Akai Tsuki no mukou ~ Beyond the Red Moon von eurydike (Eine Dir en grey-/Merry-/MUCC-/Kagerou-Story / Final chapter 24 uploaded!) ================================================================================ Memoria I [Chieko & Akiko ~ September 1995 - Dezember 1999] ----------------------------------------------------------- Eine Rückblende. Die Geschichte von Akiko und Chieko. Wer sich für diese beiden Charaktere nicht sonderlich interessiert und nur über die Jungs von Dir en grey lesen möchte, kann dieses Kapitel gerne überspringen. XD + + + Meine Ankunft in Tokyo vor etwas mehr als fünf Jahren hatte das Ende der Kirschblüte besiegelt. Die Nacht zuvor musste es heftig geregnet haben, denn als ich damals auf der Suche nach einem Hotel, das ich mir für ein paar Wochen leisten konnte, durch die Strassen wanderte, war von den herrlichen blassrosa Blütenblättern nur noch ein bräunliches, fauliges Mus am Boden übriggeblieben. April 1998. Dieser Monat ist unter verschiedenen Bezeichnungen in die Geschichte meiner Familie eingegangen. Für meine Eltern ist es ,Der Monat, wo unsere einzige Tochter ausgezogen ist, das grosse, gefährliche Tokyo kennenzulernen'. Für meinen Cousin wurde ich dadurch schlicht und einfach zum Vorbild - er hielt es dann auch nicht mehr allzu lange zuhause aus. Nicht, weil er sich mit seinen Eltern nicht verstanden hätte, im Gegenteil, aber eine unbezwingbare Kraft hatte ihn in den Bann der Rockmusik und einiger Bands gelockt - und dort gedieh er dann ganz prächtig. Aber das ist eine andere Geschichte. Für mich allerdings hatte dieser Monat meine endgültige Abkapselung von meinem Zuhause und meinen Eltern bedeutet - ich wollte den Sprung ins kalte Wasser wagen, hatte mein Konto geplündert, meine Kleider, Schuhe, CDs, Bücher, ein paar Andenken und natürlich meine Kameras in zwei Koffer gepackt und mir eine Fahrkarte nach Tokyo gekauft - keine Rückfahrkarte, versteht sich... Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Fotografin zu werden. Mein Kunstlehrer an der Schule hatte mich nach einem sehr erfolgreich beendeten Projekt darauf hingewiesen, dass ich ein gewisses Talent fürs Fotografieren besass, sozusagen das richtige Auge und die Fähigkeit, bestimmte Stimmungen einzufangen und sie der Vergänglichkeit zu entheben. So irgendwie hatte er sich ausgedrückt. Und in Ermangelung irgendeiner anderen Idee, was ich mit mir und meinem Leben anfangen sollte, hatte ich beschlossen, es einfach mal zu versuchen. Der Anfang war hart. Ich wohnte in einem schäbigen Hotel in irgendeiner heruntergekommenen Gasse am Rande Tokyos. Für mehr hatte es nicht gereicht. Jeden Tag fuhr ich mit der Bahn in die Stadt und klapperte alle Fotoläden und Fotostudios ab, die ich finden konnte. Überall zeigte ich die Mappe mit den Bildern vor, die ich bisher geschossen hatte. Sie ernteten viel Bewunderung und Anerkennung - was mir bewies, dass ich mit meinem Berufswunsch wohl tatsächlich nicht allzu falsch lag. Doch wie ich mir bereits gedacht hatte, fehlte es an Ausbildungsplätzen - oder vielmehr an Studios und Läden, die finanziell gut genug dastanden, sich überhaupt Auszubildende leisten zu können. Fotografie - so lernte ich schnell - war ein hartes, brotloses Geschäft. Um wirklich viel Geld damit zu machen, musste man mehr als einfach nur gut sein. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich genau das war - erst hielt ich meine Einstellung für reichlich arrogant, doch als ich dann eines warmen Frühsommertages (ich war gerade sechs Wochen in Tokyo und langsam aber sicher ging mir das Geld aus) im Studio eines ziemlich schrägen Typen namens Matsushita Akio stand und mir ansehen musste, wie ihm beim Anblick meiner Fotos die Tränen kamen, dachte ich mir: ,Doch, du musst verdammt gut sein...'. Einen Glücksfall nannte er mich. Und beschwerte sich im selben Atemzug über die Ignoranz aller seiner Berufskollegen, die mich abgewiesen hatten. Ein solches Talent könne man doch nicht einfach übersehen, murmelte er immer wieder. Tja, und was soll ich sagen... Zwei Tage später war der Arbeitsvertrag unter Dach und Fach, und ich machte mich sofort an die Arbeit. Matsushita-sensei stellte sich als strenger, anspruchsvoller, aber überaus fairer Lehrmeister heraus. Er fotografierte hauptsächlich Menschen - nicht diese hirnrissigen Familienportraits oder Hochzeitsfotos, nein. Matsushita-sensei hatte es sich zur Aufgabe gemacht, beim Fotografieren die Seele der Menschen herauszukristallisieren. Es wurden also immer ganz besondere Fotos, denen ein tiefes Vertrauen zwischen dem Fotografen und den Models zugrunde lag. Wer meinem Sensei sein Vertrauen nicht schenken konnte oder wollte, wurde umgehend weggeschickt oder trat von alleine den Rückzug an. Auch erlaubte er sich, die Kunden dem Studio zu verweisen, die ihm nicht sympathisch waren. Er war gut genug, sich dies leisten zu können. Für zwei durch die Lappen gegangene Aufträge kam meist am gleichen Tag einer rein, der für alles entschädigte. Zu Beginn fotografierte ich nicht allzu oft. Keine Menschen. Zumindest nicht so, wie er es machte. Vielmehr schickte er mich beinahe täglich raus in die Natur oder auf die Strasse mit dem Auftrag, Dinge einzufangen, die mich berührten oder die mir wichtig und bemerkenswert schienen. Dann zeigte er mir in der Dunkelkammer, wie ich das Beste aus meinen Bildern rausholen, wie ich alles kaputtmachen, aber auch wie ich beschönigen und manipulieren konnte. Mein Gehalt zu der Zeit reichte gerade aus, um mir ein kleines, ungemütliches Zimmer in einem hässlichen Haus in der Nähe des Fotostudios, jeden Tag eine warme Mahlzeit und ab und zu ein paar neue Kleider oder einen Besuch im Kino leisten zu können. Ein nicht gerade glamouröses Leben für eine knapp 21-Jährige, aber es machte mir nichts aus. Mein Job machte mich happy, das war die Hauptsache. Und ich wusste, irgendwann würden bessere Zeiten kommen... * * * Ein Modelscout hatte mich im Frühherbst 1995 entdeckt, als ich mit Freundinnen in Shinjuku beim Shopping war. Das mag sich sehr klischeebehaftet anhören, aber genau so hat es sich zugetragen. Wir hatten uns den ganzen Nachmittag in einem grossen Shopping-Center rumgetrieben und die Zeit totgeschlagen. Da musste ich ihm aufgefallen sein. Später gestand er, dass er mir beinahe eine halbe Stunde nachgestellt hatte. Ich musste lachen. Mir erschien das alles so lächerlich. Klar, ich hielt mich eigentlich auch für ganz gutaussehend, wenn nicht sogar richtig hübsch, aber Model? Für Fotos? Laufsteg? Ich hatte lange gelacht, als er in einem Café meine Zukunft vor mir ausgebreitet hatte. Erst hielt ich ihn tatsächlich für einen Spinner, der die Modelsache nur als Vorwand benutzt hatte, sich an mich ranzumachen. Diese Annahme stellte sich dann aber als falsch heraus - er war tatsächlich bei einer renommierten Agentur angestellt und in deren Auftrag tagtäglich auf der Suche nach neuen, interessanten Gesichtern und perfekten Körpern. Vorher hatte ich mich für meine Grösse von beinahe 1,80 m oft geschämt, aber nun öffnete sie Tore in eine völlig neue Welt. Eigentlich hatte ich Englisch und Medienwissenschaften studieren wollen - aber diese Pläne stellte ich damals erstmal hinten an, sehr zum Unmut meiner Eltern. Nachdem sie jedoch die ersten professionell geschossenen Bilder von mir gesehen und meinen Agenten und einige seiner Mitarbeitern kennengelernt hatten, änderten sie dann doch ihre Meinung und begannen, mich zu unterstützen. Meine Eltern waren keine Unmenschen - sie wollten bloss nicht, dass ich mich vollkommen naiv und unbesonnen in irgendeine dubiose Sache stürzte. Aber die Tatsache, dass ich mein Examen geschafft hatte, stellte sicher, dass ich auch später, sobald ich für diesen Job zu alt oder mein Typ nicht mehr gefragt war, noch zur Uni würde gehen können. Ich hoffte natürlich, dass ich soviel Geld verdienen würde, um in 10 oder 15 Jahren nicht mehr arbeiten gehen zu müssen. Schon nach wenigen Wochen hatte mir meine Agentur damals Aufträge im Ausland beschafft. Da ich schon immer ein sehr selbstbewusstes Auftreten und einen schönen, sicheren Gang gehabt hatte, war es nicht nötig gewesen, mich in entsprechende Kurse zu schicken - mein Entdecker hatte also tatsächlich den richtigen Riecher gehabt, als er mich ausgesucht hatte. Ende 1995, im November, flog ich nach New York, danach weiter nach London, Mailand, Hong Kong. Viele Erinnerungen habe ich nicht an diese Zeit. Nur, dass ich fortwährend müde gewesen war, schmerzende Füsse und Heimweh gehabt hatte. Und all meine oft noch minderjährigen Kolleginnen bewundert hatte, die den ganzen Stress viel lockerer wegzustecken schienen, als ich. Doch vielleicht war mir dies auch nur so vorgekommen - wer weiss, ob sich all die starken Mädchen nicht jede Nacht in den Schlaf geweint hatten? Was ich jedoch noch ganz genau weiss, ist, dass ich damals an Silvester nach Tokyo zurückgekehrt war und den Jahreswechsel und die Party, zu der ich eigentlich eingeladen gewesen war, verpasst hatte, weil ich, gleich nachdem ich zuhause war, ins Bett gefallen und 16 Stunden durchgeschlafen hatte. Ja, so war das damals. Auch 1996 war nicht minder stressig gewesen. Viele Fotoshootings, für Zeitschriften, Mode-Kataloge, Werbung. Weitere Reisen in die grossen Metropolen dieser Welt. Zu Beginn hatte ich gedacht, dass mein Alter meiner Karriere hinderlich sein würde - bei meiner 'Entdeckung' war ich bereits 20 Jahre alt gewesen. Die meisten meiner Kolleginnen waren mindestens 3 Jahre jünger, als sie zu modeln anfingen. Aber wie viele meiner Landsmänninnen sah ich sehr jung aus - und meine Karriere entwickelte sich prächtig. Schon bald hatte ich genug Geld zusammen, um mir ein wunderschönes Loft in Aoyama zu mieten. Zu der Zeit musste ich die meisten meiner Aufträge in Japan bestreiten und nur für die grossen Modeschauen ins Ausland reisen - die Wohnung in einem der schönsten Stadtteile Tokyos war also perfekt. Meine Arbeit machte mir Spass. Sie war hart, erfüllte mich aber mit einem unbändigen Gefühl der Zufriedenheit. Und auch wenn ich oft meinen dadurch verlorenen Freundschaften nachtrauerte, wusste ich doch, dass es nichts gab, was ich lieber hätte tun wollen. Zur Uni gehen, mich verlieben, eine Familie gründen und ein in geregelten Bahnen verlaufendes Leben führen würde ich auch später noch können. Sowas wie Torschlusspanik war ein Fremdwort für mich. Also machte ich mir auch keine Gedanken, als ich auch mit 22 noch keinen festen Freund hatte. Wie hätte ich einen Partner glücklich machen können? Ich war doch sowieso dauernd auf Achse. Ich wollte frei sein. Meinen Spass haben, mit wem ich wollte. Nicht, dass ich je unvorsichtig gewesen wäre. Nein! Ich hatte klare Prinzipien. Und hohe Ansprüche. Falls meine Eltern meinen damaligen Lebenswandel je als liederlich empfunden hatten, hatten sie mir dies nie zu spüren gegeben. Vielleicht hatten sie auch einfach nur ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen und so getan, als ob es sie nicht störte, dass ich an die zwei- bis dreimal im Jahr stattfindenden Familienfeiern jedes Mal einen anderen "Partner" mitbrachte. Ja, ich hatte meinen Spass... * * * Im Frühjahr 1999, ziemlich genau ein Jahr, nachdem ich nach Tokyo gekommen war, traf ich sie. An dem besagten Morgen im April, die Kirschen standen in voller Blüte, war ich schon früh im Studio gewesen. Ein grosses, wichtiges Shooting stand an, und Matsushita-sensei und ich hatten noch einiges vorzubereiten gehabt. Kunstvolle Fotos, sollten es werden. Ästhetische Fotos. Von schönen Menschen. Ich war nervös. Auch meinem Sensei hatte der Auftrag schon lange auf dem Magen gelegen, und ich war froh, dass der Tag endlich gekommen war. Die Models wurden in Limousinen vorgefahren. Im Schlepptau eine Horde Makeup-Artisten und Stylisten oder wie diese Menschen sich nannten. Mir waren sie alle nicht ganz geheuer, doch ich hatte einen Job zu erledigen und konnte es mir nicht leisten, Vorurteile zu haben. Stoisch erfüllte ich alle erdenklichen Wünsche unserer ,Gäste', auch wenn diese noch so hirnrissig waren. Das war ich meinem Sensei schuldig - und hey, es gehörte nun mal zu meinem Beruf. Schliesslich konnten diese Menschen auch nichts dafür, dass sie an dem Tag mit uns zusammenarbeiten mussten, also bemühte ich mich, alle so zuvorkommend wie möglich zu behandeln Der Tag tropfte dahin. Stunde um Stunde. Zähflüssig wie Kondensmilch aus der Tube. Aber weniger süss. Matsushita-sensei war fortwährend mit Fotografieren beschäftigt, kommandierte mich, die Models und deren Mitarbeiter herum. Schroff. Kurzangebunden. Erst hatte ich befürchtet, dass die Models sich wegen seines rauen Umgangstones beschweren würden, doch sie liessen alles sang- und klanglos über sich ergehen. Wahrscheinlich waren sie Schlimmeres gewohnt. Oder man hatte ihnen eingebläut, ihre Allüren für einen Tag sein zu lassen - schliesslich war mein Sensei nun mal weit und breit der Beste, was das Fotografieren von Menschen betraf. Den ganzen Tag über hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Doch wenn ich mich umsah, konnte ich kein verdächtiges Augenpaar entdecken, das auf mir ruhte oder sich gerade von mir abwandte. Vermutlich machte mich nur die Anwesenheit dieser perfekten Menschen vollkommen verrückt. Sie waren alle schön - die Männer wie die Frauen. Kein Wunder, dass ich am Nachmittag das reinste Nervenbündel war. Ganbatte, redete ich mir selbst Mut zu. * * * Sie war mir schon aufgefallen, als sie uns begrüsst hatte. Ruhig. Sicher. Mit einem ehrlichen Lächeln. Zwischen ihr und dem Fotografen schien ein Einverständnis zu herrschen, welches den Gebrauch von Worten zwischen ihnen unnötig machte. Kurze Blicke genügten und schon wusste das Mädchen genau, was er wollte. Faszinierend. Leider fotografierte sie den ganzen Tag nie. Wahrscheinlich, weil sie noch in Ausbildung war. Wie alt sie wohl sein mochte? Jünger als ich? Ich beobachtete sie im Versteckten, wenn ich auf der Coach sass, rauchte, Wasser oder Kaffee trank, mein Make-up auffrischen liess und auf meinen nächsten Einsatz wartete. Sie schien zu spüren, dass jemand sie genauer unter die Lupe nahm, ab und an warf sie forschende Blicke in die Runde - doch an mir blieben sie nie hängen. Ich hatte das Talent entwickelt, mich in bestimmten Situationen unsichtbar zu machen. * * * Gegen 22 Uhr war der ganze Spuk vorbei. Matsushita-sensei drückte ein letztes Mal auf den Auslöser und entliess das Model mit einem dankenden Nicken. Alle anderen Models waren bereits gegangen. Nur noch sie, die letzte, war da, und ihre Makeup-Artistin, die ihr beim Abschminken helfen würde. Die beiden zogen sich zurück, und ich half meinem Sensei beim Zusammenpacken der ganzen Kameras und zugehörigen Utensilien. Die Kulisse, die wir eigens für dieses Shooting aufgebaut hatten, würden wir erst am nächsten Tag abbauen - auch die Requisiten, die überall im Raum standen, würden wir später in unsere Gerümpelkammer bringen. Es ging nur darum, das Wichtigste wegzuräumen und die ganzen Filme in Sicherheit zu bringen, damit wir sie dann am nächsten Tag gleich würden entwickeln können. Ich freute mich darauf. Ich war sicher, dass in der Dunkelkammer wahre Meisterwerke ans Tageslicht kommen würden. Um halb 11 meinte mein Sensei, ich solle gehen, ich hätte sehr gute Arbeit geleistet und solle machen, dass ich ins Bett komme. Und da er kein Mensch war, der sowas einfach nur so dahinsagte, um zu testen, ob ich nicht doch vielleicht zu noch mehr Arbeit bereit war, packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Heimweg. Der Parkplatz vor unserem Studio war leer - Model und Maskenbildnerin waren vor wenigen Minuten weggefahren. Die Leere kam mir seltsam gespenstisch vor. Langsam ging ich über den Parkplatz und wollte gerade nach rechts abbiegen, als ich das Glühen einer Zigarette zu meiner Linken wahrnahm. Erschrocken wollte ich schon schneller gehen und mich aus dem Staub machen, doch die Person im Dunkel trat ins Licht der Strassenlaterne. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt - ohne Make-up war sie ein vollkommen anderer Mensch. Seltsam, dachte ich, dass ich ihr ungeschminktes Gesicht nicht erkenne, obwohl ich sie doch am Morgen ganz bestimmt auch schon so gesehen habe. Was machte sie immer noch hier? * * * "Haben Sie etwas vergessen? Ich kann es Ihnen holen...". Ihre Worte plätscherten in die Kühle der Nacht. Ich zog an meiner Zigarette und schüttelte verneinend den Kopf. Nun wurde ihr Blick fragend - sie war auf der Hut. Gleich würde sie davonlaufen und mir für immer entgleiten, ich musste rasch handeln. Mit meiner Zigarette deutete ich auf die Tasche in ihrer Hand. "Ich sehe, Sie haben Ihre Kamera dabei?". Verwirrt blickte sie an sich runter und nickte. "Ich muss gesehen, ich war etwas enttäuscht, dass Sie den ganzen Tag keine Bilder geschossen haben". Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren fremd - wie musste sie sich für sie anhören? Nun lächelte sie leicht verlegen. Diese Grübchen in ihrem Gesicht - so süss, richtig niedlich. Und zugleich unheimlich sexy. "Ach, ich bin doch erst seit einem Jahr bei Matsushita-sensei in Ausbildung. Meine Fähigkeiten reichen noch nicht aus, Fotos in der Art zu machen, wie sie heute verlangt wurden...". "Denken Sie?!". Die Unterbrechung passte ihr nicht - ich konnte es in ihren hellen Augen lesen. Seltsame Farbe, diese Augen. Grün-braun. "Wie bitte?!". Ich schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, warf den Zigarettenstummel zu Boden und zerdrückte ihn mit meinem Schuh. "Ich frage mich nur, was für Fotos Sie wohl machen". Und bevor Sie etwas erwidern konnte, sprach ich weiter. "Hier in der Nähe ist ein kleiner, verwunschener Park - ich bin noch nie in einem solchen Park fotografiert worden. Tun Sie mir den Gefallen?". Entgeistert starrte Sie mich an. Vermutlich hielt sie mich für vollkommen verrückt, doch dieses Risiko musste ich eingehen. "Jetzt? Aber...". "Was spricht dagegen?". Ich legte absichtlich eine gewisse Herausforderung in diese Worte. "Warum bitten Sie nicht Matsushita-sensei darum? Er ist noch da...". "Nein - Fotos von ihm habe ich genug, sobald er sie entwickelt hat. Wie gesagt, mich interessieren Ihre Fotos". * * * Was bildete diese Person sich eigentlich ein?! Mir hier aufzulauern und mich um einen dermassen unverschämten Gefallen zu bitten. Mitten in der Nacht. Am liebsten hätte ich sie stehenlassen und wäre schleunigst nach Hause gelaufen. Doch irgendetwas hielt mich auf. Was wollte sie von mir? Sie schaute mich an, als ob sie... Innerlich schüttelte ich den Kopf. Nein, unmöglich. Was sollte eine Frau wie sie von einer wie mir wollen? Und doch flirtete sie mit mir - die Signale waren unmissverständlich. Auf einmal war ich überzeugt davon, dass sie es war, die mich den ganzen Tag beobachtet hatte. Was sollte ich tun? Auf das Spiel einsteigen? Oder doch endlich nach Hause ins Bett gehen - alleine? Ich beschloss, ihre Ernsthaftigkeit zu testen. Herausfordernd liess ich meine Blicke über sie schweifen. Sie trug noch immer das Kleid, das sie beim letzten Shooting getragen hatte. Wegen der Dunkelheit und weil sie einen Mantel darüber trug, hatte ich es nicht gleich bemerkt. Ein wundervolles Kleid. Ein Ballkleid. Womit sie ihre Stylisten bestochen hatte, dass sie es für eine Nacht behalten durfte, wusste ich nicht. Ich wollte es auch gar nicht wissen. Stattdessen sagte ich nur: "Kommen Sie". Heute, im Nachhinein, weiss ich, dass ich schon bereit gewesen war, sie zu fotografieren, bevor sie ihren Wunsch überhaupt ausgesprochen hatte. * * * Die Nacht war kühl, doch ich fühlte die Kälte nicht, auch wenn ich ohne Mantel dastand. Der Park war spärlich beleuchtet. Sie arbeitete mit Blitzlicht, gab mir konzentriert kurze, knappe Anweisungen. Meine Nippel waren hart - es gefiel mir, mich von ihr ablichten zu lassen. Angenehme Schauer jagten durch meinen Körper, mein Herz drohte, vor freudiger Erwartung zu zerspringen - ein nur zu bekanntes Gefühl. Und doch war es dieses Mal irgendwie anders. "Lass den Träger über die Schulter gleiten - ja, genau so!". Sogleich blitzte es. "Stell dich schräg hin, ich will dich im Profil haben. Genau, jetzt den Kopf senken - ich will Sehnsucht sehen!". Ihre Anweisungen verrieten ganz klar, wer ihr Lehrmeister war. Ich war von ihrer Professionalität überrascht. Nach einiger Zeit, sie hatte bestimmt schon zwei Filme verschossen, meinte sie auf einmal: "Ich hätte da noch ein paar Ideen, aber ich glaube, die sollten wir nicht hier im Park ausführen...". Nun war sie in die Offensive gegangen und wollte prüfen, wie weit sie gehen konnte und wozu ich bereit war. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie Schiss vor dem hatte, was kommen würde - doch grösser als diese unbestimmte Angst musste ihre Lust auf mich sein. * * * Sie in meiner Bleibe zu sehen, war seltsam. Der Engel in der Absteige. Doch eigentlich war es genau das, was passte. Sie brachte etwas Glanz in die heruntergekommenen, gammligen Räume. Sie hier zu sehen erinnerte mich an Filme, die von drogensüchtigen Popsternchen handelten - genau so sah sie in dem Moment aus, wie sie sich auf meinem abgewetzten, roten Samtsofa räkelte, nur noch in ihrer Unterwäsche. Sie war dünn, nicht ungesund dünn, aber dünn. Und unter ihren Augen hatten sich von der Müdigkeit Ringe gebildet - doch wir beide dachten noch lange nicht daran, schlafen zu gehen. Genausowenig dachte ich daran, sie zu schminken. Ich wollte sie so haben, wie sie war - und nicht als die, die sie mit Make-up darstellte. Sexy, wie sie ihre Zigarette rauchte. Ihre Lippen spitzte, diese um den Filter schloss, tief einatmete und den Rauch danach lasziv durch Nase und Mund wieder ausstiess. Bei ihrem Anblick fiel mir auf, dass ich seit Stunden nicht mehr geraucht hatte. Also legte ich die Kamera beiseite, wühlte in meiner Tasche nach meinen Zigaretten, fand sie, steckte mir eine an und setzte mich auf den alten, unbehandelten Holzboden. Ich betrachtete sie, wie sie mich im halbdunklen Zimmer musterte. Ihr knochiger Körper schimmerte im Licht wie Bronze - was für eine schöne Haut sie hatte. Auf einmal erhob sie sich aus dem Sofa und kam auf mich zu. Sie kniete sich neben mich und begann, mein Ohr zu küssen, mit meinen Haaren zu spielen. Wow. Bisher hatten dies nur Männer mit mir gemacht - doch ich musste erkennen, dass mir die Zärtlichkeiten dieser Frau, deren Namen ich immer noch nicht kannte, beinahe besser gefielen. Immer noch rauchend liess ich sie gewähren und auch, als sie die Kamera nahm und anfing, Bilder von mir zu schiessen, wehrte ich mich nicht. An meine Kamera liess ich für gewöhnlich niemanden - doch dies war keine gewöhnliche Situation mehr, ganz und gar nicht. Einem plötzlichen Impuls folgend, begann ich, mich langsam vor ihr zu entkleiden - sie betätigte den Auslöser wie eine Verrückte. * * * Ihr Körper war wunderschön. Nicht so dünn und knochig wie meiner, sondern straff und wohlproportioniert, mit kleinen Fettpölsterchen an genau den richtigen Stellen. Die kleine Tätowierung auf ihrer linken Hüfte tanzte auf und ab, als sie sich ihrer Unterwäsche entledigte. Die Hofe ihrer Brustwarzen waren gleichmässig rund und von einem hellen Braun, während die Warzen einen dunklen Mittelpunkt bildeten. Irgendwann legte ich die Kamera ab und robbte mich zu ihr hin. Mein Herz schlug zum Zerspringen und meine Hände waren feucht, und nicht nur die... Kein Zurück mehr. Für diese Nacht würde sie mir gehören. * * * Meine erste Liebesnacht mit einer Frau hatte ich also in meiner heruntergekommenen Bleibe erlebt - mit einem Topmodel, mitten in der Zeit der Kirschblüte. Verrückt. Am nächsten Morgen, als wir im Bett lagen, schlechten, wässrigen Kaffee tranken und rauchten, bevor ich mich zur Arbeit aufmachen musste, erzählte sie mir, dass sie für einige Zeit nach New York fliegen musste, und fragte mich im gleichen Atemzug, ob ich nicht gerne in ihre Wohnung einziehen würde. Natürlich habe ich damals erstmal nur gelacht - wie, zum Teufel, sollte sich eine arme Fotografin wie ich so ne Wohnung leisten können?!? Und wie kam sie überhaupt drauf, sie an mich abzutreten? Daraufhin hatte sie nur gemeint, darüber solle ich mir keine Gedanken machen, hat mich fürs Wochenende zu einem Besichtigungstermin eingeladen, hat dann ihre Sachen gepackt und ist gegangen, nachdem sie sich mit einem Zungenkuss von mir verabschiedet hatte. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich mein Glück immer noch nicht fassen. Die Wohnung war ein Traum - und als Dank dafür, dass ich sie fotografiert hatte, hatte Akiko drei Monatsmieten im Voraus bezahlt. Und auch nachdem diese vergangen waren, musste ich mir keine Sorgen mehr machen, wie ich das Geld dazu aufbringen sollte, denn... Naja, meine Fotos hatten sich als Meisterwerke rausgestellt - und obwohl ich sie ja eigentlich nur für Akiko und mich gemacht hatte, erschienen irgendwann doch ein paar davon in einigen Modezeitschriften und in den folgenden Monaten wurden wir regelrecht von neuen Kunden überrannt. Matsushita-sensei liess mich ebenfalls selbstständig fotografieren, seit er meine Fotos gesehen hatte. "Deine Zeit ist gekommen", hatte er nur gesagt und mir von da an freie Hand gelassen. Ich hatte es geschafft. Arbeitete weiterhin im Studio, übernahm aber auch nebenbei weitere Auftragsarbeiten, die mich interessierten und herausforderten. Keine gewöhnlichen Arbeiten, die übernahm ich nie, dafür waren andere zuständig - nein, wer zu mir und meinem Sensei kam, war stets auf der Suche nach dem Besonderen. Im Winter 1999 gab ich mehrere Interviews für Zeitungen, liess mir von Fernsehteams für TV-Dokumentationen über die Schultern gucken - allem Anschein nach war ich zu der Zeit eine kleine Berühmtheit gewesen. Mittlerweile ist der Hype um mich abgeklungen, doch meine Stammkunden sind mir geblieben. Nach meiner Ausbildung hatte ich mich von Matsushita-sensei gelöst, zu ähnlich war unsere Arbeitsweise, als dass wir noch länger hätten zusammenarbeiten können und wollen. Doch wir treffen uns oft. Vergleichen Arbeiten. Diskutieren. Fachsimpeln. Auch heute noch. Seit einem Jahr leidet er an Arthritis in den Händen - an manchen Tagen kann er kaum noch seine Kamera halten. Er ist nicht mehr der Jüngste. Aber für mich immer noch der Beste, auch wenn er immer wieder behauptet, dass meine Fotos noch weit mehr beinhalten, als seine. Akiko habe ich nie mehr getroffen. Ab und zu entdecke ich Fotos von ihr in irgendwelchen Zeitschriften. Doch die schönsten Bilder von ihr, die habe ich zuhause. In der Wohnung, die einmal ihr gehört hatte und in der ihr Geist noch immer lebt. Ich hatte ihr damals im Mai 1999, als die Bilder fertig entwickelt waren und sie schon in New York war, Abzüge zugestellt - da der Umschlag nie an mich zurückgeschickt worden war, nahm ich an, dass sie alles erhalten hatte. Gehört habe ich aber seither nichts mehr von ihr. Kein Anruf, kein Brief, nichts. Eine ganze Zeitlang noch hatte ich oft an sie gedacht - doch irgendwann war ihr Geruch aus meiner Nase verschwunden und die Erinnerung an sie nur noch ein Schatten in meinem Kopf. Und jetzt... Jetzt stand sie hier vor mir und ihre beiden riesengrossen Augen starrten mich über Kyos Schulter hinweg an. + + + Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)