Drachenengel (Buch 1) von abgemeldet ({inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}) ================================================================================ Kapitel 11: Nara (Teil 1) ------------------------- Die Stadt Nara war unterteilt in einen Süd- und einen Nordteil, wobei letzterer nur eine Art Minderheiten-Viertel darstellte, welches nicht von der schützenden Stadtmauer umgeben war und nicht einmal in Stadtplänen auftauchte, denn den Reisenden und Touristen sollte seine Existenz vorborgen bleiben. Der Südteil von Nara war die Hauptstadt des Ostens und zählte mehr als eine Million Einwohner. Eine hohe und gut bewachte Steinmauer, die um die gesamte Südstadt führte, garantierte Schutz vor den Einflüssen der restlichen Welt, die strengen Wächter ließen keine Technik oder Waffen hinein. Öffentliche Sicherheit und keine Kriminalität waren die positiven Auswirkungen von diesem fragwürdigen System, das die Stadt zu einer eigenen kleinen, isolierten Welt gemacht hatte. Nara wurde vom Kaiser des Ostens regiert, der im monumentalen Kaiserpalast der Stadt seine Residenz hatte. Er hatte aus religiöser Sicht den Segen der Götter hatte und gar als ihr Nachfahre oder als lebender Gott galt, und er war, aller Kritik zum Trotz, ein gerechter und weiser Herrscher, dessen Volk stets treu hinter ihm stand. Große Menschenmassen aus dem gesamten Osten pilgerten jedes Jahr zu den wichtigen Heiligtümern von Nara, welche die vielen verschiedenen Religionen des Ostreiches repräsentierten. In der Nähe des Bahnhofs befand sich das Stadttor von Nara. Vor dem einzigen Eingangstor der Stadt standen Hanryo, Chikará und Tsuzuri mitten in einer langen Menschenschlange, viele wollten noch vor dem baldigen Einbruch der Nacht in die Stadt hineingelangen. Jeder der dreie trug einen braunen Leinensack in der Hand, in dem das Gepäck transportiert wurde. Es wurde allmählich dunkel am Himmel und damit kühl im Freien. Überall am Stadteingang unterhielten sich die Reisenden über ihre Abenteuer oder ihren Glauben, die meisten von ihnen waren Menschen aus dem Südosten. Als dann nach mehrstündigen warten Hanryo und Tsuzuri kontrolliert wurden, konnte man bei ihnen keine Waffen oder technische Gegenstände finden, somit wurde ihnen der Eintritt in die Stadt gewährt. Natürlich waren sie nicht ohne Waffen und Sprengstoff verreist, jene Dinge und ihre normale Kleidung hatten sie aber zuvor in Bahnhofschließfächern deponiert. Chikará bekam etwas Angst während der Kontrolle, die auf einem kleinen Platz vor dem Eingangstor stattfand. Die Stadtwächter waren starke Männer in majestätischen Metallrüstungen, kalt und genau waren ihre misstrauischen Blicke. Viele trugen mehrere Schwerter bei sich, ihre Gesichter waren wie eingefroren und mit vielen Narben von Kämpfen gezeichnet. Chikarás Herz schlug laut und schnell, als sie an der Reihe war, sie schwitze und zitterte am ganzen Körper, dennoch ließen die Wächter sie ohne lange zu zögern passieren. Wahrscheinlich erahnten sie, dass die junge Frau keinen wirklichen Grund für ihre Ängstlichkeit hatte und ebenso keine bösen Absichten, lediglich die Respekt einflößenden Rittergestalten waren, dem Anschein nach, für ihre Furcht verantwortlich. Nach der Kontrolle ging es weiter einen kleinen Pfad entlang, an dessen Seiten weitere schwer bewaffnete Wachritter standen, deren düstere Blicke ebenso unheimlich wirkten, wie die der Wächter an der Kontrollstelle. Erst als Chikará direkt vor der Stadtmauer stand, wurde ihr die wahre Größe des Bauwerks von mindestens zwanzig Metern Höhe und ungefähr zehn Metern Breite bewusst. Auf den Zinnen, die mit roten Dachziegeln bedeckt waren, warteten wachsame Bogenschützen auf ihren Einsatz, an vielen stellen hing die Flagge des Ostens, der schwarze Stern auf rotem Grund. Es musste praktisch unmöglich gewesen sein, unbemerkt in die Stadt einzudringen, dachte sie sich staunend. Am Durchgangsportal säumten menschengroße Steinfiguren von Löwen und Dämonen mit weit geöffneten Mäulern, die gierig auf die Reisenden fixiert waren. Ganz im Gegensatz dazu waren die goldenen Schriftzeichen über dem Torbogen, die ,Tritt ein Fremder, in die Stadt des ewigen Friedens' bedeuteten. Lodernde Fackeln wiesen den Weg durch die Passage, in der beinah völlige Stille herrschte, weder der Wind, noch die sich unterhaltenden Wanderer waren unter dem kolossalen Torbogen noch zu hören. Wandreliefe zeigten große Schlachten aus ferner Vergangenheit, aus der Zeit, in der Nara errichtet wurden war als Versteck der Kaiserfamilie vor den rechtlosen Armeen, die plündernd durch die Länder gezogen waren. Hinter dem Eingangstor sah man sogleich die Hauptstraße, die zum Kaiserpalast führte, mit goldenen Feuerlaternen am Rand wurde sie in der Dunkelheit erhellt. Bis auf die Wachritter, die alle paar Meter am Weg patrouillierten, war niemand mehr dort draußen zu erkennen. Die Kriegerkaste hatte in Nara noch eine wichtige Bedeutung und genoss zahlreiche Privilegien und Rechte, die die normalen Bürger nicht hatten, zum Beispiel das fragwürdige Recht, einen jeden, der sie provozierte, sofort erschlagen zu dürfen. Immerhin war durch die allgegenwärtige Militärmacht und Überwachung Nara zur wohl sichersten Stadt der Welt geworden. Die Häuser der Hauptstadt des Ostens waren größtenteils in altertümlicher Holzbauweise gebaut, wie sie vor einigen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden überall üblich gewesen war. Lackiert waren manche der Gebäude in Rot- oder Grüntönen, die Dächer waren geschützt durch graue oder schwarze Ziegel, einige hatten auch nur einfache Strohdächer. Zur Straße hinausragende Schilder an den Hausfassaden verrieten den Zweck der Gebäude, die meisten am Stadteingang waren Wirtschaften und Herbergen für die Reisenden. Hanryo wählte schnell eine Unterkunft für die Nacht aus, es war ein kleines Gasthaus, in dem er schon oft übernachtet hatte. Von Außen sah das Gebäude sehr gepflegt und vornehm aus, die hellen Holzwände waren sauber und ohne Kratzer oder Risse, durch die offene Eingangstüre und die einfachen Fenster ohne Glasscheiben oder Rollladen strahlte Licht nach draußen auf die Straße. Die metallenen Preisschilder neben der Türe zeigten zwar, dass die Nacht hier zu verbringen nicht gerade billig werden würde, aber Chikará besann sich ohne Sorgen auf Hanryos prall gefülltem Geldbeutel zurück. An der bescheidenen Rezeption, die lediglich aus einem Holztisch bestand, auf dem ein großes Buch und eine Schreibtuschegarnitur lag, stand ein alter Mann mit langen grauen Haaren und orangebrauner Kluft. Er begrüßte die Gäste mit einem freundlichen Lächeln und einer Verbeugung, man erwiderte aufmerksam den Gruß. Er kannte Hanryos Namen und sprach ihn mit einem leichten Augenzwinkern an auf seine doppelte weibliche Begleitung, woraufhin dieser entgegnete, dass es sich bei ihnen lediglich um Verwandte handeln würde. Der alte Mann lachte und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, dann bezahlte Hanryo für drei Einzelschlafzimmer. Nach einem kleinen Abendessen im benachbarten Wirtshaus, bestehend aus einer kräftigen Nudelsuppe mit Hühnerfleisch und Gemüse, die allen gut geschmeckt hatte, diskutierte man noch kurzzeitig über den nächsten Tag in Nara und die ersten Eindrücke der Stadt. Chikará war gespannt auf die Bauwerke und Heiligtümer der Hauptstadt, während Tsuzuris Begeisterung sich ziemlich in Grenzen hielt, was sie damit begründete, dass ihr Volk sich niemals großartig für die Vergangenheit oder die Traditionen der Menschen gekümmert hatte. Schließlich begaben sich die drei in ihre getrennten Schlafräume im ersten Stock der Herberge. Die kleinen weißen Kammern waren jeweils eingerichtet mit einer Strohmatte am Boden, die als Bett diente, einem Wandschrank für das Gepäck, und einer Blumenvase aus braunem Ton mit blau blühenden Chrysanthemen, ein rundes Fenster ermöglichte die Sicht auf den nächtlichen Sternenhimmel. Als Tür diente eine mit Blumen bemalte Papierschiebetür, die aber vollkommen ausreichte, da aus Höflichkeit gegenüber den anderen Gästen niemand im Haus nach Einbruch der Nacht mehr laut sprach oder unnötig den Flur entlang ging. Eine Toilette und ein Bad gab es leider nur einmal pro Etage, also für ungefähr dreißig Zimmer gleichzeitig, darum war es immer mit etwas Glück verbunden, ob es frei war oder nicht. Chikará gewöhnte sich schnell an die neue, etwas enge Umgebung, es erinnerte sie sogar ein wenig an die Hütte von Mián zurück, die nicht viel größer gewesen war. Jedoch verdrängte sie die Gedanken an ihre tote Freundin schnell wieder aus ihrem Kopf, weil der große Schmerz über ihren Verlust zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus ihrer Seele verschwunden war, zu tief saß er immer noch in ihr. Auf der weichen Strohmatte zu liegen war sehr bequem und erholsam, ein dünnes Baumwolltuch diente als Decke. Ein kühler Wind kam durch das Fenster hinein und wehte durch den ganzen Raum, die Luft war, für die einer Stadt, recht sauber, und es roch sogar ein wenig nach den duftenden Chrysanthemen in der Blumenvase. Hanryo hatte gesagt, dass sie morgen früh Einkaufen gehen würden, am Nachmittag würden sie sich dann den Kaiserpalast ansehen, worauf sich Chikará besonders freute. Es interessierte sie sehr, wie der Kaiser der Menschen im Osten lebte, da sie irgendwann als Drachenkaiser, so dachte sie, bestimmt nicht viel anders leben würde. Vielleicht wäre ihr Palast wesentlich kleiner, und die Anzahl ihrer Untertanen und Wächter viel geringer, aber das würde sie nicht sonderlich kümmern, solange sie sich mit ihrem winzigen Volk verbunden fühlen würde, wäre sie mit sich selbst zufrieden. Wahrscheinlich war es aber auch noch viel früh, um überhaupt an so etwas zu denken, der Weg vor ihr schien noch so endlos lang. Wer sollte wissen, ob sie es bis zum Ziel schaffen würden oder vorher scheitern sollten? Eine andere wichtige Frage für Chikará war, welche Rolle Tsuzuri in diesem Spiel um das Schicksal des Drachenvolkes einnehmen würde? Chikará misstraute ihr nach wie vor und fragte sich sogar, wieso Hanryo diese eigenartige Jishu überhaupt auf die Reise mitgenommen hatte. Vielleicht verfolgte sie in Wirklichkeit ganz andere Ziele wie als ihre beiden Gefährten? Vielleicht sollte durch sie diese Reise ein jähes Ende finden? Aber woher kam bei Chikará denn dieses Misstrauen? Sie hatte Hanryo vertraut, und er hat sein Versprechen von einem besseren Leben für sie eingehalten, wieso sollte Tsuzuri eine Lügnerin sein? Es gab keinerlei Beweise dafür, wahrscheinlich war das alles nur eine Folge von Chikarás ständigen und unbegründeten Misstrauen gegenüber jeden, der ihr half. Sie kannte diese Welt nicht allzu gut, überall glaubte sie Feinde zu sehen, in den Slums konnte sie niemanden trauen außer Mián. Nun, wo sie nicht mehr in den Slums war, trat Hanryo an Miáns Position, und Tsuzuri, sie war irgendwo anders zwischen Vertrauen und Misstrauen zu finden. Letzten Endes entschied sich Chikará ihre Befürchtungen, von Tsuzuri verraten zu werden, abzulegen und ihr eine Chance zu geben, welche sie auch verdiente, immerhin hatte sie ihr schon einmal geholfen, nämlich als sich der Vorfall mit den Eisenbahnräubern ereignet hatte. In den nächsten Tagen wollte Chikará versuchen, ein längeres und offeneres Gespräch mit ihrer neuen Begleiterin zu führen, wonach sie mit Sicherheit ein besseres und genaueres Bild von ihr haben würde, und damit auch eine Antwort auf ihre Frage nach Vertrauen. Tsuzuri war auf dem ersten Blick schon ein komischer Vogel, aber vielleicht war sie im Inneren ganz anders? Chikará drehte sich im Bett und schaute durch das Fenster oberhalb von ihr zum schwarzen Nachthimmel. Die Sterne leuchteten hell, immer noch lag der Duft der Chrysanthemen im Raum, es herrschte erholsame Stille. Sie schlief ein. Als am darauf folgenden Tag, um ungefähr sieben Uhr, die Sonne langsam wieder aufstieg, verließen die drei Gefährten die Herberge, um ein paar Utensilien für die weitere Reise einkaufen zu gehen. Die Geschäfte waren am Rande der Hauptstraße verteilt, am Morgen waren noch nicht allzu viele Menschen dort, obwohl bereits so ziemlich alle Händler ihre Läden geöffnet hatten. Sperlinge und andere kleine Singvögel flogen über den Straßenboden, wenn sie dort Essenreste entdeckten, landeten sie sogleich, und als sie fertig gegessen hatten, zwitscherten sie freudig. Der Himmel war bewölkt, dennoch sollte es wohl nicht regnen, die Luft war warm und angenehm. Die Hausfassaden wurden durch ein trübes Sonnenlicht erhellt, durch das auch die metallenen Rüstungen der patrouillierenden Wachsoldaten ein wenig glänzten. Um kein großes Aufsehen zu erwecken, schwiegen Hanryo, Chikará und Tsuzuri, während sie entlang der Hauptstraße gingen. Hanryo wusste sehr wohl, dass bestimmt nicht alle die gefälschten Pässe akzeptieren würden, einigen wenigen würde der Betrag mit Sicherheit auffallen. Wenn die Tarnung auffliegen sollte, konnten sich die drei auf einen ziemlich langen Gefängnisaufenthalt vorbereiten. Also waren große Vorsicht und Unauffälligkeit geboten, um ohne Probleme die Stadt durchqueren zu können. Das erste Gebäude, dass die drei Gefährten aufsuchten, war ein nobles Waffengeschäft. Vor dem Eintreten fragte Hanryo Tsuzuri leise, ob er auch ihr ein Schwert kaufen sollte. Diese lehnte das Angebot ab mit der Begründung, dass sie absolut nicht kämpfen könne, woraufhin Hanryo ironisch lächelte. Chikará fragte ihn noch, wie es möglich war, hier Waffen zu kaufen, da diese doch eigentlich in der gesamten Stadt verboten waren. Er erklärte ihr, dass man die erworbenen Waffen stets verpackt in einem schweren Metallkoffer erhielt, den nur die Wachsoldaten außerhalb der Stadt zu öffnen fähig waren, somit konnte man die Waffen erst benutzen, wenn man Nara bereits verlassen hatte. Schließlich betraten sie das vornehm scheinende Geschäft und schauten sich drinnen um. Hunderte von Schwertern und Messern lagerten in den Vitrinen, teilweise waren sie unglaublich teuer, aber dafür auch unbeschreiblich edel und imposant. Ein Mann mittleren Alters kam zu ihnen und begrüßte sie. Er hatte eine Glatze und trug ein kostbares, rubinrotes Gewand, freundlich fragte er seine Kunden, ob er ihnen helfen könne. Hanryo erklärte ihm, dass Chikará ein neues Katana bräuchte, eine Maßanfertigung sollte es sein, ein spezielles Einzelstück, an dem der Waffenschmied sein ganzes Können unter Beweis stellen sollte. Der Preis wäre unerheblich, es sollte nur die beste Waffe dieser Art sein, die er jemals geschmiedet hätte. Der Waffenhändler lächelte und erklärte sich bereit für diese große Aufgabe. Er nahm Maße von Chikarás Händen, um den Griff in einer für sie optimalen Form und Größe verarbeiten zu können. Als Material schlug er ein seltenes Eisenerz vor, dass er vor kurzem von einem fahrenden Händler erworben hatte, welcher es irgendwo am anderen Ende der Welt gefunden hätte. Es würde sich durch seine außergewöhnliche Stärke und Festigkeit auszeichnen, es wäre vielleicht sogar das beste Metall der Welt für Waffen. Hanryo willigte natürlich ein und gab dem Verkäufer eine hohe Summe als Vorkasse, dieser versprach ihm sogleich, dass das anspruchsvolle Werk bereits an übernächsten Tag fertig sein würde. Wieder auf der Hauptstraße, wo sich immer noch recht wenige Menschen aufhielten, kamen die drei an einem Hospital mit Medizinhaus vorbei, wo hoch qualifizierte Ärzte und erfahrene Mediziner arbeiteten, diese Institution war im ganzen Osten bekannt für ihre Erfolge in Heilung, Chirurgie und Forschung. Hanryo blickte zu Chikará und blieb stehen. "Ich weiß nicht, ob man die tiefe Wunde an deinem Hals irgendwie heilen kann, aber einen Versuch wäre es wert. Wenn es überhaupt Menschen gäbe, die dies schaffen könnten, dann wären es diejenigen, die hier arbeiten. Willst du es einmal versuchen?" Chikará überlegte kurz und nickte. "Welche Wunde?", fragte Tsuzuri neugierig. "Zeig sie ihr ruhig, davon hatte ich vergessen, ihr zu erzählen", forderte Hanryo Chikará auf, diese zog daraufhin den Kragen ihres Gewandes ein wenig herunter, sodass Tsuzuri die alte Verletzung sehen könnte. Die Jishu erschrak und starrte ungläubig auf die schwere Schnittwunde. "Wie, wie ist dir das passiert?" "Man wollte mich töten", antwortete Chikará trocken und genervt klingend. "Aber ich dachte, du wärst unverwundbar? Trägst du deswegen auch immer dieses Halstuch? Ich hatte mich schon gewundert, warum du es niemals ablegst." "Ich werde es dir erklären", entgegnete Hanryo zu Tsuzuri. "Du und ich, wir werden in die Stadtbibliothek gehen, ich benötige noch ein paar Informationen über den weiteren Weg zum Meer. Währenddessen kann Chikará sich im Hospital Rat holen", er drehte sich zur letztgenannten. "Vielleicht kann man dir hier wirklich helfen? Du solltest jede Chance nutzen, egal wie gering sie zunächst scheinen mag." "Ich glaube nicht, dass man mir hier helfen kann", zweifelte Chikará. "Es handelt sich ja immerhin um eine magische Verletzung und keine natürliche, wie die Menschen sie kennen." "Die Menschen benutzen auch magische Medikamente zur Heilung von Krankheiten, ohne es zu wissen." "Wirklich?", mischte Tsuzuri sich aufgeregt ein. Hanryo wandte sie wieder zur Jishu. "Ich werde es dir alles erzählen, wir müssen jetzt aber endlich weitergehen, schließlich wollen wir bis zum Mittag unsere Einkäufe beendet haben, um dann zum Kaiserpalast gehen zu können." Die beiden gingen weg. Chikará schaute ihnen noch einige Zeit hinterher, bis sie mit einer schlechten Vorahnung ins Hospital eintrat. Am Empfang schilderte sie kurz ihre Beschwerden und wurde von einer Krankenschwester in einen kleinen Untersuchungsraum geschickt, wo sie nun auf einen Arzt warten sollte. Das Hospital war auffallend sauber, die Holzwände und der Fußboden waren weiß angestrichen und ohne auch nur einen einzigen dunklen Flecken. Eine schwarze Lederliege und ein Holztisch, auf dem verschiedenen medizinischen Messinstrumenten und Medikamentenbehältern lagen, stellten die Einrichtung des kleinen Raumes dar. Chikará setzte sich auf die Liege und wartete gelangweilt auf den versprochenen Arzt. Sie war zu diesem Zeitpunkt ein bisschen verärgert über Hanryo und Tsuzuri. Über Hanryo, weil er genau wusste, wie peinlich ihr die Wunde war, und weil er sie dennoch damit zu menschlichen Ärzten geschickt hatte, er hätte sich sehr gut denken können, dass sie dort keine Hilfe finden würde. Über Tsuzuri hatte sie sich aufgeregt, weil diese sich immer so naiv und kindlich gab, ihre ganze Art gefiel Chikará nicht sonderlich. Manchmal kam es ihr sogar so vor, als würde ihre Sympathie für Tsuzuri mit jedem Wort, das diese von sich gab, rapide fallen. Aber es dauerte nicht lange, bis Chikará in der Einsamkeit wieder zur Vernunft kam und die eigentlich unbegründete und unnötige Wut auf ihre beiden Gefährten verdrängte. Gespannt auf das Resultat dieser ganzen irrsinnigen Aktion wartend, überlegte sie sich indes eine gute Begründung für ihre Verletzung, da die Wahrheit eindeutig fehl am Platz gewesen wäre. Dann ging die Türe auf und eine junge Ärztin trat ein. Es war eine schlanke Frau mit Mandelaugen, dunklen Haaren und gelblicher Haut, sie trug eine hellgraue Robe. Nachdem sie ihre Patientin mit einer Verbeugung begrüßt hatte, fragte sie jene nach ihrem Leiden, in Folge dessen enthüllte Chikará ihren Hals und begann zu erklären: "Es war ein Unfall, ich wurde fälschlicher Weise des Mordes beschuldigt, und die Polizisten wollten durch Folter ein Geständnis von mir erpressen." "Hat sich die Angelegenheit denn noch korrigiert?", wollte die besorgte Ärztin wissen, die über diese Geschichte sehr verwundert war. "Ja, zum Glück sitzen die verantwortlichen Polizisten jetzt im Gefängnis, und ich bin frei, auch habe ich eine Menge Schmerzensgeld erhalten, aber die Wunde will irgendwie nicht verheilen, ich habe sie jetzt schon seit einigen Monaten." Mit einer Lupe schaute sich die Ärztin die Verletzung genauer an, mit einem Wattestäbchen tastete sie sie sanft ab, trotzdem zuckte Chikará jedes Mal weg und kniff vor Schmerzen die Augen zu, wenn die Wunde berührt wurde. Die Ärztin ging danach zum Tisch und schrieb etwas auf. "Das sieht nicht gut aus", sagte sie mit ernsthafter Stimme. "Ich habe wirklich keine Ahnung, wieso die Haut an der Stelle nicht mehr verheilt. War die Klinge, durch die die Verletzung verursacht wurde, mit Gift, Chemikalien oder etwas Vergleichbarem überzogen?" "Das ist möglich, ich weiß es nicht", erwiderte Chikará, die langsam eine gewisse Angst bekam, dass der ganze Schwindel eventuell auffliegen könnte. "Ich könnte dir höchstens einen Verband machen und einige Heilung fördernde Medikamente verschreiben, wenn du es willst?" "Danke, es geht eigentlich schon so", antwortete Chikará, in der Hoffnung ziemlich bald wieder weggehen zu können. "Ich könnte nur etwas gegen die Schmerzen vertragen." "Ich werde dir ein gutes Mittel gegen die Schmerzen injizieren." Die Ärztin ging wieder zu Chikará, in der Hand hielt sie eine Metallspritze mit einer dunklen Substanz, und setzte sich neben die junge Frau auf die Liege. Die Ärztin fasste sanft nach dem Arm ihrer Patienten, legte ihren Daumen auf den Kolben der Spritze und setzte vorsichtig die Nadel auf Chikarás Haut auf. Genau in diesem Moment wurde Chikará plötzlich bewusst, was jetzt passieren würde, ein großer Schock durchfuhr sie. Vor Angst, dass ihr Geheimnis auffliegen könnte, bekam sie Schweißperlen auf der Stirn und wurde im Gesicht kreidebleich. Mit einer blitzartigen Bewegung zog sie ihren Arm von der Spritzennadel weg, dabei brach die dünne Metallkapillare mit hellem Klang über. "Entschuldigung, es tut mir sehr leid!", hechelte Chikará schwer atmend und völlig aufgeregt. "Ich habe panische Angst vor Spritzen, das hatte ich vergessen zu erwähnen, Verzeihung." Die Ärztin legte behutsam eine Hand auf Chikarás Knie. "Beruhig dich erst einmal, du siehst so aus, als würdest du jeden Moment tot umfallen." Sie blickte verwundert auf die übergebrochene Spritzennadel. "So etwas ist mir auch noch niemals passiert, ich dachte immer, diese Metallnadeln wären ziemlich robust." Sie drehte sich wieder zu Chikará und schaute auf ihren Arm. "Was ist mit deinem Arm, ich war wohl anscheinend noch nicht in der Haut, du blutest nicht." "Mir ist nichts passiert." Chikará sammelte sich allmählich wieder. "Aber gibt es das Schmerzmittel nicht vielleicht auch in Tablettenform?" "Es ist das gelöste Konzentrat einer Pflanzenwurzel aus dem Westen, du kannst es aber auch im Medizinhaus als klein gehackte Stücke kaufen, die kannst du dann über den Mund einnehmen." "Ja, das wäre viel besser." "Ich schreibe dir den Namen auf, gib dann einfach beim Medizinverkäufer den Zettel ab." "In Ordnung, vielen Dank." Die Ärztin schrieb den Namen des Medikaments auf ein Blatt Papier und überreichte Chikará dieses, anschließend verabschiedeten sie sich voneinander. Dabei entschuldigte sich Chikará noch einmal für den Vorfall mit der Spritze und bezahlte das Geld für die Untersuchung. Im Medizinhaus fand das Personal schnell das benötige Präparat und verpackte es in einen Lederbeutel. Es waren kleine dunkelbraune Brocken, die einen schrecklichen Geruch hatten, der Chikará an den Gestank von vermodertem Obst erinnerte. Vor dem Hospital erwarteten sie bereits ihre beiden Gefährten. Hanryo wollte sie eigentlich fragen, wie der Besuch verlaufen war, aber Chikarás depressiver und enttäuschter Gesichtsausdruck sprach für sich. "Nun, es war, wie ich es geahnt habe", sagte sie mit gefühllos klingender Stimme. "Die Menschen können nichts gegen magische Wunden verrichten, lediglich ein Schmerzmittel habe ich bekommen." Weder Hanryo noch Tsuzuri wussten darauf einen motivierenden Satz, weswegen beide schwiegen und Chikará mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis anschauten. Schließlich ging Hanryo langsam an ihr vorbei und legte dabei kurz seine warme Hand auf ihre Schulter. "Gehen wir weiter, ich muss dir noch etwas sehr Wichtiges zeigen." Er ging danach weiter die Hauptstraße entlang. Tsuzuri kam indes zu Chikará, sie lächelte und strich ihr mit der Handfläche sanft über die Wange. "Kaiserin, ich halte zu dir, egal was kommt." Sie schaute Chikará tief in die Augen, der heitere Blick der Jishu wirkte auf sie zugleich ehrlich und verständnisvoll. Dann drehte Tsuzuri sich wieder von ihr weg und folgte hastig Hanryo. Chikará hasste es eigentlich, von ihr so angesprochen zu werden, aber ihr freundschaftliches und liebenswürdiges Auftreten hatten das dieses Mal entschuldigt. Die einzige Frage, die Chikará sich stellen musste, war, wie ernst Tsuzuri dieses Schauspiel wirklich meinte. Aber bevor sie sich darüber zu lange den Kopf zerbrach, lief sie ihren beiden Gefährten hinterher, um sie nicht in den unbekannten Straßen aus den Augen zu verlieren. Ein ziemlich alt wirkendes Haus, das wahrscheinlich eine Art Museum darstellte, sollte das nächste Ziel sein. Hanryo blieb vor dem zweistöckigen Gebäude stehen, das komplett aus dunklem Buchenholz erbaut war und welches ein schwarzes Dach mit vergoldeten Rändern besaß. Ein Bronzeschild am Eingang sprach vom ,Haus der Drachen', unter den Schriftzeichen war auch solch ein Wesen als Reliefbild zu sehen. Chikarás erste Reaktion war ein verwunderter Blick, anschließend wuchs in ihr eine enorme Neugier, da sie nicht die geringste Ahnung hatte, was die Menschen wohl in einem Gebäude mit diesen Namen lagern sollten, schließlich kannten sie ja keine Drachen, höchstens jene aus den Kindermärchen, die niemals so existiert hatten. Ein Wächter verlangte eine geringe Summe als Eintrittspreis, Hanryo bezahlte für seine zwei Begleiterinnen und für sich selbst. Tsuzuri war ebenfalls ein wenig gespannt auf den Besuch des Hauses, weil auch sie mittlerweile ein gewisses Interesse für die Geschichte und Herkunft ihrer beiden Freunde entwickelt hatte. Im Erdgeschoss des Museums, das sehr schlicht und ohne viel Prunk eingerichtet war, fand man keine weiteren Besucher außer den dreien. Ausgestellt waren zahlreiche Gemälde mit Drachen als Motiven, einige waren nur ein paar Jahre alt, andere mehrere Jahrhunderte. Oft sah man die Drachentypen, die alle aus den Legenden und Erzählungen kannten, reptilienartige Wesen mit Flügeln und Hörnern, die Feuer spieen und Menschen fraßen. Chikará war bewusst, dass diese Arten von Drachen nur in den Gedanken der Menschen existierten, obwohl zwischen den richtigen Drachen in ihrer wahren Form und einigen wenigen auf den Bildern dennoch zahlreiche Parallelen zu erkennen waren. Als Vergleich nahm sie Yiwèn aus Ryuchengshi, den einzigen Drachen in der wahren Gestalt, den sie bis dahin gesehen hatte. Eine geringe Zahl von Drachen auf den Gemälden erinnerten sie doch sehr stark an sein Erscheinungsbild, wo hingegen die vielen übrigen etwas völlig Anderes zeigten. Es waren vor allen die älteren Werke, die an die Realität noch einigermaßen herankamen, die neueren zeigten lediglich absolute Fantasiegeschöpfte. Chikará kam zu dem Ergebnis, dass die Menschen, die ihre Bilder vor etlichen Jahrhunderten gemalt hatten, noch die wahre Gestalt der Drachen gekannt haben müssen. Als sie die Jahreszahlen genauer verglich, legte sie sich auf ein Datum von zirka siebenhundert Jahren in der Vergangenheit fest, bis zu diesem Zeitpunkt im etwa kannten die Menschen anscheinend noch die richtige Erscheinung der Drachen. Aber vielleicht war diese vermeidliche Erkenntnis auch nur Zufall, überlegte sie weiter. Hanryo sprach immer von weit mehr als tausend Jahren, wenn er vom Untergang des Drachenvolkes berichtete, das passte nicht zusammen. Bevor sie weiter nach Erklärungen für oder gegen ihren Einfall nachdenken konnte, forderte ihr Gefährte sie auf, mit ihm in den ersten Stock zu gehen, worauf sie einwilligte und ihn folgte, Tsuzuri wollte hingegen noch einige Momente im Erdgeschoss verweilen. Sie hatte auf ein paar Gemälden Maschinen im Hintergrund entdeckt, und versuchte nun herauszufinden, um welche es sich handeln sollte, und wo die Bilder genau entstanden waren. Den Kunstwerken zu folge, müssten irgendwann einmal auf dem gesamten Kontinent ihres Volkes Drachen gehaust haben, diese Tatsache verwunderte sie sehr, wo doch nun niemand mehr etwas davon musste. Im ersten Obergeschoss stand nichts Anderes als eine riesige Vitrine, in der ein uralter, in Alkohol konservierter Knochen lag, welcher wie ein Oberschenkelknochen eines Pferdes oder Stieres aussah, nur mit viel größeren Ausmaßen. Ein Hinweisschild bezeichnete ihn als den ,Beinknochen eines Drachens'. Chikará ging sofort näher heran und las sich gründlich den weiteren Text auf den Schild durch. Es wurde berichtet, dass der Knochen von einem Drachen aus der Umgebung von Nara stammen sollte, eine kaiserliche Soldatentruppe habe ihn nach langen Kämpfen mit einer riesigen Harpune erlegt. Es sollte der letzte seiner Art gewesen sein. Chikará wandte sich mit ratlosem Blick zu Hanryo, dieser kratzte sich am Kopf und begann zu erklären: "Wenn man von der Behauptung absieht, dass dies der letzte Drache gewesen sein soll, stimmt die restliche Geschichte so." Ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. "Wie alt ist dieser Knochen, weißt du das?" "Vor ungefähr tausenddreihundert Jahre ist dieser Drache gestorben, ich kannte ihn ein wenig, konnte ihn aber nicht helfen. Danach haben die Menschen niemals wieder einen Drachen gesehen, und somit dachten sie, die Drachen wären ausgestorben." "Und von Leuten wie uns, die zwar zum Drachenvolk gehören, nicht aber mehr die wahre Gestalt haben, wissen sie von uns denn wirklich nichts?" "Nun, es gibt von uns weniger als fünfzig auf der ganzen Welt, von den Menschen weit mehr als eine Milliarde, selbst wenn wir einmal davon ausgehen, dass jeder von uns in seinem Leben einigen Menschen sein Geheimnis offenbaren würde, auch dann wäre das keine Relation zu der unendlichen Menschenmenge, die überhaupt nichts von uns wissen." Chikará sah das nicht so. "Aber diejenigen, die etwas von uns wissen, werden dies doch bestimmt auch anderen Menschen weitererzählt haben, und dadurch könnten dann letzten Endes doch sehr viele von uns erfahren haben?" Er atmete tief durch und schüttelte anschließend den Kopf. "Hattest du mir vor einigen Wochen geglaubt, dass es Drachen gibt?" Sie zögerte zunächst, aber schließlich erinnerte sie sich wieder ganz genau an den Anfang ihrer Freundschaft zurück. "Nein." Sie besann sich auf diese Situation mit Arai zurück, als sie endlich alles verstanden hatte. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie angefangen hatte, Hanryos unfassbarer Geschichte Gauben zu schenken. "Ich verstehe langsam, was du meinst. Menschen können derart naiv sein." "Früher hatte man alle, die behauptet hatten, es würde noch Drachen geben, sofort als geisteskrank bezeichnet ins Gefängnis eingesperrt." "Verständlicherweise", bestätigte sie ihn. "Ich würde es niemanden übel nehmen, der unsere Geschichte nicht glauben würde. Es macht Sinn, was du gesagt hast. Ich verstehe nur eine andere Sache nicht, die Bilder im Erdgeschoss, die älter als zirka siebenhundert Jahre sind, zeigen noch sehr realistische Bilder von Drachen in ihrer wahren Gestalt. Wie ist das möglich, wenn doch vor tausenddreihundert Jahren der letzte Drachen, von den sie wussten, gestorben war und man schnell begonnen hatte, die alten Geschichten zu vergessen?" "Im Geheimen können solche Geschichten wie die von uns Drachen noch sehr lange existieren, der Rest fällt unter die künstlerische Freiheit, aber auch das bleibt nicht ewig, irgendwann verschlingt die Zeit alles aus den Köpfen der Menschen." "Gibt es denn nicht auch heute noch einige Menschen", wollte Chikará wissen, "die ernsthaft an die Existenz von uns Drachen glauben?" "Alle Menschen, die mich gut kennen", entgegnete Hanryo. "Jene glauben auch in der heutigen Zeit noch an die Gegenwart von Drachen, zwar sind dies nicht allzu viele Menschen, aber immerhin überhaupt welche. Außerdem weiß der Präsident des Westens sehr gut über das Drachenvolk und seine letzten Erben, wie wir es sind, bescheid. Natürlich er darf das nicht öffentlich zugeben, aber es ist wirklich so, in seinen Gefängnissen sitzen noch viele Mitglieder und Anhänger der alten Kaisergarde Quanlis, also die kämpferischbesten und gefährlichsten Drachen überhaupt, aber das ist selbstverständlich ein extremgroßes Staatsgeheimnis." "Wieso lässt er denn diese Drachen nicht einfach töten?" Hanryo lachte höhnisch. "Die Menschen können sie nicht so einfach umbringen, da sie, ähnlich wie du, nahezu unverwundbar sind und nicht altern. Sie für die Ewigkeit wegzusperren ist für die Menschen die einzige Alternative, um sich ihrer zu entledigen." Chikará grinste und schüttelte dabei den Kopf. "Die Menschen können so einfallslos sein. Woher weißt du dieses, wie du es nennst, ,extremgroßes Staatsgeheimnis' denn überhaupt, wenn ich fragen dürfte?" Er lächelte. "Wenn gewisse Personen nicht mehr in den Gefängnissen wären, wäre ich schon lange tot. Ich bin kurz vor Ende des Krieges untergetaucht, ich hatte eingesehen, dass alles, wofür wir gekämpft hatten, zum einen sinnlos und des Weiteren auch verloren war, damit war ich jedoch einer von sehr wenigen gewesen. Wenn die ehemalige Kaisergarde irgendwann einmal wirklich aus den Gefängnissen entkommen sollte, dann würden sie als Erstes die so genannten ,Überläufer' wie mich töten und danach der gesamten Menschheit den Krieg erklären." "Was würde dann mit mir passieren, ich bin ja eigentlich die jetzige Kaiserin des Drachenvolkes, sie müssten mir doch gehorchen, und ich würde es niemals zulassen, dass sie dich töten würden?" "Wenn du Glück hast, glauben sie, du seiest tot. Wenn sie dich jedoch finden würden." Er zögerte kurz. "Ich habe keine Ahnung, was sie mit dir machen würden oder wozu sie deine Macht missbrauchen würden. Deine Vorstellung davon, was passieren würde, ist viel zu optimistisch und unrealistisch. Ich kenne sie, sie würden niemals auf dein Wort hören, auch wenn du eigentlich ihre rechtmäßige Thronfolgerin bist, deinen Vater habe sie grenzenlose Treue geschworen, nicht dir oder irgendwelchen anderen Mitgliedern der Kaiserfamilie." Sie dachte kurz nach. "Wenn sie von meinem Vater so fasziniert gewesen sein sollen, wie du es schilderst, dann kann ich gut und gerne auf ihre Bekanntschaft verzichten. Wären sie überhaupt ernst zu nehmen? Ich meine, einen Krieg gegen die gesamte Menschheit führen zu wollen, haben sie nicht so etwas wie Vernunft oder Realitätsbewusstsein? Selbst wenn sie solch große Kräfte haben würden, eine Hand voll Drachen könnte es doch nicht mit der riesigen Menschheit aufnehmen?" "Du kennst sie nicht, ein starker Wille und Ehrgeiz können einen weit bringen, überleg mal, wenn du gegen tausend Menschen kämpfen würdest, was würde passieren?" "Ich würde gewinnen, aber nur weil die Menschen mich nicht verwunden können, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie nicht diese verdammte Rostklinge aus dem Dämonentempel haben würden." "Die würden sie schon nicht haben. Jetzt stell dir vor, du wärst zudem noch ein ausgebildeter Elitesoldat, ein nahezu unbezwingbarer Kämpfer, wie leicht würde es dir dann erst fallen, Menschen, egal wie viele es sind, zu überwinden?" Sie nickte. "Ich verstehe allmählich, was du meinst. Diese Vorstellung ist wirklich sehr beängstigend, bleibt uns wohl nur zu hoffen, dass es nicht soweit kommen wird." "Wenn wir das Ziel unserer Reise erreicht haben werden, müssen wir davor keine Furcht mehr haben. Wenn wir es schaffen würden, durch dich die letzten Splittergruppen unseres Volkes auf dem anderen Kontinent wiederzuvereinen, dann würde auch die ehemalige Kaisergarde dich als neue Kaiserin akzeptieren und dir gehorchen. Aber mach dir über so etwas noch keine Sorgen, sie sind schon seit mehreren Jahrtausenden in den Gefängnissen der Menschen eingesperrt, wieso sollte ihnen auf einmal die Flucht gelingen?" "Du hast wohl recht, aber wenn alles so verlaufen würde, wie wir es uns wünschen, dann könnten wir sie doch eigentlich befreien, egal wie schlecht sie früher gewesen waren, schließlich gehören sie immer noch zu unserem Volk und sollten vielleicht eine zweite Chance bekommen?" "Lass uns über solche Angelegenheiten erst nachdenken, wenn die Zeit dafür reif ist. Vielleicht sollten wir noch nicht soweit nach vorne sehen, erst einmal müssen wir auf den anderen Kontinent kommen, und das wird mit Sicherheit kein Kinderspiel werden." Tsuzuri kam hinzu, sie hatte sich bis dahin noch die Gemälde im Erdgeschoss angesehen und ihre beiden Freunde aufmerksam belauscht. "Mir ist da gerade noch etwas Interessantes eingefallen", sprach sie zu ihnen. "Meine Kaiserin, also die Kaiserin meines großartigen Volkes, hat vor kurzem eine ziemlich seltsame Frau zur ihrer Stellvertreterin ernannt. Gerüchten zufolge, soll sie auch ein Nachfahre des Drachenvolks sein." "Wie heißt sie?", fragte Hanryo überrascht. Sie runzelte die Stirn und dachte scharf nach, kam aber zu keinem Resultat. "Ich kann mir Namen leider sehr schlecht merken, wie sie heißt, fällt mir nicht mehr ein. Aber wenn es dir hilft, sie hat schneeweiße Haare, sieht recht jung aus, trägt auf ihrer Kleidung immer goldene Schriftzeichen, deren Bedeutung niemand kennt, und sie hat genauso leuchtendgrüne Augen wie Chikará und du." Er seufzte. "Diese Beschreibung hilft mir auch nicht viel weiter." "Kennst du sie eventuell?", wollte Chikará von ihrem Gefährten erfahren. "Ich kann es nicht genau sagen, es gibt genug von uns, auf die diese ungenaue Beschreibung passen würde. Goldene Schriftzeichen auf der Kleidung waren damals ein Erkennungszeichen der Kaisergarde, aber vielleicht ist das auch nur ein Zufall, Gold steht schließlich bei fast allen Kulturen für eine hohe gesellschaftliche Stellung. Leuchtendgrüne Augen habt ihr Jishus doch auch zum Teil von Natur aus? Wie sicher ist es überhaupt, dass an diesem Gerücht etwas Wahres ist, Tsuzuri? Kann es nicht auch sein, dass sie eine Betrügerin ist, die dadurch mehr Aufmerksamkeit erhalten will? Mir kommt diese Geschichte sehr komisch vor, ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass irgendwelche von uns großes Interesse an euch Jishus hätten. Ihr seid ja durch eure Maschinen ein wesentlicher Grund dafür gewesen, dass es zu Aufständen gegen den Drachenkaiser und schließlich zu seinem Fall gekommen war. Ich denke nicht, dass irgendein fanatischer Nachfahre des Drachenvolkes euch das jemals verzeihen könnte, erst recht kein Mitglied der Kaisergarde." "Die Sache nimmt auch keiner von uns wirklich ernst", begründete Tsuzuri. "Ich wusste ja vor einigen Tagen auch noch nicht, dass die uralten Drachengeschichten einen wahren Kern gehabt haben müssen, vielleicht liegst du mit deiner Version richtig, vielleicht ist sie wirklich eine einfache Lügnerin?" "Hast du kein Bild von ihr, oder weißt du keinen Text, in dem man ihren Namen finden könnte?", fragte Hanryo sie. Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe die ganze Geschichte nur von einer Bekannten vor so ungefähr zwei Jahren gehört, die neue Maschinenteile für die Eisenbahn auf diesen Kontinent gebracht hatte. Seitdem hat niemand mehr etwas davon erwähnt, wahrscheinlich eben weil die ganze Angelegenheit nur ein Schwindel war, wie du es vormutest." "Es scheint wohl so, aber vielleicht bietet sich uns irgendwann doch noch einmal die Gelegenheit, der Sache auf den Grund zu gehen, denn hochinteressant ist diese Geschichte allemal, selbst wenn sie nur ein Märchen ist. Ich finde es sehr merkwürdig, dass eine hohe Jishu-Politikerin auf einmal behauptet, sie würde vom Drachenvolk abstammen." Am Mittag gingen Hanryo, Chikará und Tsuzuri zum Ende der Hauptstraße von Nara, wo sich der gigantische Palast des Kaisers des Ostens befand. Macht demonstrierte man am leichtesten mit Bauwerken von unglaublicher Größe und Prunk, so konnte man Menschen beeindrucken und einschüchtern. Dieses einfache Prinzip wandte auch der Kaiser des Ostens an. Ein zweites Element der Macht war eine gut organisierte und starke Armee, bestehend aus einer Unmenge von schwer bewaffneten Rittern, Wächtern und Söldnern. Überall in der Stadt patrouillierten Truppen von ihnen, wodurch Kriminalität und Aufstände nahezu unmöglich waren, deswegen nannte man Nara auch oft die Stadt des Schweigens und der ewigen Stille. Vor dem Kaiserpalast befand sich eine große künstlich angelegte Gartenanlage, der ,Garten der Vergänglichkeit'. Ein Kieselpfad führte durch das Gelände, auf dem Hunderte von Kirschbäumen standen. Ihre dunklen Stämme und Äste trugen dunkelgrüne Blätter, einige hatten durch den nahenden Herbst schon gelbrötliche Verfärbungen. Leider war die Zeit, in der die Kirschbäume in voller Schönheit geblüht und Früchte getragen hatten, schon seit vielen Wochen vorüber. Nur wenige Wochen lang im Jahr, manchmal auch nur einen Monat lang, konnte man die weißlich-rote Blütenpracht der Kirschen erleben. Große Feste und Feiern gab es dann, der Kaiser lud jedes Mal Tausende von Gästen aus aller Welt ein, um mit ihnen die schönsten Tage des Jahres zu feiern. Doch die herrliche Blütenpracht hielt niemals allzu lange, weswegen die Kirschgewächse auch ein Symbol für die Vergänglichkeit waren, daher der Name des Gartens. Allerdings hatten die alten Bäume ebenso ohne ihre weiß-rosafarbenen Blüten und roten Früchte eine einzigartige Wirkung auf den Betrachter. Sie wirkten wie steinerne Denkmäler aus einer anderen Zeit, in der die Pflanzen noch die Herren über jenes Gebiet waren, aber das war, bevor die Kaiserstadt Nara errichtet wurde. Die Menschen zerstörten immer große Waldflächen und Plätze unberührter Natur, um Siedlungen für ihr schnell wachsendes Volk zu schaffen. Einige behaupten, dass sich die Natur eines Tages dafür bei den Menschen rächen würde und ihnen alles zerstören würde, was sie jahrtausendelang so mühsam aufgebaut haben. Kleinere Teiche mit bunten Karpfen und Seerosen säumten am Rande des Weges. Ihr Wasser war stets sauber, und man konnte dadurch bis zum Grund schauen, wo grüne Algen wucherten. Auf einer Holzbrücke über einen dieser Teiche beobachtete Chikará die bunten Fische, gerne hätte sie ihnen ein paar Brotkrümel in das Wasser geworfen, um sie zu füttern. Sie sollten näher an die Oberfläche schwimmen, damit man sie besser sehen könnte. Aber Chikará beließ es bei bloßem Beobachten der stillen Gesellen, denn wenn sie mehr getan hätte, hätten sie bestimmt die Wachsoldaten angehalten oder vielleicht sogar verhaftet, dachte sie sich. Diese ständige Überwachung durch die Schergen des Kaisers gab ihr ein ziemlich ungutes Gefühl, da sie ständig Angst davor hatte, einen falschen Schritt zu machen und anschließend von ihnen dafür in eine dunkle Kammer gesperrt zu werden. Tsuzuri dachte ähnlich, auch sie fühlte sich beobachtet und zudem noch als Jishu erkannt durch die aufmerksamen Blicke der Söldner. Lediglich Hanryo, der schon mehrere Male in Nara gewesen war, hatte sich mittlerweile an diese Umstände gewöhnt und wusste, dass ihnen nichts passieren würde, sofern keiner von ihnen sich etwas zu Schulden kommen lassen würde. Im Zentrum der großen Gartenanlage stand eine alte Bronzefigur. Umgeben von blauvioletten Chrysanthemen, die bald ihre letzten Blütenblätter verlieren sollten, thronte das Denkmal auf einer vergrauten Marmorsäule. Es zeigte einen einfachen Soldaten, der sein Schwert zum Himmel hielt und in die Ferne schaute. Einige Leute standen um die Statue herum und bewunderten sie. "Das ist Jimmu", erklärte Hanryo seinen beiden Gefährtinnen. "Er soll hier, an dieser Stelle, vor sehr langer Zeit ein furchtbares Ungeheuer besiegt haben, dass diese Region in Angst und Schrecken versetzt hatte. Als danach keine Gefahr mehr für die Leute bestand, konnten sie hier eine Stadt gründen. Auch heute noch gilt Jimmu hier als Halbgott und wird angebetet." "Stimmt denn diese seltsame Geschichte?", fragte Chikará. "Ich weiß es nicht, die alten Legenden und Sagen der Menschen interessieren mich recht wenig, vielleicht handelt es sich nur um menschliche Fantasie. Man sagt sich auch, dass der Geist von Jimmu in dieser Statue hausen soll." "Diese Menschen haben wirklich einen sehr geringen Realitätssinn", entgegnete Tsuzuri. "Ganz so einfach ist das dann doch nicht", begann Hanryo. "Zumindest ist es früher durchaus möglich gewesen, dass gewisse Geister in bestimmten Gegenständen leben könnten oder in ihnen gefangen waren." "Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du dem glauben schenkst?" "Nun Tsuzuri, wenn du mit Chikará und mir reist, wirst du dich wohl daran gewöhnen müssen, dass einige Dinge existieren, die man selbst mit den Wissenschaften deines Volkes nicht erklären kann, seien es Drachen, Geisterwesen oder noch viel Schlimmeres." "Ich bekomme allmählich Angst", entgegnete sie hämisch. Hanryo grinste daraufhin nur und ging weiter dem Kieselpfad entlang, die beiden Frauen folgten ihm schließlich. Hinter dem Garten befand sich zunächst nur eine riesige Mauer, deren Größe mit jener schier unüberwindbaren Stadtmauer von Nara vergleichbar war. Vor ihr patrouillierten Dutzende von schwer bewaffneten Soldaten, die scheinbar nur darauf warteten, dass irgendjemand sie herausforderte. Es gab eine kleine Pforte, durch die man auf das Palastgelände gelangen konnte. Für normale Besucher kostete dies jedoch ungefähr soviel wie ein Abendessen im besten Restaurant der Stadt. Hanryos Taschen schienen niemals leer zu sein, er bezahlte die Wuchersumme für sich und seine beiden Begleiterinnen. Immer wenn Tsuzuri einen Beweis für den Reichtum von Hanryo erhielt, schätzte sie sich glücklich darüber, von ihm aufgenommen worden zu sein. Wo wäre sie nun, wenn es Chikará und ihn nicht gäbe? Wahrscheinlich immer noch im Führerhaus einer verrosteten Lokomotive, sagte sie sich. Hinter der mächtigen Mauer könnte man dann den eigentlichen Kaiserpalast sehen. Die Ausmaße und der Umfang des gigantischen Kaiserpalastes waren unbeschreiblich, es handelte sich wohl um eines der größten und beeindruckendsten Bauwerke des gesamten östlichen Kontinentes. Eine breite, graue Freitreppe mit mehr als zweitausend Stufen führte hoch zum Eingangstor des Palastes. Der Weg wurde von goldenen Löwen- und Tigerstatuen bewacht, hinter jenen standen weitere Wachritter, die den Durchgang kontrollierten. Am Ende der Treppe befand sich schließlich das Tor zum Kaiserpalast. Das immense, mehrstöckige Gebäude, in das ohne Probleme eine ganze Elefantenherde gepasst hätte, war aus massiven, grauen Stein erbaut und mit goldfarbenem Holz verkleidet. Das Dach war bedeckt mit dunkelgrünen Ziegeln und hatte vergoldete Ränder und Kanten, die Holzwände waren von außen zu einem Relief verarbeitet, das mythologische Heldengestalten zeigte, unter anderem auch einen Drachen. Viele hohe Türme stiegen an allen Seiten des Palastes zum Horizont empor, an ihnen hingen Fahnen herunter, die den schwarzen Stern auf rotem Grund zeigten. Ein gewaltiges Eichenholztor mit stählernem Riegel stellte den einzigen Eingang des Palastes dar. Chikará deutete mit der Hand an, ob man eintreten könne, Hanryo nickte. Sie war einfach nur sprachlos und überwältigt von diesem Bauwerk. Obwohl sie wusste, dass die Residenzen der Weltherrscher immer von unbeschreiblicher Größe waren, entsprach der Kaiserpalast nicht einmal im entferntesten ihrer Erwartung. Es kam ihr vor, als wäre sie in einer anderen Welt, nicht in der Welt der Menschen, sondern in der Welt der Götter. Diesen gigantischen Palast konnten keine normalen Menschen errichtet haben. Sie fragte sich, ob der Palast ihres Vaters ähnlich unvorstellbare Ausmaße gehabt hatte, oder ob er vielleicht noch größer und mächtiger gewesen war? Jedenfalls hoffte sie heimlich, dass ihre Kaiserresidenz, falls sie irgendwann einmal eine haben sollte, noch viel größer und schöner sein sollte als jene des Kaisers des Ostens. Hinter dem Eingangstor befand sich eine über hundert Meter lange Empfangshalle, die durch zahlreiche graue Säulen gestützt wurde. Viele Besucher trieben sich dort herum und schauten sich die Bilder und Statuen an, die an den Wänden verteilt waren. Es handelte sich bei den Kunstwerken um Landschaftsgemälde von Nara und der Umgebung, die Statuen zeigten wichtige Feldherren und Kaiser der Vergangenheit. Kleine Lampen, die durch brennende Teelichter leuchteten, spendeten etwas Licht in der Dunkelheit des geschlossenen Raumes, in dem kein einziges Fenster und kein Lichtschacht vorhanden waren. Die drei Gefährten schritten langsam und mit großer Ehrfurcht durch die gigantische Halle, immer im Lichtkegel der stillen Kerzenflammen. Sie traten behutsam auf den sauberen, dunkelgrauen Marmorboden und gingen staunend an den haushohen Granitsäulen vorbei, bis hin zum anderen Ende der Halle. Dort befand sich ein steinerner Thron, der von sieben ranghohen Rittern bewacht wurde, jene trugen schwere, rote Rüstungen und waren mit mehreren Schwertern und Dolchen bewaffnet. Jedoch stand der Herrscherstuhl, den sie bewachten, leer. Obgleich die Beschützer des Kaisers wie versteigert zu jeder Seite des Throns verweilten, war vom Oberhaupt des Ostens nicht die geringste Spur zu erkennen. Tsuzuri grinste, als ihr diese Tatsache bewusst wurde. Sie vermutete, dass dieser Kaiser gar nicht existierte, und dass die naiven Menschen von einem Geist oder einer reinen Illusion beherrscht wurden. Chikará wusste nichts zu sagen und fragte sich, was dieses scheinbar sinnlose Machtschauspiel darstellen sollte. Vielleicht war der Kaiser nur auf einer Reise oder in einem anderen Teil des riesigen Palastes oder irgendwo im kaiserlichen Garten? Aber sie sah auch, dass der Thron mit einer dicken Staubschicht bedeckt war, so als hätte seit Wochen oder gar Monaten niemand mehr auf ihm gesessen. Was sollte dies bedeuten? Wofür die unzähligen Ritter und Wachsoldaten, wofür die unüberwindbaren Mauern, wofür die Kontrollen und die ständige Überwachung, wenn doch der Kaiser nicht mehr in seiner Stadt oder in seinem Palast war? Was steckte nur dahinter? Chikará wandte sich nachdenklich zu Hanryo, sie sprach nur sehr leise, um nicht die Aufmerksamkeit der Wächter oder der übrigen Besucher zu erwecken. "Wo ist denn der Kaiser des Ostens nun?", fragte sie ihn. "Auf dem Thron scheint seit langer Zeit niemand mehr gesessen zu haben, ist er auf einer Reise am anderen Ende der Welt oder Ähnliches? Weißt du etwas darüber?" Hanryo grübelte und antwortete ihr dann flüsternd: "Ich hatte gehört, es soll vor einigen Monaten einen dramatischen Zwischenfall gegeben haben. Unbekannte sollen den Palast gestürmt haben, die Wächter und Beschützers des Kaisers sollen machtlos gegen sie gewesen sein. Sie sollen zwar dem Kaiser kein Leid zugefügt haben, aber seitdem hat der Kaiser große Angst und erscheint nicht mehr in der Öffentlichkeit." Tsuzuri hatte aufmerksam mitgelauscht und lachte nun laut. "Dieser komische Kaiser ist aber noch am Leben, oder?" Alle Besucher des Palastes und die Ritter, die am Kaiserthron standen, sahen die verkleidete Jishu mit verwundertem und dunklem Blick an, nachdem jene ihre törichte Behauptung geäußert hatte. Hanryo hätte ihr dafür am liebsten eine gehörige Ohrfeige verpasst, aber die Reaktionen der Menschen in der Halle hatten beinahe denselben Effekt. "Was ist los?" fragte Tsuzuri erschrocken und schaute sich nervös um. Allmählich verstand sie, dass sie wohl jeder gehört hatte, und dass wohl niemand ihre Meinung teilte, schämte sie sich sehr und erkannte einen gewissen Fehler an ihrer doch sonst so positiv gewerteten Offenheit. Sie fühlte sich durchbohrt von den unzählbaren Blicken der Menschen und wurde zuerst rot im Gesicht. Aber als einer der Ritter plötzlich den Griff seines Schwertes umfasste, verlor ihr Teint jegliche Farbe. Sie wurde blass wie eine Leiche, drehte sich blitzartig um und ging völlig verängstigt zurück zum Palasteingang. Durch die Ruhe erschallten ihre Schritte laut in der gesamten Halle. Hanryo wandte sich mit verkrampftem Blick zu Chikará. "Komm, wir gehen jetzt auch besser, bevor es Probleme gibt", flüsterte er ihr zu. Die Besucher drehten sich langsam wieder zu den Statuen und Bildern an den Wänden, und die Ritter am Thron blieben stumm auf ihrem Posten stehen. Vor dem Palasttor holten die beiden Gefährten Tsuzuri ein. Ihre Spannung und ihre Angst hatten sich mittlerweile wieder größtenteils gelegt, und sie bemühte sich, beim Anblick ihrer Freunde zu lächeln, aber man konnte deutlich die Künstlichkeit ihres freudigen Blickes erkennen. Hanryo und Chikará schenkten ihr nur starre und strenge Blicke und gingen kopfschüttelnd an ihr vorbei. Tsuzuri sparte sich weitere falschinterpretierbare Kommentare und folgten ihnen schweigend die lange Treppe hinunter. Am nördlichen Rande des ,Gartens der Vergänglichkeit' gab es ein Fischrestaurant, wo man die Karpfen aus den Teichen verspeisen konnte. In einer stillen Ecke des Wirtshauses setzten sich Hanryo, Chikará und Tsuzuri, sie aßen alle drei dasselbe Sushi-Gericht. Während das Essen Hanryo und Chikará ziemlich gut schmeckte, ekelte Tsuzuri sich ein wenig vor den Fischstücken jener Meerestiere, die sie doch vorhin noch quicklebendig in den Teichen gesehen hatte. Aber da sie an diesem Tag schon mehr als genug Aufmerksamkeit erweckt hatte, würgte sie wider Willen das Essen herunter. Dabei versuchte sie an das komplett künstliche, aber dennoch wohlschmeckende Essen ihres Volkes zu denken. Seitdem sie vor einer halben Stunde den Kaiserpalast verlassen hatten, hatten die drei Gefährten kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Niemand von ihnen wusste so recht, weshalb dem so war, aber wahrscheinlich hatten sie nur alle drei ziemliche Angst davor, weitere Auffälligkeiten zu begehen. Aber Tsuzuri brach das Schweigen schließlich, indem sie versuchte, ihr Verhalten in der Kaiserhalle zu rechtfertigen und zu entschuldigen. "Ob ihr es mir glaubt oder nicht, ihr werdet es mir wohl eher nicht glauben, aber auf dem Kontinent meines Volkes gibt es wirklich so eine Art Sekte, die von einem Geist angeführt wird. Es ist zwar kein Geist, wie ihr ihn kennt, aber wenn ich es euch genauer erklären würde, würdet ihr es sowieso nicht verstehen, die Sache ist ziemlich kompliziert, aber dieses Wesen ist schon mit einem Geist vergleichbar." "Du meinst ein Computerprogramm?", fragte Hanryo trocken. Tsuzuri riss ihre Augen weit auf. "Woher weißt du davon?" "Der Kontinent deines Volkes war früher der Kontinent meines Volkes, ich weiß auch heute noch, was dort geschieht, zumindest von den wichtigsten Ereignissen erfahre ich." "Nun, wie dem auch sei, dann kannst du aber immerhin mein Kommentar von vorhin verstehen oder vielleicht sogar nachvollziehen?" "Verstehen kann ich es sehr wohl, nachvollziehen vielleicht auch, was ich aber nicht verstehen oder nachvollziehen kann, ist, dass du so leichtsinnig mit unserem Geheimnis umgehst. Du kannst dir doch denken, was die Soldaten hier mit dir machen werden, wenn sie herausfinden sollten, wer du in Wirklichkeit bist?" Tsuzuri senkte ihr Haupt. "Daran hatte ich in jenem Moment nicht gedacht, aber so etwas wird mir niemals wieder passieren." Chikará mischte sich in das Gespräch ein. "Trotzdem ist mir das alles sehr rätselhaft. Wieso die vielen Wächter und Ritter, wenn doch der Kaiser nicht im Palast ist?" Hanryo kratzte sich am Kopf. "Die meisten Leute denken bestimmt, der Kaiser wäre immer noch im Thronsaal oder irgendwo anders im Palast." "Woher weißt du überhaupt, dass er es nicht ist?", fragte Tsuzuri. "Das, was ich darüber weiß, sind eigentlich nur Gerüchte, die ich vor einigen Monaten von einem der kaiserlichen Ritter gehört habe, der nach dem Vorfall aus seinem Dienst entlassen wurde. Ich will nicht ausschließen, dass diese Geschichte nur eine Lüge jenes ehemaligen Ritters war, um seine Entlassung in ein besseres Licht zu rücken." "Aber der Kaiser lebt noch, oder?", wollte Chikará wissen. "Ich glaube schon, aber niemand weiß, wo er sich aufhält." "Das passt du den Menschen", entgegnete Tsuzuri leise. "Sie haben ein Staatsoberhaupt, das sich ängstlich verkriecht, und nur durch ein paar Schwert bepackte Sklaven wird die vermeidliche Macht demonstriert." Hanryo seufzte. "Ich freue irgendwie sehr auf den Tag, an dem du einsehen musst, dass auch du nur ein ganz normaler Mensch bist." Sie lachte. "Dieser Tag wird niemals kommen." "Wohin gehen wir überhaupt als nächstes?", übernahm Chikará das Wort. "Was hast du geplant, Hanryo?" "Am östlichen und am westlichen Ende des Gartens befinden sich noch zwei interessante Bauwerke, der Pavillon des Shoguns und die Pagode des Geisterkönigs, vor allem letzteres ist für uns einen Besuch wert." "Beim Geisterkönig waren wir doch gerade schon?", fügte Tsuzuri hinzu. "Jedenfalls werden wir gleich auch noch dem richtigen begegnen." Tsuzuri schaute ihn daraufhin verwundert an. Sie fragte sich, inwieweit sie diese Behauptung ernst nehmen sollte. Sie traute ihren beiden Gefährten viel zu, und immerhin hatten sie ihr von ihren Erlebnissen in Ryuchengshi erzählt, von den Geistern, Untoten und Drachen, die sich dort aufhielten. In der Hoffnung eine ehrliche Antwort zu erhalten wandte sie sich flüsternd zu Chikará. "Meint er das jetzt ernst?" "Warten wir es ab", entgegnete diese lächelnd. Nach dem Essen gingen die drei Gefährten zum östlichen Rand des ,Gartens der Vergänglichkeit', wo sich der Goldene Pavillon des Shoguns befand. Es war eine alte, dreistöckige Villa, gestrichen mit goldener Farbe, deren Grundriss ein Quadrat war und bei dem die Grundfläche jeder Etage jeweils ein Drittel kleiner war die der darunter liegenden. Das schwarze Dach hatte die Form einer Pyramide, auf deren Spitze eine goldene Drachenfigur säumte. Das Gebäude war von Wasser umgeben, nur ein schmaler Steg führte zur Eingangstüre, aber dieser wurde von Soldaten streng bewacht, ebenso war das gesamte Ufer förmlich übersät von patrouillierenden Rittern. Immerhin gab es zwanzig Meter von dem Ufer entfernt ein Hinweisschild, auf jenem stand: ,Der Goldene Pavillon - Wohnsitz des Shoguns des Ostreiches und Versteck der kaiserlichen Juwelen'. Chikará betrachtete das beeindruckende Haus mit gemischten Gefühlen. Sie wusste seit dem Besuch des Kaiserpalastes nicht mehr, wie ernst sie die Unmengen von Wachsoldaten überhaupt nehmen sollte. Vielleicht war Nara nur eine Scheinwelt, eine tote Stadt, ähnlich wie Ryuchengshi? Man sah überall nur Bedienstete des Kaisers, einige Reisende und beinahe keine anderen Leute, diese schweigen, es gab kein Leben in Nara, so schien es ihr. "Können wir nicht näher herantreten?", fragte sie Hanryo, als sie direkt vor dem Hinweisschild standen. Er schüttelte nur den Kopf. "Ist dieser Shogun auch auf Weltreise?", wandte sich Tsuzuri leise zu ihm. "Schau einmal dort oben", sagte Chikará ihr, verweisend auf den Balkon des Pavillons. Dort stand ein alter Mann mit Krücken und betrachtete wie versteinert das Wasser. Er hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, eine auffällige Narbe im Gesicht, sein Körper schien abgemagert und leblos. Er trug eine schwere, goldene Rüstung, er musste der Shogun sein. Tsuzuri schaute ihn mehrere Male ungläubig an, da sie es nicht begreifen konnte. "Diese wandelnde Leiche soll die militärische Macht des Ostens darstellen?", flüsterte sie zu Hanryo. Jener nickte. "Wieso ist dieser alte Mann noch Shogun?", wollte Chikará wissen. "Er kann doch kaum mehr gehen und hat keine Lebenskraft mehr?" Hanryo zögerte lange, da er ihr darauf keine direkte Antwort geben konnte. "Nun, mit ihm ist es wohl so wie mit ganz Nara, völlig veraltet, nicht fähig sich der modernen Zeit anzupassen. In dieser sich so schnell verändernden Welt werden diese alte Stadt und ihre Macht nicht mehr lange existieren." "Ich verstehe die Menschen, die hier leben, nicht", erklärte Tsuzuri. "Wieso passen sich nicht der Zeit an, haben sie Angst davor?" "Wahrscheinlich", erwiderte Hanryo. "Ich weiß es nicht, vielleicht wissen sie es auch selbst nicht." "Noch eine Frage hätte ich", begann Chikará. "Was hat es mit den kaiserlichen Juwelen auf sich? Weißt du, weshalb sie hier und nicht im Kaiserpalast versteckt sind?" "Die kaiserlichen Juwelen sollen einst den Göttern gehört haben, sie sollen sie dem Krieger Jimmu geschenkt haben, nachdem er das schreckliche Ungeheuer in ihrem Auftrag besiegt hatte. Eigentlich haben diese Juwelen mit dem Kaiser nicht allzu viel zu tun, jedoch gilt der Kaiser als Halbgott oder direkter Nachfahre des Göttergeschlechts. Deshalb sind seine Symbole jene drei Gegenstände, die den Menschen von den Göttern erhalten geblieben sind. Das sind die Juwelen, ein Schwert und ein Spiegel." "Das Schwert und der Spiegel, wo sind sie versteckt?" "Das Schwert befindet sich in der ,Pagode des Geisterkönigs', welche unser nächstes Ziel sein soll, und der Spiegel liegt in einem Schrein versteckt, den wir aber auch noch aufsuchen werden." "Sind diese Gegenstände wirklich von den Göttern, oder bilden sich die Menschen dies nur ein?", fragte Tsuzuri. Hanryo grinste. "Lass mich dir diese Frage beantworten, wenn die Zeit reif ist." Die ,Pagode des Geisterkönigs' war angeblich eines der ältesten Gebäude in Nara, Legenden zufolge sollte sie bereits lange vor der Stadtgründung erbaut worden sein. Jedoch sah man ihr ihr hohes Alter nicht an, da sie regelmäßig renoviert und zum Teil auch verändert wurde, aber dem ungeachtet waren ihre Grundsteine wesentlich älter als die der meisten anderen Bauwerke in Nara. Sie war dem so genannten ,Geisterkönig' geweiht, der für die Menschen im Osten zu einen der wichtigsten Götter zählte. Er galt als einer der ersten und damit ältesten und ursprünglichsten Gottheiten, gleichzeitig sollte er aber auch einer der mächtigsten und grausamsten unter ihnen gewesen sein. Ihm zu Ehren wurde die fünfstöckige Pagode vor langer Zeit errichtet. Sie hatte einen rechteckigen Grundriss, alle Etagen sahen von außen vollkommen identisch aus, es gab keine sichtbaren Unterschiede. Sei es die Anzahl und Anordnung der Fenster, oder sei es die Größe und Breite einzelnen Stockwerke, alles war bis auf das letzte Detail gleich. Die rot gestrichenen Wände des ungefähr dreißig Meter hohen Gebäudes waren verziert mit goldenen Mustern, die Fenster- sowie Türrahmen waren dunkelgrün bemalt. Die grauen Dachziegel gaben den anderen, lebendigeren Farbtönen einen ruhig wirkenden Kontrast. Zum Erstaunen der drei Gefährten bewachten die Pagode nur verhältnismüßig wenig Krieger, lediglich zwei leichtbewaffnete Soldaten kontrollierten den Eingang und verlangten nicht einmal eine Eintrittsgebühr. Im Erdgeschoss befanden sich vier große Marmorstatuen, sie zeigten die vier ,Wächter der Himmelsrichtungen'. Es waren gute, dämonische Ritter, sie trugen schwere Rüstungen und unterschieden sich nur darin, dass sie unschiedliche Waffen führten. Der Wächter des Norden besaß einen langen Speer, der des Ostens ein Katana, der des Südens eine Fackel und der des Westens ein Wakizashi. Der Legende nach stellten diese vier göttlichen Geisterwesen die Leibgarde des Geisterkönigs dar. Ihre vier Skulpturen standen an den vier Wänden des Raumes verteilt, jeder bewachte die Himmelsrichtung, für die er verantwortlich war, gleichzeitig trafen sich ihre finsteren und strengen Blicke in der Mitte des Eingangszimmers. Chikará hatte mittlerweile ihre Furcht vor versteinerten Dämonen abgelegt und konnte, ohne groß über sie nachzudenken, an den Statuen vorbeigehen. Tsuzuri schenkte ihnen überhaupt keine Beachtung, nachdem sich in ihren Augen auch der mächtige Shogun nur als eine Art Illusion gezeigt hatte, nahm sie nichts in dieser Stadt mehr ernst und wollte sie nur noch so schnell es ging verlassen. Das zweite, dritte und vierte Stockwerk der Pagoden diente keinem wirklichen Zweck, lediglich ein paar Gemälde und Kalligraphien waren dort ausgestellt. Auf der fünften Etage hingegen befand sich eines der drei Realsymbole der Götter, das heilige Schwert des Geisterkönigs. In einer mit Eisenketten umwickelten Eichenholztruhe ruhte die sagenumwobene Waffe. An der Wand hing ein Portrait des Geisterkönigs, man konnte jedoch nicht viel mehr als einen menschenähnlichen Schatten mit drachenähnlichen Schwingen und roten Augen darauf erkennen. Die Kiste, in deren Inneren das Schwert wohlbehütet ruhte, stand auf einer Art Altar aus dunklem Holz in der Mitte des Raumes. Jener trug ein verrostetes Metallschild auf der Oberseite, auf jenem stand: ,Rakuen, Schwert des Geisterkönigs Teriel' "Teriel?", sagte Chikará völlig perplex, als sie diesen Namen gelesen hatte. Sie drehte sich sofort zu Hanryo und schaute ihn mit fassungslosem Blick an. "Der Dämon Teriel? Aber das kann doch nicht sein?" Er seufzte und bemühte sich, ihrer Verwirrtheit ein Ende zu setzen, indem er ihr erklärte, was er dazu wusste. "Gemeint ist wohl genau jener Teriel, dessen Waffe wir im Östlichen Dämonentempel gesehen haben. Das Schwert, das sich in dieser Truhe hier befindet, muss eine Fälschung sein." Er wandte sich zu Tsuzuri. "Geh bitte nach unten und pass auf, dass niemand hier hoch kommt." Sie zögerte einen Moment lang, dann nickte sie schließlich und ging die Treppe hinunter. Hanryo legte seine Hand auf die Eisenkette, welche die Kiste umschloss. Er schloss seine Augen und konzentrierte sich. Nach einigen Sekunden begann das Metall zu glühen und bald auch zu schmelzen. Obgleich Chikará diese Fähigkeit ihres Gefährten kannte, faszinierte es sie doch immer wieder, wenn er von ihr Gebrauch machte. Als die scheinbar unüberwindbare Kette völlig zerstört war, konnte man den Deckel der Kiste öffnen. Hanryo hob ein langes Katana aus der Truhe hervor, das keine einzige Kerbe an der Klinge hatte und hell glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch ein Fenster in den Raum fielen. Die Waffe wirkte wie neu, ohne Makel oder Fehler, so als hätte man sie niemals in einem Kampf benutzt. "Das kann nicht das Schwert Teriels sein", stellte er fest. "Dieses Katana ist die Erfindung von Menschen, es lag niemals in der Hand des mächtigen Dämonenherrschers." Er unterbrach plötzlich, drehte sich wieder zu Chikará und schlug das Schwert mit ganzer Kraft gegen ihren Oberkörper, sie zuckte erschreckt zusammen und riss zum Schutz ihre Arme vor sich hoch. Die Klinge zersprang in tausend Einzelteile, Chikará blieb unversehrt. "Und ebenso kann es dir keinen Schaden zufügen", beendete Hanryo seinen Satz. Chikará nahm die Arme wieder herunter, dabei atmete tief durch. "Du weißt doch, wie sehr ich diesen Beweis hasse." Hanryo zuckte unschuldig mit den Schultern, anschließend lachten beide. "Hast du diesen Knall gerade gehört", fragte einer der beiden Soldaten, die am Eingang der Pagode patrouillierten, den anderen, nachdem der helle Klang des zerspringenden Metalls erschallen war. "Nein, ich habe nichts gehört." "Doch, da war etwas, aus den oberen Stockwerken der Pagode kam der Lärm, wir sollten einmal nachschauen gehen, eben waren doch ein paar Besucher hochgegangen?" Tsuzuri, die in der Nähe des Eingangs zur Pagode auf ihre beiden Freunde wartete, hatte auch das laute Geräusch des zerspringenden Schwertes gehört und bemerkte nun die Verwunderung der beiden Wachsoldaten. Da sie sich denken konnte, dass Hanryo und Chikará bestimmt irgendetwas Verbotenes mit der geheimnisvollen Kiste gemacht haben mussten, eilte sie schnell zu den beiden Soldaten und versuchte sie abzulenken. "Der neue Gong des Palastes ist ziemlich laut, findet ihr nicht?" "Seit wann soll der Kaiserpalast einen derart lauten Gong besitzen, davon hat mir bisher noch keiner etwas gesagt?", entgegnete einer von ihnen misstrauisch. "Nun, er wurde erst vor wenigen Stunden neu aufgehängt, er ist ein Geschenk der Jishus." "Die Jishus? Wieso sollten diese Heiden dem heiligen Kaiser des Ostens ein Geschenk machen?" "Also, die Jishus als Heiden zu bezeichnen, finde ich persönlich eine Frechheit, sie haben sehr wohl einen Glauben, zwar einen völlig anderen als wir hier in Nara, aber Atheisten sind sie wirklich nicht. Ich hörte, sie wollen der Stadt neues Gold für den herrlichen Kaiserpalast schenken, unter anderem eben einen Gong aus reinstem Gold. Deshalb macht er solch ungewöhnliche und laute Geräusche." "Eine sehr wundersame Geschichte ist das, was du uns hier berichten willst." "Dennoch ist es die Wahrheit, beim Geisterkönig der Pagode und beim hochehrwürdigen Kaiser schwöre ich es." Die Wachsoldaten mussten lachen. "Geh besser weg", forderte einer von ihnen Tsuzuri auf. "Andernfalls müssten wir überlegen, ob wir dich wegen Lästerung oder Verrücktheit verhaften müssten. Aber wenn du schnell genug aus unserem Blickwinkel verschwindest, lassen wir die Auswüchse deiner blühenden Fantasie ungeachtet." Tsuzuri lächelte kurz, wobei man deutlich erkennen konnte, dass diese Heiterkeit nur künstlich war, dann suchte sie schnell das Weite. Einige wenige Augenblicke später verließen Hanryo und Chikará die Pagode, die schweigen und schauten unterwürfig zu Boden, als sie an den Wachen vorbeigingen. Tsuzuri erwartete sie in der Mitte des Gartens bei der Bronzestatue von Jimmu, von dort aus setzten sie ihren Weg wieder gemeinsam fort. Einer der beiden Soldaten ging zwar zur Sicherheit noch einmal die oberen Stockwerke der Pagode kontrollieren, aber Hanryo hatte die Kiste, in der die Einzelteile des Schwertes nun lagen, mit den Ketten wieder sorgfältig verschlossen, so dass der Wächter nichts bemerkte. Für Ckikará verwandelte sich die ganze Stadt, ihre Bauwerke und ihre Bewohner, immer mehr zu einem schier unlösbaren Geflecht aus großen Rätseln. Ob der Kaiser des Ostens vielleicht wirklich schon lange tot war? Sollten die vielen Soldaten und Ritter wirklich nur Zierrat oder Überrest eines längst vergessenen Imperiums sein? Auch der Shogun, der zweithöchste Repräsentant Naras, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Und das sollte die Macht der Menschen des Ostens darstellen? Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und fand keine Lösung. Aber ein vielleicht noch viel wichtigeres Geheimnis für sie waren der ,Geisterkönig' genannte Dämon Teriel und sein Schwert Rakuen. Wieso wurde er in Nara als Gott verehrt, und welche Bedeutung sollte das falsche Schwert haben? Sollten die Menschen vielleicht doch wissen, womit man Kaiserdrachen töten konnte? Chikará hoffte vergeblich auf Antworten von Hanryo. Dieser schwieg, wie so oft, und ließ sie alleine mit ihren Fragen. Und was war mit Tsuzuri, ob sie vielleicht etwas mehr wissen sollte, als sie zugab? Wahrscheinlich eher nicht, dachte sich Chikará. Was sollte sie schon Großes von dieser, oft nutzlos scheinenden Jishu erwarten? Das letzte Ziel des Tages war der Friedhof von Nara. Ganz am äußersten südlichen Stadtrand, direkt neben der hohen Umgrenzungsmauer befand sich ein kleiner, beschaulicher und sehr alter Nadelwald, einer der sehr wenigen Plätze in Nara, wo keine Wächter patrouillierten. Es wurde allmählich Nacht, die Sonne versank am Horizont in einem rotvioletten Meer. Die Grabmäler standen entlang der Lichtungen, es waren steinerne Figuren oder Blöcke, zwischen ihnen standen Steinlaternen, in denen Teelichter brannten. Ein kühler Wind wehte, durch ihn schwankten die Äste der Bäume und die Schatten der Kerzenflammen. Ein Uhu oder eine Eule hörte man leise aus der Ferne, ansonsten herrschte tiefe Stille. Keine Menschen sah man auf dem Friedhof, viele hatten Angst vor den Geistern ihrer Familienmitglieder und besuchten sie deshalb nur an Festtagen oder am Tage ihres Todes. In diesem Teil des Ostens waren der Ahnenkult und die Ahnenverehrung weit verbreitet und ein wichtiger Teil vieler Religionen. Jedoch herrschte auch die Vorstellung, dass die Geister der Menschen, die zu unrecht gestorben waren, nachts ihre Gräber verlassen sollten, um an denen, die sie getötet hatten, Rache zu üben. Hanryo und seine beiden Gefährtinnen glaubten aber nicht an solche umherstreifende Geister, allerdings an andere Arten von Geisterwesen sehr wohl. Chikará mochte solche Orte nicht, erst recht nicht bei Einbruch der Nacht, weil die vielen Gräber sie an Ryuchengshi erinnerten, wo ihr zahlreiche Furcht einflössende Untote und anderen Kreaturen aus dem Jenseits begegnet waren. Niemals wieder wollte sie dieses vergessene Reich des Todes betreten. Wahrscheinlich würde sie Zeit ihres langen Lebens niemals ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der alten Drachenstadt vollständig vergessen können. Zu tief saßen in ihr immer noch die Erinnerungen an die widerwärtigen Leichenfresser und an den schrecklichen, untoten Drachen. Tsuzuri suchte vergeblich nach dem Grab des Kaisers, sie hielt ihn immer für noch für einen Geist, der schon lange nicht mehr existierte. Der Friedhof beeindruckte sie kaum, sie wusste genau, dass alles, was man dort finden konnte, tot und damit vollkommen harmlos war. Wie Maschinen, jene konnten auch nur durch eine lebende Person gesteuert werden, ohne jemanden, der sie führte und aktivierte, waren sie absolut ungefährlich. Zumindest die meisten von ihnen, Ausnahmen gab es schließlich immer. Sie gähnte mehrmals während des Weges vorbei an den Unmengen von alten Bäumen und Gräbern, sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr warmes Bett in der Herberge. Zudem hätte sie Hanryo auch gerne gefragt, wann sie endlich abreisen würden aus dieser, ihr zu ,menschlichen' Stadt. Aber sie hatte ja ihr Pensum an Unannehmlichkeiten an diesem Tag schon mehr als ausgeschöpft, weswegen sie schwieg und beschloss, ihm erst am folgenden Tag jene Frage zu stellen. Hanryo blieb irgendwann zwischen zwei Bäumen stehen, obwohl an dieser Stelle kein Grabmal zu erkennen war. Er starrte auf den leeren, dunklen Boden zwischen den beiden mächtigen Kiefern, auf dem kein Gras oder andere Pflanzen wuchsen. Seine beiden Begleiterinnen stellten sich schweigend hinter ihm, jede von ihnen fragte sich, was dies nun bedeuten sollte? "Man hat den Grabstein im Laufe der vielen Jahrtausende weggenommen", sprach Hanryo mit dunkler, aber klarer Stimme. "Für die Menschen gibt es keine Ewigkeit. Was ihnen zu alt erscheint, zerstören sie ohne großartig darüber nachzudenken. Wir aber sind die Ewigkeit, und meine Erinnerungen verschwinden nicht, auch wenn die Menschen versuchen, sie mir wegzunehmen." Er kniete sich langsam hin, stützte seine Hände vor sich auf dem Boden ab, senkte seinen Kopf und schloss seine Augen. Kleine, fast unsichtbare Tränen lief an seinen Wangen herunter, dabei blieb er starr und bewegungslos. "Hier liegen meine Ehefrau und meine beiden Kinder begraben." Chikará und Tsuzuri trauten ihren Ohren nicht. Sie waren beide völlig schockiert und wurden innerlich von Emotionen überschwemmt. Keine von ihnen hatte jemals etwas davon gewusst oder auch nur im Entferntesten erahnt. Hanryo hatte einst eine Familie? Es war für sie nahezu unvorstellbar. Gerade er, der doch oft so kalt und abweisend schien, sollte früher einen ganz anderen Charakter gehabt haben? Vielleicht sollte dies so Einiges erklären. Seine derzeitigen Einstellungen, seine seltsame, verschlossene Art, sein ganzes Leben und vor allem seine Vergangenheit, die doch immer so rätselhaft und unklar schien. Chikará verstand zwar nicht, weshalb er ihr dies erst jetzt anvertraute, dennoch war sie in diesem Moment mit ihren Gedanken nur bei ihm. Niemals zuvor hatte sie sich ihm so nah gefühlt wie nun, sie teilte mit ihm seine Schmerzen. Es war für sie, als ginge es nicht um irgendwen, den sie niemals gekannt hatte, sondern als ginge es um ihre eigene Familie, dementsprechend erfüllt von Trauer war auch sie nun. Ebenso Tsuzuri, die doch sonst so schnell nichts aus der Fassung bringen konnte, war völlig gelöst. Obwohl sie Hanryo noch nicht lange kannte, war er doch für sie binnen weniger Tage zu einem der wohl besten Freunde geworden, den sie jemals hatte. Auch sie teilte auf eine gewisse Weise sein Leid, und auch sie war den Tränen nahe nach seiner schrecklichen Offenbarung. "Es ist sehr lange her", führte Hanryo fort, immer noch mit geschlossenen Augen vor dem Grab kniend. "Es war vor dem Krieg zwischen den Menschen und unserer Art. Ich lernte sie kennen, als ich noch nicht in der Armee war. Damals arbeite ich als Schneider in einem kleinen Dorf im Osten, das längst nicht mehr existiert. Früher lebten die Drachen noch friedlich in Gemeinschaft mit den Menschen, wobei viele aber auch nichts von unserer wahren Stärke und Herkunft wussten. Die Stadt Nara war noch jung, als sie zum ersten Mal besuchte. Die vielen Tempel und Paläste, die großen Gärten und die vielen Geschäfte, damals war alles noch recht neu. Auch schien mir die Stadt zu jener Zeit wesentlich lebendiger als heute. Irgendwann traf ich sie abends in einem der vielen Gärten. Wir waren alleine und begannen irgendwann ein Gespräch. Es war eine wunderschöne Nacht, der Himmel über uns war klar, die Sterne leuchteten hell für uns. Ich blieb in Nara und heiratete sie ein Jahr später. Wir lebten zusammen und waren sehr glücklich. Sie war eine Menschenfrau, ich erzählte ihr niemals, wer ich wirklich war. Vielleicht hätte ich es irgendwann tun sollen? Nach einigen Jahren gebar sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Beide waren Menschen, von meinem Drachenblut wurden sie nicht berührt. Nur wenige Jahre später verstarben plötzlich alle drei beinahe gleichzeitig an einer seltenen, damals noch unbekannten Krankheit. Meine beiden Kinder wurden nicht einmal fünf Jahre alt." Er unterbrach kurz und öffnete wieder die Augen, drehte sich aber noch nicht vom Grab weg. "Ich glaube, ich habe mich niemals wirklich von meiner Familie verabschiedet. Sie fehlen mir selbst heute noch so sehr, nach den vielen Jahrtausenden. Niemals werde ich sie vergessen. Auch wenn ich nur wenige Jahre mit ihnen zusammen verbringen durfte, einen winzigen Abschnitt meines langen Lebens, so war dies dennoch die schönste und glücklichste Zeit meines Lebens." Er stand auf, wandte sich vom Grab ab und ging weg, dabei sah er weder Chikará noch Tsuzuri an, sein Blick schien leblos und leer. "Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich wieder hierhin kommen kann. Vielleicht werde ich niemals wieder hierhin kommen können. Ich weiß es leider wirklich nicht. Vielleicht war dies das letzte Mal in meinem Leben, dass ich hier, bei euch, sein durfte. Falls dem so sein sollte, lebet wohl, ich werde euch niemals vergessen. Bis zum Ende meines Lebens werdet ihr tief bei mir in meinem Herzen und meinem Geist bleiben." Als die sich drei Gefährten im dunklen, durch Wolken geschwächten Mondlicht zurück zur Herberge begaben, sprach niemand von ihnen auch nur ein einziges Wort. Lediglich als sich jeder von ihnen in sein Zimmer zurückzog, verabschiedete man sich gegenseitig mit einem leisen ,Gute Nacht'. Chikará legte sich tief betrübt in ihr Bett. Schlafen konnte sie nun nicht mehr, sie war innerlich viel zu aufgewühlt. Für sie war es, als würde die Zeit stillstehen. Sie stellte sich Hanryo zusammen mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern vor, wie sie alle zusammen spielten, redeten oder einfach nur die Zeit miteinander verbrachten. Niemals zuvor hatte sie auch nur ein einziges Mal an so etwas gedacht. Sie sah von da an Hanryo mit ganz anderen Augen. Nicht mehr als gefühllosen Lehrer oder Meister, ebenso wenig als bloßen Freund oder Begleiter, sondern als jemanden, dessen Leid und Schicksal sie teilte. Niemals zuvor hatte sie sich mit jemandem so sehr verbunden gefühlt wie nun mit ihm. Genau wie ihres wurde wohl auch sein gesamtes Leben zerstört, und auch er stand dem genauso so hilflos gegenüber wie sie, als ihr Vater und die Macht der Drachen zerstört wurden. Nun, da sie endlich mehr über ihn wusste, vor allem über sein früheres Leben und seine tote Familie, wurde die innere Verbindung zwischen ihnen beiden noch viel stärker, als sie sowieso schon bis dahin gewesen war. Chikará mochte Hanryo wirklich, hatte Angst um ihn, litt mit ihm zusammen, dachte und fühlte genauso wie er. Für sie war er nun so etwas wie ein Bruder oder vielleicht gar wie ein Zwillingsbruder. Was auch immer noch auf sie zukommen sollte, für Chikará stand nun endgültig fest, dass sie immer und zu jeder Zeit Hanryo zur Seite stehen würde, genauso wie er es für sie tat. Sie war ein für allemal bereit, sich zusammen mit ihm ihrem Schicksal zu stellen. Denn er würde für sie sein Leben lassen, wenn es nötig wäre, und sie würde genau dasselbe auch für ihn tun. Hosted by Animexx e.V. 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