Akai Tsuki no mukou ~ Beyond the Red Moon von eurydike (Eine Dir en grey-/Merry-/MUCC-/Kagerou-Story / Final chapter 24 uploaded!) ================================================================================ 10. [Tyche] ----------- Und weiter geht's! *g* Kaum zu glauben, dass ich schon ein Jahr an der Story schreibe - die Zeit ist wie im Flug vergangen. Danke auch wiederum allen, die mitlesen und mir Kommis schreiben - ich erfahre immer gern, was für Emotionen, Gedanken und Gefühle meine Geschichte auslöst. + + + Das grosse Plakat stach ihr sofort in die Augen. Warum auch nicht, schliesslich hing es hier einzig zu dem Zweck. Ein Teil von ihr wollte so schnell wie möglich daran vorbei gehen, der andere... Ganz automatisch verlangsamten sich ihre Schritte, bis sie schliesslich ganz stehen blieb. Gegen den Willen ihres Herzens konnte die Vernunft nichts ausrichten. DIR EN GREY - New Album "VULGAR" - Release 10/10/2003 Immer und immer wieder las sie die Worte. Die Passanten, die hektisch an ihr vorbeizogen, warfen ihr verwirrt-fragende, beiweilen enervierte Blicke zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie tatsächlich mitten auf dem Gehsteig stand - keine sehr gute Idee. Mit ein paar eiligen Schritten trat sie zur Seite und somit näher an das Plakat. Er sah sie direkt an. So vertraut. Und doch so fern. Drei ganze Monate. Sie hatte sich vorgenommen, nie deswegen zu weinen. Doch nun, wo sie so dastand und nicht vermochte, ihren Blick von ihm zu nehmen, fingen ihre Augen an zu brennen. Er war noch immer in ihr. Nichts war vorbei. Egal, was sie sich einzureden versuchte. Wie in Trance trat sie noch näher an das Plakat heran. Hilflos hob sie ihre rechte Hand, führte sie ans geliebte Gesicht, langsam, sehnsüchtig. Wäre sie nicht mitten im Trubel gestanden, sie hätte über das Hochglanzpapier gestreichelt. Nun jedoch verharrte sie mitten in der Bewegung, ballte ihre langen, grazilen Finger zu einer Faust und liess diese sinken. Einem übermächtigen Impuls folgend betrat sie den Laden zu ihrer Linken. I don't know your face no more Or feel the touch that I adore I don't know your face no more It's just a place I'm looking for We might as well be strangers in another town We might as well be living in a different world We might as well I don't know your thoughts these days We're strangers in an empty space I don't understand your heart It's easier to be apart We might as well be strangers in another town We might as well be living in another time We might as well be strangers For all I know of you now For all I know... Ihren guten Englischkenntnissen verdankte sie es, dass sie jedes einzelne Wort des Songs verstand, der soeben aus den Boxen klang. Ein Verstehen, das ihr Herz vor Schmerz erbeben liess. Während sie der sanften Stimme des Sängers lauschte, stand sie einfach nur da. Still. Doch in ihr tobte ein Sturm und in den Augen hinter den dunklen Brillengläsern sammelten sich Tränen. It's easier to be apart... Wirklich? Falls die im Laden Anwesenden ihr Verhalten als seltsam empfanden, liessen sie sich dies nicht anmerken. Und auch als sie sich, nachdem das Lied zuende war, einfach umdrehte und den Shop verliess, ohne auch nur durch die Regale gelaufen zu sein und sich auch nur irgendeine CD angeguckt zu haben, beachtete sie niemand. Vor dem Plakat beim Eingang blieb sie noch einmal stehen. Der Schmerz hatte nun auch ihren Bauch ergriffen und machte sich in ziehenden Wellen bemerkbar, als ob das darin entstehende Leben genau wusste, was in ihr vorging. Unendlich langsam wandte sie sich ab und fügte sich in den Tross der Menschen, der sich an ihr vorbeischob. Sie hatte noch einen Termin. * * * Unweit von Yumi, nur ein paar Strassen weiter, betrat er voller Unbehagen und erfüllt von tiefer Unruhe die Lobby des Krankenhauses. Schon hier stieg ihm der dieser Einrichtung eigene Geruch in die Nase. Er hatte Krankenhäuser nie gemocht und zum Glück bisher nie längere Zeit dort verbringen müssen. Ob dies auch so bleiben würde, war nun in Frage gestellt. Nervös drückte er den Knopf, wartete mit flatternden Nerven auf den Aufzug. Seine Augen fixierten die Leuchtziffern über der breiten Chromstahltür. 6, 5, 4... Er hatte seine Angst mit niemandem teilen können. 3, 2... Yumi... Mit einem dezenten "Bing" blieb der Lift stehen und öffnete seinen Schlund. Ergeben fügte sich Kaoru und beschloss, sich mutig dem zu stellen, was ihn erwartete. Allein. * * * "Und das erzählst du mir erst jetzt?!?". Sachikos Stimme überschlug sich beinahe. "Pscht!". Chieko brachte ihre Freundin mit einem scharfen Zischen zum Schweigen und blickte sich peinlich berührt im Café um. "Ich bin nicht scharf drauf, dass alle hier mithören". Entgeistertes Lächeln von gegenüber. "Du erzählst mir so was und erwartest, dass ich ganz cool bleibe? Hast du sie noch alle?!?". "Davon hab ich nichts gesagt - du sollst nur nicht rumschreien!". Sprachlosigkeit. Kopfschüttelnd griff Sachiko sich die grosse Tasse und schlürfte ergeben an ihrem Cappuccino. "Also, nochmal, er hat dich angerufen und ihr habt euch getroffen - und das vor einer Woche und ich erfahr's erst jetzt?! Wie bitte soll ich denn sonst reagieren?!?". Nun war es an Chieko, ihren Kopf zu schütteln, belustigt. "Genau so, Süsse, genau so...". "Was?!?". Beide brachen gleichzeitig in Gelächter aus und lehnten sich dabei in ihren Stühlen zurück. Sachiko mustere ihre Freundin durch lachende, zusammengekniffende Augen. "Also, erzähl!". Nachdem sie sich einen grossen Schluck Latte Macchiato genehmigt hatte, beugte Chieko sich vor, stützte ihre Ellenbogen auf dem mit Mosaiksteinen verzierten Tischchen ab und holte tief Luft. "Er hat mich angerufen, nachdem er irgendwie an meine Nummer gekommen ist - scheinbar hab ich doch nen bleibenderen Eindruck hinterlassen, als ich zuerst gedacht hatte". "Irgendwie an deine Nummer gekommen? Er weiss immer noch nicht, dass du und Gara...?". "Nein - wenn er das wüsste, würde er sofort Lunte riechen und sich auf Nimmerwiedersehn verabschieden". "Oh Mann! Aber es ist doch gar nicht mehr so - oder?". "Natürlich nicht! Wenn ich das alles nur aus Mitleid hätte machen müssen, hätte ich es gar nicht erst getan!". "Aber du glaubst, dass Kyo das annimmt, sobald er weiss, wie du zu Gara stehst?". Bedrücktes Nicken. "Und wie lange wollt ihr diese Charade weiterspielen? Wenn da was ernstes draus wird, erfährt er's doch trotzdem irgendwann...". " Wenn was ernstes draus wird!". "Ich bitte dich - er hätte dich bestimmt nicht angerufen, wenn da nichts wäre. Ich weiss nicht viel über ihn, aber...verdammt, kannst du dir vorstellen, wieviel Mut es ihn gekostet haben muss, sich bei dir zu melden?". "Ja". Nur dieses eine Wort. "Na also! Er verdient es, Bescheid zu wissen!". "Weißt du noch, was du vorletzte Woche gesagt hast? Du warst es doch, die mich beinahe dazu überredet hat, mitzumachen". Rumdrucksen. "Ja, ich glaub, ich war da doch etwas voreilig - hatte die letzten Tage Zeit, darüber nachzudenken und finde, dass ihr es ihm sagen solltet!". "Aber noch nicht jetzt, noch nicht. Er versucht gerade, rauszufinden, ob er mir trauen kann, wenn ich damit anfange, verliere ich alles wieder". "Meinst du, es wird einfacher, wenn ihr euch endgültig ineinander verliebt habt?". "Daran denke ich noch gar nicht". Ungläubigkeit. "Nicht zu fassen". "Ich will das geniessen, was jetzt ist! Erinnerst du dich?! Auch das hattest du mir geraten!". Seufzen. Resigniertes Nicken. "Ich sagte doch bereits, ich war voreilig!". "Gut - aber nun lass mich das bitte so durchziehen, wie ich's als richtig erachte, okay?!". "Auf die Gefahr hin, dass du ihn verletzt?!". "Das musst du gerade sagen!". Am bissigen Ton ihrer Freundin erkannte Sachiko, dass sie zu weit gegangen war. Ja, was masste sie sich an, Chieko Vorwürfe zu machen. Damals hatte diese sie schliesslich auch nicht mit Fragen gelöchert und mit guten Ratschlägen eingedeckt - obwohl sie Mühe gehabt haben musste, nicht Partei zu beziehen und gleichzeitig zu vermitteln. "Tut mir leid - ist wirklich deine Sache. Erzähl weiter, was habt ihr gemacht?". Chieko trank ihre Latte aus und stiess das hohe Glas weg. "Wir waren essen, im J-Pop-Café - irgendwo in der hintersten Ecke, wo es am dunkelsten ist und wo keiner richtig hingucken kann. Er meinte, er habe keine Lust, im Dome zu essen - er wollte mir nicht den Star zeigen, sondern sich selbst". "Wie schön". "Ja, das war es. Und lustig. Es gibt so viele schlechte Videoclips - unglaublich". "Soso, ihr seid über die Werke anderer Bands hergezogen - naughty, naughty!". "Du hättest sein Lachen dabei sehen sollen - dieses ehrliche, erlöste Lachen. Ich hatte Tränen in den Augen vor Glück und Ergriffenheit - und er meinte, es seien Lachtränen". Verlegenes Grinsen. Sachiko blickte in die strahlenden Augen ihrer Freundin. Verliebtheit - was für ein schönes Gefühl. Sie begann zu verstehen, warum Chieko ihre Meinung derart geändert hatte. "Und nun?". "Ihre neue CD kommt übermorgen raus. Die Tour startet am 15. Oktober. Vermutlich werd ich mir ein paar Gigs angucken gehen, muss aber noch schaun, wie das zeitlich klappt. Aber vor dem Tourstart veranstaltet die Band scheinbar noch ein Abschiedsessen...". "Und er hat dich eingeladen?". "Er meinte, ich solle mir den Abend frei halten". "Wowowow!". "Nicht gleich überbewerten - so, wie ich das verstanden hab, bringen da alle ihre Partnerinnen mit und da Kyo ausser mir grad niemanden hat, den er mitbringen könnte...". "Trotzdem - es ist doch ein guter Anfang". Nicken. Fröhliches Grinsen. "Ja, da hast du recht...". Die beiden verfielen in Schweigen. Die meisten Gäste des Cafés waren bereits gegangen, viele Tische und Stühle standen verlassen da. Ganz leise drang alte Jazz-Musik an ihrer beiden Ohren. Draussen hatte sich die Dunkelheit über die Stadt gelegt und nach den nassen Striemen an den Fenstern zu urteilen, regnete es. Chieko wusste, dass sie noch etwas loswerden musste - jetzt. Doch wie anfangen? Um den Brei rumreden? Oder direkter Angriff? "Denkst du manchmal an Gara?". Das zweitere. "Was?!" Vollkommen entgeistert fuhr die in Gedanken versunken gewesene Sachiko um. Die Augenbrauen ihres Gegenüber hoben sich nur fragend, abwartend. "Warum fragst du?". Sachikos Finger suchten Halt an ihrer mittlerweile leeren und erkalteten Tasse. "Seine Schwester war letzte Woche zu Besuch und er hat uns beide ins Studio eingeladen - sie sind grad dabei, ein neues Album einzuspielen. Einer der Songs hat meine Aufmerksamkeit erregt - und Gara hat es wohl im Nachhinein bereut, ihn mir vorgespielt zu haben...". Nun war es an Sachiko, fragend die Brauen zu heben. "Ach ja?". Chieko bückte sich, öffnete ihre alte Ledertasche und entnahm dieser ein Blatt Papier. "Ich habe mitgeschrieben, so gut es ging". Mit diesen Worte reichte sie es ihrer verdattert dasitzenden Freundin, die unsicher danach griff und sich dem Text darauf widmete. An diesem Tag hatte ich das Gefühl, mich überwinden zu können, dich wiederzusehen, die du mich verlassen hast... Für immer werde ich dort auf dich warten, wo wir uns getrennt haben...während ich Kaffee trinke... Wende deine Augen nicht ab von mir, deine Hände entfernen sich und zwischen uns liegen Meilen Für wie lange soll ich hier alleine warten? ...Ich... Ich frage mich, ob ich dich ärgere? Ich frage mich, ob du mich hasst? Ich frage mich, ob ich dich nerve? ...Ich verstehe das, aber... Das Wort, das ich zu dir sagte, war ,Sayounara'... Heute Nacht fliessen die Tränen wieder...schwarz gefärbt von meinem Mascara... Ein emotionales Zwischenspiel...wir gehen aneinander vorüber, wie immer Du gehst an mir vorbei, nicht wahr? Weil ich unsere Erinnerungen nicht löschen will, behalte ich alle Mails und Aufzeichnungen auf meinem Handy Wie oft schon habe ich mein Ohr an den Hörer gedrückt und mir deine alten Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter angehört? Und...ich frage mich, ob ich eines Tages deinen Namen vergessen kann...? Sachiko hatte langsam gelesen, zeitweise sogar die Worte geflüstert. Nun sass sie ganz still da, nur ihre Finger spielten nervös mit dem Papier. Chieko hatte sich in der Zwischenzeit eine Zigarette angezündet und betrachtete ihre Freundin eingehend im schummrigen Licht. "Warum tut er das? Warum schreibt er nen Song, der sich so offensichtlich um mich und ihn dreht? Warum ruft er mich nicht einfach mal an?". Verzweifelte Ratlosigkeit spiegelte sich in den grossen, haselnussbraunen Mandelaugen. "Oh, Sachi...das weisst du doch selbst am besten, oder? Sein verdammter Stolz ist ihm im Weg...und er hat Angst davor, wie du reagierst...". "Hat er dir das gesagt?". "Nein, aber ich weiss es. Schliesslich hat er damals die Entscheidung gefällt, oder?". "Und nun bereut er und meint, er könne mit nur einem lächerlichen Song alles wieder gut machen?". Sachiko schnaubte erbost und zerknüllte das Blatt. "Hauptsache ist, dass du ihn auch noch nicht vergessen hast". Chieko drückte ihre Zigarette aus und schlüpfte in ihren Tweedmantel. "Ich muss mal los, in der Dunkelkammer wartet noch aufgeschobene Arbeit auf mich - Hochzeitsfotos!". Sachiko nickte verständnisvoll und zwang sich zu einem Lächeln. "Viel Spass. Und halt mich auf dem Laufenden, ja?!". "Werde ich - und du ruf mich an, wenn was ist, ne?!". Wieder ein Nicken. Chieko stand auf, nahm ihre Tasche, suchte darin nach ihrem Regenschirm und verliess nach einem letzten Winken das Café. Ihre Freundin sass noch eine ganze Weile still da. So viel Zeit war vergangen, und doch tat es noch immer weh. Hauptsache ist, dass du ihn auch noch nicht vergessen hast... Unfähig, ihre wabernden Gedanken zu ordnen, strich sie sorgfältig das zerknüllte Papier glatt. Jetzt, wo Chieko weg war, sammelten sich beim Lesen Tränen in ihren Augen. Wie sehr sie sich bemüht hatte, sich einzureden, dass sie ihn hasste! Hassen musste! Nur um danach zu erkennen, dass sie für ihn alle möglichen Gefühle hegte, nur keinen Hass... * * * "Ich habe eine gute Nachricht für dich". Akemi sah von ihrem Buch auf und blickte Shinya entgegen, der leise ins Zimmer getreten war. "Und die wäre?". "Am 13. Oktober gibt's ne "Abschiedsparty" - und du bist herzlich eingeladen". Sie sprang auf und liess ihr Buch dabei auf den Boden fallen. "Wirklich?!". Ihr strahlendes Gesicht wärmte sein Herz. Egal, was er wollte und was nicht - das wichtigste war, sie glücklich zu machen. Erst recht, wo er sie doch schon sehr bald länger nicht mehr sehen würde. Manchmal verabscheute er seinen Job mehr als er ihn liebte. Doch ihre Freunde entschädigte ihn gerade in dem Moment für alles Leid, was in Zukunft auf sie zukommen mochte. "Mal dir das nur nicht zu schön aus - die anderen sind echte Deppen!". Sofort erstarb ihr Lachen und ihr forschender Blick schien ihn durchleuchten zu wollen. Um ihre Bedenken zu zerstreuen, legte er seine Hände um ihre Hüfte und streichelte sie sanft. "War ein Witz! Wird bestimmt ein schöner Abend - die anderen nehmen ihre Freundinnen auch alle mit. Du wirst also endlich mal die ganze Bande kennenlernen...". "Auch Yumi?". "Das hängt ganz von Kaoru ab...". "Und Kyo, kommt der allein?". Schulterzucken. "Was weiss ich...er hat ein Auge auf Garas Cousine geworfen, vermutlich nimmt er die mit. Aber kein Wort davon, dass Gara sie kennt, ja?! Kyo soll das nicht wissen!". Ratlosigkeit. Grinsen. "Ich muss das nicht verstehn, oder?!". Kopfschütteln. "Nein, versuch's lieber erst gar nicht...". Nun lachte sie wieder, umfasste mit beiden Händen sein Gesicht und sah ihm in die tiefbraunen Augen.. "Danke, Shinya. Ich weiss, wie schwer es dir fällt, mich zu eurer Party mitzunehmen. Darum...danke!". "Ich liebe dich - und um dich glücklich zu sehen, bringe ich gerne Opfer, Akemi". * * * Die Tatsache, dass zumindest mit dem wachsenden Kind in ihr soweit alles in bester Ordnung war, hatte Yumi wieder besser gestimmt, wenn auch nur sehr wenig. Vor sich hin sinnierend ging sie die Treppe hinunter. Sie hätte den Aufzug nehmen können, hatte aber keine allzu grosse Lust gehabt, darauf zu warten. Im übrigen mochte sie Treppen. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. War er überhaupt jemals daraus verschwunden gewesen? Wie gerne hätte sie all dies mit ihm geteilt, ihn am liebsten jetzt gleich angerufen. Doch sie wusste, dass ihr die Worte fehlen würden. Gleichzeitig fragte sie sich, wann sie es ihm sagen sollte, wenn nicht jetzt. Nach den letzten Tritten trat sie in die Lobby, sah sich kurz um, wandte sich dann dem Ausgang zu - und erstarrte. Dieser Rücken. Der Gang. Der Nacken. Das Ziel all ihrer Sehnsüchte, direkt vor ihr. Auf einmal fühlten sich ihre Hände feucht an. Hatte sie jetzt schon Wahnvorstellungen? Unmöglich, dass er hier war! Und doch, er musste aus Fleisch und Blut sein - ein paar ihm entgegenkommende Ärzte waren ihm gerade ausgewichen. Nachrennen? Rufen? Was?!? Als ob er ihr Dilemma gefühlt hätte, hielt er auf einmal inne, drehte sich um. Sie sah ihn direkt an. Blickte in das Gesicht, das ihr vor zwei Stunden aus Papier entgegen geschaut hatte. So viele Emotionen auf einmal, es fiel ihr schwer, sie alle zu deuten. Ungläubigkeit. Trauer. Liebe. Immense Erleichterung. Freude? All dies erkannte sie in den ihr so bekannten Zügen und fragte sich, ob ihr Gesicht das Gleiche widerspiegelte. Wie lange standen sie jetzt schon so da? Eine Minute? Fünf Minuten? Zögernd trat sie einen Schritt auf ihn zu und begann ganz leicht zu lächeln, als er ihr ebenfalls entgegen kam. Und erst jetzt sah er sie ganz an, ihren Körper, nicht nur ihr Gesicht - und es mischten sich weitere Gefühle unter die vielen anderen: erstaunte, ja beinahe schockierte Fassungslosigkeit und verhohlene Enttäuschung. "Yumi...". Ihr Name, aus seinem Mund, nach so langer Zeit. So viel Zärtlichkeit schwang in dem einen Wort, dass sie befürchtete, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. Schicksal? Zufall? Egal was, der Zeitpunkt war genau richtig - denn auf einmal erkannte sie, dass, trotz allem, was gewesen war, sie ihn nicht länger hätte warten lassen dürfen. Jetzt waren sie quitt - ein und für allemal. Denn der Schmerz, den er jetzt empfand, musste gleich gross sein, wie der ihre die ganze Zeit über gewesen war - wenn nicht grösser. "Kaoru..." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch sie hoffte, dass in ihr genau gleich viel Zuneigung mitschwang, wie in der seinen vorhin. Sie konnte sehen, wie seine Gedanken rotierten. Warum? Warum?, musste er sich fragen. Warum hast du mich nicht teilhaben lassen? Dürstend nach seiner Berührung zog sie ihn in ihre Arme - und war unendlich erleichtert, als er die seinen ebenfalls um sie legte und sie ganz sanft an sich drückte. Ihre Nase sog den so lange vermissten Geruch ein, grub sich in seine Jacke, während seine Hände ihren Rücken streichelten, sich in ihre Haare gruben. Wie lange sie so dagestanden hatten, wussten sie am Ende beide nicht mehr. In dem Augenblick war die Zeit für sie bedeutungslos geworden - was zählte, war dieser eine Moment. Und die Zeit, die danach kommen würde. + + + [Lyrics 1: "We might as well be strangers" © Keane] [Lyrics 2: "Ren'ai Kousaten" © Merry] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)