Drachenengel (Buch 1) von abgemeldet ({inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}) ================================================================================ Kapitel 5: Vergessene Orte (Teil 1) ----------------------------------- Die warme Mittagssonne schien grell auf die Überreste der alten Drachenstadt, sie färbte die ockerbraunen Steinfragmente trübweiß. Ryuchengshi, so ihr Name, lag in einer Schlucht mit einer Größe von ungefähr fünfzehn Quadratkilometern, um die Absenkung herum befand sich ein dunkelgrüner Tannenwald, er versteckte sie vor der Menschenwelt. Durch Erdbeben sank das Plateau des Stadtgebietes vor langer Zeit mehr als hundert Meter tief hinab, das Areal war schlecht gewählt für eine Stadt. Jedoch waren vielen der Gebäude bereits vor den Erschütterungen zerstört oder zerfallen, vor vielen Jahrtausende wanderten die Drachen von hier weg auf den anderen Kontinent. Sie fanden heraus, dass diese Stadt bald zurück in Erde gezogen würde, deshalb siedelten sie um in eine neue Stadt am anderen Ende der Welt. Sie hinterließen neben gigantischen Bauwerken auch unzählige verschollene Schätze und Geheimnisse. Das Wissen vieler Jahretausende lag dort unten begraben, weit weg von der menschlichen Zivilisation. Hanryo und Chikará standen am Rand der Schlucht und sahen hinunter auf ihr Ziel, ungefähr ein Monat war nun seit ihrem ersten Treffen vergangen. Trümmer und Ruinen bestimmten das Bild der Schlucht, die meisten Bauwerke waren nicht mehr zu erkennen, nur ihre Umrisse waren noch sichtbar. Leichte Neben- und Staubschwaden zogen durch die alten Straßen, getrieben von einem schwachen, kalten Ostwind. Von dort oben waren nicht nur die enorme Größe der Siedlung zu erkennen, sondern auch ebenso gut das Ausmaß der Zerstörung und der Leere. Alles sah aus wie nach einer Katastrophe, einem großen Brand, einer Epidemie oder einer Überflutung. Chikará erinnerte der Anblick an eine Geschichte, die sie irgendwann einmal von Mitglieder einer religiösen Gruppe in den Slums gehört hatte. Sie sprachen davon, dass ihre Götter eines Tages alle Lebewesen für ihre Sünden bestrafen würden. Es würde die Luft brennen, die Erde überflutet und alle Kreaturen würden von tödlichen Krankheiten befallen werden. Niemand würde es überleben, und die Welt würde komplett zerstört werden. Das würde die Rache dafür sein, dass die Menschen so viele Sünden in ihrem Leben begangen haben. Sie würden morden, rauben und die Natur ebenso wie die anderen Lebewesen vernichten. Beim Betrachten der Ruinenstätte begann Chikará noch einmal über diese Zukunftsvision nachzudenken. Vielleicht war sie hier Realität geworden? Nein, bestimmt nicht, sagte sie sich selbst, sie hasste Religionen und Philosophie. Sie meinte immer, das wären die Lehren vom Nichts, da es keinerlei richtige Beweise für Götter oder Ähnliches gab, und wenn es um Übernatürliches ging, dabei fantasierte doch jeder gerne, sei es von dämonischen Monstern oder vom Leben in Parallelwelten oder einem Paradies. Was für ein Schwachsinn! Es gab keinen Pfad oder Pass nach unten in die Schlucht, die felsigen Klippen, die fast senkrecht zum tiefen Grund führten, ermöglichten keinen Abstieg. Ob es dort unten überhaupt noch Leben gab? Chikará war skeptisch. Hanryo trug alleine ihr Gepäck, was aus einem großen Rucksack und ihren beiden Schwertern bestand. Sie wendete sich zu ihm: "Lebten hier nur Drachen?", fragte sie, immer noch fasziniert von der Aussicht auf die Schlucht. "Ja", antworte Hanryo. "Und wie viele?" "Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von uns." "Was wurde aus ihnen?" "Der Krieg wurde zu ihrem Ende." "Von hier oben kann man noch einige Bauten erkennen." "Viele wichtige Gebäude sind heil geblieben." "Wieso hat man diese Stadt in einer Schlucht gebaut?" "Um besser ans Grundwasser zu gelangen." "Aber es gibt doch anscheinend keinen Pfad nach unten?" "Es gab einst eine steinerne Rampe, die sogar Fahrzeuge benutzen konnten, aber die Menschen haben sie nach ihrer Eroberung zerstört und dadurch keinen direkten Weg zu den Stadtruinen übriggelassen." "Was du einmal hier, als diese Stadt noch existierte?" "Nein, ich kenne sie nur von Erzählungen und Karten, aber das reicht uns aus." "Was wird uns dort unten erwarten?" "Vieles, lasse dich überraschen." "Lebt dort noch irgendwer?" "Nur Untote." "Was?", sagte Chikará verwundert. "Diese Stadt ist verflucht, alle Menschen, die hier sterben, sollen nach ihrem Tod als Wiedergänger die Stadt bewachen." "Wirklich?" Hanryo beantwortete diese Frage nicht und drehte sich weg von der Schlucht, dies war für Chikará das gleiche wie eine Antwort. "Wie kommen wir darunter?", fragte sie. "Komme zu mir." Sie ging langsam zu ihm. Er schloss seine Arme fest um sie, dann kamen seine Schwingen zum Vorschein. Chikará ahnte, was nun passieren würde. Sie kniff ängstlich ihre Augen zu. Sie spürte, wie sie beide den Boden verließen und hinunterschwebten. Das Gefühl des Fliegen und der Schwerelosigkeit genoss sie, obwohl es ihr gleichzeitig unheimlich war. Alles dauerte nur wenigen Sekunden, dann spürte sie wieder Boden unter ihren Füssen, er ließ sie los und sie öffnete wieder ihre Augen. Sie waren jetzt vorm Stadteingang in der Tiefe der Schlucht. Ihre Blicke wanderten sofort zum Eingangstor der Stadt, das sich direkt vor ihren Augen befand. Es schien noch nahezu unversehrt zu sein. Zwei große hellbraune Steinsäulen aus Sandstein, die ungefähr zehn Meter von einander entfernt standen und mehr als zwanzig Meter hoch zum Himmel ragten. Sie waren voller Reliefe, auf denen man Drachenkörper erkennen konnte. Oben verband die Säulen ein senkrecht auf beiden liegender Steinbalken in derselben Farbe. Auf ihm standen alte Schriftzeichen, die Chikará niemals zuvor irgendwo gesehen hatte. Angestrengt versuchte sie Parallelen zu anderen, ihr bekannten Schriftzeichen zu finden. Hanryo bemerkte ihre angestrengten Blicke hinauf. "Willkommen in Ryuchengshi", las er vor und zog seine Schwingen wieder in seinen Rücken ein. "Diese Schrift ist sehr alt, ich beherrsche nur einige wenige Zeichen von ihr." "Hat diese Stadt keinen Schutzwall oder so", bemerkte sie wieder hinabblickend. "Über die Rampe hätten ja auch Feinde hinuntergelangen können?" "Zur Zeit, als sie gebaut wurde, brauchte man keine Angst vor anderen Mächten zu haben." "Das muss sehr lange her sein." "Ja, das ist es. Es gibt eine kilometerlange Hauptstraße durch die gesamte Stadt, ihr werden wir folgen." Direkt hinter dem gigantischen Stadttor begann jene Straße. Sie war ungefähr zwanzig Meter breit, gebaut aus Sandstein und überzogen von pechschwarzem Teer, der jedoch von der Vergänglichkeit grau gefärbt wurde. Schwache Winde zauberten über den Boden staubige Figuren, die sich kurz nach ihrer Erscheinung wieder verabschiedeten ins Nichts, seltsame Risse bildeten ein Relief der Zeit im Asphalt. Neben dem alten Weg säumten die Reste der Vergangenheit, aufeinandergehäufte braungraue oder sandfarbene Steine, früher waren es einmal Häuser, nur wenige sind nach dem Beben erhalten geblieben. Erkennbar waren nichts außer Bauteile aus Stein, die übrigen überdauerten die vielen Jahrtausende nicht. Es wirkte fast wie eine natürliche Felsenlandschaft, in der niemals irgendwer gelebt hatte. Ein Massenfriedhof ohne Leichen, nur mit Gräbern, die bereits selbst verfielen, keine Geräusche waren zu hören, absolute Stille herrschte. Chikará bekam allmählich Erfurcht vor diesem Ort, vor allem die noch stehenden Häuser machten ihr aus irgendwelchen Gründen Angst. Jedes von ihnen betrachte sie genau. Einfache, fast schon primitive Geschäfte für Kleidung oder Nahrung, eine Polizeiwache, eine Arztpraxis und viele Wohnungen. Nahezu unlesbare Holzschilder mit den Namen der Laden waren oft mit Symbolen bemalt, an ihnen konnte man die frühere Verkaufsware oder Aufgabe des Gebäudes bestimmen. Jedoch nahm dies Chikará nicht die Beunruhigung, von der sie Hanryo allerdings nichts mitteilte. Wenn sie schon in einer Ruinenstätte Panik bekommen würde, dann wäre sie keine gute Drachenkaiserin, redete sie sich ein. Die Hauptstraße verlief gerade mit vielen Kreuzungen und Abzweigungen, an der dritten Hauptkreuzung, die sie passierten, hielten die beiden an. Hanryo drehte sich nach rechts, am Straßenrand stand ein guterhaltenes Gebäude, zwar war die Vorderseite mit kleinen dunkelgrünen Einzellern bewachsen, aber ansonsten schien es noch recht stabil zu sein. "Vor uns liegt eine kleine Bibliothek", sagte er. "Hier gehen wir hinein. Dort lagern alte Stadtpläne, wir werden sie brauchen, um den Weg zu den Katakomben finden zu können." "Katakomben?", fragte Chikará verwundert. "Davon hattest du aber bisher noch nichts erwähnt." "Ich weiß, es sollte eine kleine Überraschung werden." Er ging mit einem leichten Lächeln an ihr vorbei und dann hinein in die Bibliothek, sie folgte ihm ein wenig verärgert. Dies waren wirkliche Nervenproben für sie, Ruinenstätten und dann auch noch Katakomben, ob Kaiserdrachen durch Angst sterben könnten? Wahrscheinlich eher nicht, dachte sie. Es blieb ihr nichts übrig, außer mit Vorsicht und Misstrauen abzuwarten, was passieren würde. Die Bibliothek war wirklich nicht gerade groß und nahezu komplett aus Holz erbaut, das mittlerweile teils verfault war. Eine Türe hatte das fensterlose Gebäude schon lange nicht mehr, ein Schild an der Außenfassade erinnerte an die ehemaligen Öffnungszeiten. Insgesamt standen drinnen nur sieben, bis zur Decke reichende Eichenholzregale, sie standen parallel zu den Seitenwänden des einstöckigen Hauses. Beim Überschreiten der holzigen Türschwelle brachen mit knackenden Geräuschen unter Hanryos Füssen einige Bretter durch, Staub wurde aufgewirbelt, aber er schaffte es, sein Gleichgewicht zu halten. Chikará kicherte leise. Diese Bibliothek war ohne Frage sehr klein für eine Bibliothek, die Bezeichnung Bücherladen wäre fiel passender gewesen. Man stieß sogar unter dem tiefen Dach fast mit dem Kopf gegen die hölzerne Decke, die einige wenige Löcher hatte, durch die Sonnenstrahlen gelangen konnten. Die Lichtfetzen reichten aber dennoch, um drinnen alles gut zu behellen und so alles sichtbar zu machen. Spinnenweben hangen überall an den Wänden, Staubpartikel tanzten in den Lichtkegeln. Chikará musste wegen ihnen ein paar mal kräftig niesten. Im Gegensatz zur übrigen Stadt, machte ihr dieses Gebäude jedoch keine wirkliche Angst, sie fühlte sich fast ein wenig wie zu hause, da die Häuser der Slums oft genauso aussahen, der einzige große Unterschied war, dass die Slums trotzdem voller Leben waren. Hanryo erkundete die Regale genau, bis er aus einem ein Buch nahm, aber als er es aufschlug, fiel es zu seiner Verwunderung völlig auseinander, die Fragmente landeten unsanft auf den steinernen Fußboden. Ein verduzter Blick ging über sein Gesicht, während seine Begleiterin sich die Hände vorm Mund hielt, damit er nicht ihre Schadenfreude bemerkte. Er sah sich die Stelle an, wo das zerfallene Buch stand, kleine Würmer und andere Insekten krochen aufgeregt im leeren Zwischenraum. Kopfschüttelnd ging er weiter zum nächsten Regal, Chikará blickte kurz auf die Kleintiere zwischen den Büchern, sie ekelten sie sehr an, ihr wurde fast ein wenig übel durch diesen Anblick, eilig folgte sie Hanryo. Er befürchtete, dass alle Bücher derart unlesbar sein könnten und er bemerkte auch, dass einige Bücher fehlten, besonders welche, die über längst vergessene Dämonen und Höllenkreaturen berichteten. Eine Plakette zeigte die Stelle, die eigentlich für diese Literatur vorgesehen war, der Raum war leer, kein einziges Werk war mehr zu finden, was Hanryo sehr beunruhigte. Er wusste, dass in Ryuchengshi einst viele Dämonenforscher lebten, deren niedergeschriebenes Wissen in den vielen Bibliotheken der Stadt lagerte. Wenn dieses Wissen in die falschen Hände gelangt wäre? Jetzt war keine Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sagte er sich. Schließlich fand er im letzen Regal das Kartenarchiv der Bibliothek, glücklicherweise waren die meisten Zeichnungen besser erhalten als die Bücher. Er begann sofort ein gutes Exemplar für die weitere Stadterkundung zu suchen, währenddessen suchte Chikará sich ein noch lesbares Buch, sie fand einen Roman, der von einer Liebegeschichte berichtete. Nachdem sie die ersten paar Seiten leise lass, fing sie an, den weiteren Teil laut vorzutragen. Sie wollte damit Hanryo ein wenig provozieren, das sollte die Gegenleistung für die noch bevorstehende Katakombenbesichtung sein. "So standen sie mitten im feinen Sand, das warme Wasser reichte ihnen bis zu den Knien. Am Ende des blauen Meeres ging langsam die Sonne unter, der Strand färbte sich rotviolett. Sie schauten sich gegenseitig tief in die Augen. Schließlich berührten sich ihre Lippen. Na Hanryo, nette Geschichte, findest du nicht?", wendete sie sich zu ihm. "Wunderschön Chikará", seufzte er. "Das Buch brennt bestimmt gut." "Weißt du überhaupt, was Liebe ist?" "Was ich weiß, und was ich nicht weiß, lässt du mal lieber meine eigene Sorge sein." "Hattest du niemals so etwas wie eine Partnerin?" "Im Moment habe ich dich, das reicht vollkommen." "Bleibe doch mal ernsthaft." "Ernsthaft kann ich dir sagen, dass ich gerade einen guten Stadtplan gefunden habe, wir können bald weitergehen." Chikará war etwas wütend über Hanryos Ignoranz und Verschlossenheit, aber ihr war eigentlich auch schon vorher klar, dass man mit ihm keine emotionalen Gespräche führen konnte. Diese Wortkargheit konnte man auf zwei Arten interpretieren, dachte sie sich, entweder war er wirklich so emotionslos oder er wusste mehr, als er zugab. Aber da er wohl noch sehr Zeit miteinander mit ihr verbringen würde, war sie zuversichtlich, irgendwann sein Schweigen brechen zu können. Verärgert über ihn stellte sie das Buch wieder weg und lehnte sich gegen die Hauswand. Ein quietschendes Geräusch, dann ein lauter Knall, die Wand hielt den Druck nicht stand, von Chikará war nur noch ein kurzer heller Schrei zu hören, darauf folgte lautes Gepolter. Hanryo drehte sich erschreckt um. Ein großer Teil der Wand war nach außen eingefallen, Chikará war spurlos verschwunden. Noch bevor er den Schreck verdauen konnte, hörte er ein weiteres lautes Poltern, dieses Mal jedoch über sich. Sein Blick ging nach oben, genau in diesem Moment fiel das Dach hinunter, reflexartig er zog seine Hände über sein Gesicht zum Schutz vorm drohenden Einsturz, aber zum Glück konnte der leichte Dachstuhl von den Regalen gebremst werden. Nur Staub und Käfer regneten aus den Holznischen, mehr passierte nicht, die Dachkonstruktion blieb solide auf den stabilen Regalen liegen. Hanryo atmete wieder gelassener, bis er sich erneut zur kaputten Wand wendete, Chikará war wie vorhin nicht zu sehen. Ihm kamen direkt schreckliche Gedanken, er lief alarmiert zu den eingestürzten Mauerteilen. Neben dem Haus lag der Überrest der Wand, ein Haufen aus Holz und Schutt. Aufhetzt schaute er sich die Unfallstelle genau an, er entdeckte eine kleine blaue Haarsträhne, die zwischen den Balkenstücken herausragte, Chikará musste unter der Holz- und Staubdecke begraben sein. Hanryo hob einige schwere Bretter von der Stelle weg, an einem hing der rechte Ärmel ihres Pullovers, er musste beim Zusammenfall an Splittern hängen geblieben sein und wurde so vom Stoff abgerissen. Langsam kam Chikarás ganzer Körper wieder zum Vorschein, sie war noch bei Bewusstsein und hielt ihre Hände am Hinterkopf, ihr Gesichtsausdruck offenbarte ihre Schmerzen, sie jammerte wie ein kleiner Hund, obwohl sie sich bei diesem Unfall keine schweren Blessuren zugezogen hatte. Lediglich die Gläser ihrer Brille waren zersprungen, und ihr Wollpullover hatte zahlreiche Stoffstücke verloren, die im Holz hängen geblieben waren. Jetzt sah es so aus, als würde sie eine durchlöcherte Decke tragen, zumindest ihre feste Hose und ihre Schuhe waren heil blieben. Hanryo hatte Mühe sich ein beleidigendes Lachen zu ersparen, er streckte ihr seine Hand zur Hilfe aus, Chikarás ergriff sie, und er half ihr aufzustehen. "Mein Rücken", keuchte sie und fasste mit ihren Hände in die Nierengegend. "Meine Beine, mein Pullover ist fast nicht mehr da, meine Brille ist kaputt." Hanryo zog ihr die Brille aus und warf sie weg auf den Bretterhaufen. Chikará schaute ihn sehr verwundert an. "Deine Schmerzen werden nicht lange andauern und für unsere Abenteuer ist eine Brille nur hinderlich." "Aber du hast mir doch zu einer geraten?" "Besser man kann nicht lesen, als man nicht richtig kämpfen." "Und was soll ich jetzt mit dem Pullover machen, so kann ich doch nicht herumlaufen, auch wenn das hier eine Ruinenstätte ist." Hanryo nahm seinen Rucksack ab und holte aus ihm ein schwarzes Hemd. "Ziehe das an", sagte er freundlich. "Ich hatte erwartet, dass deine Alltagskleidung solche Reisen nicht übersteht. Wenn wir wieder zuhause sind, schneidern wir dir einen richtigen Kampfanzug." "Warum haben wir das denn nicht schon früher getan?", kritisierte sie ihn. "Du wusstest schließlich, was uns erwartet, ich wusste es nicht." "Aus den eigenen Fehlern lernt man mehr als aus den Worten anderer." "Ich verstehe", sagte Chikará abweisend und zog sich das Hemd über den verrissenen Pullover. Sie gingen wieder durch das Loch in der Wand zurück in die Bibliothek, die Regale hielten immer noch das Dach, die Staubwolken hatten sich inzwischen wieder gelegt, die Insekten hatten sich wieder in den Nischen verkrochen. Hanryo wollte noch nach einigen Büchern über die Stadt schauen, er kannte aus Geschichten einige unheimliche Legenden über die Katakomben, beziehungsweise über das, was dort unter der Erde ruhen sollte. Er behielt dies vorerst für sich, er wollte schließlich nicht, dass Chikará einen Nervenzusammenbruch bekommt. Vielleicht waren es auch nur erfundene Begebenheiten, ohne wahren Kern? Die Antworten würden kommen, da war er sich sicher. Leider war die Anzahl der Werke über diese Thematik mehr als dürftig, die Fragen blieben noch offen, deshalb beschloss er, endlich die Bibliothek zu verlassen. Chikará wollte Hanryo noch kurz fragen, wohin sie jetzt gehen werden, aber genau in diesem Moment spürte sie plötzlich eine Hand vor ihrem Mund. Erschreckt murmelte sie irgendetwas Unverständliches, während die Hand sie hinter eines der Regale zog. Hanryo war es, der sie so überrascht hatte, er deutete ihr mit seiner anderen Hand an, sie solle leise sein, dann ließ er sie wieder los. Sie schwieg und guckte ihn fragend an, er zeigte mit seinem Zeigefinger kurz in Richtung des Eingangs der Bibliothek. Sie nickte und schlich sich vorsichtig zum Rand des Regals, erwartungsvoll und angespannt blickte sie unauffällig zur Eingangspforte. Ein Schatten schlich langsam durch den Zugang hinein ins Haus. Solch ein Geschöpf hatte sie niemals zuvor gesehen. Es hatte den Körper eines Menschen, eines erwachsenen Mannes, aber die Haut war dunkelgrau und schien ausgetrocknet, die Haare waren weißgrau wie bei Alten, die Kleidung war schmutzig und braun, ob das Wesen Augen besaß, konnte sie nicht erkennen. Es machte hechelnde Geräusche, so als könnte es nicht richtig atmen und ging, als hätte es gebrochene oder verstauchte Gliedmaßen, es kam sehr langsam vorwärts. Als es sich dem Versteck der beiden näherte, konnte man seine Gestalt genauer erkennen, seine Kleidung war wahrscheinlich einmal eine Rüstung gewesen, Metallstücke und Abzeichen waren zu sehen, die Ummantelung eines östlichen Schwertes trug es auf seinem Rücken, ebenso einige Dolche am Gürtel. Seine Haut hatte viele Risse und Wunden, die jedoch weder bluteten noch zu verheilen schienen. Die Kreatur hatte doch Augen, glasige weiße, ohne eine Farbe. Was war das für ein seltsames Wesen? Blitzartig zog Hanryo Chikará weg und stieß sie unsanft durch das Loch in der Wand, sie stolperte nach draußen über die Trümmer und fiel erneut hin. Er stellte sich in die Maueröffnung und trat einmal feste gegen eines der Regale, die das Dach stützten. Danach lief er schnell zu Chikará in Deckung, während binnen Sekunden die gesamte Bedachung des Hauses kurz wackelte und dann mit läuten Poltern hinab stürzte. Die Bücherregale konnten dieses Mal den Druck nicht mehr standhalten, die gesamte Bibliothek fiel in einer großen Staubwolke zusammen und begrub die vielen Bücher ebenso wie die fremdartige Kreatur unter sich, die sich mit schrillen Kreischen im Moment des Zusammenbruchs verabschiedete. Chikará beobachte alles sprachlos vom Boden aus. Hanryo setzte sich zu ihr. "Entschuldigung", sagte er aufgesetzt betrübt. "Das gerade wurde einfach zu gefährlich, hast du dir wehgetan?" "Nein, aber nächstes Mal kann ich auch ohne Hilfe ein Haus verlassen." "Es musste halt schnell gehen, ich wollte dir nur eine direkte Berührung mit dem Typ ersparen." "War das ein Untoter?", fragte sie auf die Trümmer blickend. "Ja." "Wie kam er zu uns?" "Er muss unsere Fußspuren gesehen haben, und dein Zusammenbruch eben war unüberhörbar." "Ist er jetzt wieder oder richtig tot?" "Tot ist er sowieso schon, es wird aber wahrscheinlich sehr lange dauern, bis er sich aus den Trümmern befreit hat." "War er einst ein Mensch?" "Ja, es gibt hier einen Fluch. Jeder Mensch, der hier unten in der Stadt sein Leben lässt, soll sie nach dem Tod als Wiedergänger bewachen." "Und wie viele sind hier gestorben?" "Die Stadt ist groß, aber wenn wir Glück haben, treffen wir nicht mehr allzu viele von denen." "Sind die überhaupt gefährlich, ich meine, der humpelte und war sehr langsam?" "Glaubst du", sprach er nach einem flüchtigen Lachen. "Ich hätte die schöne Bibliothek zerstört, wenn der freundlich gewesen wäre?" "Er schien zumindest recht harmlos", erwiderte sie naiv. "Das ist der Fehler, den viele machen, diese Kreaturen zu unterschätzen. Einen Menschen und die meisten anderen Gegner kann man mit einem gezielten Schlag erledigen, den Untoten aber macht es nichts aus, den Kopf oder Ähnliches im Kampf zu verlieren, die kämpfen bis sie sich nicht mehr bewegen können. Außerdem sind ihre halbverwesten Körper Träger vieler Seuchen und Parasiten, für uns beide sind sie ungefährlich, aber Menschen bringen sie oft den Tod." Chikará dachte ein wenig über die Geschehnisse nach, dann fragte sie ihn: "Wie geht unsere Expedition weiter?" "Die Stadt hatte einst fünf Bibliotheken", antwortete er zur Hauptstraße schauend. "Ich habe einen bösen Verdacht, deswegen werden wir auch die verbleibenden vier noch aufsuchen müssen. Es könnte zwar nur eine Illusion sein, aber ich muss der Sache auf den Grund gehen." "Was für einen Verdacht?" "Ich werde es dir später erzählen." Hanryo stand auf und ging zur Hauptstraße, Chikará schaute ihm hinterher bis er sich noch einmal zu ihr umdrehte und mit seiner Hand andeutete, sie sollte endlich kommen. Sie zog eine rebellische Grimasse, stand auf und folgte ihm. Der Wind lies mittlerweile nach, so dass man nur noch die Schritte der beiden hören konnte in der Stille dieses vergessenen Ortes. Das Bild der Stadt nahm allmählich eine Monotonie an, die Gebäuderuinen sahen beinahe alle gleich aus, alle waren hauptsächlich aus Sandstein und grauen Ziegeln erbaut, die Dächer waren oft aus Holz oder dunklen Dachziegeln. Immer konnte man irgendwo mindestens ein Loch in den Wänden erkennen, wenn das ganze Haus noch nicht ein Schutthaufen war. Man sah auch viele Kleinigkeiten, alltägliche Gegenstände in den Ruinen und auf der Straße, verrostete Töpfe und Messer, verbleichte Papierfetzen, kaputte Spielzeugteile, aufgebrochene Holzschatullen, zerbrochenes Porzellan, die Spuren des Lebens. Chikará begann sich vorzustellen, wie es hier wohl damals war, als hier noch Drachen lebten. Jedenfalls lebten die Drachen nicht viel anders als die Menschen, wenn nicht sogar genauso wie jene. Akashia erzählte, die Drachen hätten die Form und Lebensart der Menschen angenommen, um mit ihnen zusammen in Frieden leben zu können, die Impressionen der Stadt spiegelten diese Theorie deutlich wieder. Mehr als einen Kilometer war der Fußmarsch bis zur zweiten Bibliothek lang, jene war viel größer als die erste, sie hatte die Größe eines durchschnittlichen Hauses der reicheren Bevölkerung. Die braunen Wände waren verstaubt und porös, die Fenster hingegen hatten noch Glasfragmente, die das dumpfe Sonnenlicht durchließen. Dieses Bücherhaus besaß zwei Obergeschosse und ein Kellergeschoss, in denen Hunderttausende von Lektüren lagerten. Das gesamte Gebäude war stark beschädigt, die Zeit zerstörte unerbittlich den Sandstein, der Boden hatte viele Durchbrüche, durch die man einige Meter tief in den Keller blicken konnte, wo das Wasser ungefähr kniehoch stand. Direkt neben der offnen Eingangspforte entdeckte Hanryo einen Wegweiser, ein kleines Metallschild, dessen Reliefschrift noch gut zu erkennen war, es dauerte nicht lange, bis er die Botschaft entschlüsselt hatte. Die Dämonenwerke wurden im Keller aufbewahrt, Chikará konnte mit viel Mühe den Wegweiser ebenfalls lesen. Ihre Blicken wanderten über die brüchigen Mauern, bis zum leeren Dachstuhl, es lag ein feuchter, modriger Geruch in der Luft, er kam wohl vom Keller aus. Sie wollte nur ungern dorthinunter, aber tapfer ging sie dicht hinter ihrem Begleiter. Die Steintreppe, die hinunter führte, diente als Brutstätte für Einzeller aller Art, mit den ersten Schritten auf den grünbewachsenen Steinen sah man bereits rote Ameisen aus ihrem grünen Verstecken fliehen. Nach einigen Stufen verließ Chikará der Mut und sie bat Hanryo, oben auf ihn warten zu dürfen, er willigte ein, immerhin hatte kein wasserfestes Schuhwerk. Sie setzte sich vorsichtig auf den grauen Fußboden des Erdgeschosses und beobachte ihn gespannt durch einen der Durchbrüche, er musste aufpassen, dass er nicht auf den glatten Weg ausrutschte. Unten angekommen, watete er langsam und behutsam durch das dunkle Wasser, Algen blieben unter der Oberfläche an seinen Schuhen und seiner Hose hängen, man sah durch seine Schritte aufgewirbelten Staub. Im Morast wimmelte es von winzigen Würmern und Insekten, die durch den fremden Besucher aufgeweckt worden und nun wild und ziellos umherschwammen. Der Geruch des Sumpfloches wurde immer intensiver, er hatte neben den Gestank auch etwas Beißendes in sich, vielleicht der Witterung von zersetzten Leichen, aber so etwas schreckte Hanryo selbstverständlich nicht ab. Er fand schnell den Platz für die Werke über Dämonologie, erneut war jener leer, seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Irgendjemand plünderte die Bücherlager der Stadt aus auf der Suche nach dämonischer Literatur, derjenige würde bestimmt versuchen, sich der Hilfe der Schattenwesen zu bedienen. Ein schwieriges und anspruchvolles Unterfangen, aber wer weiß, welche ernormen Kenntnisse der Dieb haben könnte? Vielleicht wäre es ein Debütant, vielleicht aber auch ein Dämonenmeister? Er musste aufgehalten werden, sofern dies überhaupt noch möglich wäre, aber ein Versuch müsste mindestens erbracht werden, um das drohende Unheil möglicherweise noch zu verhindern. Chikará sah, wie Hanryo unruhig zurück zur Treppe ging. "Es scheint, als wäre meine Angst berechtigt", erklärte er. "Es fehlen in beiden Bibliotheken die Bänder über Dämonologie, es könnte zwar nur ein blöder Zufall sein, aber ich persönlich vermute, das mehr dahinter steckt. Die Untoten können nicht lesen, sie haben sie wahrscheinlich nicht entwendet, es muss jemand anders gewesen sein, jemand, der wusste, was er tat." Sie ahnte, dass ihnen nun wohl eine Jagd bevorstehen würde, eine Jagd auf eine unbekannte Kreatur, die wohl Schreckliches plante. Die Suche schien anfangs relativ aussichtslos, bis Hanryo einen wichtigen Hinweis entdeckte, er bemerkte Fußspuren in den grünen Pflanzen auf den Stufen, es waren nicht die seiner Schuhe, es mussten die des Diebes sein. Er beugte sich zu ihnen, sie waren noch frisch und deshalb gut zu erkennen, sie konnten nicht älter als einige paar Stunden sein, die Pflanzen hatten noch Tropfen des Schleims aus dem Keller im Moosgeflecht. Er fand noch ein weiteres Fragment des vermeintlichen Diebes in den Einzellern, ein kurzes helles Haar. Es war kein menschlicher Farbton, das erkannte Hanryo sofort, aufgeregt wandte er sich zu Chikará, die ihn vom Erdgeschoss aus aufmerksam beobachtet hatte. "Ein Lichtdrache ist es", sagte er ein wenig aufgewühlt. "Seine Spuren sind noch frisch, er kann nicht weit sein, wir haben doch noch eine Chance." "Ein Lichtdrache?", wiederholte sie überrascht. "Kennst du ihn?" "Ich kenne viele jener Art, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handeln könnte." "Werden wir versuchen, ihn zu finden?", wollte Chikará bestätigend wissen, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte. "Ja, das werden wir. Wir wissen nicht, ob er mit der dämonischen Macht umzugehen weiß oder wofür er sie verwenden will." "Wo vermutest du ihn jetzt?" "Es gibt noch drei Bibliotheken, ihn den beiden, in denen wir waren, war er bereits. Es wäre also gar nicht so unwahrscheinlich, dass er dieselbe Route wie wir verfolgt. Es könnte aber auch sein, dass er bereits in den anderen drei Bibliotheken vor uns war", er unterbrach kurz um nachzudenken, dann sprach er weiter. "Ich habe einen Plan." Er ging schnell die Treppe hoch und verließ ohne Umwege das Haus, Chikará spurtete ihm stumm hinterher. Draußen blieb er stehen und breite erneut seine roten Schwingen aus, die binnen weniger Sekunden aus seinem Rücken wuchsen. Er schlug mit ihnen einige Male kräftig, wie ein Vogel, der fliegen will, Staub wurde aufgewirbelt, schließlich stieg er durch den Aufwind ruckweise empor in die Lüfte. Chikará schaute zu ihm hinauf und staunte. Nachdem er eine Höhe von ungefähr fünfundzwanzig Metern erreicht hatte, konnte er gut die umliegenden Straßen überblicken, er suchte aufmerksam nach weiteren Spuren. Von dort oben sah die Stadt viel kleiner, als sie in Wirklichkeit war, die Ruinen schienen wie Sandhügel und die Straßen wie ausgetrocknete Flussläufe. Hanryo erkannte zuerst nichts Auffälliges, aber nach kurzer Zeit wurde er auf ein Straßenstück, ungefähr vierhundert Meter vor ihm liegend, aufmerksam. Er sah eine Kreatur am Boden liegen, es war wahrscheinlich kein Untoter, er bewegte sich nicht, vielleicht war er verletzt oder tot, neben ihm lagen rechteckige Gegenstände, es könnten Bücher gewesen sein. Dies konnte vielleicht ein wichtiger Fund auf der Suche nach dem Dieb sein, wenn nicht sogar jener selbst. Man müsste unbedingt zu dieser Stelle gelangen, dachte sich Hanryo und er hörte auf mit seinen Schwingen zu schlagen, der Auftrieb ließ daraufhin nach und er schwebte wieder langsam zurück zum Boden. Chikará starrte ihn nach seiner Landung gespannt an. "Hast du etwas gesehen?", fragte sie ihn hastig. "Komm mir hinterher", forderte er sie auf. "Ich glaube, wir könnten ihn gefunden haben." Er nahm Chikarás Schwert ab und warf es ihr zu, sie fing es sicher und beide liefen los, der Hauptstraße entlang. Es war schwer, sich zwischen den Überresten der Häuser, die ja auch teils auf den Wegen lagen, schnell fortzubewegen, dennoch kamen sie in ihrem Eifer gut voran, binnen weniger Minuten erreichten sie ihr Ziel. Nach der letzten Abbiegung konnte Chikará bereits von weitem die auf den Boden liegende Kreatur deutlich sehen. Es handelte sich um einen jungen Mann, er trug verschmutzte hellbraune Lederkleidung, ein kurzärmeliges Hemd und eine lange Hose, er trug keine Schuhe und hatte zerzauste helle Haare. Er lag dort seitlich zusammengekauert, den Kopf unter seinen Armen versteckt, und zitterte stark, als hätte er einen epileptischen Anfall oder etwas Vergleichbares. In seiner Nähe befanden sich viele aufgeschlagene Bücher, auf Zeichnungen waren Dämonen zu erkennen. Chikará war über den Fund dieses Geschöpfes sehr verwirrt, sollte dieses bedauerndste Wesen derjenige sein, der die vielen Dämonenbücher aus den Bibliotheken entwendet hatte? Seltsam, wie konnte das sein und wozu? Wollte er vielleicht die Literatur weiterverkaufen an Okkultisten oder Sammler? Was sollte so ein unscheinbarer Dieb mit derart realitätsfernen Büchern anfangen? Es musste doch bestimmt noch viel mehr dahinter stecken, es war bestimmt nicht so leicht zu erklären, welches Geheimnis verborg er nur, fragte sie sich, und fand in diesem Moment keine plausible Antwort darauf, weswegen blieb sie vorsichtshalber einige Meter von ihm entfernt stehen. Hanryo hingegen hatte keine Furcht oder größere Bedenken, er erkannte den Mann wieder. Verwundert ging er nah zu ihm und kniete sich vor ihm, er legte ihn behutsam seine Hand auf die Schulter. "Jimo, was ist mit dir passiert?", fragte er ihn leise und mit trauriger tiefer Stimme. Der Mann drehte seinen Kopf um, seine Augen waren grün und sein Gesicht sah so aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Langsam begann er zu sprechen: "Ein Dämon", er stockte kurz beim Reden. "Er hat besitz von mir ergriffen, er kontrolliert mich, ich wollte ihn mit Hilfe der Bücher vertreiben, aber er ist zu stark." "Ich werde versuchen dir zu helfen", sagte Hanryo entschlossen und schaute ihn dabei tief in seine beinahe tot wirkenden Augenlieder. Plötzlich veränderte sich ihre Farbe, das drachentypische Smaragdgrün wurde auf einmal zu Blutrot. "Nein", hauchte Jimo mit einer anderen, tieferen und künstlich klingenden Stimme. Hanryo blickte ihn entsetzt an, und noch bevor er reagieren konnte, schlug Jimo ihn auf einmal mit seiner rechten Faust mitten auf die Stirn, Hanryo fiel zurück auf den staubigen Boden. Hinter ihm lagen zum Glück nur stumpfe Trümmerteile, so dass er sich beim Sturz nicht mehr als leichte Prellungen zuzog. Völlig erschreckt rannte Chikará sofort zu ihn, sie griff nach seiner linken Hand und half ihn auf zu stehen, er taumelte etwas wegen der leichten Kopfschmerzen, die der Schlag bewirkt hatte, aber wenige Sekunden später war er bereits wieder bei vollem Bewusstsein. Er zog sein Katana aus der Ummantelung und stellte sich in Kopfposition, ohne zu zögern, rüstete sich auch Chikará zum Kampf. Jimo war mittlerweile ebenfalls aufgestanden, er hielt ein Kurzschwert in seiner rechten Hand und seiner linken einen Dolch. Hanryo wagte noch einen Versuch, seinen Gegner wieder zur Besinnung zu bringen: "Jimo", schrie er ihn verzweifelt an. "Sei stark! Lass dich nicht von ihm besiegen! Kämpfe! Kämpfe gegen ihn!" Jimo konnte nicht mehr kämpfen, der Dämon hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon längst besiegt. Er grinste flüchtig und sein willenloser Körper lief wütend auf die beiden zu, er holte zu einem großen Hieb aus, Hanryo konnte jedoch sein langes Schwert als Schutzschild benutzen und so den Angriff parieren. Chikará sah ihre Chance und fügte Jimo im selben Moment mit einem gezielten Schlag eine tiefe Wunde am rechten Unterarm zu, Blut lief an der Klinge ihres Schwertes hinunter. Der Schmerz war sehr stark, der Dämon konnte den charakterlosen Körper nicht dazu bringen, ihn zu ignorieren, das Kurzschwert konnte er nicht mehr festhalten und musste es fallen lassen, aber dies steigerte nur seine Kampfesekstase. In seiner Raserei wandte er sich zu Chikará, sie sollte für diesen Treffer bitter büßen, er holte zu einem neuen Angriff aus, dieses Mal sollte sie das Opfer sein. Sie erkannte schnell die Absicht ihres Widersachers und konnte sich dadurch noch mit ihrer Klinge vor dem mächtigen Dolchangriff verteidigen. Dennoch musste sie durch die Wucht des Aufpralls einen Schritt zurück gehen, um das Gleichgewicht zu halten, sie verstand, dass dieser Gegner trotz seiner vagabundischen Erscheinung eine hohe Körperkraft besaß. Jimo sah seinen Teilerfolg und wurde optimistisch, diesen Kampf für sich entscheiden zu können, er wollte direkt einen Stichschlag zu ihrer Brust ansetzten, aber dabei vergaß er ihren Gefährten, Hanryo sah das nahende Unglück und stach ohne lange nachzudenken mit seinem Schwert einige Zentimeter tief in Jimos Nierengegend. Ein neuer, noch viel stärkerer und intensiverer Schmerz durchfuhr ihn jetzt, diesen Treffer konnte er nicht mehr überspielen, er sah seine Niederlage vor Augen, blutend sank er wie eine Leiche zu Boden. Erleichtert beobachtete Chikará seinen Sturz, aber dies stoppte nicht ihre Konzentration und ihren Adrenalinfluss, um den entgültigen Sieg zu erringen, nahm sie ihre Waffe hinunter und setzte die Spitze auf der Brust des Feindes an, so dass sie ihn jeden Moment mit einem Durchstich hätte töten können. Hanryo vollendet den Triumph, indem er seine scharfe Hiebwaffe an Jimos Hals ansetzte. Der Kampf schien eindeutig entschieden. "Gib auf, du hast verloren Schattenwesen, verlass seinen Körper!", befahl Hanryo, immer noch vor Aufregung unruhig atmend. Der Lichtdrache lag völlig erschöpft auf den Rücken und reagierte zunächst nicht auf die Aufforderung, als seine beiden Gegner jedoch langsam den Druck ihre Schwerter erhöhten, so dass diese leicht in Jimos Haut eindrangen konnten und etwas Blut aus den zwei lebensgefährlichen Verletzungen lief, bewegte er sich. Er streckte zaghaft seinen linker Arm aus, so als wollte er den Dolch neben seinen Körper niederlegen. Hanryo sah nun Hoffnung für Jimo, der Dämon würde ihn wohl doch verlassen, aber es sollte anders kommen. Anstelle einer finalen Entwaffnung, zog er grinsend in einer unerwarteten, blitzartigen Bewegung den Dolch vom Boden weg und rammte ihn mit voller Wucht in seinen eigenen Bauch. Chikará blieb der Atem stehen, ein schwerer Schock überkam sie, ihr Blick wurde kalt und leer vor Fassungslosigkeit, ebenso war Hanryo sehr verwundert und zuckte reflexartig zurück. Jimo hechelte noch einige Sekunden, der Dolch steckte tief in seinem Körper, viele lebensnotwendige Organe wurden stark verletzt, er spuckte hustend einige Tropfen Blut aus und krümmte seinen Leib vor Schmerzen. Nach weniger als einer Minute hatte sein Todeskampf ein Ende, der Dämon hatte gewonnen, nach seinem letzten Atemzug, auf dem die Totenstarre folgte, ließ Chikará ihr Schwert fallen, sie wurde kreidebleich und zitterte. Hanryo beugte sich zu ihm hinunter und versuchte vergeblich seinen Puls zu fühlen, er schlug nicht mehr. "Ist er wirklich tot?", fragte sie stockend. "Sie sind beide tot", antwortete er niedergedrückt. "Jimo und genauso der Dämon." "Was für ein Dämon war das?" "Es gibt viele Arten von Dämonen, dies war einer ohne Körper, eine Art Geist, der in schwache Körper eindringen kann, er verdrängt die richtige Seele und kann somit den hilflosen Körper kontrollieren. Die Seele ringt mit dem Dämon, zeitweise kann sie ihn sogar besiegen, aber irgendwann werden ihre Kräfte nachlassen und der Dämon wird sie entgültig bezwingen. Mit alter Magie kann man solch einen Dämon austreiben, Jimo hatte genau das mit den Büchern aus den Bibliotheken versucht, aber er hat es nicht geschafft." "Was meintest du mit ,schwachen Körpern'?" "Menschen, Tiere, geschwächte Drachen wie er. Dir, als eine von der mächtigsten Drachenart, wird so etwas nicht passieren, dein Körper und deine Seele sind zu stark und mächtig für einen Dämon." "Warum hat der Dämon sich am Ende selbst getötet, was hatte er davon zu sterben?" "Er wollte nicht verlieren, und in diesem Fall war sein Tod doch noch so etwas wie ein Sieg, immerhin hat er Jimo ins Totenreich mitgerissen." Chikará wartete mit ihrer nächsten Frage einen Moment lang, sie wusste, dass sie vielleicht etwas respektlos wirken würde, dennoch stellte sie sie: "Du kanntest Jimo gut, oder?" "Wir waren zeitweise in derselben Truppe." Sie hatte so eine allgemeine Antwort erwartet, sie waren typisch für Hanryo. "Wart ihr miteinander befreundet?", bohrte sie nach. "Nein!", schrie Hanryo sauer. Es folgten einige Minuten Schweigen, sie war überrascht über seine plötzliche Wut. Sie begriff ihren Fehler und regte sich innerlich sehr über ihr naives Verhalten auf, am liebsten hätte sie sich dafür selbst geschlagen. Noch bevor sie sich entschuldigen konnte, lenkte Hanryo von diesem, für ihn selbst sehr seelenwunden Thema ab: "Lass uns weitergehen. Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist, kommen wir schneller voran." Chikará war sehr froh über diese Worte, sie wollte ihn und sich selbst nicht länger quälen, dieses schlimme Ereignis wollte sie nur noch schnellstmöglich vergessen. "Wohin gehen wir nun?" "Siehst du den Turm da vorne?" Er zeigte auf ein guterkennbares, hohes Bauwerk, ungefähr zwei Kilometer vor ihnen stand es. "Ein alter Wachturm, er müsste nahezu unbeschädigt sein." "Was wollen wir dort?", fragte Chikará. "Lasse dich überraschen." Er ging weiter, ohne sich umzuschauen. Sie folgte ihn, jedoch drehte sie sich noch einige Male um, sie hatte die vergebliche Hoffung, dass Jimo vielleicht noch leben könnte und jeden Moment aufstehen würde. Er blieb liegen. Sie verstand das mit diesem seltsamen Dämon nicht ganz oder sie wollte es nicht verstehen. Dieser Gedanke, eine fremde Macht eignet sich eines Körpers an und kontrolliert ihn und man hast keine Chance gegen ihn, war für sie sehr schrecklich. Ob Jimos wahre Seele überhaupt noch alles realisierte, was mit ihrem Körper geschah? Ob seine Seele nun noch irgendwo weiterleben kann, wie es der Glaube der meisten Menschen besagt? Oder hat der Dämon ihr auch dieses Recht geraubt? Diese Fragen waren sinnlos, es gab keine eindeutigen Antworten auf sie, jedenfalls wusste Chikará keine und ihr sollten auch keine einfallen, deshalb versuchte sie diese Unklarheiten zu ignorieren und zu verdrängen, obwohl sie ihr hochinteressant erschienen. Der Weg wurde immer mühsamer, die Hauptstraße hatte immer tiefere, teils meterbreite Risse im Asphalt und war übersät von Steinbrocken und anderen Gebäudefragmenten. Selbst die zerstörten Konstruktionen schienen wie Tote langsam, aber sicher zu verwesen, für Chikará entwickelte sich dieser Ort immer mehr zur Verbildlichung von Ende der Welt. Soviel Tod und Zerstörung würde es bestimmt nirgendwo anders auf der Welt noch einmal geben, dachte sie sich. Es kam ihr auch irgendwie so vor, als wäre das Stadtzentrum viel beschädigter und als der Stadtrand, von dem aus sie aufgebrochen waren. Ein sehr seltsamer Gedanke, das wäre doch eigentlich sehr unwahrscheinlich? Wieso sollten die Menschen die Stadt in der Mitte mehr verwüstet haben als die äußeren Teile? Dort, im Stadtzentrum war doch bestimmt nichts so Wichtiges für die Drachen? Sie teilte ihre Gedanken Hanryo mit, vielleicht würde er es wissen? "Bilde ich mir das nur ein, oder sind die Gebäude im Stadtzentrum wirklich viel schlechter erhalten als die am Stadtrand?" "Das kann sein." "Warum denn, wieso haben die Menschen im Stadtkern mehr zerstört?" "Die Stadtmitte war der Stadtteil mit den reichsten Einwohnern, dementsprechend prachtvoll und schön waren die Bauten hier und die Menschen, die haben natürlich das Beste am gründlichsten zerstört, das nehmt man menschlichen Sadismus im Krieg." Natürlich war das eine Lüge, in Wirklichkeit war die stärkste Zone des Erdbebens in der Stadtmitte. Aber mit dieser Irreführung schaffte Hanryo es weiterhin, die Illusion des Niedergangs der Stadt aufgrund eines Krieges für Chikará aufrechtzuerhalten. Sie akzeptierte und glaubte ihn diese Geschichte, auch festigte sie ihren Friedenswillen weiter. Sie begann allmählich auch Kriege zu verabscheuen, nicht aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener Überzeugung, sondern lediglich wegen Hanryos teils falschen Argumenten gegen Kriege. Aber würde Chikará ohne ihn genauso weiterdenken? Er hoffte es vom tiefsten Herzen, da er wusste, dass sich ihre Wege irgendwann wieder trennen würden, spätestens wenn er sterben würde. Er war sterblich, sie nicht, auch war er schon viel älter als sie, sein Leben würde bei weitem nicht mehr so lange andauern wie ihres. Das war das Schicksal von Kaiserdrachen, in ihrem hohen Lebensalter sahen sie mehr Freunde sterben und gehen als alle anderen Lebewesen. Früher oder später kam jeder von ihnen mindestens einmal in seinen Leben an eine Stelle, wo er wirklich alleine war, ohne Rat und Hilfe, wo er ohne jegliche Fremdeinwirkung wichtige Entscheidungen treffen musste und wo sich sein Schicksal und seine Zukunft ganz allein in seiner eigenen Hand befanden. Plötzlich blieb Hanryo kurz vor einer Abbiegung stehen und streckte seinen Arm vor Chikará aus, sie sollte ebenfalls stehen bleiben. Sie rührte sich nicht und blickte ihn verwundert an, er lehnte sich an eine Gebäudewand und horchte angestrengt. "Hörst du das?", fragte er sie. "Nein, was?" "Dieses Schmatzen." Sie stellte sich neben ihn an die Wand und lauschte angestrengt. Sie hörte es nun auch. Essensgeräusche, Schmatzen und lautes Kauen, sie entstanden hinter der Wand, hinter der Straßenabbiegung, vor der die beiden sich befanden. "Was ist das?", wollte sie wissen. "Wahrscheinlich sind da Ghuls, wir machen besser einen Umweg." "Sind sie gefährlich?" "Nein, eigentlich nicht, aber wieso sollten wir sie sinnlos bekämpfen? Das hier ist ihr Reich, wir sind die Eindringlinge, allein schon aus diesem Grund sollten wir keinen Kampf mit ihnen suchen." Sie nickte bestätigend und überzeugt. Hanryo blickte kurz auf seinen Stadtplan, danach drehte er sich um und zeigte auf eine enge Gasse rechts von ihnen. Der Umweg führte sie mitten durch einige verfallene Häuser und Hinterhöfe, es war viel eher ein klettern als gehen, viele Trümmerstücke blockierten den kleinen Pfad. Trotz der Unwegsamkeit mussten die beiden leise und vorsichtig sein, sie waren zeitweise nur etwa fünfzehn Meter weit von den Ghuls entfernt, die sich weniger leise benahmen und deutlich zu hören waren. Chikará interessierten diese Geschöpfe sehr, wie eigentlich auch alle anderen unmenschlichen Wesen, sie hatte eine starke Neigung zum Anormalen entwickelt, wahrscheinlich weil sie ja auch selbst kein alltägliches Wesen war. Es gelang ihr nicht, ihre Neugier ewig zu unterdrücken. An einer Stelle, wo alle Wände zur Straße hin zerstört waren, wo man also direkt zu den Ghuls durchblicken konnte, traute sie sich einen flüchtigen Blick zu den mysteriösen Kreaturen. Sie sahen nicht viel anders aus als der Untote aus der ersten Bibliothek. Bleiche und verstaubte Haut mit Rissen und blauen Flecken, tote, leere Augen, einige von ihnen hatten missgebildete Gliedmaßen. Sie waren größer als Menschen, bestimmt hätte sie durch keine durchschnittliche Tür hindurchgehen könnten ohne mit dem Kopf den Türrahmen zu berühren. Sie trugen Lederkleidung, jene war jedoch von sehr schlechter Qualität, vielleicht hatten sie sie sich selbst geschneidert, vielleicht sogar aus der Haut ihrer Opfer. Es waren sieben, sie aßen einen toten Körper, es könnte ein menschlicher gewesen sein, zu diesem Zeitpunkt konnte man es nicht mehr erkennen, zuviel hatten sie bereits gierig von ihm verschlungen. Sie rissen ihn die toten, schlaffen Gliedmassen ab und nagten von ihnen das Fleisch ab, ihre Münder waren blutverschmiert, ihre Zähne erinnerten an die von wilden Raubtieren, ihre starken Kiefer zermahlten sogar die Knochen ihres Opfers. Sie bemerkten ihren Zuschauer nicht, sie konzentrierten sich viel mehr auf ihr Essen, es war schon ein grausames und ekelerregendes Schauspiel, Chikará musste tief durchatmen. Sie musste sofort an Jimo denken, ihn würde wohl dasselbe schreckliche Schicksal zuteil werden. Sie fragte sich, ob es besser wäre so, als Leichenfressermahl zu verenden oder als Untoter durch die Ruinen wandern zu müssen? Sie wollte aber nicht über eine Antwort nachdenken, dies war ihr zu grotesk und widerwärtig. Auf einmal Hanryo klopfte ihr leicht auf die Schulter, sie sollte endlich weitergehen, sonst würde das hier zu gefährlich für sie beide. Sie folgte ihn schnell weiter durch die dunklen und zerstörten Gassen. Im Nachhinein bereute sie es, zu den Ghuls herübergeschaut zu haben. Sie hatten wieder eine gewisse Angst vor den Ruinen in ihr geweckt, es war keine richtige Angst, viel eher eine Abscheu oder eine Abneigung, jedenfalls wollte sie hier wieder weg. Allerdings überdauerte dieser Gedanke nicht lange, als sie weiterging und sich den widerwärtigen Kreaturen allmählich entfernte, kamen ihr Mut und ihr Ehrgeiz zurück. Diese Aufgabe war doch nichts im Vergleich zu dem, was sie noch erwarten würde, erklärte sie sich selbst. Die Geräusche wurden immer leiser, bis sie schließlich völlig verschwunden waren. Als die beiden mehr als fünfzig Meter von ihnen entfernt waren, nahmen sie wieder den richtigen Weg auf der Hauptstraße, welcher viel heller war als der durch die schattigen Hintergassen. Sie näherten sich immer mehr den Mittelpunkt der Stadt. Sie sahen schon von weitem einige hohe Gebäude, die noch standen, unter ihnen auch den Turm, den Hanryo vorhin als Ziel erklärt hatte. Ein Torbogen führte zum großen Stadtplatz, der umgeben war von einer Art Stadtmauer, von der jedoch nicht mehr viel übrig war, die Trümmerteile boten längst keinen Schutz und keine Grenze mehr. Der Torbogen war damals der einzige Weg auf den Stadtplatz, es war kein besonders großes Bauwerk, höchstens drei Meter musste sein einstiger Durchmesser betragen haben, die gelbbraunen Sandsteinwände waren durchlöchert und porös, es war lediglich eine Frage der Zeit, wie lange sie noch halten würden. Obwohl sie den Torbogen auch hätten umgehen können, schritten die beiden unter ihm hindurch, wie es früher die Einwohner der Stadt pflegten zu tun. An der rechten Innenwand befanden sich aufgemalte, dunkelbräunliche Schriftzeichen, Chikará entdeckte sie gleich, sie waren gut zu erkennen, wahrscheinlich waren sie noch nicht sehr alt, höchstens einige Jahre. Sie stammten aus der Standardsprache des Ostens und somit konnte Chikará sie leicht entziffern: ,Monster!', dies war ihre Bedeutung, gemeint waren bestimmt die wandelnden Leichen und Ghuls. Sie ging etwas näher an die Schriftzeichen heran, erst jetzt sah sie, dass sie alle mit Blut aufgemalt wurden, ihr Atem stockte. Hanryo erkannte ihr Entsetzen, er konnte sich denken, dass Chikará wahrscheinlich glaubte, mit ,Monster' wären die Untoten gemeint, er aber hatte eine ganz andere, viel schlimmere Vermutung, er behielt sie dennoch für sich und tat so, als hätte seine Gefährtin recht. "Vielleicht sind hier mittlerweile mehr Leute durch diese Untoten umgekommen als durch den Krieg", sagte er trocken und entgegen seines Verdachtes. "Glaubst du, der Verfasser dieser Botschaft hat sie mit seinem eigenen Blut niedergeschrieben?", fragte sie, immer noch ungläubig auf die Schriftzeichen starrend. "Vielleicht", antwortete er und schwieg danach kurze Zeit. "Befass dich nicht so sehr mit den Schicksalen anderer Geschöpfe, das wird dich auf Dauer nur in den Wahnsinn treiben." Sie starrte noch einige Momente lang auf die Schriftzeichen, dann drehte sie sich mit gesenktem Kopf von ihnen weg und ging weiter durch den Torbogen "Du hast recht", bestätigte sie ihn nach kurzem Überlegen. Der Stadtplatz war kreisförmig angelegt und hatte eine enorme Größe, es waren vom Rand aus ungefähr siebzig Meter bis zur Mitte, wo sich eine alte Bronzestatue befand. Der Platz war vollkommen leer, keine Untoten oder Ähnliches waren zu sehen, nur wenig Gebäudefragmente lagen auf ihm, auch waren alle Bauten um ihn herum recht gut erhalten. Schwache, kalte Winde fegten über die ebene Fläche, sie wirbelten etwas Staub vom Boden auf, sie enthüllten ein verstecktes Geheimnis, die Bodenplatten waren nicht aus normalem Sandstein oder Asphalt, sondern aus rotem Gestein, was es genau war, war nicht erkennbar, jedenfalls war der Marsch auf diesem Material wesentlich angenehmer und leichter als auf dem brüchigen Straßenasphalt. Früher waren bestimmt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende täglich auf diesem großen Platz, Chikará stellte es sich vor, ja, diese Stadt war damals bestimmt ein schöner Ort, viel schöner als die Ostmetropole. Hanryo ging geradeaus zur Statue im Zentrum, ohne ihr den Grund dafür zu nennen, was sie ein wenig verwundert, sie hatte aber zu diesem Zeitpunkt keine Lust, ihn danach zu fragen, sie war zudem langsam müde vom vielen Gehen. Der große leere Platz hatte auf sie eine besondere Wirkung, es war für sie wie ein Ort des Endes, ein finales Ziel nach einer Reise durch die Schatten der Zerstörung. Hier wurde nichts zerstört, hier gab es niemals etwas zu zerstören, dieser Platz war der letzte unveränderte Abschnitt der Stadt, ihr leeres, totes Herz, ob es noch schlug, war schwer zu sagen, selbst wenn es noch schlug, so würde es bald aufhören und endgültig sterben. Der Krieg und die Wesen des Todes hatten es erobert und in ihrer Gewalt, es gab keine Hoffnung und keine Zukunft mehr. Die Statue in der Mitte des Stadtplatzes stand auf einer kleinen weißen Marmorsäule, zumindest war sie früher weiß gewesen, heute bedeckte sie eine dichte Schicht aus Staubpartikeln. Die Figur zeigte einen Mann, er trug einen langen Mantel und schaute hoch zum Himmel, vielmehr war auch nicht zu erkennen, die Zeit nagte selbst an der beständigen Bronze, sie zerstörte sie und nahm ihr ihren einstigen Glanz. Was diese Statue einst darstellen sollte war längst vergangen, heute hätte man sie genauso gut als Bildnis eines Untoten ansehen können, schließlich waren sie die jetzigen Einwohner von Ryuchengshi. Die beiden Gefährten blieben vor der Gestalt stehen. Hanryo wischte mit einer Hand ein verschmutztes Schild an der Marmorsäule sauber, damit man es wieder lesen konnte. Chikará beugte sich zu ihm, sie konnte es sonst nicht lesen ohne ihre Brille, die Reliefzeichen entzifferte sie schnell: ,Quanli'! Sie schreckte zurück, sie dachte an nichts mehr, ein tiefer Schock durchfuhr ihre Seele. "Dein Vater", sagte Hanryo leise. Er sollte es also wirklich sein, der, an die sie nicht die geringste Erinnerung besaß. Der, der einst die ganze Welt beherrschte und danach von den Menschen getötet wurde. Ihr Vater, ihr einziger Schlüssel zu ihrer verlorenen Vergangenheit. Aber diese Statue von ihm konnte kein einziges Rätsel lösen. Es dauerte einige Minuten bis sie aufhörte, entgeistert die Statue anzustarren, dann begann sie langsam und mit tiefer Stimme zu sprechen. "Ich kenne nicht mehr als seinen Namen, dieses alte Abbild zeigt mir auch nicht viel mehr von ihm. Ich habe keinen Vater, ich habe keinen Vater mehr, vielleicht hatte ich niemals einen, und selbst wenn ich einen gehabt hätte, so war er niemals für mich dar gewesen, als ich ihn brauchte", sie unterbrach und atmete tief durch. "Lass uns bitte weitergehen, ich will hier nicht länger bleiben." Hanryo legte seine warme Hand auf ihre Schulter und zog sie anschließend wieder langsam wieder von ihr weg, Chikará drehte sich seufzend von der Statue weg, sie hatte eine Träne im Auge, weshalb, wusste sie selbst nicht. Wieso trauerte sie jemandem nach, den sie niemals kannte, nur weil er ihr Vater gewesen sein soll? "Komm, wir gehen weiter zum Turm." Hanryo unterbrach ihren Selbstkonflikt, er ging schnell weg von der Statue. Chikará schaute noch ein einziges Mal zur Statue zurück, nein, es war nur in Form gegossene Bronze, was sie darstellen sollte war unwichtig und sowieso nicht mehr klar erkennbar. Sie schüttelte den Kopf und lief Hanryo hinterher ohne einen weiteren Gedanken an ihren vergessenen und toten Vater zu verschwenden. Am anderen Ende des Platzes stand der hohe Turm, den sie bereits von weitem gesehen hatten, es war einst ein Wachturm, der hauptsächlich zur Überwachung des Stadtplatzes diente. Er war erstaunlich gut erhalten, nur wenige Schäden waren zu erkennen, lediglich einige winzige Risse und kleine Einbrüche, eigentlich passte dieses ungefähr dreißig Meter hohe Bauwerk nicht hierhin in die Ruinen, es hätte ebenso in einer heutigen, normalen Stadt stehen können. Eine Tür gab es nicht mehr, drinnen führte eine steinerne Wendeltreppe hoch zur Aussichtsplattform, im Innenraum des Gebäudes schien ebenfalls noch alles stabil und nahezu unversehrt zu sein, nur Unmengen Staub und Spinnweben hatten mit der Zeit den freien Bereich in Anspruch genommen. Oben, hinter der letzten Treppenstufe, befand sich ein runder leerer Raum, über dem direkt das Dach des Turmes war, viele einhalbmetergroße Fenster ermöglichten an einen Ausblick in alle Himmelsrichtungen. Da die Glasscheiben längst verschwunden waren, konnte man sich auch aus den großen Wandöffnungen herauslehnen, Chikará begab sich zu einer von ihnen und genoss die Aussicht auf die Stadt aus dreißig Metern Höhe. Die Ruinen waren wirklich gigantisch, von hier oben konnte sie genau sehen, wie weit sie bereits gegangen waren, undeutlich waren in der Ferne die Felswände der Schlucht zu erkennen. "Lehne dich nicht zu weit raus, sonst könnten dich Untote sehen", sagte Hanryo. Sie drehte sich daraufhin zu ihm um, er packte gerade an der gegenüberliegenden Wandseite einen Schlafsack aus, sie konnte sich vorstellen, was dies bedeuten sollte. "Das meinst du doch nicht ernst, oder?", fragte sie überrascht und mit böser Vorahnung. "Ich werde zuerst bis zum Sonnenuntergang schlafen, also ungefähr drei Stunden wären das jetzt noch, du schiebst in der Zeit Wache. Danach, wenn die Sonne untergegangen ist, weckst du mich, wir essen dann zu Abend, im Anschluss daran passe ich auf und du kannst bis zum Sonnenaufgang schlafen, einverstanden?" "Habe ich eine Alternative?" "Eigentlich nicht. Tagsüber unternehmen die Untoten nicht viel, die meisten von ihnen sind nachtaktiv, mache dir also keine Sorgen und außerdem kannst du mich ja jeder Zeit wecken, falls es dennoch Probleme geben sollte." Noch bevor Chikará weiteren Protest äußern konnte, legte Hanryo sich erschöpft in den Schlafsack und schlief nach kurzer Zeit ein. Sie stand da und dachte immer noch, dass dies eventuell nur ein Scherz sein könnte und er jeden Moment wieder aufstehen würde. Nach einigen Minuten realisierte sie, dass seine Worte ernstgemeint waren. Wie konnte er sie hier alleine lassen und einfach schlafen, sie konnte doch noch nicht einmal allzu gut kämpfen, geschweige denn hatte sie so etwas wie Mut, wenn sie alleine war? Sie lief panisch zu einigen Fenstern und schaute aufgeregt hinaus, zum Glück waren keine Untoten in der Nähe zu sehen, dem ungeachtet zog sie vorsichtshalber ihr Schwert aus der Ummantelung und hielt es hoch, so als hätte sie jeden Moment jemanden angreifen wollen. Sie hörte ein leises Knistern und drehte sich blitzartig um. Hanryo hatte sich nur im Schlafsack bewegt, Erleichterung überkam sie und sie sah auch ein, dass sie etwas leiser sein sollte, um ihn nicht aufzuwecken, er hatte sich diese Pause wirklich verdient. Es war vielleicht schwer, mit ihm richtig zu reden, aber trotzdem war er genau der richtige Begleiter für solche Ausflüge an vergessene Orte. Sie vergaß langsam ihre Angst, legte ihr Schwert wieder weg und ging zurück zum Fenster, sie schaute runter auf den Stadtplatz. Diese blöde Statue, was sollte sie schon sein? Immerhin hatte sie es Chikará ermöglichst, zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Vater zu sehen. Als sie sich die Figur noch einmal genau vorstellte, sah sie in ihren Gedanken eine gewisse Ähnlichkeit zu sich selbst, sein Gesicht war jugendlich ausgearbeitet, sehr symmetrisch und schön, der restliche Körper wirkte dünn, aber nicht schwach. Vielleicht bildete sie sich diese Parallelen auch nur ein, vielleicht wollte sie diese Übereinstimmungen nur wahrnehmen, auch wenn sie in Wirklichkeit vielleicht gar nicht existierten? Hatten diese Überlegungen überhaupt irgendeinen Sinn? Er war tot, sie hatte nicht die geringste Erinnerung an ihn, wieso sollte sie also so sein oder so werden wie er? Sie hatte zwar seine Kraft und seine Fähigkeiten, nicht aber sein Imperium und seine Macht, sie war doch nur ein dreckiges kleines Mädchen aus den Slums, er war der Herrscher der gesamten Welt. Er hinterließ ihr kein Erbe und keine Erinnerungen, seine Macht und sein Imperium waren längst untergegangen, vielleicht hatte er es auch nicht anders verdient? Chikará bemerkte, dass sie nur die Meinungen von Hanryo und Akashia adoptierte, ohne jene großartig zu bezweifeln oder zu hinterfragen, aber eine eigene Meinung konnte sie sich schließlich nicht machen, nein, sie wusste doch selbst überhaupt nichts von der Vergangenheit. Gerne hätte sie noch eine andere Version gehört, eine, in der ihr Vater gut und gerecht gewesen wäre, eine, in der auch sie ihre wahre Position gefunden hätte. Sie konnte zwar ihren beiden Freunden glauben, aber es gab da doch, ihren eigenen Erzählungen zu folge, auch noch eine andere Gruppe, die ihren Vater treu ergeben war und die nun versuchte, sein Reich wiederauferstehen zu lassen. Vielleicht wären sie eine viel bessere Orientierung als Hanryo? Ihr Weg zur Wiedergeburt der Drachenherrschaft war jedoch mit einem Krieg verbunden, sie hatte zwar niemals einen Krieg miterlebt, aber diese Stadt zeigte ihr sehr wohl, was ein Krieg anrichten konnte. Wäre dieses Leid und diese schier grenzenlose Zerstörung wirklich gerechtfertigt, um die Vergangenheit zur Zukunft zu machen? Wieso sollte es eigentlich die Weltherrschaft sein? Eine Wiedervereinigung der Drachen, eine Gemeinschaft dieser alten Rasse, so wie es sie vor vielen Jahrhunderten gab, wäre das nicht ein viel wünschenswerteres Ziel? Ein friedliches und glückliches Zusammenleben aller noch übrigen der Drachenart bis zum Ende der Welt oder bis zum Ende ihrer langen Leben? So etwas wie eine Familie, eine Familie, die sie niemals hatte? War dies nicht genau das Ziel von Hanryo? Chikarás Entscheidung stand fest. Am Horizont ging langsam die Sonne unter, die Ruinen und der Himmel wurden in purpurne Farbtöne getaucht, es waren liebliche und zugleich seelenlose Farben, so künstlich und unnatürlich wirkten sie auf den sandfarbenen Gebäuden in der Schlucht. Der Stadtplatz war immer noch leer und tot, auch die Verfärbung gab ihn keinen Funken Leben. Langsam verschwand das helle Licht der Sonne völlig, der Mond ging auf und die Sterne zeigten sich, in dieser Nacht war das Firmament klar und beinah wolkenlos, man konnte viele wunderschöne Sternbilder sehen. Sterne, verlorene Lichter in der ewigen Finsternis. Chikará erinnerte sich an eine alte Legende, die sie vor vielen Jahren gehört hatte, die davon berichtete, dass für jeden guten Menschen, der stirbt, ein neuer Stern am Himmel erscheint. Ob für Mián auch einer erschienen war? Sie war ein guter Mensch und sie fehlte ihr sehr, sie war für lange Zeit ihre einzige Freundin auf dieser kalten und bitteren Welt. Ob Hanryo sie ersetzen konnte? Nein, man konnte Seelen nicht ersetzen, man konnte lediglich ähnliche finden, und Hanryo ähnelte ihr schon ein wenig, wie sie kümmerte nun er sich um Chikará, damals war sie ihr einziger Halt im Leben, jetzt war er es. Ihr fiel auf, wie schnell die Zeit vergangen war, es war bereits stockdunkel, sie sollte ihn allmählich aufwecken. Sie ging zu ihm, beugte sich zu ihm herunter und rüttelte mit meiner Hand sanft an seiner Schulter. "Hanryo, steh auf, die Sonne ist gerade untergegangen", sagte sie leise und behutsam. Er erwachte und öffnete langsam seine tiefgrünen Augen. "Gab es keine Probleme oder Zwischenfälle während ich schlief?" "Nein, es kamen nur fünfzig Untote hier hoch gestürmt, aber ich habe sie alle alleine erledigt, damit du in Ruhe weiterschlafen konntest." Er lachte und stand langsam auf. Aus seinem Rucksack holte er eine Taschenlampe, er leuchtete mit ihr nur auf den Boden des Raumes, damit die Untoten den Lichtkegel nicht von unten aus sehen konnten. Das Abendessen der beiden bestand aus Reiskeksen und Wasser, Chikará hätte viel lieber etwas anderes zu sich genommen als trockenes Gebäck mit geschmackloser Flüssigkeit, aber dieses Essen war wohl das beste für solche Abenteuer. Die Kekse machten schnell satt und gaben neue Kraft, das Wasser war leicht und ebenso wie das Reisgebäck leicht verdaulich und lange haltbar, also hervorragend als Reiseproviant geeignet, manchmal war halt der Zweck wichtiger als der Genuss, dachte sie sich. Mit der Zeit begann die Ration ihr sogar ein wenig zu schmecken, es war immerhin viel besser als das, was sie noch vor einigen Tagen täglich essen musste. "Ich bereue es, dir eben die Statue gezeigt zu haben, es war ein Fehler von mir, ich dachte, sie könnte vielleicht Teile deiner Erinnerungen zurückrufen, verzeihe es mir bitte", sagte Hanryo, nachdem er den letzten Keks gegessen hatte. "Ich bin wirklich froh, dass du sie mir gezeigt hast. Jetzt habe ich immerhin ein Bild von meinem Vater in meinen Gedanken, dass die frühere Leere ersetzt, zwar ein sehr ungenaues, aber das ist besser als nichts. Ich wollte mich auch noch bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich vorhin so ausgefragt habe über Jimo, ich hätte erkennen sollen, dass dir sein Schicksal so nah ging." "Ach, weißt du, ich kenne zwar meine Vergangenheit, dennoch erinnere ich mich nur sehr ungern zurück, zuviel Trauer steckt in meinen Erinnerungen." Beide schwiegen einige Sekunden, dann holte Hanryo zwei Dosen Bier hervor und gab eine Chikará, die sehr verdutzt darüber war und ihn ungläubig anstarrte. "Ich weiß doch, wie gerne du Alkohol magst", erklärte er grinsend. "In den Slums und heute morgen hast du stark danach gerochen, und erst recht nach solchen Wanderungen an Orten der Dunkelheit sollte man sich ein bisschen was davon gönnen." "Danke", erwiderte sie freudig. Sie öffnete ihre Dose und trank hastig vom lauwarmen Bier. Sie mochte den Alkoholgeschmack auf ihrer Zunge wirklich sehr, von einer Suche jedoch war noch lange nicht zu sprechen, lediglich von einem kleinen, aber unsterblichem Bedürfnis. Es war ihr zudem etwas peinlich, von ihm so direkt auf diese Schwäche für alkoholische Getränke angesprochen zu werden, aber das vergaß sie nach den ersten kräftigen Schlücken schnell wieder. "Musst du mich eigentlich nicht mit ,Ehrwürdige Kaiserin' oder so ansprechen?", fragte sie leicht angetrunken. "Da müsstest du mich doch wohl noch eher ,Erhabener Lehrmeister' nennen", konterte er. Sie lachte daraufhin kurz, er grinste nur flüchtig. "Ich weiß überhaupt nichts über dich, erzähle doch mal was von dir?", forderte sie ihn auf. "Was willst du wissen?" "Erzähl was von deinem Privatleben." "Du bist seit kurzem mein gesamtes Privatleben." Sie lachte erneut. "Und vor mir?" "Ich war einmal verheiratet." Sie kicherte hämisch. "Sie starb leider vor etlichen Jahren", entgegnete er mit einer plötzlichen Traurigkeit und mit tiefer Demut. Chikará hörte direkt auf, sich über ihn lustig zu machen, sie hatte solch eine tragische Antwort nicht im entferntesten erwartet. Schon wieder hatte sie ihn ungewollt an einem sehr wunden Punkt getroffen, aber woher hätte sie das denn wissen sollen? Sie wurde schlagartig auch sehr melancholisch und schwermütig. "Das tut mir leid", versuchte sie sich mit gesenkter Stimme zu entschuldigen. "Die Zeit heilt alle Wunden, egal wie tief und schwer sie waren, alles was bleibt sind Narben." "Ich wusste das nicht, entschuldige bitte mein Lachen vorhin." "Es ist schon gut, du konntest es schließlich auch nicht wissen. Seitdem ich sie verloren habe, bin ich viel einsamer und verschlossener geworden. Ich glaube, ich werde mich niemals damit abfinden können, sie verloren zu haben. Ich habe nach ihrem Tod niemals wieder etwas für eine Frau empfunden, wirklich überhaupt nichts und ich bezweifle, dass sich dieser Zustand irgendwann noch mal ändern wird." Sie sagte nichts darauf, sie starrte nur bedauernd und unfähig zu sprechen zum Boden. "Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das ist", sprach sie schließlich, dabei sah sie in ihrem Kopf ein Bild von Mián. "Das Leben ist halt manchmal zu hart und gnadenlos, das kann niemand ändern." Sie schwiegen einige Minuten, bis Chikará auf einmal laut gähnte und ihre Augen vor Erschöpfung kurz schloss. "Bist du müde?", fragte er sie. "Ja, sehr." "Dann lege dich ruhig schlafen, ich werde aufpassen bis zum Sonnenaufgang." Sie legte sich ohne zu zögern in den Schlafsack und drehte dann ihren Kopf noch einmal zu Hanryo, eigentlich wollte sie ihm noch ,Gute Nacht' sagen, aber sie war so müde, dass sie es nicht mehr schaffte, ihre schweren Augenlider fielen zu, ihr müder Körper erschlaffte, sie schlief langsam ein. Er lächelte kurz und räumte die Reste des Abendessens weg. Das Schlafelixier, das er vor dem Ausflug in ihre Dose gefüllt hatte, schien ausgezeichnet zu wirken. Er hatte befürchtet, dass sie vielleicht aus Angst vor den Untoten nicht hätte schlafen können, was sich jedoch inzwischen als Irrtum erwiesen hatte. Sie war viel besser für solche Abenteuer geeignet, als er es erwartet hatte, bestimmt hätte sie auch ohne den Schlaftrunk heute Nacht Ruhe gefunden. Er sah sie einige Zeit lang an, er fand, dass sie schlafend richtig niedlich aussah und schön war sie, ohne Frage, sie hatte ihr Schicksal wirklich nicht verdient. Er machte die Taschenlampe aus und setzte sich neben eines der Fenster, ein kalter Wind wehte durch die Wandöffnung, er hörte sich wie ein Klagelied der Untoten an, welches ihn aber nicht beeindruckte. Er schaute hinaus zu den Sternen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)