Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Kapitel 3: Der gefallene Krieger -------------------------------- Die Frau war stolz und schön. Sie war ungewöhnlich groß und schlank wie ein Papyrusrohr, gekleidet in eine rot-gelbe Robe, die mit einem Kordelgürtel an der Taille gerafft wurde, darüber ein dunkelroter Burnus. Die Füße steckten in kunstvoll gearbeiteten Lederstiefeln. Langes blaugrünes Haar flutete über ihren schlanken Rücken, über und über mit Schmuck versehen: Geflochtene Zöpfe, Holzperlen, Federn und Bastbänder ergaben mit den Haaren ein Gesamtkunstwerk von wilder, unbezwingbarer Schönheit. Ihre Gesichtszüge waren sehr schmal, ihre Nase winzig, das Kinn spitz, aber den dunklen Augen ruhte eine würdevolle Wildheit inne. Neben ihr stand ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Dürren, schlaksig, aber bereits mit Ansätzen von breiten Schultern, die Gesichtszüge breit und grimmig, das vollkommene Gegenteil zu denen der Frau. Seine Haare waren von derselben Farbe, aber unbezwingbar in alle Richtungen abstehend, und er trug eine bestickte gelbe Tunika und schwarze Pluderhosen mit einem breiten Gürtel, der dafür gemacht war, schwere Waffen halten zu können, auch wenn die Schlaufen nun leer waren. Während die Miene der Frau vollkommen ruhig blieb, hatte der Junge die Augen wütend verengt und fletschte die Zähne wie ein angriffslustiger Schakal. Seine großen Hände waren zu zitternden Fäusten geballt und ein Fuß war etwas weiter nach vorn gesetzt. Mit dieser Haltung wäre er jederzeit in der Lage, anzugreifen, aber genau wie seine Mutter war er unbewaffnet und zwischen ihnen und dem Fürsten standen zwei Reihen stummer, bis an die Zähne bewaffneter Soldaten. Der Fürst blickte unbeeindruckt von seinem erhöhten Thron aus Onyxmarmor auf die Beiden herab, angetan im neu entworfenen Ornat des Herrscherhauses. Zwar trug er noch das Wappen und die Farben des Hauses Orland, doch anstatt der Pluderhosen, der knielangen Tunika und des Burnus trug er nun eine Uniform mit auffallend vielen Rüstungselementen. An Schienbeinen und Unterarmen trug er stahlverstärkte Lederschienen, die mächtige Brust wurde von einem gehärteten Lederpanzer umhüllt, die breiten Schultern durch Schulterplatten hervor gehoben. Und anstatt des seit jeher üblichen Tagelmust trug er einen goldverzierten, seidenen Kavuk, an dessen linker Seite drei, schwarz-weiße Schmutzgeierfedern befestigt waren. Sein dicker, weißer Zopf fiel über die Rückenlehne des Throns. „Sie möge sprechen“, knirschte die Stimme des Fürsten. „Herr…“ Die Art und Weise, wie die Frau dieses Wort aussprach, ließ wenig Zweifel daran, was sie in Wahrheit von ihrem Gegenüber hielt, aber noch immer blieb ihre Miene beherrscht und sie schaffte es sogar, sich zu verbeugen, ohne an Würde einzubüßen. „Ich bin Ofra Nanagear, Gattin von Omar Nanagear, der Eurer Familie seit langer Zeit treu als Soldat und schließlich als Rüstungsmeister gedient hat. Dies ist unser dritter Sohn Orga.“ Bei diesen Worten legte sie ihrem Sprössling eine Hand auf den Rücken und dieser neigte steif den Oberkörper in Richtung des Throns, den Blick eisern auf den mosaikverzierten Boden gerichtet. „Wir sind hier, um Eure fürstliche Gnade zu erbitten. Schont das Leben meines Gatten und meiner ersten beiden Söhne. Sie haben nie wider Euch gehandelt, noch haben sie jemals eine derartige Absicht gehegt.“ „Das sehe ich anders“, erwiderte der Fürst bedrohlich. „Dank meines getreuen Schakals gibt es Beweise dafür, dass Omar Nanagear, Jair Nanagear und Sem Nanagear meinen Sturz geplant hatten. Nach dem tragischen Tod meiner Tochter hätten sie damit Sabertooth führerlos zurückgelassen. Zweifelsohne war es ihre Absicht, sich selbst auf diesen Thron zu schwingen.“ Ofra Nanagear öffnete die Lippen, um zu widersprechen, besann sich jedoch in letzter Sekunde anders und schwieg. Ihre dunklen Augen schienen zu glühen und ihre Kiefer mahlten, als sie sich noch tiefer verbeugte. „Dann bitte ich Euch um die Gnade, Abschied von unseren Lieben nehmen zu können.“ Langsam beugte der Fürst sich vor. „Will sie behaupten, sie nenne Landesverräter noch ihre Familie? Hat sie nicht vier weitere Kinder, für die sie sorgen muss?“ Sein Blick richtete sich auf den Jungen, der noch immer zu Boden starrte. Dieser begann vor unterdrückter Wut allmählich zu zittern und seine Finger tasteten – wohl vollkommen unbewusst – die leeren Schlaufen seines Gürtels ab. Der Junge, der Raios gerufen wurde, stand schräg hinter seinem Vater, welcher wiederum mit gestrafften Schultern zur Rechten des Fürsten stand, und fragte sich, was die Gründe für die Wut des älteren Jungen waren. War es die Entwürdigung seiner Familie, die ihn derartig erzürnte? Oder war diese Wut Ausdruck seiner Angst um seinen Vater? Der Junge namens Raios fragte sich, wie sich so etwas wohl anfühlte. Von seinen neuerlich verschärften Trainingseinheiten war ihm Angst wohlbekannt. Die Angst vor dem Ertrinken. Die Angst vor dem Verdursten. Die Angst vor Schmerzen. Die Angst vor Demütigungen... Doch die Angst um etwas oder jemanden war ihm fremd. Stürbe sein Vater hier und jetzt, er hätte wohl keine Angst verspürt. Im Gegenteil war es sogar gut möglich, dass er stattdessen Erleichterung empfände. Er beneidete Orga Nanagear. Obwohl der Junge dabei war, seinen Vater und zwei seiner Brüder zu verlieren, so hatte er doch hier und jetzt eine Familie, die ihm genug bedeutete, um ihren Verlust zu befürchten. Das war weit mehr, als der Junge namens Raios jemals haben würde. Alles, was er hatte, waren die Schatten… „Doch ich bin gnädig“, fuhr der Fürst leise fort. „Ihr und ihren Kindern ist es erlaubt, der Hinrichtung am morgigen Tag in vorderster Reihe beizuwohnen, ehe sie den Hof verlassen. Ihr Besitz verbleibt in den treusorgenden Händen des Throns, auf dass er noblen Zwecken diene.“ Die Miene der hochgewachsenen Frau glich einer Maske verzweifelt unterdrückter Gefühle, die einen tiefen Eindruck beim Jungen namens Raios hinterließen. In den Büchern hatte er davon gelesen, wie viel eine Mutter für ihre Kinder zu tun bereit war. Am eigenen Leib hatte er dies nie erfahren. Für ihn hatte es nie eine Mutter gegeben. Er wusste nicht einmal, was aus ihr geworden war. Den Gerüchten einiger Soldaten zufolge war er gar nicht das Kind einer Menschenfrau, sondern das einer Schakalhündin, die sein Vater überwältigt und geschwängert haben sollte – und das gehörte beinahe noch zu den schmeichelhaften Gerüchten über den weithin gefürchteten Blutschakal und seinen Sohn. „Ihr seid zu gütig, Herr“, antwortete Ofra Nanagear schließlich mit gepresst klingender Stimme. Neben ihr blickte Orga Nanagear ruckartig auf. In seinen Gesichtszügen spiegelten sich mehr Hass und Mordlust wieder, als es für einen Jungen seines Alters möglich schien. Seine Lippen öffneten sich und alle im Thronsaal schienen die Luft anzuhalten, als sie gespannt darauf warteten, ob der Junge so dumm war, sein Leben und das der ihm verbliebenen Familie mit den falschen Worten zu verspielen. Der Junge namens Raios konnte sehen, wie sein Vater die Hand an seine pechschwarze Bosco-Klinge legte, bereit, dem Leben des Jungen ein Ende zu bereiten, der kaum älter als sein eigener Sohn war. Als eben dieser Sohn dem Blick des älteren Jungen für die Dauer einiger Herzschläge begegnete, schüttelte er unmerklich den Kopf. Mehr wagte er nicht zu tun und doch hoffte er, dass der Andere es aller Verzweiflung zum Trotz bemerkt hatte. Etwas in ihm wollte nicht, dass Orga Nanagear starb. Es war unerklärlich, wusste er doch, dass das Leben des Jungen fortan von Armut und Elend geplagt sein würde, doch es war immer noch Leben, immer noch… Hoffnung. Noch ein Wort, dessen Bedeutung der Junge namens Raios nur aus den Büchern kannte, aber es schien ihm hier passend. Ob es der Blickkontakt oder das Zusammenzucken seiner Mutter oder etwas völlig anderes war, Orga Nanagear schloss den Mund wieder, ohne einen Ton von sich zu geben, und verbeugte sich genauso tief wie seine Mutter. Doch er senkte den Blick nicht wieder und sein Rücken blieb in der Verbeugung eindrucksvoll steif. In seinen dunklen Augen loderte ein Versprechen, das für alle offensichtlich sein musste, doch niemand konnte ihn dafür belangen, solange er nichts sagte. Und letztendlich war er in den Augen des Fürsten wohl nur ein naseweiser Bengel ohne Einfluss und ohne Geld, der in der Gosse des Armenviertels schon bald sein Ende finden würde… Zwischen Stings Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, während er auf das Schachbrett hinunter starrte. Seine Finger zuckten immer wieder. Ein paar Mal machte er sogar Anstalten, nach einer Figur zu greifen, zog die Hand jedoch jedes Mal wieder zurück und zog eine Grimasse. Grinsend saß Minerva ihm gegenüber und beobachtete ihn aufmerksam. Obwohl Sting keinerlei Gespür für Taktik hatte, ließ er sich doch jedes Mal aufs Neue von ihr dazu provozieren, mit ihr Schach zu spielen. Natürlich könnte Minerva auch Meister Gran Doma oder jemand anderen fragen, ob er mit ihr spielte, aber mit Sting machte es ihr am meisten Spaß. Einfach weil der sonst so frohgemute Sting dieses simple Spiel viel zu ernst nahm und sich jedes Mal so schön darüber aufregte, wenn Minerva ihn wieder platt machte. Es war lustig, wenn er immer fahriger und ungeduldiger wurde und wenn er dann – so wie jetzt – in seine grüblerischen Phasen kam und versuchte, ernsthaft eine Strategie zu entwerfen, war sein Mienenspiel unbezahlbar. Endlich ergriff Sting seinen verbliebenen Turm und schlug damit Minervas Läufer. Ohne Zögern schob Minerva ihren eigenen Turm vor und nahm Stings Turm vom Feld, ehe sie ihn angrinste. „Schach.“ „Das kann doch nicht wahr sein!“, brauste Sting auf und deutete anklagend auf Minerva. „Du bist so gemein!“ „Ich kann nichts dafür, wenn du nicht dazu lernst“, erwiderte Minerva noch immer grinsend. Dabei wusste sie ganz genau, dass Sting sehr wohl schon viel dazu gelernt hatte. Als sie vor einem halben Zyklus in Meister Gran Domas Höhle ein altes Schachspiel gefunden hatte, hatte sie Sting die Regeln beigebracht. Dem sonst so quirligen Blondschopf die Regeln für die einzelnen Figuren begreiflich zu machen, war gar nicht so leicht gewesen, es war ihm abstrakt und unsinnig vorgekommen und er hatte immer wieder gemeckert. Irgendwann hatte Minerva es doch aufgegeben und versucht, alleine die alten Partien nachzuspielen, die sie mit ihrem Onkel gehabt hatte. Seit sie groß genug gewesen war, um über die Tischkante zu gucken, hatte ihr Onkel mit ihr Schach gespielt. Das war eine ihrer vielen Traditionen gewesen. Der Anblick des Schachspiels hatte Minerva damals gleichermaßen mit Freude und mit Schmerz erfüllt und sie hatte sich verzweifelt danach gesehnt, wieder zu spielen. Und zwar mit jemandem, der sie verstand. Während dieser einsamen Spiele hatte sie mit Erschrecken festgestellt, wie sehr die Erinnerungen an ihren geliebten Onkel verblasst waren. Sie hatte noch genau seine Hand vor Augen, wie sie die Figuren zielstrebig über das Feld bewegt hatte, aber die einzelnen Züge waren verblasst. Auch von den vielen Erklärungen hatte Minerva nichts mehr behalten und am schlimmsten war, dass sie sich nur noch vage an die Stimme ihres Onkels erinnern konnte. Wenn sie ihn jetzt noch mal hören würde, würde sie ihn dann überhaupt erkennen? Der Gedanke hatte die alte Trauer, die sie überwunden geglaubt hatte, neu entflammt, und sie hatte am helllichten Tag das Schachbrett samt Figuren von ihrem Lieblingsfelsen in den Inneren Kreis hinab geworfen und die Flucht in die Kinderhöhle ergriffen. Das Schachbrett war dabei zerbrochen und die Figuren hatten sich zwischen all den Felsen verteilt und waren teilweise sogar in die Kochfeuer gefallen. Minerva hatte das Spiel genau wie ihre Erinnerungen an ihren geliebten Onkel verloren geglaubt. Umso mehr hatte es sie überrascht, als Sting ihr schließlich alle 32 Figuren – einige davon halb verkohlt, aber doch noch erkennbar, zum Glück waren sie aus Basiliskenzähnen geschnitzt worden – und ein neues Brett gebracht hatte. Seitdem spielten sie, wenn sie nicht gerade ihre Übungen bei Nark oder ihre Lektionen bei Meister Gran Doma hatten. Sie saßen dann immer auf einem der großen Felsen, knabberten getrocknetes Obst oder Nüsse und ärgerten einander. Es war zu einer Tradition geworden, die Minerva genauso heilig geworden war wie ihre Erinnerungen an ihren Onkel. „Noch ein Spiel!“, forderte Sting und stellte die Figuren neu auf. Als eine der Figuren fort zu rollen drohte, streckte Sting blitzschnell die Hand danach aus, wofür er sich auf die Seite fallen und halb vom Felsen hängen lassen musste. Ohne nachzudenken griff Minerva über das Schachbrett hinweg nach Stings Kordelgürtel und hielt ihn eisern fest, damit er nicht herunter fiel. Kaum dass Sting wieder richtig saß, versetzte sie ihm eine Kopfnuss. „Du hättest runterfallen können, du Dattelkopf!“ „Wie denn, wenn du dabei bist?“, erwiderte Sting unbekümmert grinsend und stellte den Bauern aufs Feld. Brummend setzte Minerva sich wieder hin. Sie war jetzt seit zwei Zyklen bei den Wüstennomaden und genauso lange waren sie und Sting Freunde. Minerva hatte sich an das Leben in der Zuflucht gewöhnt, hatte gelernt, auf sich aufzupassen, den Tagelmust zu binden und am Druck in der Luft zu erkennen, ob ein Sandsturm drohte. In Meister Gran Domas Unterricht war sie die gelehrigste Schülerin und gemeinsam mit Sting machte sie unter Narks Obhut so große Fortschritte, dass sie bereits im Umgang mit der Kettensichel unterrichtet wurden – etwas, das normalerweise nicht vor der zwölften Dürre in Angriff genommen wurde, weil die Kettensichel so viel Körpergefühl erforderte. Minerva war zu einem Kind der Wüste geworden und auch wenn sie das nicht einfach so zugeben würde, sie wusste tief in ihrem Herzen, dass das Stings Verdienst war. Denn so aufsässig und dumm sie sich anfangs auch angestellt hatte, Sting hatte immer zu ihr gehalten. Egal wie oft sie ihn angefahren hatte, er hatte an sie geglaubt, hatte ihr immer und immer wieder die Hand der Freundschaft angeboten. Im Scherz behauptete Minerva oft, dass sie schließlich Stings Freundin geworden war, damit er aufhörte, sie zu nerven, doch in Wahrheit hatte sie seinem Charme irgendwann einfach nicht mehr widerstehen können. Gerade wollte Minerva einen ihrer Bauern nach vorn setzen, um die neue Partie zu eröffnen, als sie hörte, wie unten im Inneren Kreis Unruhe entstand. Durch den Tunnel kamen drei Männer, einer von ihnen durch Rebmesser und Kettensichel als Reiter zu erkennen, die anderen durch ihre großen Taschen und Beutel und die edlere Kleidung als Händler. Die Erzeugnisse der Handwerker und die Beutestücke der Jäger und Reiter fanden allein durch die Händler ihren Weg in die Siedlungen der Grünländer, wie die Wüstennomaden jeden nannten, der nicht zu ihnen gehörte. So kam das Wüstenvolk an Gewürze, Metalle und andere wichtige Materialien. „Das sind Asim und Dov“, stellte Sting fest. „Sie waren in Wüstengrün.“ In Stings Stimme schwang Verwirrung mit. Dafür dass die beiden Händler in einer Siedlung gewesen waren, welche sie schon dutzende Male besucht haben mussten, wirkten sie heute ungewöhnlich aufgebracht. Sie gestikulierten wild herum und fragten lautstark nach dem Wüstenweisen. Als eben dieser herannahte, machten ihm alle respektvoll Platz. Asim und Dov warfen sich vor ihm zu Boden, legten ihre Hände an die Stirnen und boten sie dann dem spirituellen Anführer des Wüstenvolkes an. Gemächlich strich Gran Doma erst über Asims, dann über Dovs Hand. „Was ist passiert, Asim?“, fragte er ruhig. Es war nun so still im Inneren Kreis, dass auch Minerva alles gut hören konnte. „Wir haben in…“ Der drahtige Händler zögerte einen Moment und sein Blick zuckte hoch zu Minerva, ehe er fortfuhr. „Wir haben in Sabertooth unsere Geschäfte gemacht, als wir den Ausrufer gehört haben, der die Hinrichtung von Omir Nanagear und seinen beiden ältesten Söhnen verkündet hat.“ Die Wüstennomaden brachen in lautstarkes Geschnatter aus. Viele riefen empört, einige knurrten oder fauchten, manch einer betete. Minerva machte sich nicht die Mühe, auf einen von ihnen besonders zu achten. Sie kletterte behände von dem Felsen herunter und versuchte dann, sich durch die dicht stehenden Männer und Frauen hindurch zu drängen. „Immer langsam, Sandfloh!“, rief ein Reiter und schob sie schroff von sich. „Das geht dich nichts an.“ „Tut es wohl, sie ist die Fürstin von Sabertooth!“, fauchte Sting und trat dem Mann gegen das Schienbein. In einer Hand hielt der Junge das Schachbrett und den Ziegenlederbeutel mit den Figuren, mit der anderen Hand ergriff er Minervas Hand und zog sie um die Gruppe herum, fort von dem Reiter, der Sting wüste Flüche hinterher schickte. Dort, wo der Wüstenweise stand, wagten die Männer und Frauen es nicht, sich so sehr an einander zu drängen. So schafften Sting und Minerva es, ins Innere der Gruppe vor zu dringen, und sie blieben direkt neben Gran Doma stehen, der gerade verkündete, dass er sich Asims und Dovs Geschichte in Ruhe in seiner Höhle anhören wollte. „Ich will dabei sein!“, erklärte Minerva energisch. Mit einem milde überraschten Lächeln sah der Alte zu den beiden Kindern hinab. „Das ist kein Thema für euch.“ „Ist es wohl!“, widersprach Minerva bockig. „Ich will wissen, was mit Onkel Athenaeos’ Freund passiert ist!“ Hinter sich hörte Minerva einige Erwachsene entrüstet schnaufen, aber sie achtete nicht darauf, sondern hielt den Blick stur auf den Wüstenweisen gerichtet, der sie eingehend musterte, bis er schließlich nickte. Mit einer Geste bedeutete er den Händlern, ihm zu folgen. Minerva und Sting folgten ihnen auf dem Fuße. Ein Reiter machte Anstalten, zumindest Sting aufzuhalten, doch der wich der Hand geschickt aus und streckte dem Mann die Zunge heraus. In der Höhle des Wüstenweisen wurden sie wie immer vom süßen Geruch nach Datteltee empfangen und ließen sich am Kochfeuer auf den Bastmatten nieder. Mit einer einladenden Geste deutete Gran Doma auf die gusseiserne Kanne, aber nur Asim bediente sich. Asim war mit vier Dekaden bereits alt und hochangesehen für einen Wüstennomaden. Sein hageres Gesicht war von Altersfalten geziert und seine allmählich ergrauenden Haare lichteten sich. Dov war anderthalb Dekaden jünger und Asims ehemaliger Lehrling. Sein noch faltenfreies Gesicht war breit und kantig, nach den Maßstäben des Wüstenvolks galt er als gutaussehend und wie die meisten Ungebundenen nutzte er das aus, um sich hemmungslos zu vergnügen, was gleichwohl nicht an seiner Qualifikation als Händler rüttelte. „Also… was habt ihr heraus gefunden?“, begann Gran Doma ruhig. „Was wurde Omir Nanagear vorgeworfen?“ „Landesverrat. Er soll ein Komplott gegen den Fürst geplant haben, seine beiden älteren Söhne waren angeblich involviert“, antwortete Asim knapp. „Es gibt keinen Fürsten in Sabertooth!“, begehrte Minerva auf. „So nennt der Fürstregent Jiemma sich jetzt aber. Du wurdest für tot erklärt.“ „Aber Minerva lebt doch noch“, protestierte Sting verwirrt. „Wofür es keinerlei Beweise gibt. Minerva ist in die Wüste geflohen. Eine Achtjährige alleine in der Wüste – wie groß können ihre Chancen schon gewesen sein? Wenn sie damals nicht von den Reitern gefunden worden wäre, wäre sie wirklich gestorben… Also ist es für den Fürstregent viel einfacher gewesen, sie für tot zu erklären“, erläuterte Dov mit schwingenden Händen und ernster Miene. Unsicher blickte Minerva zu Meister Gran Doma. Wenn man sie für tot hielt, wie sollte sie dann überhaupt noch ihren rechtmäßigen Platz einnehmen? Würden die Leute überhaupt noch auf sie warten? „Es ist eine gute Sache“, sagte der Wüstenweise beruhigend. „Das heißt, dass sie dich nicht mehr suchen und dich auch nicht erwarten. Wenn du so weit bist, wird es eine Überraschung für sie… Aber zurück zu Meister Nanagear: Wurde die Hinrichtung vollzogen?“ Asim nickte bedauernd. „Die Burschen wurden gevierteilt und ihr Vater wurde zum Schluss gekreuzigt. Die Köpfe seiner Söhne wurden zu Füßen seines Kreuzes aufgespießt, ihre Körper wurden den Hunden zum Fraß vorgeworfen…“ Vor Minervas innerem Auge tauchte der gutherzige Rüstungsmeister mit seinem breiten, lächelnden Gesicht und dem gewaltigen Brustkorb auf, der jede Rüstung zu sprengen schien. Er hatte Minerva immer Kleine Löwin genannt und mit einer Hand hochgehoben, als wäre sie ein Federgewicht. Und Jair und Sem waren jeder nur ein paar Zyklen älter als Minerva, Jair war gerade erst Soldat geworden und Sem war noch Rekrut gewesen, als Minerva hatte fliehen müssen. Der schlanke, drahtige Sem hatte mit Minerva manchmal im Säbelkampf trainiert. Er hatte sie immer gewinnen lassen, was sie ihm übel genommen hatte. Bei ihrem letzten Kampf hatte sie ihn wüst beschimpft. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich bei ihm zu entschuldigen… Stings Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Ungewöhnlich ernst musterte der Gleichaltrige sie. Dankbar tätschelte sie seine Hand, ehe ihr etwas einfiel und sie sich an Asim wandte: „Was ist aus Herrin Ofra und den anderen Kindern geworden?“ „Sie wurden enteignet und ins Armenviertel verbannt. Sie mussten in der ersten Reihe stehen, als die Hinrichtung stattfand“, antwortete Asim leise. Minerva biss sich auf die Unterlippe, als sie sich an die übrigen Mitglieder der Familie Nanagear erinnerte. Sie hatte Ofra Nanagear bewundert, hatte genauso eine große Kriegerin wie sie werden wollen… „Du solltest jetzt gehen, Minerva“, entschied Gran Doma leise, aber unnachgiebig. „Ich muss Asim und Dov noch andere Fragen stellen.“ Das Mädchen wollte protestieren, denn es ahnte, dass es bei diesen Fragen immer noch um seine Heimatstadt ging, aber der Blick des Wüstenweisen war ungewohnt streng und hart und das Bild der Familie Nanagear schwebte immer noch vor Minervas Augen. Schwer schluckend stand sie auf und stolperte aus der Höhle. Hätte Sting nicht sofort zu ihr aufgeschlossen und sie geführt, hätte sie es vielleicht nicht zur Kinderhöhle geschafft. Mit jedem Schritt erinnerte sie sich besser an Omir, Ofra und ihre Kinder. Sie hatten in Minervas Weltbild unverrückbar zu ihrer Heimat gehört, waren ein Teil von Sabertooth gewesen. Oft genug hatte Onkel Athenaeos betont, wie wertvoll Freunde wie Omir und Ofra seien… „Ich will sie rächen“, krächzte Minerva, als Sting sie zu ihrer Schlafnische zog und sich dort mit ihr unter den Quilt kuschelte. „Ich will, das er dafür zahlt!“ „Das wird er“, versprach Sting ernsthaft und legte seine Faust auf sein Herz. „In einem Mond dürfen wir endlich mit unserer Reiterausbildung anfangen und in ein paar Zyklen sind wir stark genug, dann erobern wir deine Heimat zurück!“ „Wir?“ „Ja, natürlich wir! Wir sind doch Freunde oder etwa nicht?“ Mit einem aufmunternden Grinsen schlang Sting einen Arm um ihre schmalen Schultern. Bei dem Gedanken, dass sie diese Bürde der Befreiung von Sabertooth nicht alleine schultern musste, traten Minerva auf einmal die Tränen in die Augen. Schniefend wischte sie sich über die Augen und kuschelte sich dann an Sting. „Ja“, murmelte sie, „wir sind Freunde…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)