Akai Tsuki no mukou ~ Beyond the Red Moon von eurydike (Eine Dir en grey-/Merry-/MUCC-/Kagerou-Story / Final chapter 24 uploaded!) ================================================================================ Memoria II [Kyo - Die Wiege der Dämonen] ---------------------------------------- "Wie du weißt, bin ich in Kyoto aufgewachsen. Es war schön da, ich will mich nicht beklagen. Und so beschissen, wie alle immer meinen, waren meine Kindheit und Jugend auch nicht. Nur, weil ich in meinen Lyrics über häusliche Gewalt schreibe, heisst das nicht, dass meine Eltern gewalttätig waren. Natürlich hatten wir immer wieder unsere Differenzen, doch in welchen Familien kommt das nicht vor? Mag sein, dass ich kein einfaches Kind war. Ich hatte schon früh meine ganz eigenen Ansichten, und die habe ich auch immer stur vertreten und ließ mich nur schwer davon abbringen. Als ich mich mit 15 dazu entschloss, die Schule hinzuschmeißen und nur noch in Bands zu singen, war - wie du dir bestimmt lebhaft vorstellen kannst - die Hölle los. Aber ich musste meinen eigenen Weg finden - und für mich war eine akademische Laufbahn undenkbar. Schon die Jahre vorher, als ich noch zur Schule ging, erschien mir das alles sinnlos. Ich sah nicht ein, warum ich mir bestimmte Dinge hätte eintrichtern sollen, die ich später nie wieder würde gebrauchen können. Damals war ich sehr unglücklich. Es ist furchtbar, ohne Ziel vor sich hin zu leben. Meine damalige Einstellung mag ignorant scheinen - die meisten sagten und sagen mir immer wieder, wie essenziell Sprachen seien, wie wichtig es sei, über alles, auch wenn es einem noch so unsinnig erscheint, wenigstens annähernd Bescheid zu wissen. Ich könnte von mir jedoch nicht behaupten, dass meine Allgemeinbildung schlecht ist. Im Gegenteil. Manchmal denke ich, dass ich Dinge weiß und erkenne, die anderen für immer verborgen bleiben. Wenn ich mich für ein bestimmtes Thema zu interessieren beginne, bin ich gerne bereit, mich reinzuknien und mich darüber schlau zu machen. Aber, wie gesagt, ich muss darin einen gewissen Sinn erkennen können. Meine letzten Schuljahre waren also recht öde. Ich ging dahin, weil ich musste. Und nebenbei verdiente ich mein erstes Geld mit Nebenjobs, die genau so öde waren. Doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ging die Sonne auf - in Form einer Kassette, die mich meine Banknachbarin in der Schule während einer Pause hören ließ. Ich hatte mich schon vorher immer gewundert, wer diese Typen waren, deren Poster an der Innenseite ihres Pultes klebten. Und als ich dann diese Musik hörte - ja, da verspürte ich zum ersten Mal so etwas wie Begeisterung in mir aufkeimen. Mir gefiel, was ich da hörte - und das Mädchen versorgte mich mit immer mehr Kassetten und Cds, bis ich schließlich anfing, mich selber damit einzudecken und mich auch über die Leute zu informieren, die hinter dieser Musik steckten. Ich fing an, Buck-Tick zu vergöttern. Und X. Mir tat sich eine völlig neue Welt auf - eine Welt, zu der ich auch gehören wollte, irgendwann. Da war also das Ziel, von dem ich schon so lange geträumt hatte. Nun musste ich mich darum bemühen, in die Szene rein zu kommen. Das war die Zeit, in der man mich immer seltener in der Schule antraf. Viel lieber hing ich bis tief in die Nacht in den kleinen, schäbigen Konzertlokalen rum, guckte mir lokale Bands an, knüpfte Kontakte. Irgendwann kriegte ich eine der Bands so weit, mich als Roadie einzustellen. Kein leichter Job. Ich war noch so jung damals und stand unter dem Druck, unbedingt dabei zu bleiben, bei den richtigen und wichtigen Leuten anzukommen. Und du weißt, was das heißt, oder? Fuck, wenn ich daran denke, was da für Geschichten gelaufen sind. Saufgelage, stumpfsinnige Wetten, Mutproben. Und das alles nur, um sich einen Namen zu machen, kannst du dir das vorstellen?". Hier brach der Sänger zum ersten Mal ab und genehmigte sich einen Schluck Tee. Chieko hing gebannt an seinen Lippen. Einige dieser Dinge waren ihr bereits bekannt gewesen - doch alles aus Kyos eigenem Mund zu hören, in seinen eigenen Worten, hatte etwas seltsam Berührendes. "Nach einiger Zeit fing ich an, in Bands zu singen. Nichts Berauschendes. Ich würde sogar sagen, wir waren ziemlich schäbig. Aber hey, wir waren jung, und Musik machen war alles, was wir wollten. Das war die Zeit, wo ich endgültig von der Schule abging. Tagsüber hing ich also zuhause rum, spielte Videospiele (wie ich es früher auch schon so oft getan hatte), kritzelte Lyrics, schlief - und abends, ja, abends ging die Post ab." Er verstummte wieder und sagte eine Weile nichts. Chieko hätte das bisher Erzählte kommentieren können, doch sie schwieg mit Kyo mit. Eine Anspannung hatte sich über sein Gesicht gelegt, und die junge Frau konnte sehen, wie es hinter der leicht gerunzelten Stirn arbeitete. Gerne hätte sie nach seiner Hand gegriffen, wäre sie ihm eine Stütze gewesen - doch sie traute sich nicht. Noch nicht. Nach einem tiefen Seufzer setzte Kyo seine Reise in die Vergangenheit fort. "Eines Abends hab ich sie kennen gelernt. Sie stand einfach da, wie aus dem Nichts. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Später hab ich rausgefunden, dass sie noch nicht lange in Kyoto wohnte und dazu noch am anderen Ende der Stadt - kein Wunder, hatten sich unsere Wege noch nie gekreuzt. Freunde hatten ihr von meiner Band erzählt, wie toll wir seien. Also war sie gekommen. Nach dem Konzert haben wir uns an einen Tisch gesetzt, Bier getrunken, geraucht und geredet. Ich mochte sie auf Anhieb. Und meinen Kumpels aus der Band fielen die Augen aus dem Kopf. Nicht aus Neid. Sie war keine umwerfende Schönheit, aber...sie hatte was. Sie war hübsch, auf ihre eigene Weise. Mich hatte sie im Sturm erobert. Was meine Freunde umso mehr erstaunte war die Tatsache, dass ich dieses Mädchen so schnell an mich ranließ. Natürlich hatte ich auch schon öfter was mit Mädels am Laufen gehabt, aber sie schienen zu ahnen, dass sich da was wirklich Ernstes anbahnte. Wir haben uns danach öfter gesehen. Sind spazieren gegangen. Auf Gion. Haben gemeinsam Tempel besucht. Sind schwimmen gegangen und einkaufen. Sie kam oft zu unseren Konzerten. Manchmal hab ich sie sogar zum Fischen im Biwa-See mitgenommen. Nach einiger Zeit war für alle klar, dass wir fest zusammen waren - auch für uns. Im Haus meiner Eltern war die Wohnung im Obergeschoss frei geworden, und wir zogen da ein. Eigentlich hätte ich auch gerne mal etwas weiter weg von zuhause gewohnt, doch es hat sich halt so ergeben, und wir waren ganz zufrieden mit unserem Daheim." Wieder brach er ab. Am nervösen Spiel seiner Finger erkannte Chieko, dass er gerne eine Zigarette geraucht hätte. Doch der Anstand verbot es ihnen beiden, an einem Ort wie diesem eine anzustecken. "Wir waren glücklich. Wirklich. Oder...vielleicht sollte ich besser sagen, dass ich es war. Ich habe sie geliebt. Wie noch keine zuvor. Und ich hatte geglaubt, sie empfände das Selbe für mich." Schmerz schlich sich in seine Stimme. "Kannst du dir das vorstellen? Ich, der seit ich das erste Mal, als ich Buck-Tick gehört hab, davon träumte, eine Karriere als Sänger anzustreben - dass ich auf einmal mit dem Gedanken spielte, das alles sein zu lassen? Ein sogenannt normales Leben zu führen. Gemeinsam mit ihr. Ich hätte meine Träume für sie aufgegeben. So sehr habe ich sie geliebt. Unsere Verlobung war die selbstverständliche Fortführung unserer Beziehung. Und ich fing an, mich nach nem "normalen" Job umzusehen. Es wäre nicht einfach geworden, einen zu finden, das war mir bewusst. Wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine anständige Schulbildung geschweige denn eine Ausbildung hat? Doch für sie wäre ich bereit gewesen, mein Leben zu ändern. Es ganz auf den Kopf zu stellen, nur um sie glücklich zu machen und mit ihr alt zu werden." Chieko fühlte Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie wusste, was nun kommen würde. Gara hatte ihr eine Kurzversion dieser Geschichte schon einmal erzählt. "Verdammt, ich habe mit ihr eine Familie gründen wollen. Mein Leben zu der Zeit richtete sich nur noch nach ihr. Ich war noch in meiner Band, aber...ich begann, sie sträflich zu vernachlässigen. Die Jungs müssen ganz schön enttäuscht und sauer auf mich gewesen sein. Ich beging Verrat an mir selbst, an meinem mir mühsam erarbeiteten Idealismus. Aber ich war nun mal verliebt. Und so sicher, dass ich dabei war, das Richtige zu tun. Weißt du, auch wenn man mir das nicht zutraut, ich sehne mich nach Geborgenheit. Nach einem Halt. Im Endeffekt bin ich wohl ein Familienmensch. Zumindest war ich das, damals. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher...". Er setzte sich auf. Erneuter Griff zur Teetasse. Doch dieses Mal stellte er sie nicht weg, nachdem er daraus getrunken hatte, sondern behielt sie in den Händen. Umschlang sie, als würde sie ihm den Halt geben, den er brauchte. Das traurige Stechen in Chiekos Herz wurde stärker. Gerne wäre sie dieser Halt für ihn gewesen, aber in Anbetracht dessen, was sie ihm später zu beichten hatte, ließ ihr Gewissen dies nicht zu. "Eines Tages war sie weg. Als ich von der Bandprobe nach Hause kam, war sie unauffindbar. Ihre Reisetasche war weg. Auch ein paar ihrer Kleider. Ich wusste, dass sie Stress in ihrem Job gehabt hatte. Sie hatte davon gesprochen, endlich mal raus zu wollen. Weg von allem. Ich hatte angenommen, dass wir demnächst mal zusammen wegfahren würden, um uns irgendwo eine schöne, ruhige Zeit zu machen. Aber sie war alleine gegangen. Einfach so. Nicht einmal eine Nachricht hatte sie hinterlassen. Damals hatten wir noch keine Handys gehabt, also konnte ich sie nicht anrufen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber an diesem Abend machte ich mir noch keine Sorgen. Sie würde schon wieder kommen, dachte ich. Trotzdem wartete ich die ganze Nacht auf einen Anruf von ihr. Sie konnte sich doch denken, dass ich mir Sorgen machte, oder? Aber ich hörte nichts. Irgendwann gegen Morgen schlief ich ein, träumte wirres Zeug. Am nächsten Tag hatte ich noch immer keine Nachricht von ihr. Den ganzen Tag saß ich zuhause und hoffte, dass das Telefon endlich mal klingeln würde. Doch nichts tat sich. Abends ging ich zur Probe. War aber so unkonzentriert und fahrig, dass die Jungs beschlossen, die Übung abzubrechen. Wir gingen einen trinken. Ich erzählte ihnen alles. Sie meinten, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei ja erst einen Tag her, sie würde bestimmt wieder auftauchen, schließlich seien wir doch schon zwei Jahre zusammen, sie würde mich doch lieben. Ich glaubte ihnen und ging, etwas beruhigter, nach Hause. Doch schon dort überwältigen mich wieder meine Ängste. Ich konnte nicht einmal klar definieren, wovor ich eigentlich Angst hatte. Doch die ganze Situation lähmte mich." An dieser Stelle überwand Chiekos Drang, ihren Freund zu trösten, ihr nagendes Gewissen. Sie setzte sich ebenfalls auf, rückte sachte auf dem Futon näher an ihn ran und legte ihm ihren Arm um die Schulter. Zu ihrer immensen Erleichterung ließ er es geschehen, rutschte nicht weg, sondern lehnte sich zutraulich an ihre Brust. Die leere Teetasse landete auf dem Futon. Sanft spielte sie mit seinen Haaren, als er mit brechender Stimme fortfuhr. "Sie kam nicht zurück. Und mit jedem verstreichenden Tag schwand meine Hoffnung, sie je wiederzusehen. Eine böse Stimme in meinem Kopf flüsterte mir ein, dass es das gewesen war. Ein Teil von mir, der Teil, der in dieses Mädchen verliebt war, wollte dies nicht wahr haben. Es konnte nicht sein. Warum? Was war geschehen? Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben. An Proben mit der Band war nicht mehr zu denken. Immer, wenn ich es doch versuchte, musste ich mitten im Song abbrechen, weil die Verzweiflung und die Tränen mich übermannten. Die Jungs sprachen mir Mut zu, versuchten mich zu trösten, so gut es eben ging. Doch auch für sie schien mittlerweile klar zu sein, dass es kaum noch Hoffnung gab. Wie klar es einem von ihnen schon die ganze Zeit über gewesen war, sollte ich erst später erfahren, doch ich greife vor... Eine Woche verstrich, dann die zweite, dritte. Ich saß tagelang nur apathisch in meinem Zimmer. Ging kaum mehr raus. Ass kaum was. Ich muss ausgeschaut haben, wie eine Leiche. Meine Eltern hatten es nach den ersten paar Versuchen aufgegeben, zu mir durchzudringen - gleich ging es meinen Freunden. Nach einem Monat, nach dem ich vor lauter Weinen keine Tränen mehr übrig hatte, fasste ich einen Entschluss. In Kyoto konnte ich nicht mehr bleiben. Hier erinnerte mich alles an sie. Die Wohnung. Die Band. Die Konzertlokale. Die Plätze, an denen wir uns in schönen Stunden vergnügt hatten. Egal, wohin ich ging - sie war da. Ich fing an, zu halluzinieren. In den Nächten wachte ich schweißgebadet auf. Mein Leben war zur Hölle geworden. War wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Meine Band war nicht mehr. Das Mädchen, auf das ich meine Zukunft bauen wollte, war weg." Das Zittern des in sich zusammengesunkenen Körpers in ihren Armen verriet Chieko, dass Kyo weinte. Leise nur, doch er vergoss Tränen. Voller Mitleid zog sie den so hilflos und verloren wirkenden jungen Mann noch näher an sich ran. Murmelte tröstende Worte, von denen sie nicht wusste, ob sie ihn erreichten. "Ich packte meine Sachen, die wenigen, die ich hatte, und zog zu einem Bekannten nach Osaka. Kisaki. Auch er spielte damals schon in Bands, und ich hatte ihn einmal bei einem Konzert kennengelernt. In meiner Verzweiflung war er der Einzige, an den ich mich wenden konnte und wollte. Er konnte die Trauer, die über mich gekommen war, nicht von mir nehmen, doch wenigstens fing ich wieder an, zu leben. So gut es eben ging. Der Sänger seiner Band hatte diese gerade verlassen, und ich steig bei ihnen ein. Das Singen half mir. Sehr sogar. Und die dunklen Texte, die ich in meinen schlaflosen Nächten verfasste, kamen gut an. So ganz nebenbei hatte ich auch einige Geschichten mit Mädels am Laufen - nichts Ernstes; wir gingen einfach nur ab und zu mal zusammen weg und fickten danach. Nach zwei Monaten hatte ich mich tatsächlich wieder soweit gefasst, dass ich nicht immerzu nur an sie denken musste. Aber gerade, als ich glaubte, einigermaßen drüber hinweg zu sein, bekam ich den Beweis, dass Menschen schlecht sind und man nur den wenigsten Vertrauen schenken sollte." Bei diesen Worten musste Chieko sich zwingen, nicht zusammen zu zucken. Scheiße, Verdammte Scheiße. "Wir gaben ein Konzert in Osaka, an dem noch andere Bands aus der Region auftraten. Darunter auch die neue Band meiner alten Freunde aus Kyoto. Vermutlich hatten sie nicht erwartet, mich da zu sehen. Ich hatte jeglichen Kontakt zu ihnen abgebrochen gehabt. Sie waren überrascht, doch erfreut, dass es mir wieder besser ging. Nur einer von ihnen schien geschockt - und eine halbe Stunde später wusste ich auch, woran das lag. Sie kam daher. Einfach so. Es traf mich wie ein Schlag, zu erfahren, dass sie die ganze Zeit über, in der ich so gelitten hatte, bei ihm gewohnt hatte und mit ihm zusammen gewesen war. Die anderen aus meiner früheren Band hatten es gewusst - und ihn gedeckt. Es war, als bohre sich eine Katana durch mein Herz. Ich stand an dem Abend blutend auf der Bühne. Und hatte das Gefühl, dass sie sich ganz hinten, in der finsteren Ecke, wo sie stand, daran ergötzte. So wie er es bestimmt auch tat. Ich stellte mir während des Singens vor, wie die beiden sich über meine Trauer lustig gemacht hatten. Was für ein bedauernswerter Haufen Elend ich doch sei. Ironischerweise war meine Performance an diesem Abend eine meiner besten überhaupt." Ein tiefer Seufzer entrang Kyo. Chieko ließ von ihm ab, stand auf, holte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Sich dankbar ein Lächeln abmühend putzte er sich lautstark die Nase. Nachdem seine Freundin sich wieder zu ihm gesetzt hatte, fuhr er fort. "Die darauf folgenden Tage und Wochen war ich von Selbstzweifeln geplagt. Was hatte ich getan, dass die Menschen, die mir bisher am nächsten gestanden hatte, mich dermaßen verletzten? Wieder zog ich mich von allen zurück, fand aber doch Befriedigung in meiner Band und der Musik, die wir spielten. Und war mehr denn je überzeugt davon, dass ich mich in Zukunft wieder intensiv um eine Karriere als Sänger kümmern wollte. Das Singen verschaffte mir Erleichterung. Auf der Bühne und bei den Proben konnte ich all meinen aufgestauten Frust und die Verzweiflung aus mir raus schreien und singen. Zu der Zeit verließ uns unser Schlagzeuger, und Shinya, den wir alle auch schon eine Weile kannten, stieß zu uns. Schon seltsam, dass derjenige, mit dem ich am längsten zusammen Musik mache, der mir am fernsten ist. Egal. Irgendwann lernten wir dann Kaoru und Die kennen. Vermutlich hielten sie mich am Anfang für ziemlich verschroben, wenn nicht gar asozial, weil ich so wenig Wert auf zwischenmenschliche Kontakte legte, aber ich wusste, dass sie mich als Sänger respektieren, genau so, wie ich sie als Gitarristen respektierte. Hast du mal Bilder von Kaoru aus der Zeit gesehen? Scheiße, sah der gruslig aus. Viele sagen ja, dass er ihnen Angst machte. Bei mir war das nicht so. Auf mich wirkte er nicht grausam, eher hatte ich das Gefühl, dass er ein Mensch war, mit dem man es sich nicht verscherzen sollte. Dies hatte aber eher mit Achtung und Respekt und weniger mit Angst zu tun. Vielleicht war ich aber damals auch zu sehr von meinen eigenen Problemen eingenommen, als dass ich gemerkt hätte, wie furchteinflössend und ungeheuerlich er tatsächlich war...und ist. Nach ein paar Monaten lief es in unserer Band nicht mehr so gut, und Kisaki, Die, Kaoru, Shinya und ich beschlossen, uns zusammen zu tun. Wir waren enthusiastisch. Passten ganz gut zusammen. Hatten Spaß. Zu der Zeit wohnte ich noch immer bei Kisaki, aber ich spielte mit dem Gedanken, auszuziehen und mir was Eigenes zu suchen. Seltsamerweise hatte er sich seit der Gründung von La:Sadies verändert. Zum Negativen. Du musst wissen, er war (und ist immer noch) eine sehr starke Persönlichkeit. Er war es gewohnt, Entscheidungen selber zu treffen, den Ton anzugeben. Ich ließ ihn gewähren, denn mir war das egal. Ich bin kein Führer. Natürlich wehrte ich mich, wenn mir etwas gar nicht in den Kram passte, aber meist hatte ich mich zurückgehalten und ihn sein Ding machen lassen. Jetzt aber, bei La:Sadies, stieß er auf einmal auf harten Widerstand und musste erkennen, dass Kaoru genau so stark wenn nicht gar stärker war als er. Dies machte ihn wild, brachte ihn in Rage. Die beiden fingen an, Machtkämpfe auszutragen - und ich, Shinya und Die spielten die Unbeteiligten. Hielten uns raus, so weit wir konnten. Wenn wir denn aber trotzdem mal Partei beziehen mussten, stellten wir uns meistens auf Kaorus Seite. Was natürlich in Kisaki noch mehr Wut hervorrief. Wenn wir abends nach Hause kamen, wurde ich oft zum Sündenbock, und er ließ seinen ganzen aufgestauten Frust an mir aus. Nicht körperlich. Egal, was einige der Gerüchte von damals besagen, er hat mir nie physisch wehgetan. Aber die ganze Situation wurde für mich unerträglich. Zu all dem Mist, den ich eh schon mit mir rumschleppte, kam auch noch der Ballast dazu, den er mir aufbürdete. Ich zog also aus. An der bandinternen Lage änderte sich jedoch kaum etwas. Es wurde sogar noch schlimmer. Kaoru begann damit zu liebäugeln, Major zu gehen. Davon hatte er schon immer geträumt. So wie ich ja auch. Und Die und Shinya gefiel die Idee ebenfalls. Kaoru hatte nach einem unserer Lives Dynamite Tommy kennengelernt, der ihm versichert hatte, dass wir ganz groß werden könnten. Und dies trieb endgültig einen Keil zwischen uns und Kisaki. Ich wusste, dass Kisaki mich immer für mein Talent zu performen bewundert hatte. Schon in unserer früheren Band war ich die treibende Kraft gewesen. Gegen außen. Unsere Band hatte sozusagen durch mich gelebt - aber das war mir erst im Laufe der Zeit klar geworden. Kisaki hingegen war sich dessen schon immer bewusst gewesen. Und weil er merkte, dass er gegen Kaoru nicht ankam, erkor er mich zu seinem Opfer. Oft kriegte ich mitten in der Nacht Drohanrufe von irgendwelchen Leuten, die ich nicht kannte. Am Anfang erschien es mir unsinnig, dass Kisaki dahinter stecken könnte, der doch mein Freund war, doch einmal mehr wurde mir bewusst, dass Freundschaft da aufhörte, wo eigener Stolz und Selbstbestimmung anfingen. La:Sadies zerbrach. Es gab für uns keine Zukunft, keinen gemeinsamen Nenner mehr. Auf der Suche nach einem neuen Bassisten erinnerten wir uns an Toshiya, dessen Band wir schon öfter live gesehen hatten. Von seinem Können beeindruckt entschlossen wir uns, ihn für uns zu gewinnen. Du kennst die Story, wie wir nach Nagano gefahren sind und ihn hergeholt haben, oder?". Ein Grinsen stahl sich auf Kyos Gesicht und vertrieb für einen Moment die Verzweiflung darin. "Ja, und somit war, im Jahre 1997, Dir en grey geboren. Kaoru tat sich als alleiniger Leader hervor - und wir anderen fügten uns. Wir waren so erleichtert, dass die Anspannung der letzten Monate endlich vorüber war, dass uns erstmal alles egal war. Und es passte so. Zum ersten Mal waren wir alle richtig zufrieden, mit dem, was wir waren und taten. Natürlich hatten wir auch damals schon Meinungsverschiedenheiten, aber in welcher Band gibt's die nicht? Wenn ich allerdings gewusst hätte, wie unsere Geschichte weitergeht, dann...hätte ich mich wohl nie auf dieses Projekt eingelassen. Fürs Erste aber waren wir voller Elan und machten uns an die Proben, komponierten Songs, spielten "MISSA" ein, gaben Konzerte, erlangten immer mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung innerhalb der Szene. Dynamite Tommy sollte Recht behalten - uns gelang tatsächlich der Sprung ganz an die Spitze. Sogar Yoshiki wurde auf uns aufmerksam und war bereit, "GAUZE" zusammen mit uns zu produzieren. Das war ein Meilenstein. Wir alle hatten X geliebt. Shinya hatte ihren Schlagzeuger sogar vergöttert, er war sein Idol. Und eben dieser Drummer holte uns nach L.A. und ging mit uns ins Studio." Hier hielt der Sänger einmal mehr inne und machte eine längere Pause. Sein Mund war trocken. Chieko nahm die Tasse vom Futon und schenkte Kyo und auch sich selber Tee nach, der schon merklich abgekühlt war. Wie lange redete Kyo schon? Sie hatten das Zeitgefühl vollkommen verloren. Der Wind von draußen war nun merklich kühler geworden. Regen fiel, als ob der Himmel mit Kyo leiden würde. Die junge Frau zog die Decke am Fuße des Bettes hoch. Über die sehnigen Muskeln des Sängers spannte sich Gänsehaut; er kuschelte sich dankbar mit seiner Freundin zusammen in den leichten Stoff. "Ich weiß nicht, wie viel du über unsere Karriere weißt, aber von da an ging's richtig los. Es ging sehr schnell. Wenn ich zurückdenke, sind die letzten sieben Jahre wie im Flug vergangen. Und wie bei La:Sadies, stehen wir auch jetzt wieder vor einem Trümmerhaufen. Und dieses Mal ist es Kaoru, der alleine dasteht. Genau wie Kisaki damals. So viel unterscheiden sich die beiden nämlich nicht. Es war uns nur nicht so schnell aufgefallen, weil Kaoru damals noch unser Freund war. Aber er hat sich in den letzten Jahren verändert. Und ich musste meine Meinung über ihn revidieren: Auch er kann ein grausames Ungeheuer sein, wenn ihm dies Vorteile verschafft. Es gibt Tage, da ist er wieder ganz der Alte. Leider werden diese guten Stunden immer seltener. Irgendwann werden sie ganz verschwinden. Nur können wir Dir en grey nicht so einfach den Todesstoss geben. Unsere Band ist ein Unternehmen geworden. Es geht nicht mehr nur um uns, sondern um eine ganze Reihe anderer Menschen. Und alle stehen wir unter Tommys Kontrolle. Eigentlich kann er mit uns machen, was ihm passt. Natürlich haben wir immer noch unsere kreativen Freiheiten - er schreibt mir zum Glück noch nicht vor, wie ich meine Texte zu schreiben habe. Aber was das Geschäftliche angeht, haben wir so gut wie nichts mehr zu melden. Wie auch? Wir sind viel zu sehr mit Touren, Komponieren, Interviews und Foto- und Videoshootings beschäftigt. Wenn wir mal Zeit für uns haben, denken wir an alles andere, nur nichts ans Geschäft. Zumindest reden wir uns das ein. Eigentlich machen wir uns alle Sorgen. Wir wissen nicht, wie lange es noch so weitergehen soll und kann. Aber solange unser Vertrag mit Free Will läuft, kommen wir nicht raus. Ganz schön beschissen, was?! Es ist nicht so, dass ich bereue, zu dieser Band gehören. Sie hat mich geprägt. So wie alles andere, was ich dir erzählt hab, mich geformt hat. Nur so bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Vermutlich wäre ich ein anderer geworden, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Wenn ich sie geheiratet hätte. Aber ich muss lernen, mit demjenigen klarzukommen, der ich jetzt bin. Einfach ist es nicht, aber ich glaube, ich mache mich ganz gut. Viele halten mich für einen von Selbstmitleid und Selbstzweifeln gebeutelten, armseligen Knilch. Und ich lasse diejenigen in ihrem Glauben. Sollen sie doch von mir denken, was sie wollen. Es gibt Tage, an denen mich diese nur allzu bekannte Verzweiflung überfällt. Das ist, wenn Erinnerungen aufsteigen. Noch heute fällt es mir nicht leicht, nach Kyoto zu fahren. Dort rumzulaufen. Meine Eltern zu besuchen. Ich liebe Kyoto über alles, aber ihre Präsenz liegt wie ein Ölfilm auf meinen Gedanken. Sie hat mir einen Teil meiner Selbstachtung genommen. Das ist eine Tatsache und hat nichts mit Einbildung zu tun. Ich habe es seither nicht mehr geschafft, eine Beziehung aufzubauen. Damit haben wir alle so unsere Probleme, schließlich ist die Zeit, die wir unseren Partnerinnen widmen können, sehr begrenzt, aber mir fällt es ganz besonders schwer. Selbst wenn ich eine Frau gern hab und sie mich ebenfalls zu mögen scheint, kriege ich Schiss, dass sie's am Ende doch nicht ernst meint und mich ohne ein Wort zu sagen sitzen lässt. Und verdammt, auch wenn da jemand Neues kommt, sie ist immer da. Verfolgt mich in meinen Träumen. Manchmal höre ich immer noch ihr Lachen. Nach all den Jahren." Chieko hielt den Atem an. Sie ahnte, worauf er hinaus wollte. "Ich habe dir das alles erzählt, damit du mich richtig kennenlernst. Nicht durch die Dinge, die man einfach mal so irgendwo aufschnappt, sondern durch mich. Und falls du jetzt, nachdem du das alles weißt, keinen Bock mehr auf mich hast, kann ich das verstehn. Aber ich musste es riskieren, verstehst du? Ich will ein und für allemal einen Schlussstrich ziehen unter das, was war. Aber das schaffe ich alleine nicht. Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann. Eine neue Zukunft. Ein Licht, das aufgeht und für mich scheint. Wie der rote Mond in meinem Zimmer." Zum ersten Mal, seit Kyo seinen Monolog begonnen hatte, ergriff Chieko das Wort. "Und du meinst, ich könnte dieses Licht für dich sein?". Ängstlich. "Ich hatte es gehofft, ja". Angst auch in seiner Stimme. "Dann hör dir erstmal an, was ich dir zu erzählen habe...". + + + Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)