

Der Sänger von Merry wollte sich verteidigen, doch schon fiel ihm der Jüngere wieder ins Wort:

"Hast ihr alles brühwarm erzählt, ja? Und jetzt meint ihr, ihr müsstet die nächsten zwölf Wochen um mich rum scharwenzeln? Ganz toll. Wenn ihr damit beabsichtigt, dass ich mich tatsächlich scheiße fühle - gratuliere, das ist euch gelungen!".

Damit wandte er sich ruckartig von seinem erschrockenen Freund ab und stieß bestimmt den Löffel in das bereits halb geschmolzene Eis.

Am liebsten wäre Gara aufgestanden, hätte beim Ausgang gewartet, bis Sachiko aus der Toilette kam, wäre mit ihr weitergezogen und hätte Tatsurou in seinem Selbstmitleid sitzen lassen. Doch er kannte seinen Freund zu gut, um nicht zu wissen, wie sehr dieser in Wahrheit ihre Anwesenheit schätzte. Es schien ihm nur unglaublich schwer zu fallen, zu akzeptieren, dass sie beide tatsächlich für ihn da waren, jetzt, wo er jemanden brauchte. Und vermutlich war es ihm peinlich, dass Sachi über alles Bescheid wusste. Aber er musste doch auch Garas Situation verstehen.

Der schlaksige Sänger stieß seinen leeren Eisbecher beiseite, zündete sich eine Zigarette an und richtete erst dann das Wort an seinen Freund, als er ein paar Züge geraucht hatte.

"Du bist unfair. Und verdammt verletzend. Wir meinen es nur gut. Wir wollen dir nicht auf die Nerven gehen, wir wollten dich lediglich raus bringen, damit du auf andere Gedanken kommst. Und sag mir nicht, dass das nicht nötig gewesen wäre. Ich bin ein nervliches Wrack, seit du mir alles erzählt hast. Das reicht aus, um mir annähernd vorstellen zu können, wie's dir geht. Keine Angst, ich behaupte nicht, dass ich weiß, wie du dich fühlst. Aber denkst du, ich würde dich jetzt allein lassen? Jetzt? Dass Sachi Bescheid weiß, ließ sich nicht vermeiden. Sie ist schließlich meine Freundin, sie kennt mich in- und auswendig. Wär's dir lieber gewesen, ich hätte mich an Daisuke gewandt? Oder an Miya? Du kannst nicht die ganzen nächsten Wochen so tun, als sei nichts passiert. Das schaffst du nicht. Aber deinen Kumpels musst du es selbst erzählen - da mische ich mich nicht ein. Alles, was ich will, ist dafür sorgen, dass du dich etwas ablenken kannst. Bitte - lass mich."

Der Sänger von MUCC saß noch immer steif da und stocherte in seinem nun flüssigen Eis.

Armer Gara. Er meinte es wirklich nur gut. Es war nicht fair, ihm Vorwürfe zu machen und ihn anzugreifen, wo er doch eigentlich gar nichts dafür konnte.

Schwer schluckend wandte Tatsurou sich ihm zu und verzog die Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln.

"Sorry. War nicht so gemeint. Ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr euch Zeit für mich nehmt. Es ist nur...ich hab das Gefühl, ich falle dir zur Last. Und jetzt auch Sachi. Ich wollte nicht, dass ihr die Einzigen seid, die Bescheid wissen. Aber im Moment ist dem leider so. Ich weiß noch nicht, wann ich den Mut aufbringen werde, es den anderen Muccern zu sagen. Geschweige denn Daisuke. Vielleicht wäre es besser, ich würde es ihnen allen gar nie sagen...".

Gara seufzte.

"Das ist allein deine Entscheidung. Es ihnen nicht zu sagen hat Vor- und Nachteile. Ich kann nur sagen: Du fällst uns nicht zur Last, wir sind immer für dich da, wenn du uns brauchst. Und genauso wäre es für die anderen auch, glaub mir. Ich denke nicht, dass sie wollen, dass du sowas vor ihnen geheim hältst."

"Ich will ihnen nur nicht unnötig Angst machen."

Verständnisvolles Nicken.

"Ja, klar. Aber wie willst du ihnen die Stimmungsschwankungen erklären, die dich ganz bestimmt überkommen werden? Und...", der Ältere traute sich kaum, den Gedanken auszusprechen, "was ist, wenn der Test positiv ausfällt? Dann spätestens müsstest du es ihnen sagen...".

Tatsurou lachte auf - ein verzweifelter Versuch, die Last, die er sich selbst aufgebürdet hatte, kurzzeitig abzuwerfen.

"Sachi ist im Anmarsch. Ich geh schon mal zahlen." Erbärmlich, dem Thema so platt auszuweichen, aber er konnte nicht anders. So weit wollte er noch nicht denken.

Bevor Gara protestieren und darauf bestehen konnte, zu zahlen, war der große, schlanke Mann schon aufgestanden und hatte sich auf den Weg zur Kasse gemacht.

"Ist alles okay?"

Sachis glänzende Augen wirkten besorgt, als sie Tatsurou nachblickte.

"Ja." Gara nickte bloß. "Aber Tatsurou und ich brauchen nachher definitiv ne Fahrt mit dieser neuen krassen Achterbahn...".
 

* * *
 

Anspannung waberte im Raum.

Er hatte sie schon gespürt, als er ihn vor ein paar Minuten betreten hatte - und mit jeder verstreichenden wurde es schlimmer.

Shinya musterte seine Bandkollegen verwirrt. Es war etwas geschehen. In der letzten Woche war etwas vorgefallen, und er hatte natürlich mal wieder keine Ahnung. Klar, ihm musste man ja nichts erzählen.

Kyo war übellaunig, weil es noch ziemlich früh war, und er zum wach werden eine Weile brauchte. Aus diesem Grund ließen sie ihn alle in Ruhe seinen Kaffee trinken und an seinen Texten arbeiten, bis er selbst auf sie zu kam und das Gespräch suchte.

Die und Toshiya spielten sich warm, berieten über Sequenzen, die sie gerne in Songs einbauen wollten.

Kaoru stand abseits und besprach sich mit zwei Tontechnikern und einem Gesandten der Plattenfirma. Vermutlich ging es um letzte Details bezüglich der Single, die im Frühjahr rauskommen sollte.

Eigentlich schien alles wie immer, und doch...

Keiner der drei hatte Kaoru begrüßt. Richtig begrüßt. Von Kyo hatte der Bandleader ein knappes Nicken zu sehen bekommen, Die hatte ihn mit verzogenen Lippen bedacht (die Karikatur eines Lächelns) und Toshiya...

Shinya nahm den Bassisten genauer unter die Lupe. Aufgequollene Lider, dunkle Schatten unter den Augen, die wie matte Kiesel in ihren Höhlen lagen.

Der Schlagzeuger rief sich die Zeit vor der kurzen Pause in Erinnerung.

Zwischen Die und Kaoru hatte es gekriselt gehabt, aber soweit er mitbekommen hatte, hatten die beiden sich zusammengerauft - für den Bandsegen.

Was war bloß vorgefallen, das Toshiya veranlasste, den Bandleader komplett zu ignorieren?
 

Wütend und enttäuscht widmete Shinya sich dem finalen Aufbau seines Schlagzeuges und zog hier und dort ein Fell an. Schön, sollten sie ihn alle ausschließen und so tun, als würde er nicht zur Band gehören. Was hätte man ihm schon erzählen sollen? Er war ja eh unwichtig.
 

Als hätte er diese Gedanken gelesen, stand auf einmal Kaoru vor ihm.

"Kann ich dich kurz sprechen, bevor wir anfangen?"

Erstaunt schaute der Schlagzeuger auf und warf einen Blick auf die restlichen im Raum Anwesenden, bevor er antwortete.

"Klar."

Damit folgte er dem älteren Gitarristen in den angrenzenden Raum, wo man es sich auf Sofas gemütlich machen konnte. Drei finstere Augenpaare folgten den beiden.

Kaoru wirkte nervös und angespannt, als sie sich setzten, und knetete seine Hände, als wären sie eiskalt.

Shinya sah ihm auffordernd in die Augen.

"Was ist los?"

Nachdem er tief durchgeatmet und sich eine Zigarette angesteckt hatte, fing der Bandleader an zu erzählen, und Shinya lauschte mit wachsender Unruhe.

Genial. Super gemacht, Kaoru. Perfektes Timing. Kein Wunder hatten sich Kyo und Die auf Toshiyas Seite geschlagen. Die drei waren schon vorher nicht mehr sonderlich gut auf Kaoru zu sprechen gewesen - nun hatten sie endgültig Grund dazu, ihm die kalte Schulter zu zeigen und sich von ihm abzuwenden.

Aber wie der Gitarrist so aufgelöst neben ihm saß und immer wieder nach den richtigen Worten suchen musste, um auch die Hoffnungslosigkeit seiner eigenen Situation darzulegen, machte sich Mitleid in Shinya breit.

Ja, Kaoru hatte einen Fehler gemacht. Er hatte Yumi ganz unvorstellbar verletzt und auch gleich noch Toshiya, der mit Akiko endlich sein Glück gefunden zu haben glaubte, in die Knie gezwungen. Dafür gab es keine Entschuldigung, und dies war dem Bandleader sehr wohl bewusst.

Für Akiko setzte er nun auch Dir en greys Zukunft aufs Spiel.

Shinya schauderte.
 

Driving through the long night

Trying to figure who's right and who's wrong

Now the kid has gone, I sit belted up tight

She sucks on a match light, glowing bronze, steering on

And I might be more of a man if I stopped this in its tracks

And said, come on, let's go home

But she has got the wheel

And I've got nothing except what I have on
 

When you're driving with the brakes on

When you're swimming with your boots on

It's hard to say you love someone

And it's hard to say you don't
 

Trying to keep the mood right

Trying to steer the conversation from

The thing we've done

She shuts up the ashtray, and I say it's a long way back now, hon

She just yawns, and we might get lost someplace

So desolate that no one where we're from would ever come

But she's got the wheel

And I've got to deal from now on
 

When you're driving with the brakes on

When you're swimming with your boots on

It's hard to say you love someone

And it's hard to say you don't
 

But unless the moon falls tonight

Unless continents collide

Nothing's gonna make me

Break from her side
 

"Dir ist schon bewusst, dass dies das Ende bedeuten könnte?"

Kaorus Seufzen kam so tief aus seiner Brust, dass es als Antwort genügte.

"Wissen Tommy und Inoue schon...?"

Kopfschütteln.

"Nein, aber ich treffe mich heute Abend mit Tommy."

Shinya nickte verstehend.

"Eigentlich geht's ihn ja nichts an", fuhr der Gitarrist fort. "Er hat sowieso schon viel zuviel Macht über unser Privatleben - aber gerade deshalb muss er es erfahren. Er wäre nicht sehr zufrieden, wenn er es aus zweiter Hand hören würde."

"Das kannst du laut sagen."

Sie alle kannten Tommys Wutausbrüche. Und seinen Drang, alles unter Kontrolle zu haben. Am allermeisten die Band, die ihm am meisten Geld einbrachte.

Kaoru zündete sich eine weitere Zigarette an und rauchte schweigend.

"Was meinst du, wird Toshiya tun?", ergriff der Schlagzeuger wieder das Wort.

Schulterzucken.

"Am liebsten würde er aussteigen und alles hinter sich lassen - aber das wird nicht klappen. Tommy wird ihn nicht gehen lassen. Ganz ausgeschlossen. Er hat den Vertrag mitunterschrieben. Deshalb müssen wir uns eigentlich auch keine Sorgen über das Weiterbestehen unserer Band machen."

Die Kälte in Kaorus Stimme erstaunte Shinya, doch er ließ sich nichts anmerken.

Stattdessen erhob er sich und nickte dem Bandleader zu.

"Ich bin für dich da, wenn was ist."

Dankbares Lächeln.

"Danke, Shinya. Ich weiß das wirklich zu schätzen."
 

Noch lange nachdem der Schlagzeuger zurück in den eigentlichen Proberaum gegangen war, saß Kaoru da und hing seinen Gedanken nach.

Er hatte es geschafft, mit einer einzigen Tat Dir en grey in zwei Teile zu spalten. Diesmal wohl endgültig. Was sich in den letzten Monaten immer wieder angekündigt hatte, war nun tatsächlich wahr geworden. Akiko und er hatten sich zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ineinander verliebt. Noch vor kurzem hatte er versucht, Die klar zu machen, dass alles wieder besser werden würde.

Soviel zu seiner Glaubwürdigkeit.
 

Er konnte es also dem zweiten Gitarristen, Kyo und natürlich vor allem Toshiya nicht verübeln, dass sie ihn nun schnitten. Er hätte ihn erstaunt, wäre es anders gewesen.
 

Auch dass Shinya sich auf seine Seite schlagen würde, war ihm klar gewesen, so sehr wie der Schlagzeuger und die anderen drei Bandmitglieder sich entfremdet hatten.

Genau aus dem Grunde wusste der Bandleader aber auch, dass Shinyas Unterstützung nicht ehrlicher sondern vielmehr zwangsläufiger Natur war.
 

Was war bloß aus den Jungs geworden, die sie einst gewesen waren? Enthusiastisch, voller Hoffnungen, voller Träume. Was war davon geblieben außer verzweifelter Verbissenheit und fünf verblassten Unterschriften auf mittlerweile vergilbtem Papier?
 

+ + +
 

[Gedicht: Aus dem Film "Shadowlands" (1993) © C. S. Lewis]
 

[Lyrics: "Driving with the brakes on" © Del Amitri]
 

Diese Geschichte nähert sich mit Riesenschritten dem Ende. Nur noch drei Kapitel. Das Ende steht schon seit langem fest. Erst hatte ich Schiss, ich würde die Brücke bis dahin nicht schlagen können, aber nun schaut's doch ganz gut aus.
 

Ich danke euch mal wieder allen ganz lieb fürs Lesen, Mitleben/-leiden/-fiebern und natürlich auch für eure Kommentare. ^.^

22. [Iduna]

"So happy? Ist das die Erleichterung? Oder hab ich was verpasst?", ließ Gara sich zwischen zwei Zügen von seiner langen, schlanken Zigarette vernehmen.

Tatsurou lächelte geheimnisvoll und widmete sich weiter der Lektüre der Speisekarte.

"Du bist gemein...". Der Ältere schmollte und scannte nun seinerseits das Angebot.
 

Sein Gegenüber grinste nur hämisch. So schnell wollte er die Katze nicht aus dem Sack lassen. Schon seltsam, wie nur eine Begegnung alles verändern konnte. Gestern war er ein nervliches Wrack gewesen. Naja, eigentlich die ganzen letzten drei Monate. Aber gestern ganz besonders. Und heute war er einfach in die Arztpraxis reinmarschiert, hatte sich eine Tirade von Informationen angehört und danach eine Blutprobe da gelassen. So ging das. Die ganze halbe Stunde lang hatte er sich wie in einer Luftblase eingeschlossen gefühlt. Unantastbar. Unberührbar. Alle Ängste, die ihn die vergangenen Tage verfolgt hatten, waren an der Hülle abgeprallt. Das war dann wohl der berühmte Schutzmechanismus, den Menschen entwickelten, wenn sie in Extremsituationen gerieten. Oder war es doch etwas ganz anderes gewesen?
 

Während des Gesprächs mit der jungen Praxisassistentin waren ihm ihre schönen Augen aufgefallen. Nur sie. Und diese Augen waren es auch, die ihn seither begleiteten. Er hätte nicht sagen können, wie groß die Frau war oder wie schlank, ob ihre Fingernägel lackiert gewesen waren, ob ihre Haare eine Tönung hatten. Nur diese Augen, die ihn voller Güte und Mitgefühl betrachtet hatten, waren ihm in Erinnerung geblieben.

Ob sie alle Menschen so ansah, die im Laufe eines Tages mit genau seinem Problem zu ihre kamen? War das antrainiert? Oder war da tatsächlich mehr gewesen?

Blödsinn, warum auch? Warum hätte eine Frau mit solchen Augen auf einen Typen abfahren sollen, der mit runterhängenden, ungestylten Haaren, Bartstoppeln und in Cargohose und Sweatshirt bei ihr auftauchte?

Als er wieder zuhause gewesen war, hatte ihn einer seiner berüchtigten Anfälle von Selbstzweifel heimgesucht. Nicht, dass er je an seinen Fähigkeiten als Sänger und Performer gezweifelt hätte - aber manchmal, an Tagen wie diesen, nach Zusammentreffen mit Menschen, von denen er dachte, sie würden ihm nicht mehr Beachtung schenken als irgendeinem Käfer, vorallem dann nicht, wenn sie nicht wussten, dass er Mitglied einer ganz passablen, ziemlich erfolgreichen Rockband war, dann fühlte er sich einfach nur hässlich.

Darum war ihm Garas Einladung zum Abendessen gerade recht gekommen. Oft kam es ihm vor, als verfügte sein Kumpel über telepathische Fähigkeiten - immer schien er zur Stelle zu sein, wenn man ihn brauchte.

Und trotzdem nannte man ihn Wagamama-Gara. Witzig.

Tatsurou wusste, dass der Sänger von Merry schon drauf achtete, dass er sein Ding durchziehen und seine Meinung kundtun konnte - es kam auch vor, dass er dabei nicht davor zurückschreckte, andere zu verletzen. Aber dennoch, Gara war ein verdammt guter Kerl.
 

"Was nimmst du denn?"

Nun blickte Gara ihn erwartungsvoll an und blinzelte. Er hatte bemerkt, dass Tatsurou nicht wirklich bei der Sache war.

Dieser konzentrierte sich auf einen Punkt auf der Karte und sagte das Erste, das ihm ins Auge fiel: "Carpaccio".

"Muss das sein...?". Der Ältere verzog angeekelt den Mund.

"Ja, ich mag's halt", konterte der MUCC-Sänger trotzig. "Kannst ja wegschauen".

"Danke auch...".

Sofort tat Tatsurou sein Verhalten leid. Wie kam es eigentlich, dass er zwei seiner besten Kumpels immer wieder so zur Schnecke machte? Und was noch seltsamer war: Warum wehrten sich die beiden nie dagegen?

"Hey, war ein Witz - ich glaub, ich nehm das Curry mit Riesencrevetten."

Sofort heiterte sich Garas Miene auf. Beim Anblick von blutigem Fleisch und rohem Fisch wurde ihm speiübel. Einige nannten dies zimperlich - er jedoch bestand darauf, es als Kindheitstrauma zu bezeichnen.

"Und ich wohl das gebratene Gemüse mit Reis."

Tatsurou zog die Augenbrauen hoch. "Und das reicht dir? Du warst den ganzen Tag im Studio, du brauchst was Deftigeres."

"Zu Mittag hab ich mir Yakitori geholt. Und wir haben neuerdings immer Früchte im Studio."

"Wow! Na, kein Wunder, bist du so fett...". Ups, schon wieder. Er konnte es einfach nicht lassen.

Gara schaute verletzt zur Seite und zündete sich schließlich eine weitere Zigarette an. Er war es leid, dass alle immer wieder aus demselben Grund auf ihm rumhackten. Es tat weh, verdammt!

"Hey, sorry", ließ sich Tatsurou entschuldigend vernehmen. "Manchmal ist meine Zunge schneller als mein Hirn...".

"Meistens." Der Merry-Sänger schnaubte.

"Du weißt, dass ich es nicht so meine!", kam es verteidigend zurück.

"Ja, klar. Aber es tut trotzdem weh. Ich bin nun mal, wie ich bin. Akzeptiert es oder lasst es."

"Wir finden dich toll, so wie du bist. Aber du darfst uns auch nicht böse sein, wenn wir uns hin und wieder Sorgen machen."

"Mir geht's gut!".

"Weiß ich."

"Dann lass es einfach - bitte."

Tatsurou nickte verständnisvoll. "Versprochen." Dieses Mal meinte er es wirklich ernst - das war er Gara schuldig.
 

Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, wechselte der Sänger von Merry, wie erwartet, sofort das Thema.

"Nun erzähl schon - ich nehme nicht an, dass alleine die Untersuchung dich so aufgebaut hat, ne?".

Der Jüngere zuckte nur die Schultern.

"Es ist lächerlich...".

"Wohl nicht, sonst würdest du dich nicht so anstellen. Also?".

"Da war dieses Mädchen in der Praxis, es geht mir nicht mehr aus dem Kopf."

Gara riss die Augen auf. Tatsurou verknallt? Unglaublich.

"Eine Patientin?".

Kopfschütteln. "Nein, eine Praxisassistentin."

"Oh...". Gara begriff sofort, was dies bedeutete. "Nun weißt du nicht, was du tun sollst..."

"...weil ich nicht weiß, wie ich ihre Zeichen deuten soll - ja."

"Mist."

"Irgend einen Vorschlag?".

Der Ältere fixierte nachdenklich seine Cola, bevor er antwortete. "Leider nicht. Aber vielleicht ist sie ja da, wenn du nächste Woche wieder vorbei musst."

"Ich weiß ja nicht, ob ich nochmal hin muss - wenn alles okay ist, sagen sie's mir telefonisch."

"Ah so...das ist natürlich blöd. Ruf doch einfach an und frag nach ihr."

Tatsurou wurde verlegen. "Ich hab ihren Namen nicht mitgekriegt."

"Idiot!".

"Ihre Augen haben mich um den Verstand gebracht."

"Ihre Augen?". Gara grinste schelmisch. "Perversling."

"Ich spreche ausnahmsweise tatsächlich von ihren Augen!".

"Oh...". Das war ja was ganz Neues. Sollte Tatsurou, der Wildfang, es tatsächlich mal richtig ernst meinen? "Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber...".

"Ja, schon klar. Ist eh schon peinlich genug. Ich bin ja noch nicht mal sicher, ob diese Gefühle echt oder aus meiner Angst heraus entstanden sind."

"Dann solltest du vielleicht bis zum Ergebnis warten und schauen, ob du auch dann noch Interesse hast."

"Ich möchte aber rausfinden, ob sie mich auch dann kennenlernen möchte, falls ich den Tod in mir trage...".

Gara nickte. So pathetisch es klang - Tatsurou hatte recht. Eine bessere Gelegenheit, die wahren Absichten eines Menschen zu ergründen, gab es wohl kaum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass das Mädchen gerne japanische Rockmusik hörte und Tatsurou schon längst erkannt hatte - aber diese Wahrscheinlichkeit war angesichts der Einwohnerzahl Tokyos eher gering.

"Dann sei doch einfach ehrlich. Geh nochmal vorbei und sag ihr offen, dass du sie gerne kennenlernen möchtest. Mehr als abwimmeln kann sie dich ja nicht, oder?".

Der Sänger von MUCC sah zerknirscht auf und kaute auf seiner trockenen Unterlippe.

"Gerade davor hab ich ja Angst. Ich hab das Gefühl, ich dürfe mir dieses Mal keinen Schnitzer erlauben."

"Hast du etwa Torschlusspanik?".

"Jetzt bist du aber pietätlos."

Sofort glätteten sich Garas Lachfältchen, und er wurde ernst. "Nun leg doch nicht alles auf die Goldwaage."

"Ha, jetzt siehst du mal, wie's ist, wenn jemand deinen Humor nicht versteht."

"Das kann man doch nicht vergleichen!".

"Ganz deiner Meinung." Tatsurou drückte seine erst zur Hälfte gerauchte Zigarette aus und fingerte bereits wieder nach einer neuen.

Gara schaute seinen Freund betroffen an. Ja, verdammt, man konnte es tatsächlich nicht vergleichen. Auf einmal fühlte er sich ganz klein.

"Tut mir leid. Ich glaube, ich versuche immer zu verdrängen, was wäre, wenn...". Hier brach er ab und gab Tatsurou Feuer.

"Ich doch auch...". Der Jüngere inhalierte tief.

Einem plötzlichen Impuls folgend legte Gara seine langen, schlanken Finger um Tatsurous Handgelenk und drückte sanft zu. "Es geht dir gut - ganz bestimmt. Du hast noch ganz viele Jahre vor dir."

Dunkle, dankbare Augen trafen seine. Dieser Ausdruck. Wie der eines kleinen Jungen. Gara zog schnell seine Hand zurück.

"Genau. Und für eben diese Jahre bräuchte ich eine Begleitung - irgendwas in mir sagt, dass sie die Richtige ist und ich sie mir nicht durch die Lappen gehen lassen sollte."

"Also doch Torschlusspanik?", warf Gara neckisch ein, um die gedrückte Stimmung zu lockern.

Und dieses Mal lachte Tatsurou auf und grinste immer noch, als die Kellnerin mit den heißen Tellern und Schüsseln an den Tisch trat.
 

* * *
 

Sie wusste, sie brauchte nicht eifersüchtig zu sein, und doch war sie es.

Seit Kaoru morgens um 2 die Wohnung verlassen hatte, hatte sie keine ruhige Minute mehr gehabt.

Wie lange dauerte so eine Geburt? Er war schon siebzehn Stunden weg.

Im Laufe des Nachmittags hatte er kurz angerufen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte - nur um eine halbe Minute das Gespräch bereits wieder abzubrechen, um an Yumis Seite zu eilen.
 

Ja, sie war eifersüchtig.

Auf ihre ehemals beste Freundin.

Egal, wie oft Kaoru ihr versicherte, dass er mit Yumi abgeschlossen hatte und nur sie liebte, so ganz glaubte sie ihm nicht.

Schließlich war Yumi die Mutter seines Kindes. Und die Frau, mit der er die vergangenen Jahre verbracht hatte.
 

Noch bei keiner ihrer bisherigen Beziehungen hatte ihr die Vergangenheit ihres Liebhabers so viel Angst gemacht, das Leben, das er geführt hatte, bevor sie gekommen war.
 

Doch wenn sie nachts neben Kaoru im Bett lag, schweißnass, erschöpft, fiebrig, und trunken seinen Worten lauschte, dachte sie oft daran, dass er früher dieselben Liebesschwüre in Yumis hübsche kleine Ohren gehaucht hatte.

Man war so verdammt ersetzbar. Jeder. Egal, was gewesen war und sein würde - jeder war austauschbar.

Aber was war mit denen, die zurückblieben? Diejenigen, die immer noch liebten, und denen sich das Objekt ihrer Begierde entrissen hatte? Wie lange würde es dauern, bis sie jemanden fanden, um die entstandene Leere zu füllen?
 

Tränen sammelten sich in Akikos Augen, als sie an Toshiya dachte. Yumi würde wenigstens Mutter werden - Toshiya hatte im Moment nur noch seine Musik. Und mit der schlechten, misstrauischen Stimmung, die in der Band herrschte, fühlte er sich bei seinen Kollegen bestimmt auch nicht gerade wohl.
 

Nach dem dritten Mal hatte sie aufgehört, Kaoru nach dem Zustand des Bassisten zu fragen. Die ersten beiden Male hatte er noch willig Auskunft gegeben, doch dann war es ihm wohl doch zuviel geworden, und er hatte sie angenervt und fragend gemustert.

Seither hatte sie nie mehr gefragt, obwohl sie so gerne gewusst hätte, ob Toshiya zurecht kam.
 

Warum eigentlich? Bereitete es ihr Befriedigung, mitzubekommen, dass er ihretwegen Qualen litt? Oder bedeutete er ihr doch noch weitaus mehr, als sie sich vorzumachen versuchte?
 

Nervös zündete sich die junge Frau eine Zigarette an. Sie hatte heute schon beinahe zwei Päckchen geraucht, und das, obwohl sie die Woche darauf wieder würde arbeiten müssen. Naja, so hätten dann wenigsten die Visagisten auch wirklich was zu tun.
 

Wie in Trance stand Akiko auf und ging ins Bad.

Aus dem Spiegel blickte ihr ein graues, eingefallenes Gesicht entgegen. Sah so eine frisch Verliebte aus?

Zynisch verzog sie ihre schönen, vollen Lippen und lächelte ihrem Spiegelbild müde zu. Mit einem Mal kam ihr alles falsch vor. Was hatte sie sich dabei gedacht, etwas mit dem Gitarristen anzufangen? Wie konnte sie nur glauben, dass sie mit der Tatsache, dass er ein Kind mit Yumi haben würde, würde umgehen können?

Ja, doch, sie konnte damit leben, aber das Kleine würde sie nie als Mutter sehen, sie würde es nicht gemeinsam mit Kaoru großziehen, denn dafür war Yumi zuständig.
 

Angewidert warf Akiko den schwelenden Stummel ins Klo, spülte und ging ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich ans große Fenster stellte. Hier sah man nicht von ganz so weit oben auf die Stadt runter, wie man es bei Toshiya tat.

Als sie das Fenster öffnete, schlug ihr der entfernte Straßenlärm empfindlich laut entgegen, begleitet von einer kühlen Brise, die den Herzflattern verursachenden Duft von Frühling mit sich trug. Wenn das Wetter sich so hielt, würden in zwei Wochen die Kirschbäume blühen. Das Jahr zuvor hatte sie die Kirschblütenzeit mit Toshiya verbracht - auch da war sie frisch verliebt gewesen.
 

An wessen Seite sie wohl im nächsten Frühjahr durch den Park wandeln würde?
 

Der Wind spielte sanft mit Akikos langen, glänzenden Haaren, und sie verlor sich so sehr in ihren Gedanken, dass sie ihr Handy erst nach dem vierten Mal Klingeln wahrnahm. Mit einem Satz war sie beim niederen Wohnzimmertisch.
 

Kaoru.
 

21 Uhr 37.
 

* * *
 

"Tut mir leid, dass ich dich damit nerve, aber..."

"Akiko, ich hätte mir Sorgen gemacht, wenn du dich nicht gemeldet hättest. Es ist ganz natürlich, dass du dich grad schrecklich fühlst."

"Ach ja? Es ist also normal, dass ich Yumi am liebsten die Augen auskratzen würde, hm?".

Chieko schmunzelte und entgegnete: "Ja, ich denk schon. Sie ist deine Konkurrentin, jetzt mehr denn je."

"Aber sie war mal meine beste Freundin, Chieko, ich liebe sie doch...".

Mit einem Mal schniefte Akiko, und Chieko versuchte, die richtigen Worte zu finden. "Gerade das macht es dir doch so schwer. Du hast dich in den Mann verliebt, den auch Yumi immer noch liebt - und erkennst jetzt, auch wenn Kaoru sich für dich entschieden hat, dass da dieses kleine Mädchen ist, das die beiden für immer aneinander bindet. Du kannst mit ihr nicht konkurrieren, der Punkt geht an sie. Du willst sie hassen, aber es geht nicht, denn du wünschst dir nichts sehnlicher, als sie wieder zu der Freundin zu haben, die sie dir mal war. Stimmt's?".

Das Schniefen verstummte. "Ja, scheiße, ja!".

"Dann lass doch einfach der Zeit ihren Lauf. Fahr ins Krankenhaus, freu dich mit Kaoru. Schau dir Aiko an, wenn du kannst, und besuch Yumi kurz, wenn sie wach ist. Egal, was war, ich bin sicher, dass sie sich trotz allem freuen würde, dich zu sehen. Als Freundin. Und nicht als diejenige, die ihr den Freund ausgespannt hat."

"Autsch!".

"Was denn? So ist es doch."

"Ja, schon, es klingt nur so hart...".

"Am besten gewöhnst du dich dran."

Kurze Stille. Dann: "Was ist, wenn sie mich gar nicht sehen will? Ich bin bestimmt der letzte Mensch, auf den sie jetzt Bock hat."

"Das bezweifle ich sehr. Sie mag so tun, als ob, ja, aber ich bin sicher, sie sehnt sich nach dir."

"Ich hoffe, du behältst Recht."

"Du kennst Yumi besser als ich, aber ich würde mich freuen, wenn nach der Geburt meines Kindes eine gute Freundin vorbei käme."

"Auch wenn diese Freundin dir Kyo ausgespannt hat."

Nun schwieg Chieko eine Weile, bevor sie antwortete: "Ja, auch dann, ganz ehrlich."

"Okay, ich versuch's."

"Viel Glück."
 

* * *
 

Zuhause angekommen ließ Tatsurou sich schwer auf der Ledercouch nieder, streckte die Beine breit von sich und verharrte eine ganze Weile in dieser Position.

Sein Kopf dröhnte. Die letzten zwei Bier wären nicht nötig gewesen, aber Gara und er hatten Spaß gehabt, und wenn er mal mit Bier anfing, konnte er nicht mehr aufhören. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er an die letzte Situation dachte, in der ihm dieses Verhalten im wahrsten Sinne zum Verhängnis geworden war.
 

Immer noch eine Woche, bis er Gewissheit hatte.

Am liebsten hätte er die nächsten sechs Tage durchgeschlafen und wäre erst an Tag X wieder aufgewacht. Er würde jedoch von Glück reden können, wenn er in den kommenden Nächten überhaupt Schlaf fand.
 

Er war Gara dankbar gewesen, als dieser ihn nach dem Abendessen zum Läden durchstöbern und danach zum Barhopping mitgeschleppt hatte. So war wenigstens dieser Abend einigermaßen schnell vergangen. Wie sollte er nun aber die angebrochene Nacht hinter sich bringen?
 

Die Zeitschriften vor sich auf dem Tisch hatte er schon alle gelesen, auf einen Film würde er sich nicht konzentrieren können, auf ein Computerspiel genauso wenig. Und wenn er jetzt mit Songschreiben anfing, würde ein Requiem dabei rauskommen, also vertagte er wohl auch dies besser auf später, wenn er in Frühlingsgefühlen schwelgte. Er wollte etwas Lebenslustiges schreiben.
 

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihm einfiel, dass das Resultat zu 50 % positiv ausfallen konnte. Verdammte Scheiße.
 

Da saß er. Ein junger Mann von grad mal 24 Jahren. Erfolgreich. Talentiert. Verknallt. Und vielleicht HIV-positiv.
 

Den Sänger schauderte, als er sich nach seiner Tasche bückte, die er neben der Couch hingestellt hatte. Das Mädchen mit den schönen Augen hatte ihm nahe gelegt, alle Unterlagen, die es ihm ausgehändigt hatte, durchzulesen. Dies würde ihm helfen, die nächsten paar Tage vielleicht etwas entspannter zu erleben, hatte es gesagt.
 

Tatsurou bezweifelte dies zwar stark, doch er wollte sich daran halten, weil es ihm dazu geraten hatte.
 

Mit einem Griff in die Tasche beförderte er den Stapel ans Licht und legte ihn auf den Tisch vor sich. Sein Kopf war immer noch schwer und begann jetzt auch noch zu pochen, weshalb sich der Sänger in der Küche zwei Gläser eiskaltes Mineralwasser aus dem Kühlschrank genehmigte und danach eine Dusche nahm.
 

Eine Viertelstunde später saß er wieder auf der Couch. Nun aber erfrischt, als ob alle negativen Gedanken mit dem kühlen Wasser in den Abguss geflossen wären.
 

1 Uhr.
 

Wenn er sich beim Lesen Zeit ließ, konnte er bestimmt locker bis 5 Uhr früh durchlesen und danach im Park joggen gehen. Oder aber die Dokumentationen waren so langweilig, dass er darüber einschlief, ohne sich vorher stundenlang im Bett wälzen zu müssen.
 

Gemächlich sortierte er die einzelnen Broschüren und Informationsblätter.

"Kondome können Leben retten", stand in großen Lettern auf einem davon.

Ja, danke auch. Als ob ihm das nicht auch klar wäre. Dieser Papierkram schien echter Humbug zu sein - seine Traumfrau hatte ihn angelogen, dieses Biest.
 

Traumfrau? Nun betitelte er sie schon so. Er hatte wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Scheinbar war es aber so, dass man sich in einer Situation wie seiner an alles klammerte, was einem Hoffnung machte und fröhlich stimmte. Aus diesem Grunde fühlte er sich aber schäbig, so von dieser Frau zu schwärmen. Würde sie ihm auch dann noch gefallen, wenn er keinen Strohhalm mehr zum festhalten brauchte? Würde sie ihm überhaupt gefallen, wenn er sie das nächste Mal sehen würde? Wenn überhaupt?
 

Ziemlich viele Wenns.

Kurz überlegte Tatsurou, ob er Miya anrufen sollte. Oder Daisuke. Vielleicht wäre es ganz gut, sich eine Zweitmeinung anzuhören. Nicht, dass Garas Ratschläge unnütz gewesen wären, aber...
 

Seufzend stand der große Sänger auf und tigerte rastlos durchs Zimmer. Die herrschende Stille bedrückte ihn - und doch hatte er keine Lust, eine CD einzulegen oder den Fernseher anzumachen. Es gab keine Musik, die zu seiner gegenwärtigen Verfassung passte, und im TV lief um diese Zeit sowieso nur banaler Mist.
 

Also setzte er sich wieder hin, fuhr sich durch die immer noch etwas feuchten Haare und griff sich noch einmal den Stapel Unterlagen. Leider nicht fest genug, denn die untere Hälfte glitt ihm aus den Händen und fiel zu Boden.
 

"Fuck...".
 

Tatsurou legte den verbleibenden Stapel zurück auf den Tisch und sammelte die verteilten Dokumente zusammen.
 

Da sah er ihn.

Den Umschlag.

C4. Recycling-Papier.
 

Auf den ersten Blick war dem Sänger klar, dass dieses Couvert nichts mit all den Info-Unterlagen zu tun hatte. Der Absender war eine medizinische Fachschule in Akihabara, gerichtet war das Schreiben an eine Takahara Emi, die Adresse war, wenn Tatsurou sich richtig erinnerte, diejenige der Praxis.
 

Emi. Emi Takahara.

War sie das?
 

Der Umschlag war noch verschlossen, und die Finger des Sängers juckten vor Neugierde. Doch nein, das konnte er nicht bringen. Wer immer die Besitzerin war, sie würde wissen, dass sie das Couvert noch nicht aufgeschlitzt hatte. Und was für einen Grund sollte der Finder haben, sich den Inhalt anzugucken, wenn die Adresse deutlich zu lesen war?
 

Nein, das würde er schön sein lassen müssen.
 

Etwas ratlos ließ Tatsurou den Brief immer wieder von der linken in die rechte Hand und wieder zurück wandern.
 

Hatte er nicht insgeheim nach einem Grund gesucht, die Praxis frühzeitig wieder aufsuchen zu können, ohne sich total zum Affen zu machen?

Im besten Falle war sie sogar diese Emi.
 

Im besten Falle? Naja. Ansichtssache. Auch wenn er ihr den Umschlag würde in die Hand drücken können, müsste er sich immer noch überwinden, sie auf nen Kaffee einzuladen.
 

Seufzend lehnte der Sänger sich im Sessel zurück und ließ den Brief neben sich fallen. Er fühlte sich wie ein Teenager vor dem ersten Date.
 

* * *
 

Toshiya legte den Bass beiseite, als sein Handy klingelte. Er fluchte leise, denn gerade hatte er ein, seiner Meinung nach, brillantes Riff gespielt, das ihm nun aufgrund der Unterbrechung entfiel.
 

"Moshi moshi?!".
 

Die traurigen, verquollenen Augen weiteten sich vor Freude, als er hörte, wer dran war.
 

"Papa? Das ist ja ne Überraschung. Wie geht's euch?"
 

Doch schon bei der darauf folgenden Antwort verschwand alle Fröhlichkeit aus der Stimme des Bassisten, und er stützte sich schwer an der Wand ab.
 

"Oma ist tot...? Aber...".
 

Völlig überrumpelt ließ er seinen Vater erzählen. Er fühlte sich, als hätte sich vor drei Monaten ein Abgrund vor ihm aufgetan, ein Schlund, der alles verschlang, das ihn glücklich gemacht, das er geliebt hatte. Und dieser Schlund wurde immer größer. Ein schwarzes Loch.
 

"Sie war doch so gesund...", hörte er sich mit hohler Stimme sagen.
 

Sein Kopf war leer. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, antwortete nur ganz mechanisch, wenn er das Gefühl hatte, sein Vater erwarte einen Kommentar.
 

Oma...
 

"Wann ist die Bestattung?"
 

Langsam ging er in die Küche und markierte auf dem Katzenkalender, den er Akiko zu Weihnachten geschenkt hatte, das Datum. Super, nicht einmal den Kalender hatte sie mitgenommen.
 

"Ja, klar komme ich. Wir gehen drei Tage danach erst auf Tour."
 

Es war ihm egal, dass sie da Probe hatten. Es war ihm egal, dass Tommy sauer sein würde. Er wollte nach Hause. Auch wenn's nur für zwei oder drei Tage war. Diese Auszeit stand ihm zu.
 

Warum hatte er sich eigentlich nicht schon eher die Freiheit genommen und sich für eine Weile nach Hause verabschiedet? Wie blöd war er? Hatte er erwartet gehabt, dass Akiko eines Tages voller Reue wieder bei ihm in der Tür stünde?
 

So ein Unsinn.
 

Aber das wurde ihm erst jetzt richtig bewusst. Jetzt, da ihn die Gegenwart endgültig einholte, da er sich nicht mehr in sich selber verkriechen konnte.
 

Großmama war tot. So plötzlich.
 

Sein Vater redete immer noch auf ihn ein. Irgendwas wegen Anreise, der Zeremonie und welche Verwandten dabei sein würden. Toshiya nahm alles wahr, speicherte die Informationen, doch so richtig präsent war er nicht.
 

In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm.

Weinen.

Er wollte, er hätte weinen können.

Doch seine Augen blieben trocken. Zu viele Tränen hatte er in den letzten Wochen vergossen.
 

"Okay, ich werde da sein. Gibst du mir Mama?"
 

Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als er vernahm, dass seine Mutter noch im Krankenhaus war. Wie sehr hätte es ihm geholfen, ihre Stimme zu hören. Ihre Stimme, die so sehr wie die ihrer Mutter klang. Wie es ihr wohl ging? Wie fühlte man sich, wenn ein Elternteil starb? Wie würde er sich fühlen, wenn seine Eltern auf einmal nicht mehr da waren?
 

"Okay. Grüß sie ganz lieb. Gib ihr nen Kuss von mir, ja? Ich werd später versuchen, sie zu erreichen."
 

Nach ein paar weiteren, aufbauenden Floskeln brachen sie das Gespräch ab. Der Bassist hatte die Tränen in der Stimme seines Vaters gehört. Er hatte seine Schwiegermutter sehr gern gehabt. Kein Wunder, so ein liebenswerter Mensch wie sie gewesen war.
 

Toshiya rief sich seine letzte Begegnung mit ihr zurück. Letzten Sommer bei einem Familienfest. Ihre freundlichen, blitzenden Augen, das von Lachfalten durchzogene Gesicht, die Haut, die auch im Alter noch straff und geschmeidig war. Seine Oma war eine schöne Frau gewesen. Und seine Mutter hatte ihre Schönheit von ihr geerbt.
 

Der junge Mann trat zögernd vor den großen, bodenlangen Spiegel in der Eingangshalle und betrachtete sich darin. In ihm steckte ein Achtel der Frau, die nun nicht mehr unter ihnen weilte. Hatte er genug Zeit mit ihr verbracht? Hatte er sie alles gefragt, was er von ihr hatte wissen wollen?

Mit Bedauern stellte er fest, dass er diese beiden Fragen verneinen musste. Es gab so vieles, was er mit seiner Oma noch hatte bereden wollen. Dinge, die er nicht vor seinen Eltern hatte breittreten wollen.
 

Oma hätte bestimmt gute Ratschläge im Bezug auf Akiko gehabt.

Sie war es auch immer gewesen, die ihn wieder aufgebaut hatte, wenn es in der Band ganz schlecht lief. Sie war der ganzen Sache zwar immer sehr skeptisch gegenüber gestanden, und doch hatte sie ihn nie dafür verurteilt, dass er sich diesen Job ausgesucht hatte. Viele andere Verwandte hatten ihn sogleich verurteilt und für immer abgeschrieben, nicht so seine Oma. Sie hatte immer an ihn geglaubt und ihm versichert, dass, egal was er in seinem Leben tat, sie immer für ihn da sein werde.
 

"Verdammt Oma...warum gerade jetzt?", stieß Toshiya zwischen den Zähnen hervor, ließ sich zusammensacken und rollte sich auf den kalten Steinplatten zusammen.
 

Am liebsten hätte er sich in den dunklen Tiefen des Abgrundes verloren.
 

+ + +
 

Kitsch hoch 10 und akuter Sap-Alarm, ich weiß. XD

Verzeiht mir! ^^;

Bin grad etwas angepisst. Warum muss ich vom 3. - 7. Mai 2006 nach Bratislava? Scheiß Kongress! Es ist gemein. ;__;

23. [Hathor]

Die traute seinen Ohren kaum, als er auf den Gang raustrat und gerade noch Kaorus letzte Worte vernahm.

"Ja, genau, zwei Trauersträuße an diese Adresse. Geht das heute Nachmittag noch? Ja? Vielen Dank! Und ja, belasten Sie meine Kreditkarte."

Die hatte sich nicht näher auf Kaoru zu bewegt sondern war gleich bei der Tür zum Proberaum stehen geblieben, weshalb ihn sein Bandkollege erst sah, als er den Anruf beendete und sich zur Tür umdrehte.

"Oh...". Verlegen senkte der Ältere den Blick und wollte sich an Die vorbei durch die Tür stehlen, als dieser sich ihm in den Weg stellte.

"Ich dachte, das hätte Inoue schon veranlasst?"

"Nein, eben nicht. Er hat vorhin angerufen und mich gebeten, es nachzuholen."

Der jüngere Gitarrist runzelte skeptisch die Stirn. "Inoue hat es vergessen? Du machst Witze. Ganz unmöglich. Und vorallem, warum ruft er dich an? Hätte doch sonst wer erledigen können, oder?" Die stieß Rauch durch die Zähne aus.

Kaoru zuckte die hilflos die Achseln. "Frag mich was Besseres. Entweder hat ihn sein ihm angeborener Sadismus dazu getrieben, mir ein weiteres Mal mein Vergehen in Erinnerung zu rufen - als ob ich nicht auch so schon täglich dran dächte -, oder aber es liegt ihm daran, die Wogen zwischen Toshiya und mir zu glätten."

"Das glaubst du wohl selbst nicht?!".

Trauriges Lächeln. "Nein, nicht wirklich, aber diese Version gefällt mir besser. Toshiya tut mir unglaublich leid. Ich wollte ihm nie so wehtun, wie ich es getan hab."

"Das war aber zu erwarten, er hat Akiko geliebt, du Arschloch!".

"Ja, und ich liebe sie jetzt. Und sie mich auch!".

"Trotzdem. Warum hast du eigentlich zwei Sträuße bestellt?"

"Einen von uns, einen von Akiko. Ich dachte, wenn ich schon dabei bin...".

"Na, immerhin warst du rücksichtsvoll genug, keinen Strauss unterzeichnet von Akiko und dir zu schicken."

Empörtes Aufbegehren. "Na hör mal!".

"Hätte ja sein können...".

Verletzt senkte Kaoru den Kopf. "Danke, Die, das hat mir sehr geholfen."

"Von einem Arschloch erwartet man immer das Schlechteste."

Da wurde es Kaoru endgültig zu bunt. "Okay, Herr Saubermann, ja, ich hab Mist gebaut, sehr großen sogar. Und es ist mir klar, wie sehr ich Toshiya verletzt habe und dass es lange dauern wird, bis er und ich wieder so miteinander umgehen können, wie es vorher der Fall war. Wenn überhaupt."

"Vorher, wann vorher?"

"Verdammt, Die! Was soll das? Willst du mir alles in die Schuhe schieben, was schief gelaufen ist? So einfach geht das nicht. Und das weißt du. Einen Sündenbock zu haben, ist immer praktisch, so kann man wenigstens so tun, als sei man nicht selber Schuld, aber hey, das lasse ich nicht mit mir machen, ich nicht! Also lass hier nicht den großen Checker und Rächer raushängen. Vergiss nicht, wir sitzen nach wie vor im selben Boot. Es liegt an jedem einzelnen von uns, dass wir es uns so angenehm wie möglich machen."

Damit wandte sich der Ältere abrupt ab und verschwand im Proberaum, während Die perplex stehen blieb und ihm verdattert nachschaute. Da war der Schuss wohl nach hinten losgegangen. Er hatte Kaoru provozieren und vor den Kopf stoßen wollen - nun war er selbst derjenige, der sein Fett noch viel mehr wegbekommen hatte. Eines musste er dem Bandleader lassen: Er wusste sehr genau, wie er diejenigen angreifen und verletzen konnte, die ihn angriffen. Da hatte Tommy gute Arbeit geleistet, alle Achtung.

Doch noch immer verstand er nicht, was Inoue damit bezweckt hatte, Kaoru den Kondolenzstrauß der Band bestellen zu lassen. Kaoru hatte recht: Es war nicht nötig, ihm das alles immer wieder unter die Nase zu reiben, er litt so schon genug darunter. Vielleicht hoffte der Manager tatsächlich, Toshiya würde eher wieder auf Kaoru zugehen, wenn er mitbekäme, dass dieser die Blumen geordert hatte.

Da kannte er den Bassisten aber schlecht. Die wusste haargenau: Bis dieser den ersten Schritt machte, würden Monate vergehen. Toshiya war an sich ein Mensch, der nie lange böse und sich auch nicht zu schade war, jemanden um Verzeihung zu bitten, wenn er wusste, dass er unrecht hatte. Doch hier lag die Sache anders. Kaoru würde sich noch so oft entschuldigen können, Toshiya würde es nicht hören wollen. Er brachte es fertig, ihre Beziehung so lange auf einer rein geschäftlichen Ebene zu halten, bis er tatsächlich so weit war, seinem Widersacher verzeihen zu können.
 

Wütend und frustriert schlug Die mit der flachen Hand gegen die poröse Wand. Es tat weh, und ein paar kleine Blutstropfen quollen aus der hellen Haut.

Am liebsten hätte der Gitarrist sich nach Hause verzogen und wäre dort geblieben, bis wieder bessere Zeiten anbrachen. Doch in drei Tagen startete ihre Tournee. Es gab noch ein paar Sequenzen, die einfach nicht klappen wollten und die sie üben mussten, bis sie saßen. Dementsprechend ungelegen war Toshiyas Abwesenheit gekommen, aber wenn man ihn nicht an den Bestattungsriten für seine Großmutter hätte teilnehmen lassen, wäre er zusammengebrochen, bevor er beim Eröffnungsgig überhaupt den Fuß auf die Bühne gesetzt hätte. So ungern Tommy den Bassisten hatte nach Hause fahren lassen, es gab Dinge, denen widersetzte nicht einmal er sich. Im Gegenteil, er hatte richtig traurig und bedrückt gewirkt, als er vom Tode der alten Frau erfahren hatte. Vielleicht bestand ja die Chance, dass sein Herz noch nicht ganz erkaltet war.
 

Trotzdem war Die in dem Moment ums Heulen. Um sich und sein Unvermögen, zwischen den zerstrittenen Parteien zu schlichten. Über die Unmöglichkeit, die Zeit zurückzudrehen in die Jahre, wo alles noch in Ordnung gewesen war und sie alle ihren Spaß gehabt hatten. Was hätte er darum gegeben, wenn alles noch immer so einfach gewesen wäre wie damals.
 

Was hatte Toshiya einmal auf seinem Bass stehen gehabt? Where am I going? Und was noch? Da war mehr gewesen, aber Die konnte sich die Sätze beim besten Willen nicht mehr in Erinnerung rufen.
 

Wenn Toshiya gewusst hätte, dass er hier ankommen würde, hätte er sich je auf den Weg gemacht?
 

* * *
 

"Nun sagen Sie mir: War es Absicht?" Tatsurou drehte sein Weinglas abwartend zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger und schaute sie an. Er hatte zwanzig Minuten mit sich gerungen, ehe er sich endlich getraut hatte, die Frage zu stellen. Aber er wollte seine Vermutung endlich aus ihrem Mund bestätigt hören.
 

Eigentlich hatte er vormittags schon in der Praxis vorbeischauen wollen, doch dann hatte er es sich anders überlegt. Angenommen, sie wäre tatsächlich die Inhaberin des Umschlags. Und wiederum angenommen, der Inhalt eben dieses wäre wichtig und sie würde darauf bestehen, ihm sowas wie einen Finderlohn zu geben, könnte er sie dann nicht fragen, ob sie ihn wohl, gesetzt den Fall, sie hätte nach der Arbeit nichts vor, zum Abendessen begleiten würde?
 

Also war er erst kurz vor 17 Uhr vorbei gegangen und hatte am Empfang mit vor Aufregung feuchten Händen den Umschlag mit einer kurzen Schilderung des Sachverhalts abgegeben.

Als die junge Empfangsdame ihn gebeten hatte, doch kurz Platz zu nehmen, Frau Takahara hätte bereits nach eben dieser Sendung gesucht, sie würde sich bestimmt persönlich bei ihm bedanken wollen, hatte sein Herz einen freudigen Sprung getan.

Noch immer war nicht sicher, dass sie Emi Takahara war, aber irgendetwas sagte ihm, dass es nicht anders sein konnte.

Und doch wurde er noch nervöser, als sie dann tatsächlich vor ihm stand und ihm mit einem strahlenden Lächeln für seine Mühe dankte. Da müsse sie wohl sehr unachtsam gewesen sein, dass ihre eigene Post den Weg in seine Infounterlagen gefunden habe. Sie bitte ihn vielmals um Entschuldigung für all die Umstände.

Alles sehr förmlich, aber in ihren Augen blitzte der Schalk, fast so, als lache die junge Frau wegen der doch sehr ungewöhnlichen Szene in sich hinein.

Oder war sie aus einem anderen Grund so erheitert? War es ein Lachen des Stolzes auf sich selbst? War sie zufrieden mit sich, dass ihr Plan funktioniert hatte? Ja, fast so kam es Tatsurou vor, doch noch immer wagte er nicht wirklich an diese Möglichkeit zu glauben.

Vermutlich amüsierte sie sich darüber, wie blöd er war und wie einfach es ihr gelungen war, ihn dazu zu bringen, hinter ihr herzulaufen. Vielleicht hatte sie ja eine Wette mit dem Mädchen am Empfang laufen - das guckte schon ganz gespannt zu ihnen rüber.

Als sie dann aber gesagt hatte, sie wäre eigentlich gerade am Gehen gewesen, sie hätte jetzt nämlich Feierabend, ob er denn wohl schon etwas gegessen hätte oder ob sie ihn einladen dürfe, hätte er vor Freude einen Luftsprung gemacht. Sie hatte die Führung übernommen und ihm die Peinlichkeit erspart, sie fragen zu müssen.

Nicht ganz so begeistert, wie er sich tatsächlich gefühlt hatte, hatte er zugesagt, und nun saßen sie beide also in dieser trendigen Lounge und sein Kopf fühlte sich unglaublich leer an und beduselt vom Wein.

Vom Wein? Unmöglich, er hatte erst drei oder vier Schlucke getrunken. Was war mit ihm los, verdammt?
 

Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Emis Lippen und sie nahm sich für seinen Geschmack viel zuviel Zeit zum Antworten. Als sie es dann tat, glaubte er zu hören, dass ihre Stimme zitterte, war sich jedoch nicht ganz sicher, ob er aufgrund des Beats der Musik einer Täuschung unterlag.
 

"Was wollen Sie hören? Ein Märchen oder die Wahrheit?" Sie nippte an ihrem Cosmopolitan und sah dabei, Tatsurou konnte kaum den Blick von ihr abwenden, ganz hinreißend aus.

"Wie wär's mit beidem?" Nun war es auch endlich mal an ihm, sie herauszufordern. Schließlich war er der Mann.

Emi biss sich kurz auf die Unterlippe. "Okay, die eine Geschichte ist: Gestern hatte ich meinen schlechten Tag, ich habe das so alle paar Wochen mal, und war so durch den Wind, dass ich den Umschlag völlig unbeabsichtigt zu Ihren Unterlagen gelegt habe. Eigentlich ist es mir jetzt auch total unangenehm mit Ihnen hier zu sitzen, denn ich finde Sie unsympathisch und ich bin nur nett zu Ihnen, weil ich Ihnen was schulde. In circa einer halben Stunde, wenn dieses Glas leer ist, werde ich aufstehen, Ihnen einen schönen Abend wünschen und für immer aus Ihrem Leben verschwinden."
 

Mit einem kurzen Blick auf den jungen Mann prüfte sie seine Reaktion auf das Gesagte, doch er ließ sich nichts anmerken.
 

"Die andere Geschichte wäre diese: Der Tag gestern war scheiße, wirklich. Am liebsten hätte ich mich zuhause verkrochen und wäre gar nicht erst aufgestanden. Wie bereits erwähnt, geht's mir ab und zu so. Es wäre allerdings schade gewesen, wäre ich gestern zuhause geblieben, denn irgendwann im Laufe des Nachmittags kam ein Patient, der - das klingt peinlich, aber es war nun mal so -, mir so gefallen hat, dass ich vom ersten Moment an wusste: Den will ich kennenlernen. Nur, wie anstellen? Es ist uns im Normalfall nicht erlaubt, Patienten privat zu treffen. Was also sollte ich tun? Wie ich so ein paar Rezepte ausstellte und nebenbei Unterlagen für ihn , sah ich diesen Brief in meinem Fach liegen und irgendwie, beinahe ohne mein Zutun, war er schon unter die ganzen Broschüren gerutscht. Ganz seltsam, fast so, als hätte er mein Dilemma gespürt und sich selbstständig gemacht. Nachdem ich dem jungen Mann die Unterlagen ausgehändigt, mich von ihm verabschiedet und ihn durch die Tür verschwinden gesehen hatte, fühlte ich mich leer. Fast so, als wäre etwas, das zur Vervollständigung meines Seins beitragen konnte, da gewesen und mir gewaltsam wieder entrissen worden. Ja, so fühlte sich das an. Kennen Sie dieses Gefühl? Und diese Sicherheit? Genau zu wissen, dass ein bestimmter Mensch nur für einen ganz allein da ist?"
 

Wie in Trance nickte Tatsurou und nahm einen weiteren Schluck Wein. Das konnte doch alles nicht wahr sein. "Sie meinen, diese Elektrizität, die im Körper Funken sprüht?"
 

Emi strahlte.

"Ja, ja, genau die! Witzig, ich habe bisher nicht viele Menschen getroffen, die sie auch kennen. Bei den meisten bedarf es genauerer Erklärung. Wie dem auch sei, als ich gestern nach der Arbeit zuhause war, musste ich nonstop an den Kerl denken. Können Sie sich das vorstellen? Ich hatte den gerade mal eine Viertelstunde meines Lebens in meiner Nähe gehabt und schon hatte er mich voll und ganz in seiner Gewalt. Als ich mich, wie ich im Bad saß, fragte, was genau an ihm mir denn so gefallen hatte, fand ich keine Antwort. Alles - und auch nichts, hätte sie wohl im besten Falle gelautet."
 

Nach einem weiteren Schluck beugte sie sich in geräumigen Ledersessel vor und zwinkerte Tatsurou verschwörerisch zu.
 

"Schon im Bad musste ich anfangen, mich selbst zu befriedigen. Es ging nicht anders. Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich wohl gestorben. So sehr wünschte ich mir, er wäre in dem Moment bei mir."
 

Geschockt zog der Sänger die Augenbrauen hoch. Er saß hier in einer Lounge, die sich immer mehr mit jungen, schönen, gut angezogenen Menschen füllte, mit einer Frau, die er gerade mal einen Tag kannte und die ihn wahrscheinlich um den Verstand bringen würde, und hörte sich an, wie sie vom Onanieren sprach. Wahnsinn. Surreal, denn etwas in ihm wollte noch immer nicht wahrhaben, dass er derjenige war, der...aber verdammt, es war geil!
 

"Letzte Nacht hatte ich drei Orgasmen! DREI! Gemessen an der Tatsache, dass ich es mit meinem Lieblingspartner auf grad mal zwei nacheinander gebracht hab und das auch nur einmal in den ganzen fünf Jahren, sind drei Orgasmen, die man ohne Partner durch pure Fantasie erlebt doch eigentlich...", hier machte sie eine Denkpause und suchte nach Worten, "...ganz außergewöhnlich, oder?!"
 

Tatsurou konnte nicht mehr als zustimmend nicken.

"Hören Sie, diese Geschichte klingt zu schön um wahr zu sein. Aber wenn es Sie beruhigt, ich bin letzte Nacht auch ein paar Mal gekommen."

Hier grinste er nur frech und jungenhaft und blinzelte.
 

Mit einem erlösten Lachen hob sie ihr Glas und prostete ihm zu. "Okay, dann denke ich, wäre es jetzt an der Zeit, dass wir zum Du übergehen und du mir Näheres zu deinen Fantasien und deren Ursache erzählst...".
 

* * *
 

"Und, wie lief's? Wie geht's Yumi?"

Am Seufzen ihrer Freundin konnte Chieko die Antwort schon erahnen, bevor sie kam.

"Ihr geht's gut. Aber sie wollte mich nicht sehen - auch nicht als Freundin."

"Das tut mir leid." Chieko wusste nicht recht, was sie sagen sollte, ergriff jedoch, als Akiko schwieg, doch wieder das Wort. "Ich hab sie falsch eingeschätzt, sorry. Ich dachte wirklich, sie würde sich trotzdem freuen, wenn du ihr gratulieren würdest. Aber jetzt, wie ich so drüber nachdenke, merke ich, wie dumm das war."

"Ach, vergiss es, ich hätte auch drauf kommen können, schließlich kenne ich Yumi schon ein paar Jahre. Es war völlig respektlos von mir, anzunehmen, dass sie mich sehen will. Mich, die blöde Schlampe, die ihr Kaoru ausgespannt hat."

Kyos Freundin am anderen Ende der Leitung suchte wieder nach geeigneten Worten, um zu widersprechen, als sie hörte, dass Akiko gar keinen Widerspruch hören wollte.

"Gib dir keine Mühe, es ist schon okay. Ich verdiene es, zu leiden."

Dies klang so bestimmt und endgültig, dass Chieko beschloss, nicht mehr weiter auf das Thema einzugehen.

"Aber dem Baby geht's gut? Hast du es gesehen?"

"Ja, Kaoru hat mir seine Aiko gezeigt. Er ist so stolz. Und sie ist ein ganz außergewöhnlich hübsches Kind. Wirklich. Ich glaube, sie wird Yumis Augen haben. Und vielleicht Kaorus Nase." Jetzt klang Akikos Stimme zärtlich, und Chieko wurde klar, wie lieb ihre Freundin die Tochter ihres neuen Liebhabers haben musste, jetzt schon, wo sie doch gerade erst auf die Welt gekommen war.

"Chieko, hast du dir je gewünscht, Kinder zu haben?"

"Nein, bisher nicht. Aber das kann ja noch kommen."

"Ich wünschte, Aiko wäre Kaorus und meine Tochter."

"Bist du sicher, dass es das ist, was du willst? Vielleicht ist es ganz gut so, dass du noch keine Kinder hast. Du fühlst dich doch nie wohl, wenn du an einem Ort sesshaft werden musst."

"Was hat sesshaft sein mit Kinder haben zu tun?"

"Ich weiß nicht, vielleicht bin ich altmodisch, aber...ich finde, wenn man eine Familie hat, sollte man bereit sein, seine Wünsche hinten anzustellen und nur noch für die Kinder da zu sein."

"Willst du damit sagen, ich wäre keine gute Mutter?" Akikos Stimme klang auf einmal bedrohlich ruhig.

"Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht solltest du mit dem Familie gründen warten, bis du beruflich das erreicht hast, was du willst. Ich denke, es ist ganz gut, dass du in Zukunft mit Kaoru zusammen auch mal für die Kleine sorgen kannst - es könnte dir helfen, herauszufinden, was du tatsächlich willst."

"Ja, vielleicht hast du recht. Sorry. Ich bin wirklich empfindlich im Moment."

"Musst dich nicht entschuldigen, ich versteh dich doch. Einen Mann zu teilen, ist nie einfach."

"Da sagst du was. Ich wünschte mir wirklich, ich hätte Kaoru für mich."

"Hast du doch eigentlich auch."

"Sollte man meinen. Aber Yumi ist die Mutter seiner Tochter, er war so lange mit ihr zusammen, so schnell kann er sie nicht vergessen."

"Klar, aber er hat sich für dich entschieden, oder?"

"Ja, schon. Aber warum fühle ich mich dann trotzdem so unsicher?"

"Weil dir klar ist, dass es nicht richtig war, Toshiya und Yumi dermaßen zu verletzen. Aber ihr könnt es nicht mehr ändern. Warum also weiter immer und immer wieder dran denken? Dass es euch beschäftigt, ist gut so. Vermutlich würde etwas mit euren Gewissen nicht stimmen, wenn's nicht so wär. Aber genießt doch nun einfach euer Zusammensein." Wer weiß, wie lange es hält , fügte die junge Frau in Gedanken an.

"Ja, das möchte ich ja auch. Nur war er heute den ganzen Tag beim Proben und jetzt ist er im Krankenhaus. Morgen und übermorgen wird's genau gleich sein - und danach ist er weg. Toll, oder?"

"Aber das war doch mit Toshiya auch so."

"Nein, Toshiya war nicht Vater geworden und er kam abends meistens nach Hause."

"Es wird Zeit, dass du wieder arbeitest - du bist ja schon ganz verbittert."

"Nächste Woche."

"Na siehste. Und für die Zeit bis dahin kannst du dich ja auch mal wieder mit deinen Freundinnen verabreden."

"Soll dies ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?" Akiko klang belustigt.

"Wohl eher einer mit nem Betonpfeiler. Was meinst du? Wir waren schon so lange nicht mehr zusammen weg. Wir können ja auch Yoshie fragen. Und Sachi. Und alle nehmen ihrerseits noch ein paar Leute mit."

"Klingt verlockend."

"Wenn uns unsere Kerle allein lassen, müssen wir uns halt selbst was einfallen lassen."

"Stimmt. Kannst mir ja dann sagen, wo und wann und so, ja?"

"Klar. Sag mal, fast hätt ich's vergessen, hast du Toshiya angerufen? Wegen seiner Großmutter, meine ich?"

"Nein, aber Kaoru hat heute Blumen in meinem Namen geschickt. Glaube kaum, dass Toshiya jetzt mit mir reden will."

"Ja, verständlich. Armer Kerl."

"Allerdings. Mein erster Impuls war, zu ihm nach Hause zu fahren und ihn zu trösten. Dann fiel mir ein, dass ich ja gar nicht mehr mit ihm zusammen bin. Ganz schön blöd, was?".

Chieko gab ein zustimmendes "Hmmm" von sich. "Irgendwie bestätigt sich damit einmal mehr die Theorie, dass, wenn denn schon mal was schief läuft, gleich alles schief läuft."

"Ich hoffe, dass sein Leben bald wieder besser wird. Sowas hat er nicht verdient."
 

* * *
 

Es war lange nach Mitternacht und er tigerte immer noch durch das Haus. Sein Zuhause. Hier war er aufgewachsen. Hier fühlte er sich sicher und geborgen. In allen Zimmern standen noch dieselben Möbel wie vor gut zehn Jahren, als er ausgezogen war. Ein paar neue Bilder Aquarellbilder hatte seine Mutter sich zugelegt und im Wohnzimmer hing eine nagelneue Gebetsrolle. Aber sonst hatte er noch nicht viel Neues entdeckt.
 

Zärtlich strich er im Vorbeigehen über die Kommode aus Kirschholz. Vor der Gebetsrolle brannten immer noch die Kerzen. Sie würden die ganze Nacht brennen.
 

Toshiya kniete sich vor den Schrein.
 

Die Zeremonie kam ihm schon so weit weg vor, dabei hatte sie vor gerade mal zwölf Stunden stattgefunden.
 

Es war so unwirklich, dass er Oma nie mehr wiedersehen würde.
 

Am späten Nachmittag, nachdem die Gäste gegangen und nur noch enge Familienmitglieder im Haus gewesen waren, hatte er sich mit seiner Mutter in die Küche zurückgezogen und dort mit ihr geweint. Hauptsächlich um die Verstorbene, aber auch um sich selbst. Und um sein verlorenes Glück mit Akiko.
 

Wie hatte er so viel Pech auf einmal verdient? Was hatte er falsch gemacht? Was wollte ihm das Schicksal damit sagen?
 

Mit Tränen in den Augen erhob er sich, verließ das Wohnzimmer und machte sich durch die dunklen Räume auf zurück in sein altes Zimmer. Auch hier war noch alles so, wie er es damals verlassen hatte. Er hatte seinen Eltern immer gesagt, sie könnten das Zimmer räumen und neu einrichten, er brauche es ja doch nicht mehr. Aber in dem Moment war er froh, sich in diese vertrauten vier Wände zurückziehen zu können, wo alles noch nach seiner Kindheit roch, selbst nach all den Jahren.
 

Im Gästezimmer eine Tür weiter, ratzte Inoue vor sich hin. Er konnte ihn durch die dünnen Wände hören. Ein Eindringling in dieser schönen, heilen Welt. Tommy hatte es sich nicht nehmen lassen, Toshiya den Manager als Aufpasser mitzuschicken. Es hätte ja sein können, dass der Bassist auf einmal gleich da blieb und die Tour platzen ließ. Haha.
 

Toshiya schüttelte den Kopf. Dass er die lange Zugfahrt nicht alleine hatte bestreiten müssen, war ihm nicht ungelegen gekommen, aber warum Inoue? Okay, er musste zugeben, die Reise war dann doch angenehmer gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Inoue hatte sich allergrößte Mühe gegeben, sich mit ihm zu unterhalten. Auf ihn einzugehen. Ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber woher konnte er wissen, ob das Interesse tatsächlich echt gewesen war oder nur ein weiteres Täuschungsmanöver?
 

War es nicht schrecklich, dass man sich, egal, mit wem aus dem Management oder der Crew man sich unterhielt, fragen musste, ob diese Person mit offenen Karten spielte oder nicht?
 

Toshiya schaltete das Licht ein und setzte sich auf den Futon.

Auf dem Tisch neben dem Fenster standen die Blumensträuße, die für ihn gekommen waren. Einer von der Band. Einer von Akiko.
 

Er vermisste sie so sehr. Sie hätte ihm die Trauer um seine Großmutter zwar nicht nehmen, aber doch wenigstens erleichtern können. Sie hätte an Inoues Stelle mit ihm hier sein sollen. Stattdessen lag wie wohl grad in Kaorus Bett.
 

Schnell stand Toshiya wieder auf, war in zwei großen Schritten beim Fenster, riss es auf und inhalierte tief die frische Luft, bevor sich noch mehr Hass und Groll in ihm breit machen konnten. Nach zehn Atemzügen war sein Kopf wieder leer. Er durfte nicht mehr an Akiko denken. Er musste vorwärts blicken und vergessen, was gewesen war.
 

Als er vom Fenster zurücktrat und die Flügel gerade wieder schloss, fiel sein Blick auf die Ecke zu seiner Linken. Dort stand sein alter Bass. Irgendwann hatte er ihn bei einem Besuch mit hierher genommen und gleich da gelassen, weil er sich ein neues Instrument zugelegt hatte.
 

Der junge Mann streckte den Arm aus und umfasste zärtlich, beinahe ehrfürchtig den schlanken Hals und hob den Bass aus der Halterung. Warum hatte er ihn nicht in eine Hülle gesteckt? Er war ganz staubig. Bestimmt würden die Saiten platzen, sobald er sie anschlug.
 

Vorsichtig wischte Toshiya den Staub weg, bis das Instrument wieder glänzte. Dabei entdeckte er an der Hinterseite des Halses etwas, woran er schon gar nicht mehr gedacht hatte.
 

You told me a lie and like killing me softly

Let me destroy all the reward to you!

Let me finish myself...

So, where am I going?!
 

Er hatte diesen Spruch vielleicht vor zwei Jahren geschrieben. Nach einer Auseinandersetzung, die die Band mit Tommy gehabt hatte. Umso mehr erschrak er sich nun, als ihm auffiel, wie gut die Worte auch zu seiner jetzigen Situation mit Akiko passten.
 

Where am I going?
 

Dies fragte er sich auch jetzt wieder - und fand keine Antwort.

Er wusste nur, dass es weitergehen würde. Irgendwie. Und dass der Schmerz weg sein würde. Irgendwann.
 

* * *
 

"Emi?!" Tatsurou trat beiseite und ließ seine neue Freundin eintreten. Es war fast Mitternacht, was sollte das? Verwirrt blickte er seinen Gast an.

Strahlend näherte sich die junge Frau, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und schwenkte ein A4-Blatt vor Tatsurous Nase hin und her.

"Was denkst du, was ich hier habe?"

Das Herz des Sängers tat einen Sprung. Jetzt schon? Er hatte erst in zwei Tagen mit dem Ergebnis gerechnet. Sofort wollte er ihr das Papier aus der Hand reisen, doch sie war schneller und versteckte es hinter ihrem Rücken.

"Was meinst du: Würde ich um die Zeit hier auftauchen, wenn ich schlechte Nachrichten hätte?"

Ganz verdattert schüttelte Tatsurou den Kopf und sah entgeistert zu, wie Emi das Blatt los ließ und anfing, ihren langen, roten Mantel aufzuknöpfen.

Was darunter zum Vorschein kam, sorgte dafür, dass der Sänger für drei Sekunden den Mund nicht zukriegte.

"Komm, zur Feier des Tages lasse ich deine Fantasien wahr werden...".
 

+ + +
 

Gedicht © Toshiya
 

Anmerkung: Ich bin nicht sicher, ob das Gedicht tatsächlich von Toshiya persönlich stammt. Viele behaupten dies, und bis vor kurzem habe ich es auch geglaubt, aber dann habe ich irgendwo gelesen, dass die Worte angeblich aus EVANGELION stammen. Vielleicht kann jemand Licht ins Dunkel bringen?

24. [Omega]

Nach ziemlich genau zweieinhalb Jahren des Schreibens nun das Finale. Glaubt mir, mir tut das noch viel mehr weh als euch...
 

+ + +
 

Frühjahr 2005
 

"Ich sag euch, sie haben uns geliebt!".

Daisuke strahlte übers ganze Gesicht und reichte mit stolzgeschwellter Brust Fotos und Zeitungsartikel herum.

Tatsurou, der gerade erst zu der illustren Runde gestoßen war, beugte sich verschwörerisch zu Gara rüber.

"Wie viel hat der Kleine schon intus?"

"Das ist es ja - noch gar nichts", erwiderte der Angesprochene gespielt hilflos. "Europa hat ihm nicht gut getan, er ist immer noch high..."

"Ich hab das gehört!", kam es entrüstet vom anderen Ende des Tisches.

Tatsurou und Gara lachten, und alle anderen stimmten mit ein.

"Fanliebe ist nun mal eine Droge". Kazu prostete allen zu und nippte an seinem Whiskey Sour.

Shizumi grinste nur schelmisch und hob sein Bier. "Prost!".

Hirosuke verdrehte die Augen. "Fuck, jetzt kommt die Deutschstunde...".

"Sag du bloß nichts - wer hat uns denn bitte letzten Herbst dauernd genervt, hm?", bemerkte Gara trocken und rückte gleichzeitig vorsichtshalber ein Stück vom groß gewachsenen, kräftigen Sänger weg.

"Ja, Kleiner, bring dich nur in Sicherheit, ich geb dir gleich aufs Maul!!!". Sprach's und donnerte die Faust auf den Tisch, dass all Gläser aneinander klirrten.

Das war zuviel für Tatsurou und Kazu; die beiden krümmten sich im wahrsten Sinne des Wortes vor Lachen, während Daisuke immer noch verzweifelt versuchte, Aufmerksamkeit zu heischen.

"Hey, ich sagte eben, ich sei in die Menge gesprungen und die hätten mich fallen lassen - danke für euer Mitgefühl!". Verletzt verschränkte der Kagerou-Sänger die Arme und schmollte.

"Soviel zum Thema 'Fanliebe'", ließ Tatsurou sich glucksend vernehmen und lachte weiter, als er Daisukes entrüstetes Gesicht sah.
 

So ging das eine ganze Weile, bis die jungen Männer sich ausgetobt hatten und ruhiger und ernster wurden.
 

"Dir en grey wollen nun also im Mai rüber, was?". Hirosuke blickte fragend um sich.

Vier der Anwesenden nickten betreten.

"Darf ich eurer Mitteilsamkeit entnehmen, dass sie sich tierisch drauf freuen?".

"Lass deine Scheiß-Ironie stecken!".

Fünf Augenpaare fixierten fragend den Kagerou-Sänger.

"Vorsicht, gleich gibt Puchi dir aufs Maul...". Gut gelaunt stieß Tatsurou Hirosuke an, während Daisuke die beiden finster musterte.

"Ihr habt ja keine Ahnung!".

Als die beiden weitergrinsten, brauste der so zierlich wirkende Sänger auf wie ein Schwert schwingender Racheengel. Gara packte den Arm seines Freundes gerade noch rechtzeitig, sonst hätte Daisuke sich womöglich auf Tatsurou und Hirosuke gestürzt.

"Hey, komm runter, sie meinen's doch gar nicht so."

Ratlose, fragende Blicke trafen auf Gara, welcher Kazu, der bereits aufgestanden war, mit einem kurzen Nicken zu bedeuten gab, er solle kurz mit Daisuke nach draußen gehen. Erst nachdem die beiden verschwunden waren, was nicht ganz so zügig vonstatten ging, weil der Sänger sich dagegen sträubte, beugte Tatsurou sich verwirrt vor.

"Was war das denn eben? Was ist los?"

Gara seufzte und zündete sich eine Zigarette an, wie so oft, wenn er nervös war.

"Der Einzige, der wirklich Bock auf diese Tour hat, ist Kaoru. Für die Anderen gilt: mitgehangen, mitgefangen. Sie haben gar keine andere Wahl. Daisuke hat bisher nur Kyos Sicht der Dinge gehört, und wir alle wissen, wie sehr er ihn vergöttert. Egal, was wirklich ist, zählen tut, was Kyo denkt."

"Und wie ist es wirklich?"

Hirosuke und Tatsurou warteten gespannt auf Antwort, Shizumi starrte abwesend vor sich hin und spielte mit den Ringen an seinen Fingern.

"Kyo auf Tour ist ein Scheusal. Angenervt, empfindlich, gereizt, nervös, frustriert - um nur ein paar Adjektive zu nennen."

An Tatsurous Gesichtsausdruck sah Gara, wie überrascht der Jüngere über seine Worte war. Normalerweise war er derjenige, der Kyo in Schutz nahm. Um ihm keine Gelegenheit für einen Einwurf zu geben, redete Gara schnell weiter.

"Dazu kommt noch seine Abneigung gegen Reisen im Allgemeinen. Ergo: Kyo auf Tour in Europa - ein Albtraum."

"Nun verrat mir, wie du zu diesen Erkenntnissen kommst. Nicht, dass ich dir widerspreche, im Gegenteil. Mich interessiert nur, was oder wer dir die Augen geöffnet hat."

Schlauer Tatsurou. Er ließ sich nicht austricksen. Gara errötete leicht, ertappt. Shizumi musterte ihn gespannt aus den Augenwinkeln, als hätte er schon lange auf diesen Moment gewartet.

"Ja, okay, vielleicht hab ich ihn die ganze Zeit idealisiert. Vermutlich tue ich es auch jetzt noch, aber wollt ihr es mir verübeln? Ich verdanke ihm so viel...".

Der Sänger von MUCC nickte verständnisvoll. "Es sagt keiner, dass du Kyo nicht mehr dafür lieben sollst, was er für dich getan hat. Ich hoffe sogar, dass dies nie aufhört, dass du ihn immer so respektierst und achtest. Aber mach nicht mehr den Fehler, ihm alles zu vergeben, über alles hinwegzusehen. Er muss begreifen, dass man ihm seine Marotten nicht mehr alle durchgehen lässt. Mein Gott, er ist ein erwachsener Mann. Und komm mir nicht mit seiner Vergangenheit und wie sehr er gelitten hat. Der weiß doch nicht mal, was wirkliches Leid ist! Wie zum Teufel würde er sich denn bitte verhalten, wenn er dasselbe durchgemacht hätte wie Miya?"

Ein Lächeln zauberte sich kurz auf Garas Lippen.

"Witzig, so ähnlich hat Die sich angehört."

"Die?" Tatsurou zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Seit wann redet der mit dir über Kyo?"

Schulterzucken. Erneutes Anstecken einer Zigarette.

"Es war einmalig. Nach dem Beautifool's sind wir gemeinsam zum CRAZE-Konzert gefahren. War ein schöner, aufschlussreicher Abend."

"So so...und was ist nun mit Daisuke?"

Schweigen. Dann ergriff zu aller Erstaunen Shizumi das Wort.

"Manchmal kommt es mir so vor, als ob er Kyo als Ventil seiner Selbst sieht. Als ob Kyo das, was Daisuke gerne ausdrücken würde, an seiner Stelle hervorbringt. Das geht über normale Idealisierung hinaus...".

"Und im Gegenzug dafür sieht Daisuke ihm alles nach, auch wenn er damit nicht einverstanden ist?" Hirosuke runzelte die Stirn.

Gara wechselte einen schnellen Blick mit dem Kagerou-Schlagzeuger, bevor er bejahend nickte.

"Muss anstrengend sein, diese Hass-Liebe. Habt ihr nicht Schiss, dass es eines Tages eskaliert? Dass Daisuke das alles zuviel wird?"

"Er erträgt mehr, als man denkt." Shizumis Stimme klang bissig.

"Schon klar. Aber meint bloß nicht, nur weil er noch lebt, könne er mit allem klarkommen, das auf ihn einstürzt."

Darauf schwieg Shizumis und sinnierte, vor sich hinstarrend, weiter.

Tatsurou räusperte sich. "Meint ihr, Kazu kommt da draußen klar mit ihm?"

"Wenn überhaupt jemand, dann Kazu." Der Schlagzeuger fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. "Es hat nicht vielleicht jemand ne Kippe für mich?"

Sofort war Gara zur Stelle und reichte ihm einer seiner langen, weißen Stängel. "Ich dachte, du hast aufgehört..."

"Ja, eigentlich schon. Aber jetzt grad brauch ich's." Der schlaksige junge Mann ließ sich Feuer geben und nahm ein paar tiefe Züge. "Daisuke hat euch noch nichts erzählt, was?"

Erstaunen.

"Was erzählt?"

"Wir sind einmal mehr so weit wie schon letztes Jahr..."

Bestürzung zeigte sich in Tatsurous und Garas Gesichtern, Hirosuke lehnte sich zurück und seufzte gedehnt.

"Warum...? Ich dachte, Europa sei so gut gelaufen...", brachte Gara verständnislos hervor.

"Wir wissen einfach nicht mehr, wohin. Und wie. Und überhaupt."

"Aber 'Rakushu' war ein so geniales Album - ihr müsst weitermachen!". Der Sänger von Merry blickte gehetzt in die Runde. "Sagt ihr beide doch auch was!".

Tatsurou räusperte sich und suchte nach den richtigen Worten. "Ich habe dies letztes Jahr zu Daisuke gesagt, diesmal sage ich es dir, Shizumi: Wenn ihr wirklich findet, ihr seiet am Ende, dann löst die Band auf. Es hat keinen Sinn, sich zu etwas zu zwingen und sich damit unglücklich zu machen."

"Na toll, wenn jeder einfach alles so hinschmeißen würde, der grad keinen Bock mehr hat...". Garas Stimme klang gefährlich leise.

"So meine ich das nicht - und das weißt du. Wir alle mussten schon mal darum kämpfen, dass es besser wird, und wir haben es geschafft. Was aber, wenn man nicht mehr weiß, wofür man eigentlich noch kämpfen soll? So ist es doch, oder, Shizumi?".

Trauriges Nicken.

"Ja, genau, so ist es. Wir stehen am Ende einer Sackgasse und alles, was wir scheinbar noch tun können, ist umdrehen und alles hinter uns lassen, was Neues anfangen."

"Das glaub ich einfach nicht!". Beinahe hätte der Sänger von Merry in seiner Aufgebrachtheit ein paar Gläser vom Tisch gefegt.

Ein paar der anderen Gäste und auch der Kellner, der gerade in ihrer Nähe servierte, starrten neugierig und auch etwas besorgt in ihre Richtung. Sofort wurde Gara leiser. "Das kann doch nicht wahr sein. Es ist doch grad wieder so gut gelaufen."

"Das ist kein Maßstab, Gara", meldete sich Hirosuke endlich zu Wort. "Grad von dir hätte ich erwartet, dass du das verstehst."

"Tut er doch auch. Er will nur nicht, dass Kagerou eine Entscheidung fällen, die sie dann doch irgendwann mal bereuen könnten", antwortete Tatsurou für seinen Freund.

"Wenn man bei allen Entscheidungen, die man trifft, daran denken würde, dass man sie später bereuen könnte, dürfte man gar nie einen Entschluss fassen."

Nach Hirosukes Worten wurde es still am Tisch.

Schließlich nickte Gara. "Ihr habt ja recht. Es ist nur...es tut mir so weh. Ich habe miterlebt, wie sehr Daisuke sich um diese Band bemüht hat, wie sehr er sie wollte. Ich habe ihn dabei unterstützt, ihn aufgebaut, als er dabei war, die Flinte ins Korn zu werfen, bevor es die Band überhaupt gab. Und jetzt, nach all den Jahren, jetzt, wo ihr ins Ausland geht und da richtig gut ankommt, jetzt, wo ihr gerade Major gegangen seid, wollt ihr alles hinschmeißen? Ich mache niemandem einen Vorwurf - ich möchte nur nicht, dass ihr dann aufhört, wo es vielleicht am Schönsten wird."

Shizumi wandte den Kopf ab. Er kämpfte mit den Tränen. Er wollte doch auch nicht, dass Kagerou sterben mussten, bevor es überhaupt richtig losging. Aber wer konnte ihnen denn garantieren, dass es tatsächlich so weitergehen würde? Wer konnte schon sagen, ob ihre nächste CD ein solcher Erfolg werden würde, wie ihre letzte? Auf einmal bereute er es, damit angefangen zu haben. Wäre es nach Daisuke gegangen, hätte er niemandem davon erzählen sollen. Wahrscheinlich war ihm sehr wohl bewusst gewesen, wie die anderen, vorallem Gara, reagieren würden.

Nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, blickte Shizumi den drei Anwesenden offen in die Augen.

"Vielleicht hätte ich es euch gar nicht sagen sollen. Daisuke meinte, er wolle Stillschweigen bewahren, bis wir uns etwas genauer drüber im Klaren sind, was wir eigentlich wollen. Könnt ihr also bitte vergessen, was ich euch grad gesagt hab?"

Gara öffnete sofort dem Mund, um etwas einzuwerfen, aber Tatsurou kam ihm zuvor. "Klar, das bleibt unter uns".

"Aber...". Gara sah ihn hilflos an.

"Vergiss es - das ist nicht unsere Sache. Wenn Daisuke damit zu uns kommt, sagen wir ihm unsere Meinung. Ansonsten...müssen wir alles so nehmen, wie's kommt."

"Und jetzt sollten wir schnurstracks das Thema wechseln, sie kommen zurück", bemerkte Hirosuke, der eben Kazu und Daisuke zur Tür hatte reinkommen sehen.
 

Sofort bemühten sich alle am Tisch, unbeteiligte, unwissende Gesichter zu machen. Falls Daisuke den Verdacht hegte, dass Shizumi irgendwelche Andeutungen gemacht hatte, ließ er es sich nicht anmerken, und setzte sich hin, als sei nichts gewesen. Entweder rechnete er tatsächlich nicht damit oder aber es war ihm egal.

Shizumi tippte auf das Erstere - und hoffte insgeheim, Kyo würde dafür sorgen, dass Daisuke keine voreilige Entscheidung traf.
 

* * *
 

Zärtlich und vorsichtig zugleich strich sie ihrem Freund über die Schulter und fuhr ihm, als er sich nicht abwandte, durch die wirren Haare. Seit Tagen schon bemühte sie sich darum, die Mauer, die er einmal mehr um sich herum aufgebaut hatte, einzureißen. So nah wie jetzt hatte er sie schon eine Weile nicht mehr an sich rangelassen. Naja, natürlich abgesehen von den Nächten, in welchen er ins Bett geschwankt kam, müde von einem langen Tag im Proberaum, und doch noch Sex wollte, weil er nur noch damit wirklich Dampf ablassen konnte.
 

Jede andere Frau hätte ihn wohl schon längst sitzen gelassen, und auch sie hatte sich schon öfter überlegt, ob es ihm überhaupt auffallen würde, wenn sie eines abends nicht mehr da wäre und an ihrer Statt eine Gummipuppe im Bett läge. Aber nein, das konnte sie ihm nicht antun. Nicht ihm. Irgendwann, wenn es ihm besser ging, wenn er weniger gestresst war, würde sie ihm sagen, wie sehr er sie mit seinem Verhalten verletzte, aber nicht jetzt. Im Moment hatte er genug damit zu tun, sich selbst zu schützen, bei all den Verpflichtungen und Aufgaben, die auf ihn einstürzten.
 

"Sag mal, hättest du Lust, mitzukommen?" Die Frage kam völlig unerwartet.

"Was? Wohin?"

"Na, nach Europa. Die nimmt Yoshie mit, Shinya Akemi vielleicht auch. Da dachte ich...naja, du wolltest doch schon lange mal nach Europa, oder?"

Chieko brauchte zwei Sekunden, um sich zu fassen. Kyo wollte sie auf der Tour mit dabei haben? Unglaublich.

"Ist das dein Ernst?"

Der Sänger errötete leicht. Es war ihm auf einmal unangenehm, dass er gefragt hatte. Er war nicht gut darin, einer Frau zu zeigen, wie sehr er sie liebte, es war ihm peinlich, es machte ihn schwach - und genau genommen kam diese Einladung einem Liebesbeweis gleich, wie er ihn schon lange nicht mehr ausgesprochen hatte. Viel zu lange. Es war an der Zeit, dass er Chieko endlich zeigte, wie viel sie ihm tatsächlich bedeutete. Aber auch wenn er wusste, dass sie ihn nie verletzen würde, hatte er doch Angst, sie wissen zu lassen, dass er sie so gerne hatte, dass sie ihn tatsächlich würde verletzen können, wenn sie denn wollte.

Himmel, was war er bloß für ein seelischer Krüppel. Es konnte doch nicht sein, dass es allen, die verliebt waren, so ging wie ihm. Wo käme die Welt denn dann hin?

"Kyo, bist du dir sicher?" Chieko hatte sich neben ihm niedergelassen und sah ihn von der Seite an.

Immer noch peinlich berührt nickte er schließlich. "Ja, es würde mich sehr freuen. Nicht, dass du das jetzt falsch verstehst, aber...ich brauche jemanden, dem ich vertrauen, eine Person, bei der ich Kraft tanken kann. Das klingt schrecklich egoistisch, oder?!".

Bestimmt schüttelte die junge Frau den Kopf, bemüht, ihrem Partner nicht vor Rührung um den Hals zu fallen.

"Ganz und gar nicht. Ich weiß schon, wie du das meinst. Wenn ich dir tatsächlich eine so große Hilfe und Stütze bin, komme ich sehr gerne mit."

"Danke." Nur dieses eine Wort.

Chieko kuschelte sich näher an Kyo ran und wartete, bis er die voll gekritzelten Blätter wegräumte und den Arm um sie legte.

"Sag mal, freust du dich überhaupt? Wenigstens ein kleines bisschen?"

Der junge Mann dachte nach und antwortete schließlich:

"Ich bin stolz, dass wir es endlich nach Europa schaffen, nach so vielen Jahren. Und ich freue mich darauf, zu sehen, wie die Fans da drüben auf uns reagieren, wie sie drauf sind. Aber es wird stressig. Ich werde mich vielleicht noch übler fühlen, als ich es damals auf der Asien-Tour getan habe. Das macht mir Angst. Angst ist sowieso allgegenwärtig dieser Tage. Auch wenn ich weiß, dass wir das Schlimmste überstanden haben, denke ich daran, wie es vor einem Jahr war, und es schnürt mir den Atem ab."

Chieko atmete nur ruhig an seiner Seite und wartete darauf, dass er weiterredete. So lange hatten sie in der ganzen letzten Woche nicht miteinander gesprochen.

"Sag mal, hast du Akiko noch gesehen?"

"Ja, gestern." Die Erwähnung des Namens ihrer Freundin gab ihr einen Stich ins Herz. "Sie wirkte so gelöst wie schon lange nicht mehr. Ich denke, es ist gut, dass sie geht." Für uns alle , fügte sie in Gedanken hinzu.

Kyo nickte. "Ja, vielleicht. Aber Kaoru nimmt es ganz schön mit...".

"Geschieht ihm recht!", erwiderte die junge Frau bestimmt und setzte sich bequemer hin, ohne sich aus der Umarmung zu lösen.

"Wohl wahr...".

"Du hast doch nicht etwa Mitleid mit ihm?!"

"Was?! Nein, natürlich nicht! Aber das Timing für ihre Abreise ist denkbar schlecht - ich habe echt keinen Bock, die verbleibenden Wochen mit einem grantigen Kaoru zu verbringen, der alle Welt zum Teufel wünscht."

"So wie ich ihn kenne, wird er sich nichts anmerken lassen, dazu ist er zu sehr Profi."

"Und zu kalt."

"Gut, dass du das gesagt hast." Chieko grinste. Kyos Meinung über Kaoru hatte sich im vergangenen Jahr wenig geändert, aber auch er wusste, dass alle Bandmitglieder ihre persönlichen Differenzen und Streitigkeiten hinter sich lassen mussten, wollten sie in Europa Erfolg haben. Das war ihre große Chance. Und auch, wenn Kaoru und Tommy eigentlich die einzigen waren, die sich diese Chance herbeigewünscht hatten, waren er und die anderen doch zu sehr mit drin, zu vernarrt in diese Band, die schon seit acht Jahren Teil ihres Lebens war, um die Reise platzen zu lassen. Es gab Dinge, gegen die konnte man nichts tun, egal, ob man wollte oder nicht. Dem Sänger wäre es egal gewesen, auch weiterhin nur in Japan unterwegs zu sein, aber was konnten sie hier noch erreichen? Die Möglichkeiten waren ausgeschlachtet und mittlerweile gehörten sie schon zum alten Eisen, so frustrierend es auch klang. Es musste etwas Neues her. Neue Inputs, neue Ziele, neue Gründe, die Band weiterzuführen.
 

Bei diesem Gedanken kam ihm Daisuke in den Sinn.

Was, wenn all dieses Neue trotzdem nicht zum Weitermachen reichte? Kagerou waren drüben gewesen, sie hatten Erfolg gehabt - und trotzdem waren sie wieder in ein tiefes Loch gefallen.

Welche Faktoren entschieden darüber, wie weit eine Band zu gehen bereit war, wie lange sie existierte? Was musste geschehen, damit man, nach vielen gemeinsamen Jahren, zum Schluss kam, dass es keinen Sinn mehr machte? Und warum dachten Kagerou, die nach außen so zufrieden wirkten, nun schon zum zweiten Mal über eine Trennung nach, während sie, Dir en grey, trotz allem noch nie so weit unten gewesen waren?

Lag es daran, dass Kagerou doch noch nicht so tief in der Scheiße drinsteckten wie sie? Dass sie wussten, sie würden sich absetzen können, Verträge hin oder her? Während Dir en grey diese Chance nie hatten und auch nie haben würden?
 

Mit einem Mal grinste Kyo. Er war mitunter ein Grund dafür, dass Kagerou noch immer "frei" waren, wenn man das so bezeichnen konnte. Solange Tommy wusste, dass er Kyo hatte, waren ihm alle anderen egal. Solange Kyo spurte, war der Manager bereit, nachgiebig zu sein und diejenigen zu verschonen, die dem Sänger am Herzen lagen. Sie erpressten sich gegenseitig, so was es schon immer gewesen, aber es lief ganz gut.
 

"Was grinst du so?"

Chiekos Stimme unterbrach seine Gedanken.

"Oh...ich hab mir nur grad selbst dafür gratuliert, dass Tommy Kagerou nicht vereinnahmen konnte und es auch nicht können wird."

Seine Freundin zog fragend die Augenbrauen hoch.

"Hab ich was verpasst?"

"Die Jungs haben mal wieder nen Hänger - du weißt schon, wie letztes Jahr. Und es schaut so aus, als müsste ich Zünglein an der Waage spielen. Einerseits möchte ich, dass Kagerou sich noch weiter entfalten, andererseits möchte ich ihnen auch so einiges ersparen, was noch auf sie zukommen könnte."

"Vielleicht solltest du gar nicht zuviel sagen, sondern sie ganz alleine entscheiden lassen? Es ist ihre Sache. Und Daisuke weiß, worauf er sich eingelassen hat und wie es weitergehen könnte, du hast ihm ja nie was verschwiegen."

"Trotzdem möchte ich nicht, dass er voreilig entscheidet und dies später bereut."

Chieko schwieg.

"Ich denke, egal, wie die Vier sich entscheiden, es wird gut werden."

"Das klingt so trivial."

"Lass mich, ich glaube nun mal an Schicksal."

"Was? Dass egal, was wir im Leben tun, es keine Rolle spielt, weil es genau so sein musste?"

"Genau."

Kyo schüttelte den Kopf. "Dann frag ich mich, womit ich so ein Scheiß-Leben verdient hab."

Die junge Frau neben ihm fuhr empört auf. "Nun hör aber auf - so verkackt ist es nun auch nicht. Du solltest nur endlich aufhören, dich laufend selbst zu bemitleiden."

Schon erwartete sie, dass ihr Freund gleich aufbrausen würde, doch erstaunlicherweise beherrschte er sich.

"Ja, vielleicht. Eigentlich geht's mir ja gut - ich kann meine kranken Gedanken unter die Leute bringen, und sie verehren mich auch noch dafür. Und dann hab ich eine so tolle Frau an meiner Seite, die mir meine Eigenheiten seltsamerweise auch immer wieder verzeiht."

Nun musste Chieko lachen, fiel über Kyo her und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

"Selbstverliebter Spinner!".

"Was denn nun? Soll ich aufhören, mich zu bemitleiden, oder soll ich meinen neu erwachten Narzissmus gleich wieder an den Nagel hängen?" Der Sänger kicherte und versuchte, seine Freundin abzuwehren. Diese verlor nach weiterem Gerangel die Oberhand und gab sich schließlich geschlagen, indem sie zuließ, dass Kyo sich auf ihren Bauch setzte. Instinktiv spannte sie die Bauchmuskeln an und staunte einmal mehr, wie leicht ihr Freund war. So klein und schmächtig und doch so mächtig. Manchmal, wenn sie nachts aufwachte, setzte sie sich auf und betrachtete im roten, schummrigen Licht der mondförmigen Lampe den ruhig schlafenden Körper neben sich. So genau musterte sie das jungenhafte Gesicht, dass es sich, wenn sie sich wieder hingelegt und die Augen geschlossen hatte, hinter ihren Lidern manifestierte und sie in den Schlaf begleitete.

Chieko öffnete einladend die Lippen und genoss den folgenden Kuss.

Kyo neigte sich immer tiefer, stützte sich schließlich auf die Ellenbogen, kam sachte auf Chieko zu liegen und löste seine Lippen von den ihren, bevor er sich von ihr runterrollte.

Ein paar Sekunden lagen die beiden nebeneinander, schweigend, und lauschten gegenseitig den Atemzügen, die immer ruhiger wurden.

"Du sollst einfach alles positiver sehen und dich an kleinen Dingen freuen. Ich musste das auch mal lernen, aber mittlerweile hab ich's ganz gut drauf, find ich. Du musst dich nicht für mich verstellen, aber ich werde mich bemühen, dein liebenswertes, lebensbejahendes Wesen anstelle des grantigen, mit sich hadernden aus dir rauszukitzeln."

Kyo brummte zustimmend. Dem hatte er nichts entgegenzusetzen. Früher hätte er sich vehement gewehrt, hätte eine Frau solche Worte an ihn gerichtet. Doch Chieko war anders. Bei ihr durfte er schwach sein, ohne dabei das Gefühl zu haben, sich eine Blöße zu geben. Es war ihm egal, wenn sie auch mal die Zügel in die Hand nahm und ihn führte, denn es lag nichts Besitzergreifendes oder Herrschendes in ihrem Tun. Im Gegenteil: Sie übernahm immer genau dann die Kontrolle, wenn er nicht mehr dazu fähig war, wenn er sich danach sehnte, keine Entscheidungen mehr treffen zu müssen.

Vermutlich war es die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihm Gutes tat, ohne dass er sie je auch nur darum bitten musste, die er an Chieko so liebte. Hatte er sich nicht immer eine solche Frau gewünscht?

Nach einem Jahr Beziehung konnte man wahrlich noch nicht zuviel erwarten, doch für ihn war das doch schon eine gewaltige Leistung, zumal er sich in den letzten Jahren mit dem Verlieben so schwer getan hatte. Chieko hatte ihm bewiesen, dass es sich lohnte, sein Herz nicht aus Gram und Frust zu verschließen. Dass es nicht half, Erinnerungen präsent zu halten, die nur wehtaten. Schlechte Erfahrungen und Tiefschläge gehörten zum Leben. Auch wenn man ihren Sinn oft erst Jahre später erkannte, war es doch so, dass sie Sinn ergaben und man mit einem Mal verstand, dass es genau so hatte sein müssen, damit man schließlich da ankam, wo man hingehörte.

Ob er tatsächlich an Chiekos Seite gehörte und wie lange das Glück halten würde, konnte er nicht abschätzen, aber er bemühte sich, sich ihre Worte zu Herzen zu nehmen: "Genießen wir einander, so lange wir können. Wenn es nicht klappen sollte, können wir wenigstens auf eine schöne gemeinsame Zeit zurückblicken."

Kyo hoffte nur, dass das Ende, falls es denn käme, nicht so furchtbar werden würde wie damals.

Unwillig rügte er sich innerlich für diesen Gedanken. Nicht daran denken. Vorbei ist vorbei. Sie hat keine Macht mehr über dich , das hatte Chieko ihm besänftigend ins Ohr geflüstert, als er eines Nachts aus einem wirren Traum aufgewacht war und sich kaum mehr hatte beruhigen können. Das war vor einem guten halben Jahr gewesen. Aber erst jetzt begab er sich endgültig auf den Weg, diesen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es brauchte halt doch alles seine Zeit.

"Die Wolken lichten sich", brachte der Sänger mit belegter Stimme hervor.

"Ich sehe schon die Sonne durchblinzeln - komm, ich blase den Rest weg."
 

Ein glückliches, erlöstes Lächeln zierte Chiekos hübsches Gesicht, als Kyos Finger nach ihrer Hand tasteten und diese umschlossen. Sie hatten den Kampf gegen seine Dämonen gewonnen - und sie würde ihm auch weiterhin beiseite stehen, so lange er es wünschte.
 

Be the one I need

Be the one I trust most

Don't stop inspiring me

Sometimes it's hard to keep on running

We work so much to keep it going

Don't make me want to give up
 

Running, running

As fast as we can

Do you think we'll make it?
 

We're running

Keep holding my hand

It's so we don't get separated...
 

* * *
 

"Lust auf ein Bier?"

Die vertraute Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenfahren.

"Toshiya?"

Kaoru, vom Donner gerührt, machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Er war hin- und hergerissen. Verdammt, das war sein Abschied. Was fiel Toshiya ein, ihn zu stören? Am liebsten hätte er den Bassisten stehen lassen und wäre seine eigenen Wege gegangen. Was sollte das überhaupt? Sie hatten seit über einem Jahr kein persönliches Gespräch mehr geführt. Auch während Bandsitzungen hatten sie nur das Nötigste ausgetauscht.

Und nun tauchte der Kerl hier auf und wagte es, ihn in seinem Abschiedsschmerz zu stören?!
 

Das vergangene Jahr war eines der intensivsten seines Lebens gewesen. Eine Berg- und Talfahrt der Gefühle.

Himmlisches Glück und Geborgenheit an Akikos Seite, jeder gemeinsame Tag ein Traum, jede Nacht ein Abenteuer.

Aikos Geburt - ein vollkommener Höhepunkt. So zufrieden und stolz hatte er sich noch nie zuvor gefühlt, auch wenn es in seinem Leben nicht an Ereignissen gemangelt hatte, die ähnliche Gefühle in ihm ausgelöst hatten. Die Geburt seiner Tochter jedoch hatte alles bisher da gewesene übertroffen. So viel Liebe wie für Aiko hatte er noch nie für ein menschliches Wesen empfunden - obschon er immer gedacht hatte, dass die Liebe, die er Yumi und später Akiko entgegen gebracht hatte, die wahre Liebe gewesen sei. Weit gefehlt. Reine, pure, ursprüngliche Liebe - die schenkte sein Herz nur seiner kleinen Tochter. Auch jetzt, hier, in der regen, geschäftigen Betriebsamkeit der Naritaer Abflughalle, tat sein Herz einen freudigen Sprung, als er an Aiko dachte.

Ihr verdankte er es wohl auch, dass er das vergangene Jahr unbeschadet überstanden und sich nichts angetan hatte. Nicht, dass er zu Depressionen neigte oder selbstmordgefährdet gewesen wäre, aber dennoch - so, wie das letzte Jahr für Dir en grey gelaufen war, hatte er sich oft gewünscht, mit allem Schluss zu machen.

Er hatte tatsächlich nur für Aiko und Akiko durchgehalten.
 

Während seine Tochter jedoch weiterhin sein Leben beglücken würde und auch Yumi und er sich dank ihr wieder näher gekommen waren, war seine Freundin dem Ruf der Ferne gefolgt und saß im Flieger nach Großbritannien, der soeben abgehoben hatte. Kaoru hätte es nie für möglich gehalten, dass Akiko ihm eines Tages einen Modellvertrag in London vorziehen würde - aber genauso war es gekommen. Vor nur zwei Wochen hatte sie ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hatte es nicht für nötig befunden, sich mit ihm abzusprechen oder gar seine Meinung zu hören. Nein, sie hatte ihre Entscheidung im Alleingang gefällt - ohne jegliche Rücksicht auf ihn.
 

Mit einem Mal fiel ihm die Angst ein, die ihn befallen hatte, nachdem er sich von Yumi getrennt hatte. Die Angst, vielleicht beide verloren zu haben, Yumi und Akiko. Damals, als er mit Bangen Akikos Nachricht erwartet hatte. Damals...
 

Er und Akiko hatten Yumi und Toshiya die Herzen gebrochen, ihr Vertrauen zerstört. Genauso rücksichtslos wie Akiko ihm nun den Rücken zugekehrt hatte, um ihr berufliches Glück in Europa zu finden.
 

Er hatte sie angefleht, alles nochmal zu überdenken. Es gab doch bestimmt eine Lösung. Beziehungen auf Distanz gab es Abertausende, sie mussten sich doch nicht gleich trennen, nur weil sie nicht mehr in Japan wohnte.

Akiko aber war hart geblieben. Entweder eine richtige Beziehung oder gar keine. Wie stelle er sich das denn vor? Sollte sie ihn zweimal pro Monat in Tokyo besuchen? Hatte er Zeit und das Geld, mehrmals im Jahr nach Europa zu fliegen?
 

Ja, das war Akiko - realistisch, direkt und egoistisch.
 

"Was ist jetzt mit dem Bier?"
 

Toshiya holte ihn in die Gegenwart zurück.

Immer noch zögernd nickte Kaoru und schloss sich, mit einem letzten Blick aus dem großen Fenster auf die im Minutentakt in die Wolken steigenden Flugzeuge, dem Bassisten an, der bestimmten Schrittes den Weg durch die vielen Menschen frei machte.
 

Erst als sie sich beide in einem der kleinen Cafés einen Ecktisch gesichert und zwei Asahi Dry bestellt hatten, fand der Gitarrist seine Stimme wieder.
 

"Es muss dir Genugtuung verschaffen, mich so zu sehen, was?!".

Zerknirscht blickte er sein Gegenüber an und trank ein paar Schlucke.

Toshiya schüttelte nur ergeben den Kopf und verzog abschätzig den Mund.

"Du hast noch immer nichts kapiert, ne? Meinst du, ich wäre hier, wenn mir das alles am Arsch vorbei ginge?"

"Wer weiß, vielleicht konntest du erst jetzt mit ihr abschließen, wo sie wirklich weg ist."

Der Bassist fuhr zusammen. Da hatte Kaoru wohl recht, er fühlte sich jetzt, da Akiko endgültig aus seinem Leben verschwunden war, auf einmal viel leichter. Dennoch, wenn der Gitarrist meinte, er sei hier, um sich an seiner Qual zu ergötzen, tat er ihm Unrecht.

"Richtig, ich habe tatsächlich erst vor einer Viertelstunde endgültig mit ihr abgeschlossen. Aber was stört dich das? Weißt du, gerade weil ich weiß, wie es ist, Abschied zu nehmen, kann ich mir in etwa vorstellen, wie dir gerade zumute ist. Vor einem Jahr hätte ich dich am liebsten zum Teufel gejagt, aber so, wie die Dinge jetzt liegen, muss ich gestehen, dass du mir leid tust. Ich hatte ein ganzes Jahr Zeit, die Trennung zu verarbeiten - dir hat sie gerade mal zwei Wochen Zeit gelassen, dich darauf einzustellen."

Kaoru horchte auf. Er tat Toshiya leid? Nach allem, was geschehen war? Machte der Bassist ihm ein Friedensangebot?

Ergriffen klaubte der Gitarrist eine Zigarette aus dem schon ziemlich zerknüllten Päckchen und steckte sie an.

"Soll das heißen...du kannst mir verzeihen?"

Toshiya hätte ob der mit schüchterner Stimme hervor gebrachten Frage am liebsten laut rausgelacht, doch er hielt sich zurück und blieb ernst.

"Ja, mittlerweile kann ich das. Vergessen werde ich es wohl nie können, aber wir beide haben schon so viel zusammen durchgemacht, unsere ganze Band hat das - und mit dem, was dieses Jahr auf uns wartet, sollten wir wohl alle versuchen, uns wieder zusammenzurotten. Der Band, aber auch unserer Selbst willen."

Ungläubig horchte Kaoru den Worten seines Bandkollegen. Hatte Toshiya das gerade gesagt? Saß er tatsächlich mit dem Bassisten hier oder befand er sich in einem wunderbaren Traum, aus dem er gleich erwachen würde?

"Toshiya, das ist mehr, als ich je zu hoffen gewagt habe, ich...". Kaoru suchte hilflos nach den richtigen Worten, doch Toshiya lächelte verstehend und leerte sein Glas in großen Schlucken.

"Erspar's dir, du musst nichts sagen."

Und da hatte der Bassist recht. Sie kannten sich so gut, sie kamen ohne Worte aus. Dies war heute noch genau so wie früher.
 

Mit 15 schrieben wir noch Parolen an die Wand

Die keiner von uns so ganz genau verstand

Wir waren mit 20 klar dagegen

Egal, was es grad war

Hauptsache zusammen und mit dem Kopf durch die Wand
 

Das Leben kam oft anders und selten wie gedacht

Doch wir haben all die Kompromisse nie mit uns gemacht

Wir würden für einander lügen

Notfalls auch vor Gott

Wir haben nie darüber geredet, doch wir halten unser Wort
 

Alles, weil wir Freunde sind

Weil wir Freunde sind
 

Manche sind gestorben, andere gingen weg

Doch wir haben einfach alles überlebt

Wir sind anders als die Andern

Auch wenn's keine Andern gibt

Wir schwören uns immer wieder

Dass das Beste vor uns liegt

Die Jahre ließen Spuren

Man kann sie deutlich sehn

Wir würden uns das so nie sagen

Weil wir Freunde sind
 

Wir streiten uns

Vertragen uns

Weil wir noch Freunde sind

Wir sind immer da

Auch ohne Grund

Weil wir noch Freunde sind
 

Und wieder ist ein Jahr vorüber

Und wieder ist mein Bierglas leer

Und wieder ein paar Falten und auch ne Tätowierung mehr

Irgendeine Liebe

War's irgendwann mal wert

Werden wir uns jemals ändern?
 

Wenn wir verlieren, bauen wir uns auf

Alles, weil wir Freunde sind

Der Rest der Welt, wir scheißen drauf

Alles, weil wir Freunde sind

Wir bleiben

Wir siegen

Weil wir noch Freunde sind

Nichts wird uns tot kriegen

Weil wir Freunde sind...
 

"Komm Kaoru, wir haben die Welt zu erobern...".
 

+ + +
 

[Lyrics 1: "Running" © No Doubt]
 

[Lyrics 2: "Freunde" © Die Toten Hosen]
 

Bin ich nicht gut? Die erste Fanfic überhaupt, die ich zu Ende bringe. Erfüllt mich mit Stolz, ich gebe es zu.
 

Mir ist klar, dass es Handlungsstränge gibt, dich ich aufgegriffen, aber nicht weiter verfolgt habe - und das aus gutem Grund. Erstens schätze ich Offenes. Man sollte als Leser immer die Möglichkeit haben, sich gewisse Dinge selbst auszumalen und zu einem eigenen Schluss zu kommen. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass ich weiter schreibe. Wohl keine so lange Geschichte am Stück mehr (das wurde mir auf Dauer zu stressig, der Druck war zeitweise riesengroß), aber eventuell eine Serie von Kurzgeschichten mit denselben Charakteren. Wahrscheinlich werde ich mich auch mal im Schreiben von Originalgeschichten versuchen, denn eigentlich grenzt es beinahe an Respektlosigkeit und Frechheit, sich all dieser real existierenden Personen gefügig zu machen und ihre Leben zu verschandeln, ihnen Charaktereigenschaften aufzuzwingen, die so gar nicht vorhanden sind.
 

Ich werde sehen. Jetzt gönne ich mir auf jeden Fall eine Auszeit vom Schreiben, bis die Muse mich wieder küsst.
 

Danke euch allen fürs Lesen und für eure Kommentare. Danke, dass ihr mich während der letzten zweieinhalb Jahre mittels dieser Geschichte begleitet habt. Es war eine schöne Zeit. Es ist viel passiert. Seien wir gespannt auf das, was noch kommen mag. Und möge das sanfte Licht des roten Mondes euch auch weiterhin leuchten.
 

~ eury ~



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Von: abgemeldet
2006-02-04T22:31:09+00:00 04.02.2006 23:31
ich kann mich mit allem mad marble anschließen. plus den aussagen die ich vorher getroffen habe und noch vieles mehr....
auf deine aussage hin, es würden nur noch drei kapitel bis zum
finale sein...nun, da musste ich mich ersteinmal sammeln- diese geschichte habe ich schon so lange mitverfolgt, oder vielmehr hat sie mich begleitet, alsdas ich es einfach als gegeben ansehen kann, dass es bald vorbei ist.
nun gut...ich harre der dinge, doch freue (?) ich mich
auf das ende, das garantiert ein zweischneidiges schwert sein wird.
das dir en grey schon viele kriesen gemeistert haben, gezwungenermaßen sicherlich, ist bekannt. auch dass sie im moment in einem zweispalt bezüglich ihres fortbestehens stecken ist klar...doch wenn man bedenkt dass es nur all zu menschliche dinge sind, die etwas großartiges so nichtig erscheinen lassen...dann wird man regelrecht wütend und ist enttäuscht das die realität einen nun selbst dort einholt...

alles liebe und danke
jasmin
Von: abgemeldet
2006-02-04T12:56:28+00:00 04.02.2006 13:56
es ist seltsam erst jetzt einen comment zu schreiben, so kurz vor dem ende.
ich muss mich meist dazu überwinden überhaupt etwas zu schreiben.

diese geschichte ist eine der genialsten, die ich je in diesem hoffnungslos 'verdummten' animexx gelesen habe. wie du schreibst, dich ausdrückst, ist einfach... berührend. man kann sich alles genau vorstellen, man fühlt mit, man könnte heulen.

ich würde mich freuen, wenn du nach beendigung dieser wunderbaren story noch viele weitere werke von dir erscheinen lassen würdest.
Von: abgemeldet
2006-02-04T12:32:32+00:00 04.02.2006 13:32
wow... vV nur noch 3 kapitel
z. Z. bist du ja richtig schreibfreudig :)
schade um dir en grey und tatsurou vv gott ich könnt mir vorstellen das die geschichte mit diru wirklichkeit werden würde. und es diese band bald nicht mehr gibt. am besten ist es manche bands würden nie bekannt werden vV
thx fürs schreiben
Von: abgemeldet
2006-01-28T12:13:38+00:00 28.01.2006 13:13
T---T T___T *schnüff*
das war mal wieder ein trauriges .___.
schreib schnell weiter, jaah *_* und thx fürs weiterschreiben ^^
ich bin jetzt mal gespannt was aus dir en grey wird.. und aus aiko... armes patt patt vV
wenn ich so einen wie kaoru begenen würde dann hätt ich den schon längst auf den mond geschossen vor wut <<
*animexx in arsch tret <<* *3. versuch eines comments* <<
bye bye ^.^
*weiter schnüff*
Von: abgemeldet
2006-01-27T21:25:40+00:00 27.01.2006 22:25
and once again you've made me cry
too much to bear,i'll say goodbye

remember what i used to say
all good things fade, just fade away...


dennoch muss man loslassen, neue wege einschlagen und vergangenheit, vergangenheit sein lassen...
großartig.
und nicht nur für tatsurou werden das schlimme, ungewisse drei monate, schon im letzten kapitel habe ich mir wortwörtlich gedacht "oh nein... die bösen drei buchstaben lauern doch förmlich in dem moderigen bett des leichten mädchens..."
männer.- genau wie kaoru
männer.- auch wenn sie es unter dem deckmantel des berühmten "es ist für alle das beste" tarnen, bleibt es dennoch egoismus.
und ich denke er hat im verlauf der geschichte scgenug egoismus an den tag geleget, zu viel um noch gerechtfertigt zu sein.
was aus dir en grey jetzt wird? eigentlich zweitrangig, denn was ich als am traurigsten empfinde ist der gedanke das ungeborene aiko.
kind der liebe...pah.
nennt es lieber maboroshi- vision/illusion.....
Von: abgemeldet
2006-01-27T08:13:19+00:00 27.01.2006 09:13
T_________T
Wah.... wie traurig.... das Kapitel is... *keine Worte find*
Mou~ das darf alles nich wahr sein>_<
Yumi und Kaoru... Akiko und Toshiya...
Und dazu auch noch das mit Tatsu... autsch..
*schnief*
Aber trotzdem großartig geschrieben..*noddu*

*piek*
Schnell weiter... ich will wissen wies weitergeht XD
Von: abgemeldet
2006-01-10T11:05:28+00:00 10.01.2006 12:05
hui das haut nei ...
also auf sowas wäre ich nicht gekommen... vielleicht ... das yumi ihr kind verliert oder das irgendwas mit die ist... oder ka.. aber sowas oÓ
wow ...
ein schönes kapitel... wirklich...
ich hoffe es geht bald weiter ;D
langsam muss ich mal alle kapitel noch einmal nachlesen... durch die langen pausen weiß ich shcon vieles nicht mehr ^^' und ist nicht mehr ganz klar...
alsooooo.....
SCHREIB WEITAA XD
nyu bis denne ^.^
Von:  Fukai
2006-01-09T17:40:39+00:00 09.01.2006 18:40
...........

.....................

ähm.. *räusper*
zuerst einmal..
als du geschrieben hast es kommt schlimmer wusste ich gleich, dass es sich im ersten absatz um tatu dreht..
aber..das mit kao und akiko..also DAS kam unerwartet..
PENG
knallharte fakten
normalerweise kriegt man ja immer die ganzen fiesen details mit und denkt sich: junge bzw. mädel..denk doch mal nach.. bist du blöd..
aber hier.. PENG..
alles schon vergangenheit bzw. läuft schon ne geraume weile.. keiner hat was mitgekriegt
das muss man erst mal verdauen
aber...ich kann kao nich verstehn..
wie kann er das machen o__O;
DAS GEHT DOCH NICH *empörter tonfall* xD;

ok *räusper*
ich sollte meine drogen absetzen *auf giftgrüne kaubonbons schiel*

schreib schön weiter.. man wartet gespannt
Lika
Von:  Stormborn
2006-01-09T11:18:43+00:00 09.01.2006 12:18
autsch XD
wie im richtigen Leben hm?
Mann meint es kann nicht mehr schlimmer kommen und tada~ es kommt schlimmer XD~
Aber wieder mal ein sehr schönes Kapitel <3
*knuddel*
Und ich bin schon sehr gespannt wie es weiter geht ^__^
*dir keckse für die inspiration geb*
(hab ich erwähnt das ich deinen schreibstil unglaublich toll finde? <33)
Von: abgemeldet
2006-01-08T21:40:11+00:00 08.01.2006 22:40
...mir ist übel......


gott...ist mir übel...

ist irgendwo in meinem leben eine kamera versteckt??

mein gottt...ich geh ins bett...

ich- muss dich drücken........ ja..


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