Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Kapitel 4: Das gestrandete Mädchen ---------------------------------- Das Meer rauschte, wie es das seit jeher getan hatte. Gleichmäßig schaukelnd, so beständig wie nichts anderes auf der Welt. Es war Ewigkeit und Augenblick, es war Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es brachte Geburt und Tod, war die Straße der Welt, Pfad der Magie, Heimat der Leviathane… Für das Mädchen war das Meer alles. Seit jeher war ihm erzählt worden, wie es inmitten eines Jahrhundertsturms an Bord der Roter Mond auf die Welt gekommen war. Sturmkind war das Mädchen oft genannt worden. Ein gutes Omen hatte man es geheißen, dass es an einem solch gefährlichen Tag unbeschadet geboren worden war. Gar von einem Segen der Leviathane hatten die Seeleute gesprochen. In seinen acht Sommern hatte das Mädchen mehrere Stürme miterlebt. Das Grollen des Donners, das Mahlen der Wellen, das Heulen des Windes, das Knirschen geplagten Holzes und die Schreie der Sterbenden waren ihm bekannt, doch auf eine entrückte, abenteuerliche Art und Weise. Stets hatte es sich vollkommen sicher geglaubt. Nie war ihm in den Sinn gekommen, dass auch sein Leben bedroht war. Bis zu jener Nacht… Träge lag das Mädchen am Strand und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf, der das Schicksal des Mädchens Lügen strafte. Die gleichmäßig heranrollenden Wellen spülten über den schlaksigen Kinderkörper hinweg, schienen ihn beinahe zu liebkosen, als könnten sie so vergessen machen, was dem Kind widerfahren war. Der Sturm. Der Blitz, der den Hauptmast traf. Die Flammen an Deck. Die panischen Schreie der Männer. Die schrille Stimme der Mutter, die verzweifelt versuchte, der Situation Herr zu werden. Die immer höher schlagenden Wellen, die das Schiff auf die Seite zu legen drohten. Das gewaltige Krachen, als der knirschende Mast aller Hinderungsversuche zum Trotz auf das Steuerrad fiel. Die heiseren Befehle des Kapitäns, das Schiff zu evakuieren. Das Quietschen der Seilwinden, als das erste Ruderboot zu Wasser gelassen wurde. Die festen, warmen Arme der Mutter in einer letzten Umarmung. Ein Kuss auf die Stirn und ein gewispertes Lebewohl. Das schwindende Gesicht der Mutter, die auf dem Schiff zurück blieb, während das Mädchen zwischen den Männern im Ruderboot saß und vom Ersten Maat eisern festgehalten wurde, egal wie sehr es auch um sich schlug und nach der Mutter schrie. Der Anblick des zweiten Ruderboots, das von den Wellen am Rumpf des Schiffes zerschmettert wurde. Dann aus der Ferne das Schauspiel, als das Schiff von einer Welle auf die Seite gelegt wurde und sich nicht wieder aufzurichten vermochte. Wellen, Wellen und noch mehr Wellen. Kälte und Nässe und Angst. Gebrüllte Befehle, die doch kaum über das Donnern zu hören waren. Immer neue Stöße. Dann eine noch größere Welle, die einfach über das lächerliche Ruderboot hinweg rollte. Holz und strampelnde Körper und so unendlich viel Wasser… Luft… Das Mädchen hatte keine Luft mehr gekriegt, hatte nicht mehr strampeln können, war einfach immer weiter gesunken an einen Ort, wo es nur noch Stille und Dunkelheit gab. Und es hatte gewusst, dass das der Seemannstod war, der so viele bekannte Männer und Frauen ereilt hatte, ohne dass das Mädchen es zuvor je richtig verstanden hätte. Das einst so geliebte Meer war für das Mädchen zu einem nassen, einsamen Grab geworden und das Mädchen hatte sich mit dem Gedanken getröstet, dass zumindest seine Schwester überleben würde, auch wenn diese vor einem Mond in den Krieg gezogen war – was auch immer das bedeuten mochte, es hatte die Mutter auf jeden Fall vor Verzweiflung weinen lassen. Dann waren da Augen gewesen. Riesige Augen von einem schimmernden Blau. Die Augen waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten das Mädchen angestarrt und das Mädchen hatte zurück gestarrt, verwundert darüber, im Sterben auf einmal nicht mehr alleine zu sein. Die Augen waren misstrauisch gewesen, schienen sich vor diesem so viel kleineren Wesen zu fürchten – und das Mädchen hatte die Hände ausgestreckte, um zu zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging, wie es das früher immer bei der kratzbürstigen Schiffskatze getan hatte… Und dann war das Mädchen hier aufgewacht: An einem fremden Strand inmitten von hellbraunen, scharfkantigen Felsen, an welchen sich die Wellen brachen. Das kleine Fleckchen sicheren Strandes, auf das das Mädchen gebettet worden war, war kühl vom Schatten der Felsen, aber das Mädchen fröstelte nicht. Es verspürte auch keinen Durst oder Hunger, nicht einmal Müdigkeit. Alles, woran es denken konnte, war, dass das Meer zu seinem Feind geworden war. Es hatte das Meer geliebt, ihm Lieder vorgesungen und ihm Treue geschworen, doch es hatte ihm erbarmungslos Heimat, Freunde und Familie genommen. Das Meer war schuld daran, dass das Mädchen nun vollkommen alleine war… Als die Ebbe einsetzte, lag das Mädchen schließlich auf dem Trockenen. Der Rückzug des Wassers fühlte sich wie das letzte Loslassen an und ganz abrupt richtete das Mädchen sich auf und drehte dem Meer den Rücken zu, um sich seine neue Heimat zu besehen. Doch alles, was zu erkennen war, waren steil und hoch aufragende Klippen, von welchen die schrillen Rufe und das kaum wahrnehmbare Piepsen von Sturmtauchern und –schwalben zu hören waren – das Mädchen hatte sie auf hoher See zu unterscheiden gelernt, wenn diese Vögel dem Schiff in der Hoffnung auf Beute gefolgt waren. Für das Mädchen klang es, als wollten die Gefiederten es verhöhnen. Trotzig ging es dennoch auf die Klippen zu und lief daran entlang auf der Suche nach einem Pfad. Erst während dieser Wanderung fiel ihm auf, wie schwach es war. Der Magen schmerzte vor Hunger und die Lippen waren aufgerissen und schmerzten, wenn das Mädchen darüber leckte. Der Gedanke an das Meerwasser wurde immer verlockender, aber das Mädchen hatte die Lektionen darüber, wie gefährlich es war, dieses Wasser zu trinken, nicht vergessen. Langsam schleppte es sich weiter, den Blick stur zu Boden gerichtet, um nicht von der sengenden Sonne geblendet zu werden. Wenn es auf die Sonne zulief, dann musste da Süden sein. Das hieß, dass es an der Ostküste von Fiore gestrandet war, oder? Krampfhaft versuchte es, sich an die große Karte auf dem Arbeitstisch der Mutter zu erinnern. Darauf waren so furchtbar viele komplizierte Linien und Wellen und Symbole gewesen. Die Mutter hatte alles erklärt, aber dem Mädchen hatte damals schon der Kopf geschwirrt. Aber dennoch: Es kannte die Inseln im Süden des Kaiserlichen Meeres. Keine davon war so groß wie diese hier. Das hier musste der Kontinent Ishgar sein und dessen gesamter Osten wurde von Fiore beherrscht. Galuna, die Heimat des Mädchens, gehörte auch dem Kaiserreich an. Und die Schwester des Mädchens war der Kaiserlichen Armee beigetreten und kämpfte für die Unsterbliche Kaiserin in Extalia… Vor lauter Erschöpfung bemerkte das Mädchen viel zu spät, wie es in ein Lager stolperte, nämlich erst als es gegen einen großen, grobschlächtigen Mann stieß. Der Mann schien genauso verblüfft wie das Mädchen zu sein und starrte zuerst nur auf eben jenes herab, aber dann begann er breit zu grinsen und ergriff einen Arm des Mädchens, um dann etwas in einer Sprache zu grölen, die das Kind nicht verstand. Der Druck am Arm war jedoch unmissverständlich. Fauchend und kratzend versuchte das Mädchen, sich zu befreien, doch der Mann hielt es einfach immer weiter fest, während nun weitere Männer dazu traten. Schließlich trat ein anderer Mann vor, der wohl der Anführer zu sein schien, da die Anderen ihm respektvoll Platz machten. Er hatte kurze, dunkelblaue Haare, die ihm linksseitig in die Stirn hingen, sodass das Tattoo zweier voneinander abgewandter Halbkreise über seiner rechten Augenbraue gut zu sehen war. Seine Gesichtszüge waren edler als die der anderen Männer, ein kantiges Kinn, eine kleine Nase, ein breites Lächeln, aber seine dunklen Augen lächelten nie mit. Er gehörte zu jener Art von Männern, vor denen die Mutter immer eindringlich gewarnt hatte: Männer, die für ihren eigenen Vorteil über Leichen und Ideale gingen und die keinerlei Ehre kannten – und was Ehre war, das wusste das Mädchen. „Bist du eine Fiore?“, sprach er das Mädchen mit tiefer Stimme und einem starken Akzent an, den das Mädchen nicht kannte. Angstvoll blickte das Kind zu ihm auf. Als der Mann nach ihm greifen wollte, wich es nach hinten aus und zerrte wieder an seinem Arm, doch der andere Mann lachte nur in seiner hart klingenden Sprache. Die umstehenden Männer lachten ebenfalls und das Mädchen wurde trotz heftigster Gegenwehr einfach mitgeschleift, ans Ende einer Gruppe von Menschen unterschiedlichen Alters, alle mit verängstigten, oft auch verweinten Gesichtern. Erst als eine eiserne Fessel um seinen rechten Fuß gelegt wurde, begriff das Mädchen, dass diese Menschen aneinander gekettet waren. Schreiend strampelte es mit den Füßen und trat dem Mann, der gerade einen Stift in die noch offene Seite der Fessel einsetzen wollte, ins Gesicht. Es waren letztendlich drei Männer nötig, um das Mädchen ruhig genug zu halten, damit die Fußfessel erneut angelegt und der Stift eingesetzt und dann mit einer Zange verbogen werden konnte. Durch eine stabile Öse an der Fessel wurde die Kette gezogen, die auch schon die Fußfesseln der anderen Kinder verband, die weinend und zitternd einfach nur zugesehen hatten. „Keine Sorge, Kleine, die Männer werden dir nicht weh tun“, erklärte der Blauhaarige noch immer mit diesem herzlosen Lächeln. „Zumindest nicht allzu sehr.“ Dann drehte er sich den Männern zu und beredete noch etwas mit ihnen in ihrer hässlichen Sprache, ehe er zum Strand ging, wo ein großes Ruderboot mit vier Ruderern auf ihn wartete. Im Heck des Boots konnte das Mädchen eine große Truhe erkennen. Kaum dass der Blauhaarige eingestiegen war, schoben die Ruderer das Boot ins Wasser, bis sie rein springen und rudern konnten. Ihr Ziel war eine Galeere draußen im tieferen Wasser. Sie besaß ungewöhnlich viele Ballisten und an ihrem Hauptmast flatterte eine schwarze Totenkopfflagge. „Wohin bringt ihr mich?“, fragte das Mädchen die Männer, doch die schüttelten verständnislos die Köpfe und lachten wieder, ehe sie sich zum Aufbruch bereit machten. Sie schütteten jedem Kind eine Kelle Wasser über den Kopf. Als das Mädchen an die Reihe kam, legte es den Kopf in den Nacken, um das Wasser mit dem Mund aufzufangen. Es hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin es nun gehen würde, aber die grausame Behandlung dieser Männer hatte seinen Trotz geweckt. Es würde nicht aufgeben. Es würde einen Weg finden, diesen Männern zu entkommen und irgendwann würde es seine Schwester finden…! Das Ei war dickbauchig und riesengroß – beinahe so groß wie Sting selbst mit seinen zehn Dürren – und es war von dunkelgrauer Farbe mit schwarzen Sprenkeln. Halb im Sand vergraben lag es am Südhang einer großen Düne. Fasziniert strich Sting über die vom Sand glatt geschmirgelte Schale, die es Raubtieren enorm erschwerte, die lohnende Beute irgendwie zu greifen, egal ob nun mit Klauen oder Fängen. Wobei Sting sowieso kaum ein Tier einfiel, das groß genug wäre, um solch ein gewaltiges Ei als Beute zu betrachten. Löwen bevorzugten lebendige Beute und ohnehin waren sie eher in den Savannen weiter im Norden anzutreffen als hier in der Wüste, wo sie kaum Beute reißen konnten. Die Vögel der Wüste, die Eier nicht verschmähten, waren zu klein, um diesem Ei etwas anhaben zu können. Allenfalls könnte ein geschickter Wüstenrabe versuchen, die Schale vor Ort aufzubrechen, um an den für ihn wohl schmackhaften Inhalt heran zu kommen. Und Basilisken jagten Beute, die Erschütterungen verursachte, sie würden dieses Ei gar nicht bemerken – und die Chance, dass ein Basilisk zufällig über solch ein Ei walzte, war auch unwahrscheinlich, denn aufgrund eines halbwegs mütterlichen Instinkts wurden diese Eier immer in Gebieten abgelegt, in die sich kaum ein Basilisk verirrte. Soweit reichte der Schutz durch das Muttertier doch noch bei den Basilisken, aber ansonsten waren die berühmten Sandschlangen ausgesprochen lieblos, wenn sie ihre Eier einfach so mir nichts dir nichts im Sand ablegten und dann für immer verschwanden. All das und noch viel mehr hatte Sting im Unterricht von Meister Gran Doma über die Basilisken gelernt, aber es war doch etwas vollkommen anderes, nun das allererste Mal einem echten Basiliskenei gegenüber zu stehen! Unter seiner Hand spürte Sting die Hitze der Schale und darunter ein leichtes Pochen. Hauchfeine Risse zogen sich bereits durch die Oberfläche, eher zu ertasten, als schon richtig zu sehen. Aufgeregt hob Sting den Blick, um Minerva in die Augen sehen zu können, welche auf der anderen Seite des Eis stand, doch die hatte den Blick noch immer gesenkt und beide Hände auf die Schale gelegt. Ihre Miene hatte etwas Ehrfürchtiges, ja, beinahe Gerührtes. Der Anblick dieses Eis schien Minerva tief zu bewegen. Wie könnte er auch nicht? Es war das allererste Mal, dass sie Beide ein Basiliskenei sahen. Und es war ihre Aussicht darauf, schon bald einen echten Basilisken zu sehen – sei es nun ein Schlüpfling oder nicht. „Ist das das einzige Ei?“, fragte Minerva schließlich und hob den Blick zu Adrim an, einem der beiden Reiter, denen sie zugeteilt worden waren. Der Mann war klein und muskulös, sein breites Gesicht auf der linken Hälfte von mehreren Giftnarben geziert. Beinahe jeder Reiter hatte solche Narben, aber sie wurden mit Stolz getragen, denn sie bewiesen, dass man mit dem Tod selbst gerungen und ihn bezwungen hatte. Das Gift von Basilisken war ein hochwirksames Kontaktgift. Bekam man zu viel davon auf die Haut, konnte das bereits den Tod bedeuten. „Nein, das Gelege bestand aus fünf Eiern, ein großes Gelege also. Wir haben die Eier voneinander getrennt und zu verschiedenen Dünen gebracht. Könnt ihr euch denken, warum?“ „Schlüpfen die Basilisken alle gleichzeitig?“, stellte Minerva eine nachdenkliche Gegenfrage. Adrim nickte beifällig. „Beinahe. Je älter das Weibchen ist, desto weniger Pausen macht es zwischen den einzelnen Eiablagen. Die Größe des Geleges lässt bereits darauf schließen, dass es ein altes, kräftiges Weibchen war, das schon ein paar Gelege zustande gebracht hat. Bei den ersten drei bis vier Eiablagen werden es immer nur höchstens zwei Eier.“ „Dann habt ihr die Eier getrennt, damit ihr nicht fünf Basilisken zusammen habt?“, fragte Minerva weiter. „Weil ihr sie dann nicht melken könnt, ohne dass die anderen euch angreifen?“ „Genau. Und damit sie einander nicht angreifen. Basilisken können zwar drei Gelege pro Zyklus zustande bringen, aber wir versuchen dennoch, die Mortalität bei den Schlüpflingen zu reduzieren, damit es später mehr Basilisken gibt.“ „Damit wir sie reiten können?“, warf Sting eifrig ein. „Immer schön langsam“, mahnte Adrim, aber seine Augen funkelten belustigt. „Bevor ihr das erste Mal auf einem Basilisken reiten dürft, werden noch mindestens drei Dürren vergehen.“ Sting wechselte einen Blick mit Minerva. In ihren Augen erkannte er dasselbe rebellische Glühen, das auch ihn umtrieb. Diese Regeln mochten für andere Kinder gelten, aber nicht für sie Beide! Sie würden den Umgang mit der Kettensichel vorher schon meistern und alles lernen, was man nur lernen konnte. Sie konnten es kaum erwarten, endlich ihre ersten Basilisken zu reiten! „Sandflöhe“, murmelte Elias, Adrims Partner. Er war eher drahtig mit einem ebenmäßigen Gesicht und tiefbraunen Augen. Er trug die schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, dessen Zipfel unter dem Tagelmust hervor lugte, der seinen Kopf vor der sengenden Sonne schützte. „Lass’ sie ruhig träumen, Elias“, lachte Adrim und legte dem jüngeren Reiter vertraulich einen Arm um die Taille. „Du warst auch mal so.“ Elias verzog unwillig das Gesicht. „Du warst gerade einmal fünf Dürren älter, bilde dir nicht so viel darauf ein.“ „Es war genug, um dir zu imponieren.“ Minerva verdrehte die Augen und blickte demonstrativ wieder auf das Ei hinunter, was Sting ein Glucksen entlockte. Als sie in die Zuflucht gekommen war, hatte seine Freundin sich über die Offenheit der Wüstennomaden gewundert, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Als Adrim und Elias in der vergangenen Nacht miteinander geschlafen hatten, war Minerva nicht einmal wach geworden. Sting hingegen hatte sich hinreißen lassen, die beiden Männer heimlich zu beobachten. Zwar hatte er ähnliche Beobachtungen schon bei Loirg und Zarah machen können, die während der vergangenen Regenzeit aus der Kinderhöhle ausgezogen waren, aber auch davor schon so manche Nacht das Lager geteilt hatten, aber es hatte ihn doch irgendwie fasziniert, es auch bei Erwachsenen zu sehen. Anders als Minerva, die sich noch überhaupt nicht dafür interessierte und es einfach nur als gegeben hinnahm, war Sting doch irgendwie neugierig darauf, auch wenn er wusste, dass sich noch keiner für einen zehnjährigen Sandfloh wie ihn interessierte. Als das Pochen unter seinen Händen stärker wurde, richtete Sting seine Aufmerksamkeit wieder auf das Ei. Die Risse waren nun deutlich sichtbar und an der Spitze entstand ein winziges Loch. Stings Herz begann heftig zu klopfen. Gleich war es so weit! Sein allererster Basilisk! „Es ist so weit“, stellte Adrim fest und ließ Elias wieder los. „Ihr geht auf den Dünenkamm und schaut aufmerksam zu. Wenn der Basilisk sich freiwinden und auf euch zu kommen sollte, lauft ihr in verschiedene Richtungen, verstanden?“ Sting verzog das Gesicht. Das kam ihm so vor, als würde er Minerva im Stich lassen. Ein beschämender Gedanke. Aber er wusste, dass er nicht zusehen durfte, wenn er nicht auf Adrims und Elias’ Anweisungen hörte, also nickte er ergeben. Neben ihm tat Minerva es ihm gleich, aber sie hatte dabei trotzig die Lippen aufeinander gepresst, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas nicht gefiel. Die Kinder traten von dem Ei zurück und kletterten die Düne hinauf, wo sie sich gespannt nebeneinander legten, um zu beobachten, wie die beiden Reiter sich dicke, langärmelige Lederhandschuhe überzogen. Elias entfaltete einen Ledersack, dessen Öffnung groß genug für den Kopf eines ausgewachsenen Mannes wäre, während Adrim so hinter das Ei trat, dass sein Schatten nicht darauf fiel. Dann geschah lange Zeit nichts Spannendes mehr. Das Loch im Ei wuchs auf die Größe einer Männerfaust an und ganz kurz lugte eine schwarze Spitze daraus hervor, doch dann hörte es auf. Das Loch wurde nicht größer und es war auch nichts zu hören. Stings Aufmerksamkeit driftete ab und er verlegte sich darauf, Minerva von der Seite zu betrachten. Unter ihrem Tagelmust war ihr Gesicht verkniffen, was ihm verriet, dass auch sie mit ihren Gedanken nicht mehr ganz bei der Sache war, sondern wieder einmal an ihre Heimatstadt dachte. Seit sie die Nachricht von Meister Nanagears Hinrichtung erhalten hatte, war Minerva verbissener denn je, schnell Fortschritte zu machen. Sting ahnte, dass sie sich die Schuld für den Tod des Mannes gab, aber er wusste nicht, wie er ihr das ausreden konnte. Also versuchte er stattdessen, Minerva zu unterstützen, indem er sie zu Höchstleistungen anspornte. Hier und jetzt hatte er diese Möglichkeit nicht. Er traute sich nicht, die Stille zu durchbrechen, und sie sollten ja hier oben bleiben, solange es ungefährlich war. Das Einzige, was er tun konnte, war, Minervas Hand zu ergreifen und vorsichtig zu drücken. Seine Freundin sah ihn überrascht von der Seite an, ihre olivgrünen Augen groß und verwirrt und schließlich verlegen. Als Sting sie daraufhin angrinste, streckte sie ihm die Zunge raus und richtete ihren Blick wieder auf das Basiliskenei, aber an ihrem Mundwinkel zupfte ein Lächeln und ihre Finger zuckten sachte in Stings Griff. Ohne den Hautkontakt zu unterbrechen, wandte auch Sting seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen unter ihnen zu. Noch immer standen Adrim und Elias neben dem Ei bereit, noch immer schien das Loch im Ei nicht größer geworden zu sein. Doch als Minerva sich neben ihm anspannte, verengte Sting aufmerksam die Augen. Und dann erkannte er, dass das Ei vibrierte. Es hatte so sachte begonnen, dass es zuerst nicht aufgefallen war, aber jetzt rutschte der Sand von der glatten Schale und das Ei schwankte leicht hin und her. Adrim und Elias jedoch blieben noch immer ruhig. Nicht einmal das nun rasante Wachstum der Risse scheuchte die Beiden auf, dabei platzte Sting fast vor Aufregung! Und dann ging es auf einmal ganz schnell. Die Eischale schien regelrecht zu zerplatzen und dann entrollte sich der darin befindliche Basilisk, gut eine Mannslänge von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, die Schuppen pechschwarz und mit Dotter verklebt, das kleine Maul zum Angriff auf Elias aufgerissen. Genau in dem Moment, da der Drachenartige zuschnappen wollte, griff Adrim nach den Ohrwülsten, schob seine Finger in eben diese und ruckte dann hart. Sofort erstarrte der schlanke, schwarze Körper und Elias stülpte den Ledersack über den Kopf des Basilisken, hielt ihn mit einer Hand dort und schob zwei Finger der freien Hand in die Kehle des Wesens. Der Körper zuckte mehrmals, aber Adrim behielt ihn fest im Griff. Nur am Rande registrierte Sting, wie sich der Ledersack langsam mit dem wertvollen Basiliskengift füllte, das die Händler zu horrenden Preisen auf den Märkten der Grünländer veräußerten, die daraus Medizin herstellten. Stings Aufmerksamkeit galt noch immer dem schlanken, geschmeidigen Körper mit den stark gekielten Schuppen, die an der Wirbelsäule größer wurden und bereits die späteren dort befindlichen Platten erahnen ließen, die beinahe halbe Mannslänge erreichen würden, wenn dieser Basilisk hier tatsächlich so alt werden sollte. Der Schwanz verdünnte sich überraschend schnell und endete in einer beinahe zierlichen Gabelung. Die dort befindlichen Spitzen zuckten unruhig und unter den schwarzen Schuppen wogten mächtige Muskeln, die bereits die Gewalt des ausgewachsenen Basilisken erahnen ließen. Sting hatte bereits Natternhemden von bis zu fünfzehn Schritt langen Basilisken gesehen, hatte Zähne und Schuppen von sogar noch größeren Sandschlangen in Händen gehalten, aber nichts davon hatte ihn auf das vorbereitet, was er nun hier sehen und fühlen konnte. Dieser noch so winzige Körper übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf den Jüngling aus. Als gäbe es eine Verbindung zwischen ihnen. Nie zuvor war Sting sich so sicher gewesen, dass er ein Reiter werden wollte! Als Minerva ihn am Arm packte, fiel Sting erst auf, dass er sich in eine hockende Position hochgestemmt hatte und sich immer tiefer in Richtung des Basilisken beugte. Mit großen Augen sah er seine Freundin an. Ihm fehlten die Worte, um zu erklären, was in ihm vorging. Doch Minerva schien auch so zu verstehen. In ihren Augen erkannte er etwas Neues. All die Sorgen und Schuldgefühle der letzten Wochen waren wie fortgewischt. Sie klopfte mahnend auf Stings Arm und wandte ihre Aufmerksamkeit erneut auf das Schauspiel unter ihnen, als befürchtete sie, etwas Wichtiges zu verpassen. Der Ledersack war mittlerweile gut gefüllt. Elias stand der Schweiß auf der Stirn und die Hand, mit der er den Sack hielt, zitterte. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, bewegten sich die beiden Reiter gleichzeitig. Adrim riss den Kopf des Basilisken zurück, während Elias schnell mit beiden Händen nach dem Ledersack griff und mehrere Schritte zurück trat. Für einige Herzschläge rang Adrim mit dem Untier, dann drückte er es zu Boden und stemmte sein Knie auf dessen Rücken. Erst dann blickte er über seine Schulter zu den beiden Kindern hoch. „Wollt ihr ihn anfassen?“ Das ließ Sting sich nicht zweimal sagen! Er hatte es so eilig, nach unten zu kommen, dass er beinahe die Düne herunter gepurzelt wäre. Zitternd vor Aufregung kniete er sich neben den Kopf des Basilisken und betrachtete die feinen Gesichtsschuppen, die Hornwülste, die sich über den Augen und am Nacken andeuteten, die flache Nase mit den geschlitzten Nüstern. Und dann öffnete der Drachenartige seine Augen. Die Iris, die Sting sehen konnte, war von einem geradezu leuchtenden Gelborange, das ihn an die kostbaren Bernsteine erinnerte, die einer der Händler mal mit in die Zuflucht gebracht hatte. Minerva war die Erste, die sich traute, über die Schuppen zu fahren. Nur mit den Fingerspitzen strich sie über die Hornwülste. Sting konnte sehen, wie sie vor Ehrfurcht erzitterte. Als er es schließlich selbst wagte, über die Schuppen zu streichen, war er überrascht, wie glatt und geschmeidig sie sich anfühlten. Im Grunde kaum anders als die Haut eines Menschen, nur sehr viel wärmer. Es war kaum vorstellbar, dass diese Schuppen in ein paar Drürren von Narben zerfurcht und von der Sonne zu einem Graubraun ausgebleicht sein würden. Dieser Basilisk wirkte noch so rein und unschuldig, konnte ja noch nicht einmal geritten werden… „Tretet zurück, ich muss ihn gleich frei lassen“, warnte Adrim. Minerva tat, wie geheißen, aber Sting beugte sich tiefer und blickte direkt in das eine Auge auf seiner Seite. Als er dem Untier zuflüsterte, war seine Stimme heiser. „Irgendwann sehen wir uns wieder und dann werde ich dich reiten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)