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Akai Tsuki no mukou ~ Beyond the Red Moon

Eine Dir en grey-/Merry-/MUCC-/Kagerou-Story / Final chapter 24 uploaded!
von

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22. [Iduna]

"So happy? Ist das die Erleichterung? Oder hab ich was verpasst?", ließ Gara sich zwischen zwei Zügen von seiner langen, schlanken Zigarette vernehmen.

Tatsurou lächelte geheimnisvoll und widmete sich weiter der Lektüre der Speisekarte.

"Du bist gemein...". Der Ältere schmollte und scannte nun seinerseits das Angebot.
 

Sein Gegenüber grinste nur hämisch. So schnell wollte er die Katze nicht aus dem Sack lassen. Schon seltsam, wie nur eine Begegnung alles verändern konnte. Gestern war er ein nervliches Wrack gewesen. Naja, eigentlich die ganzen letzten drei Monate. Aber gestern ganz besonders. Und heute war er einfach in die Arztpraxis reinmarschiert, hatte sich eine Tirade von Informationen angehört und danach eine Blutprobe da gelassen. So ging das. Die ganze halbe Stunde lang hatte er sich wie in einer Luftblase eingeschlossen gefühlt. Unantastbar. Unberührbar. Alle Ängste, die ihn die vergangenen Tage verfolgt hatten, waren an der Hülle abgeprallt. Das war dann wohl der berühmte Schutzmechanismus, den Menschen entwickelten, wenn sie in Extremsituationen gerieten. Oder war es doch etwas ganz anderes gewesen?
 

Während des Gesprächs mit der jungen Praxisassistentin waren ihm ihre schönen Augen aufgefallen. Nur sie. Und diese Augen waren es auch, die ihn seither begleiteten. Er hätte nicht sagen können, wie groß die Frau war oder wie schlank, ob ihre Fingernägel lackiert gewesen waren, ob ihre Haare eine Tönung hatten. Nur diese Augen, die ihn voller Güte und Mitgefühl betrachtet hatten, waren ihm in Erinnerung geblieben.

Ob sie alle Menschen so ansah, die im Laufe eines Tages mit genau seinem Problem zu ihre kamen? War das antrainiert? Oder war da tatsächlich mehr gewesen?

Blödsinn, warum auch? Warum hätte eine Frau mit solchen Augen auf einen Typen abfahren sollen, der mit runterhängenden, ungestylten Haaren, Bartstoppeln und in Cargohose und Sweatshirt bei ihr auftauchte?

Als er wieder zuhause gewesen war, hatte ihn einer seiner berüchtigten Anfälle von Selbstzweifel heimgesucht. Nicht, dass er je an seinen Fähigkeiten als Sänger und Performer gezweifelt hätte - aber manchmal, an Tagen wie diesen, nach Zusammentreffen mit Menschen, von denen er dachte, sie würden ihm nicht mehr Beachtung schenken als irgendeinem Käfer, vorallem dann nicht, wenn sie nicht wussten, dass er Mitglied einer ganz passablen, ziemlich erfolgreichen Rockband war, dann fühlte er sich einfach nur hässlich.

Darum war ihm Garas Einladung zum Abendessen gerade recht gekommen. Oft kam es ihm vor, als verfügte sein Kumpel über telepathische Fähigkeiten - immer schien er zur Stelle zu sein, wenn man ihn brauchte.

Und trotzdem nannte man ihn Wagamama-Gara. Witzig.

Tatsurou wusste, dass der Sänger von Merry schon drauf achtete, dass er sein Ding durchziehen und seine Meinung kundtun konnte - es kam auch vor, dass er dabei nicht davor zurückschreckte, andere zu verletzen. Aber dennoch, Gara war ein verdammt guter Kerl.
 

"Was nimmst du denn?"

Nun blickte Gara ihn erwartungsvoll an und blinzelte. Er hatte bemerkt, dass Tatsurou nicht wirklich bei der Sache war.

Dieser konzentrierte sich auf einen Punkt auf der Karte und sagte das Erste, das ihm ins Auge fiel: "Carpaccio".

"Muss das sein...?". Der Ältere verzog angeekelt den Mund.

"Ja, ich mag's halt", konterte der MUCC-Sänger trotzig. "Kannst ja wegschauen".

"Danke auch...".

Sofort tat Tatsurou sein Verhalten leid. Wie kam es eigentlich, dass er zwei seiner besten Kumpels immer wieder so zur Schnecke machte? Und was noch seltsamer war: Warum wehrten sich die beiden nie dagegen?

"Hey, war ein Witz - ich glaub, ich nehm das Curry mit Riesencrevetten."

Sofort heiterte sich Garas Miene auf. Beim Anblick von blutigem Fleisch und rohem Fisch wurde ihm speiübel. Einige nannten dies zimperlich - er jedoch bestand darauf, es als Kindheitstrauma zu bezeichnen.

"Und ich wohl das gebratene Gemüse mit Reis."

Tatsurou zog die Augenbrauen hoch. "Und das reicht dir? Du warst den ganzen Tag im Studio, du brauchst was Deftigeres."

"Zu Mittag hab ich mir Yakitori geholt. Und wir haben neuerdings immer Früchte im Studio."

"Wow! Na, kein Wunder, bist du so fett...". Ups, schon wieder. Er konnte es einfach nicht lassen.

Gara schaute verletzt zur Seite und zündete sich schließlich eine weitere Zigarette an. Er war es leid, dass alle immer wieder aus demselben Grund auf ihm rumhackten. Es tat weh, verdammt!

"Hey, sorry", ließ sich Tatsurou entschuldigend vernehmen. "Manchmal ist meine Zunge schneller als mein Hirn...".

"Meistens." Der Merry-Sänger schnaubte.

"Du weißt, dass ich es nicht so meine!", kam es verteidigend zurück.

"Ja, klar. Aber es tut trotzdem weh. Ich bin nun mal, wie ich bin. Akzeptiert es oder lasst es."

"Wir finden dich toll, so wie du bist. Aber du darfst uns auch nicht böse sein, wenn wir uns hin und wieder Sorgen machen."

"Mir geht's gut!".

"Weiß ich."

"Dann lass es einfach - bitte."

Tatsurou nickte verständnisvoll. "Versprochen." Dieses Mal meinte er es wirklich ernst - das war er Gara schuldig.
 

Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, wechselte der Sänger von Merry, wie erwartet, sofort das Thema.

"Nun erzähl schon - ich nehme nicht an, dass alleine die Untersuchung dich so aufgebaut hat, ne?".

Der Jüngere zuckte nur die Schultern.

"Es ist lächerlich...".

"Wohl nicht, sonst würdest du dich nicht so anstellen. Also?".

"Da war dieses Mädchen in der Praxis, es geht mir nicht mehr aus dem Kopf."

Gara riss die Augen auf. Tatsurou verknallt? Unglaublich.

"Eine Patientin?".

Kopfschütteln. "Nein, eine Praxisassistentin."

"Oh...". Gara begriff sofort, was dies bedeutete. "Nun weißt du nicht, was du tun sollst..."

"...weil ich nicht weiß, wie ich ihre Zeichen deuten soll - ja."

"Mist."

"Irgend einen Vorschlag?".

Der Ältere fixierte nachdenklich seine Cola, bevor er antwortete. "Leider nicht. Aber vielleicht ist sie ja da, wenn du nächste Woche wieder vorbei musst."

"Ich weiß ja nicht, ob ich nochmal hin muss - wenn alles okay ist, sagen sie's mir telefonisch."

"Ah so...das ist natürlich blöd. Ruf doch einfach an und frag nach ihr."

Tatsurou wurde verlegen. "Ich hab ihren Namen nicht mitgekriegt."

"Idiot!".

"Ihre Augen haben mich um den Verstand gebracht."

"Ihre Augen?". Gara grinste schelmisch. "Perversling."

"Ich spreche ausnahmsweise tatsächlich von ihren Augen!".

"Oh...". Das war ja was ganz Neues. Sollte Tatsurou, der Wildfang, es tatsächlich mal richtig ernst meinen? "Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber...".

"Ja, schon klar. Ist eh schon peinlich genug. Ich bin ja noch nicht mal sicher, ob diese Gefühle echt oder aus meiner Angst heraus entstanden sind."

"Dann solltest du vielleicht bis zum Ergebnis warten und schauen, ob du auch dann noch Interesse hast."

"Ich möchte aber rausfinden, ob sie mich auch dann kennenlernen möchte, falls ich den Tod in mir trage...".

Gara nickte. So pathetisch es klang - Tatsurou hatte recht. Eine bessere Gelegenheit, die wahren Absichten eines Menschen zu ergründen, gab es wohl kaum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass das Mädchen gerne japanische Rockmusik hörte und Tatsurou schon längst erkannt hatte - aber diese Wahrscheinlichkeit war angesichts der Einwohnerzahl Tokyos eher gering.

"Dann sei doch einfach ehrlich. Geh nochmal vorbei und sag ihr offen, dass du sie gerne kennenlernen möchtest. Mehr als abwimmeln kann sie dich ja nicht, oder?".

Der Sänger von MUCC sah zerknirscht auf und kaute auf seiner trockenen Unterlippe.

"Gerade davor hab ich ja Angst. Ich hab das Gefühl, ich dürfe mir dieses Mal keinen Schnitzer erlauben."

"Hast du etwa Torschlusspanik?".

"Jetzt bist du aber pietätlos."

Sofort glätteten sich Garas Lachfältchen, und er wurde ernst. "Nun leg doch nicht alles auf die Goldwaage."

"Ha, jetzt siehst du mal, wie's ist, wenn jemand deinen Humor nicht versteht."

"Das kann man doch nicht vergleichen!".

"Ganz deiner Meinung." Tatsurou drückte seine erst zur Hälfte gerauchte Zigarette aus und fingerte bereits wieder nach einer neuen.

Gara schaute seinen Freund betroffen an. Ja, verdammt, man konnte es tatsächlich nicht vergleichen. Auf einmal fühlte er sich ganz klein.

"Tut mir leid. Ich glaube, ich versuche immer zu verdrängen, was wäre, wenn...". Hier brach er ab und gab Tatsurou Feuer.

"Ich doch auch...". Der Jüngere inhalierte tief.

Einem plötzlichen Impuls folgend legte Gara seine langen, schlanken Finger um Tatsurous Handgelenk und drückte sanft zu. "Es geht dir gut - ganz bestimmt. Du hast noch ganz viele Jahre vor dir."

Dunkle, dankbare Augen trafen seine. Dieser Ausdruck. Wie der eines kleinen Jungen. Gara zog schnell seine Hand zurück.

"Genau. Und für eben diese Jahre bräuchte ich eine Begleitung - irgendwas in mir sagt, dass sie die Richtige ist und ich sie mir nicht durch die Lappen gehen lassen sollte."

"Also doch Torschlusspanik?", warf Gara neckisch ein, um die gedrückte Stimmung zu lockern.

Und dieses Mal lachte Tatsurou auf und grinste immer noch, als die Kellnerin mit den heißen Tellern und Schüsseln an den Tisch trat.
 

* * *
 

Sie wusste, sie brauchte nicht eifersüchtig zu sein, und doch war sie es.

Seit Kaoru morgens um 2 die Wohnung verlassen hatte, hatte sie keine ruhige Minute mehr gehabt.

Wie lange dauerte so eine Geburt? Er war schon siebzehn Stunden weg.

Im Laufe des Nachmittags hatte er kurz angerufen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte - nur um eine halbe Minute das Gespräch bereits wieder abzubrechen, um an Yumis Seite zu eilen.
 

Ja, sie war eifersüchtig.

Auf ihre ehemals beste Freundin.

Egal, wie oft Kaoru ihr versicherte, dass er mit Yumi abgeschlossen hatte und nur sie liebte, so ganz glaubte sie ihm nicht.

Schließlich war Yumi die Mutter seines Kindes. Und die Frau, mit der er die vergangenen Jahre verbracht hatte.
 

Noch bei keiner ihrer bisherigen Beziehungen hatte ihr die Vergangenheit ihres Liebhabers so viel Angst gemacht, das Leben, das er geführt hatte, bevor sie gekommen war.
 

Doch wenn sie nachts neben Kaoru im Bett lag, schweißnass, erschöpft, fiebrig, und trunken seinen Worten lauschte, dachte sie oft daran, dass er früher dieselben Liebesschwüre in Yumis hübsche kleine Ohren gehaucht hatte.

Man war so verdammt ersetzbar. Jeder. Egal, was gewesen war und sein würde - jeder war austauschbar.

Aber was war mit denen, die zurückblieben? Diejenigen, die immer noch liebten, und denen sich das Objekt ihrer Begierde entrissen hatte? Wie lange würde es dauern, bis sie jemanden fanden, um die entstandene Leere zu füllen?
 

Tränen sammelten sich in Akikos Augen, als sie an Toshiya dachte. Yumi würde wenigstens Mutter werden - Toshiya hatte im Moment nur noch seine Musik. Und mit der schlechten, misstrauischen Stimmung, die in der Band herrschte, fühlte er sich bei seinen Kollegen bestimmt auch nicht gerade wohl.
 

Nach dem dritten Mal hatte sie aufgehört, Kaoru nach dem Zustand des Bassisten zu fragen. Die ersten beiden Male hatte er noch willig Auskunft gegeben, doch dann war es ihm wohl doch zuviel geworden, und er hatte sie angenervt und fragend gemustert.

Seither hatte sie nie mehr gefragt, obwohl sie so gerne gewusst hätte, ob Toshiya zurecht kam.
 

Warum eigentlich? Bereitete es ihr Befriedigung, mitzubekommen, dass er ihretwegen Qualen litt? Oder bedeutete er ihr doch noch weitaus mehr, als sie sich vorzumachen versuchte?
 

Nervös zündete sich die junge Frau eine Zigarette an. Sie hatte heute schon beinahe zwei Päckchen geraucht, und das, obwohl sie die Woche darauf wieder würde arbeiten müssen. Naja, so hätten dann wenigsten die Visagisten auch wirklich was zu tun.
 

Wie in Trance stand Akiko auf und ging ins Bad.

Aus dem Spiegel blickte ihr ein graues, eingefallenes Gesicht entgegen. Sah so eine frisch Verliebte aus?

Zynisch verzog sie ihre schönen, vollen Lippen und lächelte ihrem Spiegelbild müde zu. Mit einem Mal kam ihr alles falsch vor. Was hatte sie sich dabei gedacht, etwas mit dem Gitarristen anzufangen? Wie konnte sie nur glauben, dass sie mit der Tatsache, dass er ein Kind mit Yumi haben würde, würde umgehen können?

Ja, doch, sie konnte damit leben, aber das Kleine würde sie nie als Mutter sehen, sie würde es nicht gemeinsam mit Kaoru großziehen, denn dafür war Yumi zuständig.
 

Angewidert warf Akiko den schwelenden Stummel ins Klo, spülte und ging ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich ans große Fenster stellte. Hier sah man nicht von ganz so weit oben auf die Stadt runter, wie man es bei Toshiya tat.

Als sie das Fenster öffnete, schlug ihr der entfernte Straßenlärm empfindlich laut entgegen, begleitet von einer kühlen Brise, die den Herzflattern verursachenden Duft von Frühling mit sich trug. Wenn das Wetter sich so hielt, würden in zwei Wochen die Kirschbäume blühen. Das Jahr zuvor hatte sie die Kirschblütenzeit mit Toshiya verbracht - auch da war sie frisch verliebt gewesen.
 

An wessen Seite sie wohl im nächsten Frühjahr durch den Park wandeln würde?
 

Der Wind spielte sanft mit Akikos langen, glänzenden Haaren, und sie verlor sich so sehr in ihren Gedanken, dass sie ihr Handy erst nach dem vierten Mal Klingeln wahrnahm. Mit einem Satz war sie beim niederen Wohnzimmertisch.
 

Kaoru.
 

21 Uhr 37.
 

* * *
 

"Tut mir leid, dass ich dich damit nerve, aber..."

"Akiko, ich hätte mir Sorgen gemacht, wenn du dich nicht gemeldet hättest. Es ist ganz natürlich, dass du dich grad schrecklich fühlst."

"Ach ja? Es ist also normal, dass ich Yumi am liebsten die Augen auskratzen würde, hm?".

Chieko schmunzelte und entgegnete: "Ja, ich denk schon. Sie ist deine Konkurrentin, jetzt mehr denn je."

"Aber sie war mal meine beste Freundin, Chieko, ich liebe sie doch...".

Mit einem Mal schniefte Akiko, und Chieko versuchte, die richtigen Worte zu finden. "Gerade das macht es dir doch so schwer. Du hast dich in den Mann verliebt, den auch Yumi immer noch liebt - und erkennst jetzt, auch wenn Kaoru sich für dich entschieden hat, dass da dieses kleine Mädchen ist, das die beiden für immer aneinander bindet. Du kannst mit ihr nicht konkurrieren, der Punkt geht an sie. Du willst sie hassen, aber es geht nicht, denn du wünschst dir nichts sehnlicher, als sie wieder zu der Freundin zu haben, die sie dir mal war. Stimmt's?".

Das Schniefen verstummte. "Ja, scheiße, ja!".

"Dann lass doch einfach der Zeit ihren Lauf. Fahr ins Krankenhaus, freu dich mit Kaoru. Schau dir Aiko an, wenn du kannst, und besuch Yumi kurz, wenn sie wach ist. Egal, was war, ich bin sicher, dass sie sich trotz allem freuen würde, dich zu sehen. Als Freundin. Und nicht als diejenige, die ihr den Freund ausgespannt hat."

"Autsch!".

"Was denn? So ist es doch."

"Ja, schon, es klingt nur so hart...".

"Am besten gewöhnst du dich dran."

Kurze Stille. Dann: "Was ist, wenn sie mich gar nicht sehen will? Ich bin bestimmt der letzte Mensch, auf den sie jetzt Bock hat."

"Das bezweifle ich sehr. Sie mag so tun, als ob, ja, aber ich bin sicher, sie sehnt sich nach dir."

"Ich hoffe, du behältst Recht."

"Du kennst Yumi besser als ich, aber ich würde mich freuen, wenn nach der Geburt meines Kindes eine gute Freundin vorbei käme."

"Auch wenn diese Freundin dir Kyo ausgespannt hat."

Nun schwieg Chieko eine Weile, bevor sie antwortete: "Ja, auch dann, ganz ehrlich."

"Okay, ich versuch's."

"Viel Glück."
 

* * *
 

Zuhause angekommen ließ Tatsurou sich schwer auf der Ledercouch nieder, streckte die Beine breit von sich und verharrte eine ganze Weile in dieser Position.

Sein Kopf dröhnte. Die letzten zwei Bier wären nicht nötig gewesen, aber Gara und er hatten Spaß gehabt, und wenn er mal mit Bier anfing, konnte er nicht mehr aufhören. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er an die letzte Situation dachte, in der ihm dieses Verhalten im wahrsten Sinne zum Verhängnis geworden war.
 

Immer noch eine Woche, bis er Gewissheit hatte.

Am liebsten hätte er die nächsten sechs Tage durchgeschlafen und wäre erst an Tag X wieder aufgewacht. Er würde jedoch von Glück reden können, wenn er in den kommenden Nächten überhaupt Schlaf fand.
 

Er war Gara dankbar gewesen, als dieser ihn nach dem Abendessen zum Läden durchstöbern und danach zum Barhopping mitgeschleppt hatte. So war wenigstens dieser Abend einigermaßen schnell vergangen. Wie sollte er nun aber die angebrochene Nacht hinter sich bringen?
 

Die Zeitschriften vor sich auf dem Tisch hatte er schon alle gelesen, auf einen Film würde er sich nicht konzentrieren können, auf ein Computerspiel genauso wenig. Und wenn er jetzt mit Songschreiben anfing, würde ein Requiem dabei rauskommen, also vertagte er wohl auch dies besser auf später, wenn er in Frühlingsgefühlen schwelgte. Er wollte etwas Lebenslustiges schreiben.
 

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihm einfiel, dass das Resultat zu 50 % positiv ausfallen konnte. Verdammte Scheiße.
 

Da saß er. Ein junger Mann von grad mal 24 Jahren. Erfolgreich. Talentiert. Verknallt. Und vielleicht HIV-positiv.
 

Den Sänger schauderte, als er sich nach seiner Tasche bückte, die er neben der Couch hingestellt hatte. Das Mädchen mit den schönen Augen hatte ihm nahe gelegt, alle Unterlagen, die es ihm ausgehändigt hatte, durchzulesen. Dies würde ihm helfen, die nächsten paar Tage vielleicht etwas entspannter zu erleben, hatte es gesagt.
 

Tatsurou bezweifelte dies zwar stark, doch er wollte sich daran halten, weil es ihm dazu geraten hatte.
 

Mit einem Griff in die Tasche beförderte er den Stapel ans Licht und legte ihn auf den Tisch vor sich. Sein Kopf war immer noch schwer und begann jetzt auch noch zu pochen, weshalb sich der Sänger in der Küche zwei Gläser eiskaltes Mineralwasser aus dem Kühlschrank genehmigte und danach eine Dusche nahm.
 

Eine Viertelstunde später saß er wieder auf der Couch. Nun aber erfrischt, als ob alle negativen Gedanken mit dem kühlen Wasser in den Abguss geflossen wären.
 

1 Uhr.
 

Wenn er sich beim Lesen Zeit ließ, konnte er bestimmt locker bis 5 Uhr früh durchlesen und danach im Park joggen gehen. Oder aber die Dokumentationen waren so langweilig, dass er darüber einschlief, ohne sich vorher stundenlang im Bett wälzen zu müssen.
 

Gemächlich sortierte er die einzelnen Broschüren und Informationsblätter.

"Kondome können Leben retten", stand in großen Lettern auf einem davon.

Ja, danke auch. Als ob ihm das nicht auch klar wäre. Dieser Papierkram schien echter Humbug zu sein - seine Traumfrau hatte ihn angelogen, dieses Biest.
 

Traumfrau? Nun betitelte er sie schon so. Er hatte wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Scheinbar war es aber so, dass man sich in einer Situation wie seiner an alles klammerte, was einem Hoffnung machte und fröhlich stimmte. Aus diesem Grunde fühlte er sich aber schäbig, so von dieser Frau zu schwärmen. Würde sie ihm auch dann noch gefallen, wenn er keinen Strohhalm mehr zum festhalten brauchte? Würde sie ihm überhaupt gefallen, wenn er sie das nächste Mal sehen würde? Wenn überhaupt?
 

Ziemlich viele Wenns.

Kurz überlegte Tatsurou, ob er Miya anrufen sollte. Oder Daisuke. Vielleicht wäre es ganz gut, sich eine Zweitmeinung anzuhören. Nicht, dass Garas Ratschläge unnütz gewesen wären, aber...
 

Seufzend stand der große Sänger auf und tigerte rastlos durchs Zimmer. Die herrschende Stille bedrückte ihn - und doch hatte er keine Lust, eine CD einzulegen oder den Fernseher anzumachen. Es gab keine Musik, die zu seiner gegenwärtigen Verfassung passte, und im TV lief um diese Zeit sowieso nur banaler Mist.
 

Also setzte er sich wieder hin, fuhr sich durch die immer noch etwas feuchten Haare und griff sich noch einmal den Stapel Unterlagen. Leider nicht fest genug, denn die untere Hälfte glitt ihm aus den Händen und fiel zu Boden.
 

"Fuck...".
 

Tatsurou legte den verbleibenden Stapel zurück auf den Tisch und sammelte die verteilten Dokumente zusammen.
 

Da sah er ihn.

Den Umschlag.

C4. Recycling-Papier.
 

Auf den ersten Blick war dem Sänger klar, dass dieses Couvert nichts mit all den Info-Unterlagen zu tun hatte. Der Absender war eine medizinische Fachschule in Akihabara, gerichtet war das Schreiben an eine Takahara Emi, die Adresse war, wenn Tatsurou sich richtig erinnerte, diejenige der Praxis.
 

Emi. Emi Takahara.

War sie das?
 

Der Umschlag war noch verschlossen, und die Finger des Sängers juckten vor Neugierde. Doch nein, das konnte er nicht bringen. Wer immer die Besitzerin war, sie würde wissen, dass sie das Couvert noch nicht aufgeschlitzt hatte. Und was für einen Grund sollte der Finder haben, sich den Inhalt anzugucken, wenn die Adresse deutlich zu lesen war?
 

Nein, das würde er schön sein lassen müssen.
 

Etwas ratlos ließ Tatsurou den Brief immer wieder von der linken in die rechte Hand und wieder zurück wandern.
 

Hatte er nicht insgeheim nach einem Grund gesucht, die Praxis frühzeitig wieder aufsuchen zu können, ohne sich total zum Affen zu machen?

Im besten Falle war sie sogar diese Emi.
 

Im besten Falle? Naja. Ansichtssache. Auch wenn er ihr den Umschlag würde in die Hand drücken können, müsste er sich immer noch überwinden, sie auf nen Kaffee einzuladen.
 

Seufzend lehnte der Sänger sich im Sessel zurück und ließ den Brief neben sich fallen. Er fühlte sich wie ein Teenager vor dem ersten Date.
 

* * *
 

Toshiya legte den Bass beiseite, als sein Handy klingelte. Er fluchte leise, denn gerade hatte er ein, seiner Meinung nach, brillantes Riff gespielt, das ihm nun aufgrund der Unterbrechung entfiel.
 

"Moshi moshi?!".
 

Die traurigen, verquollenen Augen weiteten sich vor Freude, als er hörte, wer dran war.
 

"Papa? Das ist ja ne Überraschung. Wie geht's euch?"
 

Doch schon bei der darauf folgenden Antwort verschwand alle Fröhlichkeit aus der Stimme des Bassisten, und er stützte sich schwer an der Wand ab.
 

"Oma ist tot...? Aber...".
 

Völlig überrumpelt ließ er seinen Vater erzählen. Er fühlte sich, als hätte sich vor drei Monaten ein Abgrund vor ihm aufgetan, ein Schlund, der alles verschlang, das ihn glücklich gemacht, das er geliebt hatte. Und dieser Schlund wurde immer größer. Ein schwarzes Loch.
 

"Sie war doch so gesund...", hörte er sich mit hohler Stimme sagen.
 

Sein Kopf war leer. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, antwortete nur ganz mechanisch, wenn er das Gefühl hatte, sein Vater erwarte einen Kommentar.
 

Oma...
 

"Wann ist die Bestattung?"
 

Langsam ging er in die Küche und markierte auf dem Katzenkalender, den er Akiko zu Weihnachten geschenkt hatte, das Datum. Super, nicht einmal den Kalender hatte sie mitgenommen.
 

"Ja, klar komme ich. Wir gehen drei Tage danach erst auf Tour."
 

Es war ihm egal, dass sie da Probe hatten. Es war ihm egal, dass Tommy sauer sein würde. Er wollte nach Hause. Auch wenn's nur für zwei oder drei Tage war. Diese Auszeit stand ihm zu.
 

Warum hatte er sich eigentlich nicht schon eher die Freiheit genommen und sich für eine Weile nach Hause verabschiedet? Wie blöd war er? Hatte er erwartet gehabt, dass Akiko eines Tages voller Reue wieder bei ihm in der Tür stünde?
 

So ein Unsinn.
 

Aber das wurde ihm erst jetzt richtig bewusst. Jetzt, da ihn die Gegenwart endgültig einholte, da er sich nicht mehr in sich selber verkriechen konnte.
 

Großmama war tot. So plötzlich.
 

Sein Vater redete immer noch auf ihn ein. Irgendwas wegen Anreise, der Zeremonie und welche Verwandten dabei sein würden. Toshiya nahm alles wahr, speicherte die Informationen, doch so richtig präsent war er nicht.
 

In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm.

Weinen.

Er wollte, er hätte weinen können.

Doch seine Augen blieben trocken. Zu viele Tränen hatte er in den letzten Wochen vergossen.
 

"Okay, ich werde da sein. Gibst du mir Mama?"
 

Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als er vernahm, dass seine Mutter noch im Krankenhaus war. Wie sehr hätte es ihm geholfen, ihre Stimme zu hören. Ihre Stimme, die so sehr wie die ihrer Mutter klang. Wie es ihr wohl ging? Wie fühlte man sich, wenn ein Elternteil starb? Wie würde er sich fühlen, wenn seine Eltern auf einmal nicht mehr da waren?
 

"Okay. Grüß sie ganz lieb. Gib ihr nen Kuss von mir, ja? Ich werd später versuchen, sie zu erreichen."
 

Nach ein paar weiteren, aufbauenden Floskeln brachen sie das Gespräch ab. Der Bassist hatte die Tränen in der Stimme seines Vaters gehört. Er hatte seine Schwiegermutter sehr gern gehabt. Kein Wunder, so ein liebenswerter Mensch wie sie gewesen war.
 

Toshiya rief sich seine letzte Begegnung mit ihr zurück. Letzten Sommer bei einem Familienfest. Ihre freundlichen, blitzenden Augen, das von Lachfalten durchzogene Gesicht, die Haut, die auch im Alter noch straff und geschmeidig war. Seine Oma war eine schöne Frau gewesen. Und seine Mutter hatte ihre Schönheit von ihr geerbt.
 

Der junge Mann trat zögernd vor den großen, bodenlangen Spiegel in der Eingangshalle und betrachtete sich darin. In ihm steckte ein Achtel der Frau, die nun nicht mehr unter ihnen weilte. Hatte er genug Zeit mit ihr verbracht? Hatte er sie alles gefragt, was er von ihr hatte wissen wollen?

Mit Bedauern stellte er fest, dass er diese beiden Fragen verneinen musste. Es gab so vieles, was er mit seiner Oma noch hatte bereden wollen. Dinge, die er nicht vor seinen Eltern hatte breittreten wollen.
 

Oma hätte bestimmt gute Ratschläge im Bezug auf Akiko gehabt.

Sie war es auch immer gewesen, die ihn wieder aufgebaut hatte, wenn es in der Band ganz schlecht lief. Sie war der ganzen Sache zwar immer sehr skeptisch gegenüber gestanden, und doch hatte sie ihn nie dafür verurteilt, dass er sich diesen Job ausgesucht hatte. Viele andere Verwandte hatten ihn sogleich verurteilt und für immer abgeschrieben, nicht so seine Oma. Sie hatte immer an ihn geglaubt und ihm versichert, dass, egal was er in seinem Leben tat, sie immer für ihn da sein werde.
 

"Verdammt Oma...warum gerade jetzt?", stieß Toshiya zwischen den Zähnen hervor, ließ sich zusammensacken und rollte sich auf den kalten Steinplatten zusammen.
 

Am liebsten hätte er sich in den dunklen Tiefen des Abgrundes verloren.
 

+ + +
 

Kitsch hoch 10 und akuter Sap-Alarm, ich weiß. XD

Verzeiht mir! ^^;

Bin grad etwas angepisst. Warum muss ich vom 3. - 7. Mai 2006 nach Bratislava? Scheiß Kongress! Es ist gemein. ;__;



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
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Von: abgemeldet
2006-02-26T15:59:28+00:00 26.02.2006 16:59
Ich mag Gara's und Tatsurou's Gespräche. Ich kann das Gefühl nicht richtig beschreiben, aber es fühlt sich an, als würden sie so richtig geistig miteinander verbunden sein. Das finde ich toll :3
Von: abgemeldet
2006-02-26T14:25:56+00:00 26.02.2006 15:25
Das ist... traurig... vor allem der letzte Abschnitt...
Eury...>_<
Weiter so... und lass wenigstens für Tata-sama was gutes rauskommen...

Bin gespannt wie's weitergeht...
*knuff*
Von: abgemeldet
2006-02-25T19:36:26+00:00 25.02.2006 20:36
...ich wurde von meiner oma aufgezogen...seit zwei jahren ist sie stark dement, und trotzdem, will ich nicht wissen wie ich mich fühle wenn sie auch noch geht...

das kapitel lässt irgendwie eine endgültige stimmung aufkommen- unbeschreiblich.

ich freue mich ehrlich auf das nächste kapitel..
Von: abgemeldet
2006-02-25T15:42:29+00:00 25.02.2006 16:42
ich bin ma die erste... wow oo
wart schon seit heute früh dasses on gestellt wird *g* war immer dorten gestanden: 40%... und ich hab mir dann immer mein eigens zeug dabei gedacht <<
nya ich heul dann ma weita...
ich fands wie imma gut ... nur noch 2 kapitel vv oh neeee... so schön vV ich weiß zwar fast nicht mehr was am anfang passiert ist aber >.< so schön .____. traurig .___.
schade dassu kein GB hast... sonst hätt ich dir noch schnell auf deinen gb eintrag geantwortet... und dann hat ichs vergessen << blaa...
dazu nochmal xD: jaa... sie kapieren es immer zu spät (die bands).. ich würd denen dann am liebsten immer persönlich in den arsch treten. aber dsa geht ja leider nicht -_-
*bei dem kapitel ganze zeit mucc sogns gehört hat .___. und sich schon afus nächste kapi freu*


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