Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Kapitel 7: Die besorgten Lehrer ------------------------------- Als Minerva den Teppich anhob, der den Zugang zur Kinderhöhle bedeckte, kam ihr der scharfe Geruch von Schweiß und männlichem Samen entgegen. Bis auf dem Feuer im Zentrum der Höhle waren alle Lichter gelöscht worden, aber ein lautes, zweistimmiges Stöhnen lenkte Minervas Blick auf genau die Schlafnische, mit der sie schon gerechnet hatte. Zwei schlanke Körper waren dort zu erkennen, über einander gekauert und offensichtlich zitternd vor Erregung. Obwohl die Stellungen anderes vermuten lassen würden, war die Person, die unten lag, eindeutig fordernder und gab das Tempo vor. Wenn sie nicht unterbrochen würden, könnte sich dieses Spiel noch eine Weile hinziehen. Mit einem Augenrollen zog Minerva eines ihrer Rebmesser aus der Gürtelschlaufe und schlug mit dem Knauf gegen den Stein neben ihr, um einen lauten, hellen Ton zu erzeugen, der ihr sofort die Aufmerksamkeit der beiden Gestalten sicher stellte. „Sting, beeil’ dich, wir wollen bald los.“ „Verschwinde, Grünländerin!“, grollte eine aggressive Stimme, die Minerva sehr bekannt vorkam. Skeptisch zog sie die Augenbrauen in die Höhe. „Halt’ die Klappe“, fauchte Sting und stemmte sich trotz des größeren Körpergewichts des Älteren in die Höhe, um den Kopf aus der Schlafnische heraus zu strecken. Selbst unter den schwachen Lichtbedingungen war sein Grinsen nicht zu übersehen. „Geh’ schon mal vor, Nerva, ich bin gleich da.“ Schnaubend drehte sie sich wieder herum und hob den Teppich an. „Überanstreng’ dich nicht.“ Lachend zog Sting den Kopf wieder in die Schlafnische und drängte sich wieder gegen seinen Partner, so fest und hart, dass dessen Protestlaut in einem lauten Stöhnen unterging. Kommentarlos verließ Minerva die Höhle wieder und folgte dem Gang zurück zum Tageslicht. Im Inneren Kreis herrschte die übliche Geschäftigkeit. Eine kleine Gruppe Kinder von vielleicht fünf oder sechs Dürren prügelte mit stoffumwickelten Übungssäbeln blindwütig aufeinander ein, beiläufig überwacht von den Erwachsenen in ihrer Nähe. Kein Lehrer stand daneben. Richtigen Unterricht erhielten die Kinder erst mit acht Dürren, vorher ließ man ihnen ihren Spaß. Das Gelächter und Geschrei der Kinder hallte im Steinrund wieder, aber niemand störte sich daran. Die Frauen und Männer an den Kochfeuern und beim Teppichknüpfen gingen ungerührt ihrer Arbeit nach. Eine Frau saß mit entblößten Brüsten am Rand und stillte ihr Kind. Ein anderer Säugling krabbelte nach Herzenslust zwischen den Felsen herum und wurde nur von Erwachsenen umgeleitet, wenn er in die Nähe der Kochfeuer zu geraten drohte. Es war nicht einmal klar, wer die Mutter oder der Vater des Kindes war. In einem ruhigeren Winkel des Inneren Kreises entdeckte Minerva Yukino. In den vier Dürren, seit Yukino sich ihnen angeschlossen hatte, hatte sie sich in so mancher Hinsicht verändert. Obwohl immer noch sehr zierlich, war sie nicht mehr so mager wie damals. Langsam deuteten sich bei ihr sogar zarte, weibliche Rundungen an, die ihr bereits die Aufmerksamkeit einiger Jugendlicher einbrachte. Sie trug Pluderhosen, Tunika und Tagelmust nach Art der Wüstennomaden, aber sie verzichtete auf die geschmeidigen Lederstiefel und blieb barfuß – eine Angewohnheit, die oft schief beäugt wurde, aber Fakt blieb, dass Yukino besser klettern konnte als jeder andere hier und dass sie trotz der zwei Dürren Altersunterschied bereits eine genauso geschickte Reiterin wie Sting und Minerva war. Während Sting seine scharfen Instinkte und Minerva ihre hart trainierte Technik hatten, war Yukinos Vorteil die Erfahrung, die sie während ihrer Zeit alleine in der Stillen Wüste gesammelt hatte. Bei Yukino waren Aki und Toraan. Die beiden Dämonenkinder waren jetzt fast fünf Dürren alt, hatten aber noch kaum Kontrolle über ihre Fähigkeiten – ein Grund mehr, warum es immer noch Stimmen gab, die dafür plädierten, sie auszusetzen. Im Moment befand sich Aki in seiner Wolfsform. Er reichte Yukino fast bis zur Hüfte, aber seine Pfoten waren noch viel zu groß für seinen Körper. Zwischen dem struppigen Fell am Kopf wuchsen zwei noch winzige Hörner heraus. In einer von Meister Gran Domas Schriftrollen hatte Minerva mal gelesen, dass ausgewachsene Wolfsdämonen in ihrer tierischen Form zwischen anderthalb und zwei Mannslängen groß werden konnten. Aki hatte also noch einen langen Weg vor sich und wenn man sich so ansah, wie er immer wieder über seine eigenen Pfoten stolperte und ins Leere schnappte, wenn er eigentlich versuchte, die von Yukino geworfenen Stöckchen zu fangen, wirkte er tatsächlich noch wie ein Welpe. Seine Rute wedelte wie verrückt, wann immer er es schaffte, ein Stöckchen zu fangen. Toraan neben Yukino klatschte dabei jedes Mal laut mit den Händchen und der Sand umwirbelte dann immer ihre nackten Füße. Aki war der Erste, der Minerva bemerkte. Mit einem aufgeregten Kläffen galoppierte er auf sie zu, stoppte jedoch zu spät und krachte mit beeindruckender Kraft gegen ihre Beine. Beherzt griff Minerva in das dichte Nackenfell des Dämons, um ihn auf die Beine zu ziehen. „Pass’ auf, wie schnell du läufst“, mahnte sie mit einem Zungenschnalzen. Zur Antwort kläffte Aki wieder nur, schüttelte ihre Hand ab und galoppierte zurück zu Yukino. Unterwegs machte er mehrere lustige Bocksprünge und dann fiel ihm ganz plötzlich ein, dass er seine Rute jagen wollte. Kopf schüttelnd folgte Minerva ihm und ignorierte den Schmerz an ihren Beinen. Das würden wahrscheinlich blaue Flecken werden, aber wer sich von Sting zu allen möglichen Waghalsigkeiten anstacheln ließ, war sowieso schon bei so etwas abgehärtet. Außerdem wollte Minerva den Wüstennomaden, die den Zusammenprall beobachtet hatten, nicht die Genugtuung geben, einen weiteren Vorwand zu haben, Aki etwas vorwerfen zu können. „Wie lange ist Aki schon in seiner Wolfsform?“, wandte sie sich fragend an Yukino. „Seit dem Morgen“, antwortete die und hob den Blick zur Sonne, die beinahe im Zenit stand. „Dann dürfte er wohl bald müde genug sein“, stellte Minerva fest. Protestierend jaulte Aki und kratzte sich dann so heftig hinterm Ohr, dass er auf die Seite fiel. Toraan lachte vergnügt und vor ihr schoss eine kleine Sandfontäne in die Luft. Leise kicherte Yukino in sich hinein, ehe sie wieder zu Minerva aufblickte. „Mummy müsste bald da sein.“ „Es eilt nicht“, erwiderte Minerva gedehnt. „Sting ist auch noch beschäftigt.“ „Was macht er denn?“, piepste Toraan und blickte neugierig zwischen ihnen hin und her. „Ich hatte ein wenig Spaß“, lachte es hinter Minerva. Als sie sich herum drehte, stand der Blonde vor ihr und band gerade seinen Kordelgürtel richtig. Seine Wangen waren von der Anstrengung noch erhitzt, aber er grinste schamlos, während er sich durch die Haare fuhr, um sie in Form zu bringen. „Das ging ja schnell“, stellte Minerva trocken fest. „Man muss nur wissen, wie’s geht“, war die erhabene Antwort. „Schon klar, aber wie bist du auf die Idee gekommen, mit Loirg das Lager zu teilen?“ Ungerührt zuckte Sting mit den Schultern. „Hatte sich halt so angeboten. Er ist wohl frustriert, weil Zara schon wieder schwanger ist und er nicht ran darf.“ Minerva schnaubte leise. Dass Loirg, der sich seit sechs Dürren eine Höhle mit Zara teilte, sich jedes Mal wie ein tollwütiger Schakal verhielt, sobald seine Partnerin wieder freudiger Erwartung war, war nichts Neues. Vielleicht frustrierte es ihn doch, dass zwei seiner drei Höhlenkinder offensichtlich nicht von ihm sondern von anderen Männern waren, jedenfalls nahm er alles, was er kriegen konnte. Bevorzugt Frauen, aber Stings starke Anziehungskraft schien auch auf ihn zu wirken. „War allerdings nicht sehr befriedigend, kann ich dir nicht empfehlen“, urteilte Sting und deutete zur Unterstreichung ein Gähnen an. Da das Thema für Sting bereits erledigt zu sein schien, bückte er sich, um eines der Stöckchen aufzuheben, die Aki wieder angeschleppt hatte, und für den Welpen zu werfen. Der machte einen spektakulären Sprung und fing das Holz auf, unterschätzte dabei jedoch die Kraft seines eigenen Kiefers und zermalmte das Stück. Verdutzt landete er auf allen Vieren und drehte sich zu den Anderen herum. Lachend trabte Sting zu dem Dämon hinüber, um ihm einen dicken Stock für ein Zerrspiel anzubieten. Minerva setzte sich neben Yukino in den Sand, um die Beiden zu beobachten, und dachte dabei an Stings Worte. Es hatte sich vorhin nicht so angehört, als hätte Sting keinen Gefallen am Beischlaf mit Loirg gehabt, und nach allem, was Minerva bereits vom Höhlengeflüster gehört hatte, traf der Ältere mit seiner harten, gierigen Art Stings Partnergeschmack ziemlich gut. Aber Loirg war nicht der Erste, den Sting abgeschoben hatte, nachdem er Minerva beleidigt hatte. Sie wusste nicht, wie sie das ansprechen sollte. Dass Sting sie über alle Anderen stellte und es sich ihretwegen immer wieder mit potenziellen Partnern verscherzte, rührte sie, aber gleichzeitig fragte sie sich, ob sie das verdient hatte. Was machte es schon, wie einige der Wüstennomaden noch immer mit ihr umgingen? In der nächsten Dürre würde die Reiterinitiation stattfinden, an der auch Minerva endlich teilnehmen durfte. Danach würde sie sich auf den Weg nach Sabertooth machen. Danach würde sie mit den Wüstennomaden nicht mehr viel zu tun haben. Sting sollte es sich ihretwegen nicht mit seinem Volk verscherzen… Yukinos zierliche Hand auf ihrem Bein ließ sie aufblicken. Die großen, braunen Augen musterten sie aufmerksam. Um die schmalen Lippen spielte ein verständnisvolles Lächeln. Ganz unwillkürlich legte Minerva ihre Hand auf Yukinos und drückte diese sachte. Obwohl die Umstände jeweils vollkommen anders waren, steckten sie hier in der Zuflucht in derselben Situation. Sie waren Beide Fremdlinge in den Augen der Wüstennomaden. Bei vielen mochten sie sich mit ihren herausragenden Fähigkeiten als Reiterinnen Respekt verdient haben, aber es gab auch genug Männer und Frauen, die sie Beide immer noch als Grünländer sahen und es wohl auch immer tun würden. Der Einzige, der sich nie darum gekümmert und immer zu ihnen gehalten hatte, war Sting. Sie hatten keine Chance gehabt, sich das in irgendeiner Form zu verdienen, Sting hatte ihnen seine bedingungslose Treue einfach geschenkt. Sowohl vor acht Zyklen bei Minerva als auch vor vier Zyklen bei Yukino war es für ihn vollkommen selbstverständlich gewesen. Weil er schon viel früher als sie Beide etwas gewusst hatte, was ihnen keiner je hätte beibringen können. Nachdenklich grub Minerva ihre freie Hand in den Sand und ließ ihn langsam wieder zu Boden rieseln. Ihr war es wirklich erst vor einem Zyklus richtig klar geworden, als sie in Meister Gran Domas Höhle eine Schriftrolle studiert hatte, in der erklärt worden war, war es bedeutete, vom selben Sand zu sein. Als sie Sting und Yukino davon erzählt hatte, hatte Sting sie nur angesehen, als hätte sie ihm gesagt, dass es in der Wüste Sand gäbe. „Mummy!“ Neben Yukino sprang Toraan auf die Beine und rannte zum Nordgang hinüber, aus welchem eine Gruppe Jäger trat. Mit einem jubelnden Kläffen überholte Aki das Mädchen und erreichte vor ihm die hochgewachsene, blonde Jägerin, die ihre Beute mit beiden Händen festhalten musste, als der Wolf gegen ihre Beine krachte. Ihres Tadels zum Trotz sprang er danach hechelnd um sie herum. Mitten in einem Sprung verwandelte er sich in seine menschliche Form. Ohne sich seiner Nacktheit zu stören, plapperte er munter drauflos und fragte seine Ziehmutter nach ihren Erlebnissen während ihres Jagdausflugs aus. Vor Minerva und Yukino baute sich Sting auf. „Also können wir gehen, oder?“ In seinen blauen Augen spiegelten sich Aufregung und Neugierde wieder. Bevor sie sich in die Höhe stemmte, atmete Yukino tief durch. Minerva bemerkte, wie ihre Hand nach der kleinen Ledertasche tastete, die sie neben ihren Waffen und dem Wasserschlauch an ihrem Kordelgürtel trug. Was sich darin befand, wusste Minerva nicht, aber sie hatte auch nie danach gefragt. Sie hatte nur gewusst, dass es Yukino wichtig war und dass es damit zusammenhing, warum sie in den letzten vier Zyklen immer wieder mal für einen oder zwei Tage verschwunden war. Obwohl sie Yukino nie dazu gedrängt hätte, war sie jetzt doch froh, dass die Jüngere ihr und Sting dieses Geheimnis endlich anvertrauen wollte. Gemeinsam machten sie sich auf dem Weg zum Nordgang. Auf dem Weg dorthin zauste Sting die Haare der beiden Dämonenkinder, die Mummy mittlerweile lange genug angebettelt hatten, um von ihr hoch gehoben zu werden. Jauchzend wedelte Aki mit den Armen und betrachtete die Welt von oben, während Toraan sich vertrauensvoll an Mummys Hals klammerte. „Danke, dass ihr auf sie aufgepasst habt“, sagte Mummy und nickte den drei Jugendlichen zu. „Machen wir gerne“, winkte Yukino lächelnd ab und strich zum Abschied sanft über Toraans Haare. „Passt gut auf euch auf“, rief Mummy ihnen noch hinterher. Zur Antwort winkte Sting nachlässig, ehe er breit grinsend die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Es war offensichtlich, dass er den Ausflug alleine in die Wüste auf die leichte Schulter nahm, aber wenn Minerva ehrlich war, sah sie genauso wenig ein Problem darin. Elias weigerte sich zwar immer noch, es anzuerkennen, aber sie hatten alle Drei bereits alles über das Basiliskenreiten gelernt, was man ihnen durch Erklärungen überhaupt beibringen konnte. Und selbst wenn einem von ihnen noch ein Fehler unterlaufen sollte, waren ja noch die anderen Beiden da, um zur Hilfe zu kommen. Das war für Minerva so sicher wie nichts anderes auf der Welt – und deshalb gab es für sie nicht den geringsten Grund, Sting und Yukino nicht hinaus in die offene Wüste zu folgen. „Sie sind noch nicht so weit.“ Mit finsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen saß Elias neben Gran Doma. Aus dem Augenwinkel konnte der Wüstenweise sehen, dass der Reiter nicht einen Herzschlag lang den Blick von den drei Jugendlichen ließ, die sich gerade mit Mummy unterhielten. Sein Unterkiefer mahlte unablässig und seine Finger schlossen sich so fest um seine Oberarme, dass die Knöchel hervorgehoben wurden. „Sie haben nichts als Sand im Kopf, stürzen sich in jedes Abenteuer, das ihnen auch nur zuzwinkert, und haben mehr Selbstvertrauen, als jemals angemessen wäre.“ „Klingt ganz nach dem, was man von ihrem Alter erwartet“, murmelte Nark zu Gran Domas anderer Seite und warf ein neues Holzscheit ins Feuer. „Deshalb warten wir mit der Initiation ja auch immer bis zur siebzehnten Dürre, aber bei den Beiden… In meinem Unterricht können sie nichts mehr lernen, soviel steht fest. Sie sind ihren Altersgenossen weit voraus.“ „Beim Reiten ist es ganz genauso. Ich habe damals schon gestaunt, als Elias schon so früh den Umgang mit der Kettensichel gemeistert hat, aber Sting und Minerva sind sogar noch besser als er“, erklärte Adrim und legte beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel seines Partners. „Und von Yukinos feinen Gespür für die Muskelbewegungen der Basilisken fange ich lieber gar nicht erst an. Ich bin seit zwanzig Dürren da draußen unterwegs, aber in dieser Hinsicht ist Yukino mir weit überlegen.“ „Es spielt keine Rolle, wie gut sie vielleicht sind. Sie sind unreif. Bei der Initiation geht es um mehr als nur ihre Lernfortschritte“, knurrte Elias. „Na ja, um ehrlich zu sein, geht es nur darum bei der Initiation“, widersprach Asim auf der anderen Seite des Feuers. Neben ihm zog Dov den Kopf ein, aber der ältere Händler fuhr fort. „Die Initiation beweist, dass wir unsere Ausbildung abgeschlossen haben. Über unsere Reife verrät es nichts. Kann es auch gar nicht. Keine zwei Kinder sind gleich. Das eine wird früher erwachsen, das andere später. Dov hier hätte unter dem Gesichtspunkt erst mit zwanzig Dürren seine Initiation kriegen sollen.“ Der junge Mann verzog missmutig das Gesicht, war jedoch klug genug, nicht zu widersprechen. Elias hingegen schien mit diesem Argument nicht zufrieden zu sein. Er schob Adrims beruhigende Hand von sich und beugte sich vor. Seine Stimme war jetzt ein bedrohliches Zischen. „Sie brauchen noch mindestens eine Dürre unter Aufsicht. Jetzt sind sie definitiv noch nicht reif genug, um die Initiation vorzeitig zu erhalten.“ Gran Doma unterdrückte einen Seufzer und beobachtete, wie Sting, Minerva und Yukino sich von Mummy und den beiden Dämonenkindern verabschiedeten, ehe sie auf den Nordgang zuhielten. Sie hatten sich sehr verändert im Vergleich zu den vorlauten Kindern vor acht Dürren. Damals war Sting noch ein Rotzbengel gewesen, der jeden Tag nur nach einem spaßigen Abenteuer gesucht und sich auf seine Reiterausbildung gefreut hatte. Heute mochte er immer noch vorlaut und ein Abenteurer sein, aber wenn Gran Doma jetzt in seine Augen blickte, erkannte er so viel mehr darin. Für diejenigen, die vom selben Sand wie er waren, war Sting bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Er war wild dazu entschlossen, Minerva zu helfen und zu beschützen. Eine leise Stimme in Gran Domas Hinterkopf fragte sich, wie das enden mochte… Und Minerva… Sie war das Ebenbild ihres Onkels geworden. Ihr Umgangston – vor allem mit Sting – mochte sehr viel derber sein, aber in ihren olivgrünen Katzenaugen, die Athenaeos’ so ähnlich waren, spiegelten sich ein überaus wacher Geist und eine unglaubliche Entschlossenheit wieder. Acht Dürren lang hatte Minerva alles gelernt, was sie nur hatte lernen können, hatte sich tagtäglich neuen Herausforderungen gestellt, Geist und Körper gestählt – immer mit ihrem Ziel vor Augen, das Erbe ihres Onkels anzutreten. Zuletzt war da noch Yukino, eine weitere große Überraschung in Gran Domas so wendungsreichem Leben. Bis heute konnte er nur erahnen, was dem Mädchen in der Zeit, bevor es von Sting und den Anderen gefunden worden war, widerfahren war, und er hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, an was für einem Ort es aufgewachsen war, bevor sein Weg es in die Stille Wüste geführt hatte. Aber es war so viel stärker, als Gran Doma es bei anderen Kindern seines Alters erlebt hatte. Es hatte Schmerz gesehen und gespürt, war Zeuge von Grausamkeit und Tod geworden – aber wie durch ein Wunder war es darüber nicht zerbrochen, sondern stärker geworden. Stark genug, um sich dafür zu entscheiden, sich Stings und Minervas Kampf anzuschließen. Dass ein so junges Mädchen sich für solch ein Unternehmen meldete, verlieh dem Ganzen in gewisser Weise eine völlig neue Ebene. Drei vollkommen unterschiedliche Kinder und sie waren alle vom selben Sand und wussten es mittlerweile sogar. Solch ein festes Band hatte Gran Doma in all den Zyklen seines schon so langen Lebens nie zuvor gesehen. Sie schafften es, aus diesem Band Stärke zu schöpfen, ihr Vertrauen ineinander war grenzenlos… Vielleicht war genau das der Knackpunkt für Elias. Gran Domas Blick wanderte zu dem jungen Mann, der sich eine heftige Diskussion mit Asim lieferte, während sein Partner mit einem besorgten Stirnrunzeln daneben saß. Gewiss machte auch Adrim sich seine Gedanken über Elias’ Gebaren. Lange genug schon waren sie Partner, dass Adrim über die Familiengeschichte des Jüngeren Bescheid wusste. Die Ähnlichkeit zwischen Elias’ Schwester Elem damals und den drei Kindern konnte Adrim auch nicht entgangen sein. „Meister, wenn wir Sting und Minerva wirklich jetzt schon für die Initiation zulassen, werden sie danach sofort nach Sabertooth gehen“, unterbrach Elias seinen Streit mit Asim und drehte sich wieder Gran Doma zu. Seine Miene wirkte aller Beherrschtheit zum Trotz beinahe gequält. „Gebt ihnen noch diesen einen Zyklus, um stärker zu werden und mehr Erfahrungen zu sammeln. Sie sind immer noch halbe Kinder. Sie sind nicht bereit für das, was sie in Sabertooth erwartet.“ „Als ob du so viel davon wüsstest, was sie in Sabertooth erwartet“, schnaubte Asim und warf sich in die Brust. „Wer ist denn seit Athenaeos’ Tod immer wieder dort gewesen und hat gesehen, wie das Elend dort wächst? Ich! Das Volk braucht endlich eine gute Fürstin, sonst ist bald nichts mehr davon übrig!“ Bevor Elias zu einer scharfen Erwiderung ansehen konnte, warf Nark eine ausgetrocknete Wasserknolle ins Feuer. Die Funken stoben in die Höhe und ein leises Zischen erklang, als die Flammen die gut versteckte Restfeuchtigkeit in der Knolle verdampfen ließ. „Asim, es ist nicht unsere Aufgabe, die Entscheidung über Stings und Minervas Initiation von Sabertooths Schicksal abhängig zu machen. Egal wie dringend man dort Hilfe braucht, wenn die Beiden dorthin aufbrechen, obwohl sie noch nicht so weit sind, bringt das nichts weiter als noch mehr Kummer und Elend. Ich bin für die Initiation, weil ich Sting und Minerva nichts mehr beibringen kann, mehr kann ich nicht beurteilen.“ Der alte Krieger warf eine weitere Knolle in die Flammen, ohne den Blick zu heben. In der freien Hand hielt er einen Zipfel seines alten Tagelmust. Das gute Stück war vor einer Weile zerrissen. Seitdem trug Nark ihn um den Gürtel geknotet weiter bei sich. Gran Doma versuchte, sich an die Frau zu erinnern, die ihn geknüpft hatte, aber er musste sich selbst eingestehen, dass ihm nur noch wenig zu ihr einfiel. Sie und Nark waren nur zehn Dürren jünger als Gran Doma gewesen und sie hatten außergewöhnlich früh den Bund geschlossen. Jeder hätte erwartet, dass Nark nach ihrem Tod eine neue Frau für seine Höhle suchte, aber das war bis heute nicht geschehen. Ein seltener Fall innerhalb des Freien Volkes. Nach den Worten des erfahrenen Lehrmeisters wagte keiner der Anderen es noch, das Wort zu erheben, also entschied Gran Doma sich dafür, die Stille zu durchbrechen. „Ich habe eure Argumente gehört und ich kann mir auch eure Gründe dafür denken. Bis zur Initiationszeremonie haben wir noch einen halben Mond Zeit. Ich werde diese Tage nutzen, um zu einer Entscheidung zu kommen.“ „Meister-“ „Elias, nicht“, mahnte Adrim leise, die Miene geradezu schmerzlich sanft, während er nach der Hand seines Partners griff. „Der Wüstenweise wird entscheiden, wie er es für richtig befindet. Hab’ Vertrauen.“ Noch einmal öffnete Elias die Lippen, dann seufzte er nur resigniert und stemmte sich in die Höhe, um sich schnell entfernen zu können. Adrim murmelte eine Entschuldigung, dann folgte er seinem Partner eilig. Wortlos blickte Gran Doma ihnen hinterher und beobachtete, wie Adrim den Jüngeren einholte und fest in die Arme schloss, um leise auf ihn einzureden. Als Gran Doma das erste Mal den Namen Elem von Adrims Lippen abzulesen meinte, machte Elias Anstalten, sich freizuwinden. Es entstand sogar ein Gerangel, ehe sich der junge Reiter wieder unter Kontrolle hatte. Wenn Gran Doma ehrlich war, war er überrascht, wie tief es den sonst so beherrschten Elias auch heute noch traf, an seine ältere Schwester erinnert zu werden. Obwohl Elems Tod nie bestätigt worden war, war sie innerhalb der Zuflucht genauso vergessen wie jeder andere Tote. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ausgerechnet Adrim und Elias für die Ausbildung von Sting und Minerva auszuwählen. Damals hatte Gran Doma so entschieden, weil sie in seinen Augen trotz ihres jungen Alters die besten Lehrer für die beiden Kinder gewesen waren. Aber womöglich hätte er damals schon die indirekte Verbindung zwischen Elias und den beiden Kindern berücksichtigen sollen. Vielleicht war seine Entscheidungsfähigkeit aller gegensätzlichen Bemühungen zum Trotz doch getrübt. Denn zumindest vor sich selbst konnte er nicht leugnen, dass er bei der Frage nach Stings und Minervas vorzeitiger Initiation weder Sabertooth noch ihre tatsächliche Ausbildung im Hinterkopf hatte. Er konnte es nur besser verstecken als Elias. Seit Beginn ihrer Ausbildung hatte Minerva schon viele Basilisken gesehen, darunter auch einige besonders große Exemplare von fünfzehn und mehr Mannslängen. Bei allem Respekt und aller Bewunderung, die sie immer noch für die mächtigen Wesen empfand, hätte sie doch nicht geglaubt, dass der Anblick eines Basilisken sie noch aus der Fassung bringen konnte. Doch nun stand sie hier und starrte fassungslos zu dem Wesen hoch, welches sich hinter Yukinos zierlicher Gestalt im Sand nieder gelassen hatte. Allein der leicht erhobene Kopf war gut doppelt so groß wie Yukino. Die Länge des Körpers war unmöglich vernünftig einzuschätzen, aber Minerva würde eine Menge darum wetten, dass es mindestens dreißig Mannslängen waren. Allein der gegabelte Schwanz war beängstigend lang. Wahrscheinlich könnte allein der Schlag dieses Schwanzes einen ausgewachsenen Mann zermalmen. Die Schuppen des Wesens waren tief zerklüftet und zu einem hellen Graubraun ausgeblichen. Der gesamte Körper war von Narben bedeckt: Abgebrochene Schuppenkämme, tiefe Furchen, vage Kratzspuren, teilweise sogar herausgerissene Schuppen. Doch es waren alte Narben, Zeichen einer längst vergangenen Zeit. Denn das Wesen war alt. Uralt. Minerva war sich nicht klar, woher sie diese Gewissheit nahm, aber sie war da. Dieser Basilisk war älter als jeder andere Basilisk, dem sie jemals begegnet war. Älter als Meister Gran Doma, älter vielleicht sogar als die Unsterbliche Kaiserin, von der Minervas Onkel immer in den höchsten Tönen gesprochen hatte. Mit dem großen, bernsteinfarbenen Auge, welches der Basilisk Sting und Minerva zugewandt hatte, musterte er die Menschen. Keine Aggressivität ging von ihm aus, keine Fressgier, kein Zerstörungswahn. Er war ruhig, beinahe gelassen, aufmerksam, womöglich sogar neugierig. „Bei den Ausgeburten aller Höhlen!“, keuchte Sting neben Minerva und ging zitternd in die Knie. „Was ist das? Wie geht das? Das… das…“ Er stieß einen Würgelaut aus und strich sich fahrig durch die Haare. Stocksteif blieb Minerva stehen und ihr Blick wanderte langsam zu Yukino hinüber. Das Mädchen hatte seine Knochenflöte zurück in die Gürteltasche gesteckt und wandte sich jetzt dem Basilisken zu. Vertrauensvoll legte es seine Hände auf die großen Nüstern des Wesens – und dann lehnte es sogar seine Stirn gegen die Schuppenplatte zwischen den Nüstern. Zur Antwort senkte der Drachenartige seine Lider. Die Zuneigungsbekundung des Menschenkindes schien ihn mit Zufriedenheit zu erfüllen. „Unglaublich“, murmelte Sting und rang heftig mit den Armen. „Unmöglich! Keiner hat je… Die Geschichten…“ „Ich weiß auch nicht, wie es möglich ist“, erhob Yukino schließlich das Wort und drehte sich wieder zu ihren Freunden herum, eine Hand noch immer auf dem linken Nasenschlitz des Basilisken. „Aber Ophiuchus hat mich gerettet, als ich ganz alleine in der Wüste war und noch überhaupt nichts davon wusste, wie man hier überlebt.“ „Ophiuchus?“, echote Sting und ließ sich auf den Hosenboden plumpsen, um die Beine für einen Schneidersitz anzuziehen. Seine Haare waren völlig durcheinander und seine Stimme klang heiser. „Du hast ihm einen Namen gegeben?“ „Natürlich“, antwortete Yukino und in ihre Augen trat eine ganz besondere Zärtlichkeit, als sie kurz zu dem Wesen aufblickte. „Ophiuchus ist so viele Monde lang mein einziger Freund gewesen. Ich musste ihm unbedingt einen Namen geben…“ Minerva musste schwer schlucken. Sie selbst war damals bei ihrer Flucht aus Sabertooth nur ein paar Tage alleine in der Stillen Wüste unterwegs gewesen, ehe die Reiter sie gefunden und zur Zuflucht gebracht hatten, aber allein diese kurze Zeit hatte sie beinahe an den Rande des Wahnsinns gebracht. Sie hatte entsetzliche Angst gehabt, der Durst war unerträglich geworden, sie hatte halluziniert und in die Wüste hinein geschrien… Seit sie Yukino das erste Mal begegnet war, hatte sie sich gefragt, wie die Jüngere es geschafft hatte, inmitten dieser lebensfeindliche Umgebung zu überleben und stark zu werden. Jetzt verstand sie. „Dann hast du ihn jedes Mal besucht, wenn du die Zuflucht verlassen hast?“, fragte Sting und blickte vorsichtig zu Ophiuchus hoch. „Genau. Er hat mir gefehlt“, gestand Yukino und strich zärtlich über die harten Schuppen. „Es tut mir Leid, dass ich es euch so lange verschwiegen habe. Ich wusste lange Zeit nicht, wie ich es euch erklären sollte…“ Obwohl der Basilisk die Berührung wohl kaum spüren konnte, schloss er die Augen und drängte mit seinem Kopf nach vorn. Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang Sting auf und Minerva machte einen Schritt nach vorn, obwohl sie wusste, dass sie viel zu spät sein würde – aber Yukino nutzte den Schwung des Drachenartigen und sprang auf seine Nase. Mit völliger Sicherheit fanden ihre nackten Füße auf den Gesichtsschuppen den Weg nach oben zum Hinterkopf des Wesens, wo man sich normalerweise auch positionierte, um einen Basilisken zu reiten. Die Rebmesser blieben in ihrem Gürtel stecken, als sie sich zwischen den Ohrwülsten der Sandschlange im Schneidersitz niederließ und wieder zu Sting und Minerva hinunter blickte. Ihre Miene spiegelte Hoffnung wieder. „Wollt mit uns reiten?“ Wieder musste Minerva schwer schlucken und sie blickte nach rechts, um zu sehen, was Sting machte. Der Blondschopf kaute sich auf der Unterlippe herum und schien einen Moment zu zögern, doch als er sich zu Minerva herum drehte, erkannte sie in seinen Augen keine Angst mehr, sondern Aufregung und Abenteuerlust. In Minervas Inneren machte sich ein Kribbeln breit. Dies war ein Geheimnis, das ganz allein ihnen Dreien gehörte. Kein anderer Wüstennomade würde jemals auf so einem großen Basilisken reiten. War es da noch wichtig, eine Erklärung für Ophiuchus’ Existenz und sein zahmes Verhalten zu finden? Nein! „Wer zuletzt oben ist!“, sagte Sting mit übermütig blitzenden Augen. Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)