Out of the Blue. von Ikeuchi_Aya (Out of the box.) ================================================================================ Kapitel 1: Suspect ------------------ Ich hatte Mühe, mein Gleichgewicht zu halten als es zum abertausendsten Male ruckelte und die starken Vibrationen und Erschütterungen meine Bandscheiben zu unterhalten wussten. Nach dem nächstbesten Gegenstand greifend, welcher sich in meiner Nähe befand, rutschte ich allerdings ab – verdammter Hebel! Im selben Moment, in dem ich zähneknirschend fluchte, hoffte ich nur, dass der Zug an dem ebigen Schaltelement nicht die TARDIS zu beeinflussen wüsste. Wir hatten schon genug Chaos an Bord und es musste nicht sein, dass ich nun auch noch der Auslöser dafür war, dass wir ins Nirgendwo abstürzten. Mir gerade so einen festen Stand aneignen könnend, sah ich genervt zum Doktor. Wie konnte er nur die ganze Zeit mit solch einem rumorenden Gefährt durch die Weltgeschichte reisen? Gab es nicht die Option, diese Box mal zu warten? War das wirklich so normal, wie er vorgab? „Könnte ein bisschen holprig werden!“ hatte er noch gesagt. Die Untertreibung des Jahrhunderts. Jetzt musste er selbst zusehen, wie er uns sicher durch den Vortex bugsierte – und ich hatte nicht das Gefühl, dass zwei Hände genug waren, um die TARDIS zu steuern. Denn so, wie er von einer Stelle zur nächsten um das Pult herumrannte und sprang, wirkte sein Tun alles andere als normal. Mein Gewissen sagte mir, dass ich ihn einfach fragen sollte, ob ich helfen könnte, aber gleichzeitig machte sich auch die mir nur zu bekannte Unsicherheit breit, dass ich doch eh keine Ahnung hatte und nur im Weg stehen würde. Auf der anderen Seite... hatte ich keine Lust, mir irgendwann wirklich noch den Kopf anzustoßen, weil wir ein Beben der Stärke 7,5 durchlebten. Spätestens als ich dann bei einem erneuten Schaukeln auf dem Hintern landete, war mein Entschluss gefasst und ich rappelte mich mit allen Vieren auf: „Kann ich helfen?“ Der Timelord war so in seiner Arbeit versunken, dass er mich im Krach um uns herum nicht zu hören schien, so dass ich mich schließlich nach einigen Bemühungen endlich aufgerichtet und die Fußsohlen fest in den Boden gestemmt, noch einmal lauter bemerkbar machte: „Doktor... kann – ich – helfen?“ Jetzt schaute er überrascht zu mir rüber, hielt zwei Sekunden inne, und winkte mich dann in seine Richtung: „Wie? … Ja. Ja, kommen Sie her!“ Ich eilte zu ihm und wartete auf weitere Befehle. „Halten Sie diesen Hebel hier und drücken Sie den Knopf.“ Ich verfolgte aufmerksam die Steuerelemente, welche er festhielt und tat es ihm dann gleich, so dass er loslassen konnte. „Sehr gut, und lassen Sie auf keinen Fall los! Hören Sie? Auf – keinen – Fall!“ Ich nickte ehrfürchtig, positionierte mich hüftbreit mit den Beinen in Grätschstellung, leicht gebeugte Knie, und würde diesen länglichen, schraubenziehergriffgeformten Hebel sowie den runden Knopf mit meinem Leben verteidigen. Der Doktor wich von meiner Seite und stellte sich mir gegenüber des Pults. Ich sah ihm zu, wie er weiter hantierte. „Wie... können Sie das hier alles alleine steuern?“, wollte ehrlich interessiert wissen. Er reiste ja nicht immer mit einem Begleiter und selbst zu zweit waren vier vorhandene Arme nicht genug, um alle Elemente der Navigation und Steuerung abzudecken. „Das Cockpit ist für ein Team aus sechs Leuten bestehend konzipiert“, erklärte der Timelord ruhig, „Für weniger ist die TARDIS eigentlich nicht ausgelegt.“ „Sie haben also eigentlich eine Sechs-Mann-Crew an Bord?“ „Nein, normalerweise reise ich allein.“ Na, das war jetzt aber nur die halbe Wahrheit. Wenn ich an Rose dachte... oder Sarah-Jane. Als hätte ich diese Worte ausgesprochen und nicht nur gedacht, hob der Doktor den Blick und ebenso seine Augenbrauen: „Was ist?“ „Nichts“, guckte ich schnell woanders hin und ermahnte mich, meine Aufmerksamkeit wieder ganz und gar auf Hebel und Knopf zu richten und diese mit aller Kraft festzuhalten. Keine Sekunde zu früh, denn erneut ruckelte es und brachte uns ins Wanken. Dieses Mal war es allerdings noch heftiger und ich konnte froh sein, dass mir die Schokolade nicht wieder in die Speiseröhre schwappte, welche ich zu Mitternacht genascht hatte. Als wir dann allerdings nach endlosen Turbulenzen zum Stehen kamen, irgendwo aufgesetzt haben mussten, und auch nach zehn weiteren Sekunden sich kein Nachbeben mehr ankündigte, schien die TARDIS dies als Zeichen zu nehmen, ihre Leistung herunterzufahren. All die lauten Maschinengeräusche, die wir bis eben noch gehört hatten, ebbten langsam ab. Komplette Stille hüllte uns ein. Meine Ohren spielten mir aber immer noch ein Donnerkonzert und ich glaubte, einen Hörsturz oder dergleichen erlitten zu haben. Um mich selbst davon zu überzeugen, dass dem nicht so war, sah ich zum Doktor auf und sprach zu ihm: „Kann ich... loslassen?“ Alles in Ordnung. Ich klang mir nicht selbst fern oder monoton. Das Rauschen in meinem Gehörkanal wurde ebenso leiser und ich konnte erleichtert ausatmen. Der von mir Angesprochene bestätigte meine Frag mit einem kurzen „Jepp“ und nahm dann eine gleichsam entspanntere Pose ein. „Wir stehen sicher auf dem Boden Englands“ Ich fuhr mir angestrengt mit beiden Händen durch die Haare und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Diese Reise war schon genug Abenteuer gewesen. Gott... Wenn das wirklich immer so vonstatten ging, sollte ich mir für die Zukunft Reisetabletten anschaffen oder einen großen Vorrat an Kotzbeuteln. Da wollte ich gar nicht an die Rückreise denken. Ich fühlte mich regelrecht benommen und legte die Handfläche auf meinen Bauch, der mir als Souvenir der Strapazen ein leichtes Übelkeitsgefühl hinterlassen hatte. „Sie sehen etwas blass aus, aber für Ihre erste Reise durch den Vortex, haben Sie sich gut geschlagen“, beglückwünschte mich der Doktor dazu auch noch mit einem vielsagenden Lächeln und ließ seine Augenbrauen ein wenig nach oben zucken. Ich konnte nur mit schmal aufeinander gepressten Lippen antworten: „Gerade hätte ich lieber eine Vomex...“ Schlechte Wortspiele im schlechten Zustand. Wo war meine Reiseapotheke, wenn ich sie brauchte? Leider hatte ich diese nicht in meinem Zimmer verstaut, denn dann hätte ich die Medikamente auch hier in meinem TARDIS-Zimmer gefunden. Pech gehabt. „Ich glaube, ich brauche etwas frische Luft.“ „Nur zu, nur zu. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht der Queen auf die Füße treten.“ Ich schüttelte nur irritiert den Kopf und bewegte mich mit schwankenden Schritten zum Ausgang hin. Wäre es mir gut gegangen, wäre ich weitaus vorsichtiger gewesen, aber gerade übernahm mein vegetatives Nervensystem die Kontrolle über meinen Körper und wenn ich nicht bald nach draußen käme, würde der stärker werdenden Nausea ein Erbrechen folgen, das ich uns beiden ersparen wollte.   Die Tür öffnend, kam mir ein kühler Luftzug entgegen, den ich gierig einsog. Die Augen schließend und mich auf meinen Atem konzentrierend, konnte ich gar nicht genug von dem Sauerstoff kriegen, der mich umgab. Schlicht der unschöne Geruch von Kohle hing mit drin, aber das war mir egal. Nach ein paar ruhigen Atemzügen ging es mir schon wieder weitaus besser und ich hob die Lider, um überhaupt erst einmal zu realisieren, wo ich mich befand: … tatsächlich in meinem heißgeliebten England. Und … wenn ich diesen dumpfen, wunderbaren widerhallenden Klang richtig deutete – welchen ich nie missdeuten würde – dann befanden wir uns gar nicht so weit weg vom Big Ben, die wunderbare Turmuhr Londons. „Wahnsinn …“, hauchte ich vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass ich britischen Pflasterstein unter meinen Füßen wusste und starrte der langen Gasse entgegen, in welcher sich die TARDIS gestellt hatte. Vorsichtig trat ich über die Schwelle. Ich kannte die Gegend nicht, in welcher wir uns befanden, aber die Art und Weise wie die Gasse gestaltet war und der Geruch der verbrannten Kohle, erweckten bei mir den Eindruck, dass wir uns definitiv nicht in der Gegenwart befanden. Was hatte der Doktor eben gesagt? Ich sollte der Queen nicht auf die Füße treten? Vorhin hatte ich ihm ein paar Ziele genannt, als er die Funktionstauglichkeit der TARDIS testen wollte, nachdem er sie ja nicht einfach ins Jahr 2017 hatte lenken können. Darunter fielen auch die Zeiten des viktorianischen oder edwardianischen Londons und eins und eins zusammengezählt, wäre es wohl genau das: das viktorianische London. Meine Mundwinkel zogen sich höher und gewiss begannen auch meine Augen zu leuchten, wo ich mein Glück jetzt auch gedanklich zu fassen bekam: Ich hatte schon einige Jugendromane gelesen, in denen die Ära Queen Victorias als Hintergrundszenario galt und ebenso Videospiele dazu gespielt. Ich hatte mich in die viktorianische Architektur verliebt und war von den wenigen Eindrücken zu der alten Zeit ungemein fasziniert gewesen, die im modernen London noch auffindbar waren. Dieses Zeitalter, welches gerade einmal etwas mehr als ein Jahrhundert zurücklag. „Scheint, als würde Ihnen die frische Luft gut tun“, erklang plötzlich die Stimme des Doktors neben mir und ich zuckte erschrocken zusammen, so sehr war ich in meiner eigenen Welt eingetaucht, „Ich hoffe, Sie sind zufrieden?“ Es war nur eine rhetorische Frage, aber trotzdem musste ich sie mehrmals nickend bejahen, „London zur viktorianischen Zeit. Die Hochzeit für Großbritannien in seiner Weltmachtstellung. Grandiose Autoren. Grandiose Museen, die entstanden sind. Solange man zu den Reicheren gehörte ein gutes Leben.“ „Wenn man reich ist, geht es einem überall gut“, bemerkte ich und sah mich dann noch ein wenig genauer um, soweit es mir in dieser Gasse möglich war. „Wo genau... sind wir eigentlich?“, sprach ich meinen Gedanken direkt aus und ging auf der Suche nach einem Anhaltspunkt einmal zur Hinterseite der TARDIS, doch auch hier verlief sich der gepflasterte Weg nur zu einem anderen Ende. Kein Straßenschild an den Wänden, nichts. „Nun, ich würde sagen …“ Der Doktor rümpfte die Nase, zog mehrmals hörbar die Luft ein, ehe er den Kopf hin- und herwog und dann irgendwie leicht angewidert den Mund verzog, „ …“ Schweigend drehte er sich um die eigene Achse und so wie ich eben dem Geräusch des Big Bens gedanklich nachgegangen war, versuchte er zu rekonstruieren, aus welcher Richtung das Glockenspiel uns erreicht hatte, „Finden wir es heraus!“ Auf seinen Lippen zeigte das typische Grinsen, das dem Zuschauer der Serie verriet, dass das Abenteuer bald beginnen würde. Es war die Einladung, auf welche ich so gewartet und gehofft hatte: gemeinsam durch eine andere Zeit zu gehen und Dinge zu erleben, die dem Großteil der Menschheit verwehrt bleiben würde. Dieses Mal konnte ich das Lachen erwidern. Nahezu vergessen waren die Flugturbulenzen und die körperlichen Nachwirkungen unserer Reise. Unsere kleine Besichtigungstour würde nun mehr beginnen.   „Wie kommt es eigentlich, dass ihr ausgerechnet immer für das viktorianische England interessiert?“, fragte mich der Doktor mit einem leichten Unverständnis in der Stimme, als wir uns ein paar Meter von der TARDIS entfernt hatten und auf eine etwas breitere Seitenstraße traten, „Es gibt so viele Zeiten und Welten, aber immer wieder zieht es euch Menschen in die viktorianische Zeit.“ Mir lag auf der Zunge, dass er vielleicht einfach ein bestimmtes Beuteschema in seiner blauen Box mitnahm, doch wollte ich ihm lieber eine richtige Antwort geben. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass diese nur noch mehr sein Klischeebild von uns Erdlingen bedienen würde. „Charles Dickens, Sir Arthur Conan Doyle. Jack the Ripper, die Mode, die Architektur, der technische Fortschritt, die Klassenunterschiede … Es ist für mich eine der wenigen Epochen, die so viele Dinge besitzt, die zu faszinieren wissen“, erklärte ich und hatte schon wieder etwas Neues entdeckt, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog: eine Schmiede, die sich zu unserer Rechten in einem aus hellem Backstein gebauten Gebäude reihte und mit offenen Holztüren einen schnellen Blick hinein ermöglichte. „Und es ist äußerst spannend nachzuverfolgen, wie sich London verändert hat.“ Wir gingen an der Schmiede vorbei, weiter auf der Suche nach dem Weg ins Zentrum der Stadt. „Sie waren also schon einmal hier?“ „Zweimal.“ Und jedes einzelne hatte ich geliebt. Es waren zwar nur die typischen Touristenpunkte gewesen, die ich mir bei meinen Reisen hatte ansehen können, aber ein paar Tage in der Hauptstadt Englands zu verbringen war eine wunderbare Erfahrung gewesen, die ich nur allzu gerne hatte wiederholen wollen. Während ich dies dem Doktor näher legte, ging ich mit dem hageren Mann in seinem viel zu weitem Trenchcoat um ein paar weitere Ecken. Und dann... schlussendlich ein Ort, der mir bekannt vor kam! „Aldgate? Die Aldgate Station?“ „Um genauer zu sein, die Aldgate East Station. Sie sind also bewandert in der Gegend um East End?“ Eigentlich nur, weil es auf der Strecke zu Upton war. Dort, wo ich den Doctor Who-Shop gefunden hatte. Aber zumindest... ja. Ein klein wenig. Ich nickte demnach zaghaft. „Wunderbar!“, begrüßte der Doktor meine plötzliche Orientierung, „Sie sind also doch ein bisschen weiter als bis zum Buckingham Palace vorgedrungen!“ „Um ehrlich zu sein, habe ich diesen nicht einmal gesehen. Und... wenn es darum geht, dass es nicht die schönste Ecke der Stadt ist, ja. Aber... könnten wir uns die Station ein bisschen näher ansehen?“, schlug ich kleinlaut vor und erntete ein leidenschaftsloses Schulternzucken. „Natürlich. Auch wenn ich zugeben muss, dass Sie nicht den Eindruck erwecken, Interesse an dem Transportsystem Londons zu besitzen.“ „Ich bin Eisenbahnerkind“, erklärte ich mit einem Lächeln, als wir beide die Straße überquerten. Von der linken Seite kam eine schwarze Kutsche mit vorgespanntem Pferd vorgerollt, die wir an uns vorbeilassen mussten. „Mein Vater ist Lokführer und er hat mich früher schon zu allen möglichen Bahnhöfe und Ausstellungen mitgenommen. Ich liebe den Geruch von Maschinenöl.“ „Vielleicht hätten Sie in London geboren werden sollen“, bemerkte der Timelord mit dem wirren Haar anerkennend und auch ein bisschen amüsiert. „Vielleicht.“   Wir steuerten auf den Eingang des Verwaltungsgebäudes der Aldgate East Station zu und ich blieb direkt davor stehen, die alte Architektur bewundernd, welche sonst nur auf Wikipedia und Websites von Hobbyisten und Historikern zu finden wäre. Links und rechts vom Eingang hingen an einer Wand die Fahrpläne der aktuellen Züge auf A2-großen Papieren in schwarzen Serifenlettern. Darüber prangte in weißen Großbuchstaben die Überschrift METROPOLITAN RAILWAY. Heute waren es die Hammersmith- und die District-Line, welche dort fuhren. Mit einem kleinen zaunähnlichen Geländer über dem Banner, konnte man vermuten, dass es ein Heraustritt war, der von einer erhöhten Ebene im Gebäude abging. Je zwei schmale Fensterläden links und drei dieser rechts mit leichtem Rundbogen ragten empor und endeten im Dachsims. Ein Typanom wie zu alten griechischen Zeiten war die Krönung des Bahnhofsverwaltungsgebäudes und auch hier konnte man wie überall an diesem Platz sowohl Metropolitan and District Railway als auch Aldgate East Station lesen. Im Hintergrund des Gebäudes befanden sich noch weitere hochragende Ziegelbauten, mal mit festen Werbeplakativen bestückt, mal einfach nur simpel ihre Steine vortragend. Ich fand es immer wieder erstaunlich, wie die U-Bahn-Stationen in London mit der Stadt verankert waren. Hätte ich allerdings gewusst, dass diese Station hier nur fünfzig Jahre später etwas mehr nach Osten verlegt wurde und der Ort, an dem wir hier standen, bereits zu einem abandoned place gehörte, wäre ich wohl ohne zögern hineingeprescht um das einmalige Zeitzeugnis zu sehen. So allerdings drehte ich mich nur ein wenig um die eigene Achse, ungeachtet dessen, dass uns einige Leute anblickten. Oder sahen sie doch eher mich an? Vermutlich lag es an meiner Kleidung, die im Gegensatz zu den hochgeschlossenen Herrschaften recht dürftig war, aber ich konnte nicht ahnen, dass dies just die Spitze des Eisberges darstellte, die uns erwarten würde. „Lassen Sie uns bitte in den Bahnhof gehen, ja?“, bat ich mit größeren Augen als mir selbst bewusst war und wäre am liebsten auch ohne das Abwarten auf eine Antwort losgegangen. Da erhob sich allerdings die glockenhelle Stimme eines Jungen in unserer Nähe: „Extrablatt! Extrablatt! Neues vom Serienmörder! Extrablatt!“ Das Kind in seiner abgewetzten Kleidung, die auf seinen nicht vorhandenen Wohlstand schließen ließ, hielt die Sonderausgabe einer Zeitung in die Luft gestreckt und wedelte damit wagemutig umher. Den Rest seiner Ausgaben hatte er unter dem anderen Arm geklemmt. „Das nenne ich Aufmerksamkeit erregen“, schluckte ich, denn besonders wohl war mir bei solch einer Ansprache ganz und gar nicht. Eine Sonderbeilage bedeutete zudem immer, dass irgendetwas geschehen war, was keine Einhaltung des nächsten Redaktionsschlusses zuließ. Der Timelord hingegen ließ sich von seiner instinktiven Neugier leiten und trat zielstrebig zu dem Jungen, um ihn direkt anzusprechen. Anhand seines Gesichtsausdruckes konnte ich erkennen, dass er diese Ankündigung ernster nahm als es mir in den Sinn gekommen wäre. „Wie viel kostet eine Ausgabe?“ „Einen halben Penny, Sir!“ In seinen Trenchcoattaschen kramend, zog er eine Münze hervor und drückte sie dem Jungen mit der Schirmmütze in die Hand.s „Danke, Sir! Ihre Zeitung!“ Der Doktor nahm das vierseitige Exemplar entgegen und kehrte dann wieder zu mir zurück, während er schon die Nase in das Blatt gesteckt hielt. „Worum geht es?“ Ich warf einen Blick die Titelseite, erkannte aber in erster Linie nur einen Abdruck einer handschriftlichen Postkarte. Da ich die Schrift nicht sofort entziffern konnte, was auch an den seltsamen Abdruckspuren lag, warf ich einen Blick auf das Datum in der oberen Zeile... 2. Oktober 1888. Nicht, dass mir dieser Tag etwas sagte, aber... mein Bauchgefühl sagte mir da etwas anderes. Dass ich Vorsicht walten lassen sollte. Dass ich mich nicht zu früh freuen sollte. Und dass ich sehr wohl wissen sollte, worum es ging... „Ich habe nicht gescherzt, werter alter Vorgesetzter, als ich Ihnen den Tipp gab, dass Sie morgen von Saucy Jackys Arbeit hören werden. Dieses Mal Doppelereignis. Nummer Eins petzte ein wenig. Konnte nicht gleich direkt beenden. Hatte keine Zeit die Ohren für die Polizei abzukriegen. Danke fürs Behalten des letzten Briefes, bis ich wieder zur Arbeit muss. Jack the Ripper“, las der Doktor für mich vor und das leider ein bisschen zu ruhig und unbetont, als dass mir nicht das Blut in den Adern zu gefrieren drohte. „Jack the Ripper?“, wiederholte ich die letzten drei Worte stockend. Ich sah zu meinem Gegenüber auf, der nun mehr noch die Notiz und Bitte der Polizei und der Presse verlas: Die Londoner Bürger sollen sich bei Auffälligkeiten melden, ebenso wenn sie Hinweise hätten, damit der seit April hantierende Serienmörder geschnappt werden könne. „Der Jack the Ripper?“ „Ausgenommen den Trittbrettfahrern gab es keinen zweiten“, murmelte der Doktor und blätterte geschwind um. Auf der nächsten Seite befand sich ein weiterer Brief:   Werter Vorgesetzter, Ich höre weiterhin, die Polizei hat mich geschnappt, aber noch werden sie mich nicht festhalten. Ich habe gelacht als sie so schlau aussahen und redeten, auf der richtigen Spur zu sein. Dieser Witz über Lederschurz verpasste mir einen wahren Schauer. Ich gehe auf Huren los und ich werde nicht aufhören sie zu zerreißen, bis ich gefesselt bin. Der letzte Job war großartige Arbeit. Ich gab der Dame keine Zeit zu petzen. Wie können Sie mich jetzt fassen. Ich liebe meine Arbeit und möchte noch einmal anfangen. Sie werden bald von mir und meinen kleinen lustigen Spielen hören. Ich behielt etwas von dem richtigen roten Zeug vom letzten Auftrag in einer Ingwerbierflasche um damit zu schreiben, aber es wurde dick wie Leim und ich konnte es nicht benutzen. Rote Tinte ist wohl genug, hoffe ich, ha, ha. Der nächste Auftrag, den ich tätigen werde, wird das abknipsen der Ohren der Dame sein und sie nur aus Vergnügen an die Polizeibeamten schicken. Halten Sie diesen Brief zurück, bis ich ein bisschen mehr Arbeit getan hab, dann geben sie ihn mir direkt. Mein Messer ist so nett und scharf, dass ich gleich wieder zur Arbeit zurück möchte, wenn ich die Chance bekomme. Viel Glück. Ihr ergebener Jack the Ripper Zögern Sie nicht, mir einen Handelsnamen zu geben PS Schaffte es nicht, das zu verschicken, bevor ich all die rote Tine von meinen Händen bekommen habe, verdammt. Kein Glück bisher. Sie sagen, ich bin jetzt ein Doktor. Ha, ha   Datiert mit dem 25. September 1888. Erst ein paar Tage alt. Auch hier wieder der Aufruf zur Mithilfe. Auf der dritten Seite befanden sich detaillierte Informationen über bisherige Morde – Opfer, Tag des Mordes,Ort, Todesgrund, … für meinen Teil sogar etwas zu detailliert. Auch wenn ich ausgebildete Krankenschwester war, gab es Dinge, die ich ungern sehen wollte und konnte. Ich war froh, dass sich meine Reiseübelkeit seit geraumer Zeit endlich wieder gelegt hatte, da wollte ich nicht wieder neue riskieren. „Jack the Ripper in der Hochphase seiner Verbrechen“, schlug er schließlich den Papierbogen wieder zusammen und übergab ihn mir. Ein bisschen eingeschüchtert besah ich mir das Sonderblatt ein weiteres Mal, versuchte nun mehr die Feinheiten zu studieren und besah mir vor allem die handgeschriebenen Nachrichten vom Ripper. Natürlich hatte die Zeitung nur eine Schwarz-Weiß-Kopie anfertigen können, aber anhand des Kontrastes konnte ich mir ausmalen, dass es sich um rote Schrift handelte – so wie es in Worten beschrieben stand. Es schüttelte mich bei der Vorstellung, dass dies der Lebenssaft seiner Opfer hätte gewesen sein können. Im Gegensatz zur aktuellen Karte war der Brief nahezu in Schönschrift geschrieben, mit einem Rechtshang in Wort und Zeilenverlauf. Die Postkarte wirkte hingeschmiert, in Eile geschrieben und womöglich war auch das der Grund, warum sich weitere Farbspuren auf dem Original befanden. Ich wusste, dass Jack the Ripper eine Reihe Prostituierte umgebracht und ihre Körper hierbei verstümmelt hatte, aber mir war nicht klar, in welchem Ausmaße und von welchen Zahlen wir sprachen. Namen wir Mary Ann und Annie kamen mir in den Sinn, doch konnte ich keinen rechten Zusammenhang bilden. Es war schon ein paar Jahre her, dass ich mich mit diesem Thema beschäftigt hatte und einen Jack the Ripper-Walk hatte ich während meiner Londonreise leider nicht zu besuchen geschafft. In diesem Moment hätte ich jene Erfahrung aber gerne gewusst, denn zu erfahren, dass ein Serienmörder hier ganz in der Nähe sein könnte, … war nicht sehr beruhigend. „Was meinen Sie mit Hochphase?“, fragte ich demnach den Timelord und beschloss schließlich, das Faltblatt, Faltblatt sein zu lassen. „Sagen Ihnen die kanonischen Fünf etwas?“ Ich schüttelte den Kopf. Der Doktor atmete einmal durch und steckte dann die Hände in die Taschen seines Trenchcoats. „Fünf Morde, die er verübte, wurden als kanonische Fünf bezeichnet. Sie fanden alle zwischen August und November 1888 in Whitechapel statt.“ Er deutete auf die Rückseite des Nachrichtenblattes, wo sich im unteren Viertel eine Karte der Lokalität befand. Für den Leser war veranschaulicht worden, wo die einzelnen Morde stattgefunden hatte. Alle markiert mit einem Kreuz und mit dem Namen der Toten. Und der aktuellste ließ mich schaudern: Mitre Square. Von der hier gelegenen Aldgate High Street, befand sich gleich um nächster Ecke die Mitre Street. Nur wenige Fuß von uns entfernt. Dort um die Ecke … war Catherine Eddowe ermordet worden. In der Nacht zum 1. Oktober. Ich musste schwer schlucken. Das Gefühl, nur wenige Stunden nach einer solch verübten Tat am Ort des Geschehens zu stehen, war mir nicht fremd. Es bereitete mir keine Angst, mich daran zurückzuerinnern, aber dennoch blieb zumindest das unheilvolle Gefühl. Jenes würde nie vollständig vergehen. Ich spürte, wie mir das Blut in die Beine sackte und konzentrierte mich auf die Buchstaben vor mir, um dem kurzen Schwindelanfall wieder Herr zu werden. Das Doppelevent. Eddowe war das zweite Opfer in derselben Nacht – Elizabeth Stride war die erste Tote gewesen. Ich zählte die eingetragenen Tatorte und zählte gleich darauf noch einmal. Vier und wieder vier. „Sie sagten doch, es wären fünf?“, wunderte ich mich, wurde aber sogleich eines Besseren belehrt: „Ich sagte auch, dass sich die Ereignisse bis November streckten.“ „Das heißt also … wir … sind sicher?“ Ich hatte etwas anderes sagen wollen – aber stattdessen brach mir der Egoismus durch Angst vor dem eigenen Tod über die Lippen. „Für den Moment, ja.“ Der Doktor sah sich um, wollte aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir uns hier auf offener Straße befanden, nicht weiter über die nahe Zukunft äußern, was ich ihm auch nicht verübeln konnte. Im Grunde hatte er sich gar nicht über die Zukunft zu äußern. Ich schloss somit für mich, dass der fünfte Mord also im November stattfinden müsste. Da wir gerade erst Oktoberanfang hatten und ich nicht sonderlich erpicht darauf war, einen ganzen Monat hier zu verweilen, dürfte also alles in Ordnung sein. Vorausgesetzt … es würden nicht doch noch Verbrechen stattfinden, die in der Historie nicht verzeichnet waren oder hatten nachverfolgt werden können. Allein die Weltkriege hatten eine Menge von wichtigen Dokumenten zerstört und so vielleicht auch Beweismaterial, anhand dessen man noch weitere Morde hätte nachweisen können. Womöglich waren es also sogar die kanonischen Sechs und nicht Fünf? Womöglich hatte sich der Ripper gar keine so lange Auszeit genommen? Nein, ich sollte aufhören, mir noch mehr Angst zu machen!! Es war alles okay. Es war alles in Ordnung. Solange man nicht des nachts alleine unterwegs war, war alles … Mit einem Mal spürte ich die warme Hand des Doktors auf meiner Schulter ruhen und mich dann ruhig, aber bestimmt vorwärts schiebend. „Wissen Sie was? Lassen Sie uns einen viktorianischen Teesalon aufsuchen und einen feinen 5 o'clock afternoon tea einnehmen. In den Genuss werden Sie nicht so schnell wieder kommen!“ Es irritierte mich, dass er mich von dieser Szenerie hier wegziehen wollte und so plötzlich auch das Thema wechselte, aber vielleicht hatte er auch gemerkt, dass mir bei alldem nicht wohl war? „Bleiben Sie stehen und drehen Sie sich langsam mit erhobenen Händen um!“ Oder... es war alles ganz anders. „Narh... dem wollte ich gerade entgehen“, murmelte der Timelord neben mir und zog eine Grimasse, ehe er meine Schulter losließ. Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er tatsächlich die Arme hob. Er, der Doktor. „Wenn Sie selbst Zeuge werden wollen, wie sich alte viktorianische Munition im Körper anfühlt … spielen – Sie – mit“, raunte er mir leise zu und betonte dabei jedes einzelne Wort. Ich hatte längst gelernt, dass ich nicht alles zu hinterfragen hatte, sondern manchmal auch einfach nur tun sollte, was man mir vorgab. Und so schossen nun auch meine Hände auf Kopfhöhe nach oben. Fast zeitgleich drehten wir uns beide zu der tiefen Männerstimme herum, die uns wie Verbrecher zu behandeln wusste, „Oh!“, machte der Doktor dann überrascht, „Wenn ich Ihnen vorstellen darf: Das gute alte Scotland Yard.“ Unter anderen Umständen hätte es mich genauso gefreut wie damals, als ich zufällig das Gebäude von New Scotland Yard in London fand. Aber jetzt entwich mir auf diese zufällige Zusammenkunft nur ein schmales Lächeln. Ein sehr schmales. „Nennen Sie mir klar und deutlich Ihre Namen“, sprach der Inspektor erneut, welcher mit zwei Polizisten als Rückendeckung uns gegenüberstand und nicht weniger bedrohlich zu ihrer Bewaffnung auch noch selbst die Pistole gezückt hielt. Ich hatte genug Zeit, ihn mir genauer anzusehen: ein großgewachsener, breitschultriger Mann mittleren Alters, der einen fülligen Bauchansatz vorzuweisen hatte. Sein dunkles Haar war hager, in einem linksliegenden Seitenscheitel glatt gekämmt. Auch er trug Koteletten wie der Doktor, aber im Gegensatz zu diesem auch noch einen Schnauzbart. Die eng stehenden Augen mit den kleinen Augenbrauen und die lange, gerümpfte Nase mündeten in tiefere Grübchen. Im Anzug gekleidet, wie man es wohl von einem ranghohen Inspektor zu erwarten hatte, stand er in Begleitung von zwei weiteren Beamten drei Meter vor uns und hatte seine Waffenmündung auf uns gerichtet. „Nun... das ist Alexandra und ich bin der Doktor“, stellte uns beide der Timelord vor, „Und wir haben die Ehre mit...?“ „Sie haben die Ehre schweigen zu dürfen, Doktor, und sich von uns in Gewahrsam nehmen zu lassen.“ „W-wie?“, entwich es mir da schockiert und für eine Sekunde lockerte ich meine Haltung, so dass die beiden Polizisten hinter ihm mit ihrer Waffenhaltung nachrückten. Schnurstracks waren meine Hände wieder in alter Position. „Chief Inspector Donald Sutherland Swanson. Im Auftrag Scotland Yards, im Namen der Königin Victoria, nehme ich Sie beide fest. Sie stehen unter Tatverdacht, die Morde an Emma Elizabeth Smith, Martha Tabram, Mary Anne Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride und Catherine Eddowe verübt zu haben.“ „W-WAS?“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)