Drachenengel (Buch 1) von abgemeldet ({inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}) ================================================================================ Kapitel 2: Anfang (Teil 1) -------------------------- Die Juninacht war noch jung und sollte noch lange andauern. Einige schlechtgebauten und verstaubten Asphaltpfade führten aus den Slums hinaus in die Wüste. Es war keine wirkliche Wüste, eher eine tote und verlassene Steppenlandschaft, ein Kieselsand-Erdgemisch ohne sichtbares Ende. Leere und Stille. Kalte Winde wehten über das ebene Gebiet. Ein heller Vollmond erhellte die Finsternis, die Sterne am Firmament unterstützten ihn. So überfüllt die Ostmetropole war, so leer war im Gegensatz dazu diese Gegend, weit und breit existierte kein Leben. Viele Wüstenschlangen und Steppenwölfe sollte es hier angeblich geben, aber heute Nacht zeigten sie sich nicht. Kleine, verdorrte gelbliche Sträucher, getrocknete trübgrüne Grasbüschel, einige wenige Knochen von Mensch und Tier, karge Holstücke, raue Steine und weicher Sand, mehr war nicht zu erkennen. Hier übernachtete man nicht gerne, obwohl es hier viel sicherer war als in der Metropole oder als in den Slums. Wo nichts war, konnte auch nichts Gefährliches sein. In mitten einer kleinen Baumgruppe errichtete Hanryo sein olivefarbenes Zweipersonenzelt. Er hatte es in seinem schwarzen Rucksack mitgetragen, ebenso zwei altes Schlafsäcke, sie stammten wohl aus Armeebeständen. Viel mehr transportierte er auch nicht mit sich, nur das Nötigste eben. Chikará hatte nichts mit aus den Slums mitgenommen, sie hatte schließlich auch nichts, was sie hätte mitnehmen sollen. Sie vertraute blind ihrem neuen, seltsamen Freund. Ohne mit ihn viel zu sprechen, folgte sie ihn hoffnungsvoll. Sie erwartete Erklärungen, die sie aber nicht bekam, noch nicht. Hanryo war froh über ihre Begleitung, auch wenn er sich ihr gegenüber noch sehr kalt und abweisend gab. Er hatte sein erstes Ziel erreicht, sie begleitete ihn, weitere würden folgen, so hoffte er. Während er das Nachtlager errichtete, saß Chikará auf einen alten, toten Baumstumpf. "Woher kennst du meinen Namen?", fragte sie ihn auf einmal. "Ich weiß mehr über dich, als du glaubst", antwortet Hanryo gelassen und zugleich ablehnend. Als das Zelt fertig war und alles im Innenraum verstaut, legte er sich in seinen Schlafsack und wies Chikará ihren zu. Ohne zu zögern schlüpfte sie schnell hinein und verschloss hinter sich den Zelteingang, danach entspannte sie sich in der wärmenden Baumwolle. Im kleinen Zelt nahmen die beiden den größtmöglichen Abstand voneinander ein, sie aus Ungewissheit über ihn, und er, weil sie ziemlich stank. Es ist eine Mischung aus Müll- und Kotgeruch, aber er wollte sie nicht darauf ansprechen, nicht jetzt, wo sie endlich unter seinem Einfluss stand. Da half ihn für diese Nacht nur Nasenzuhalten und Atmen durch den Mund. Er hatte das Gefühl, dass Chikará unglaublichen Durst hatte, weil sie schwer atmete, so als wäre ihre Kehle völlig ausgetrocknet, und sie hustete oft. Er gab ihr schließlich seine Feldflasche mit Wasser, sofort nahm sie hastig einen großen Schluck, ein paar Tropfen liefen ihr bis zum Kinn hinunter. Das Wasser schmeckte zwar etwas abgestanden und bitter, aber etwas Besseres war sie auch nicht aus ihrem bisherigen Leben gewohnt. Sie gab sich aus Gewohnheit mit wenigen und schlechten Sachen zufrieden, notdürftig. Es gab genug Leute, die in den Slums verdursten oder verhungern, wenn man daran dachte, trank und aß man wirklich alles, was man bekam, egal von wen man es bekam. "Was werden wir morgen machen?", fragte Chikará gähnend. "Einkaufen gehen." "Und wo?" "In Katanamachi, zehn Kilometer westlich von hier." "Wieso nicht in der Ostmetropole?" "Da ist es zu teuer", erklärte Hanryo. "Katanamachi ist klein, aber genau der richtige Ort, um hier in der Gegend an gute Ausrüstung zu kommen. Dort gibt es auch öffentliche Bäder." "Ich weiß, dass ich ein bisschen rieche", sagte sie leicht verärgert. "Ein bisschen ist gut, aber bei dir kann man es entschuldigen. Keiner würde in deiner Verfassung besser riechen, denke ich." "Du hast gesagt, du hättest viel Geld, also bisher merkt man davon nicht allzu viel", meckerte sie. "Ich will mich ja nicht beschweren, aber von jemandem, der angeblich viel Geld hat, habe ich mehr als ein Zelt mit Schlafsäcken und saures Wasser erwartet." "Deine Einwände sind durchaus berechtigt, wenn auch ein wenig frech, aber eine zahme Begleitung könnte ich nicht brauchen. Ich bin ja im Moment nur auf der Reise, deswegen gebe ich mich nur mit den Nötigsten zufrieden, so wie es sich für einen echten Soldaten gehört." "Du bist Soldat?" "Im Geist bin ich noch einer, aber sonst nicht mehr." "Für welches Land hast du gearbeitet?" "Für ein fremdes, nicht für dieses hier, wo wir sind." "Was war jetzt mit deinem Geld?" "Etwas davon ist in Katanamachi deponiert", antwortete er. "Was werden wir einkaufen?" "Sachen für dich." "Und was genau?", wollte sie gespannt wissen. "Alles, was du brauchst und nicht hast. Richtige Kleidung, Waffen und so weiter." "Wofür werde ich das alles brauchen?" "Für das, was nach Katanamachi kommen wird." "Und was kommt danach?" fragte sie neugierig. "Viel, sehr viel, unsere Reise wird lang und hart." "Was ist unser Ziel?" "Unser Schicksal", antwortete Hanryo mit leichtem Grinsen. "Wieso immer so geheimnisvoll?" "Wirst du schon noch erfahren." "Verrat mir doch zumindest, woher du mich kennst, woher du meinen Namen kennst?" "Du bist bekannter, als du denkst." "Soll das eine Erklärung sein?" "Lass es gut sein und schlaf, es ist spät. Noch ist es zu früh, um dir alles zu erklären, aber alle deine Fragen werden bald beantwortet werden." "Ein ziemlich schwacher Trost", entgegnete sie dreist. "Gute Nacht", sagte er müde und schlief ein, Chikará kurze Zeit später auch. Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachten beide, begannen anschließend ihr Lager abzubauen und begaben sich auf den Weg nach Katanamachi. Die Sonne stieg langsam hinter den Gebäuden der Ostmetropole hinauf. Der Tag begann warm und angenehm, aber immer noch war die Umgebung verlassen und leer. Schwarze Vögelschwärme flogen laut flatternd über die trockene Wüstensteppe, es waren keine Wolken am weiten, blauen Himmel, der endlos zu sein schien. Die grellen Lichtstrahlen blendeten etwas in den Augen, leichte Winde wehten wieder über den von der Sonne erwärmten Sandboden. Erst nun, in der Helligkeit des Tages, konnte Chikará Hanryo genau erblicken. Er schien aus den Osten des Landes zu stammen, war schlank und für einen Mann relativ klein, nur einige Zentimeter war er wohl größer als sie. Er hatte kurze kupferrote Haare und dunkelgrüne Augen, seine Haut war leicht gelblich. Er trug pechschwarze Kleidung, eine weite Hose, einen langen Mantel, Stiefel und Lederhandschuhe, etwas unheimlich sah er darin aus. Dafür, dass er Soldat gewesen sein sollte, wirkte sein Körper noch sehr unversehrt und heil, keine Narben oder ähnliche Wunden der Vergangenheit waren auf den ersten Blick zu erkennen. Freundlich sah er aber trotzdem nicht aus, man hätte ihn eher für einen Bandenführer als für einen einsamen Wanderer gehalten. Sein kalter und stolzer Blick war schier unvergänglich und unveränderbar, seine Gesamterscheinung wirkte fast schon schattenhaft. Ob er überhaupt ein Mensch war? Er war jedenfalls eine geheimnisvolle Gestalt. Der morgendliche Fußmarsch nach Katanamachi auf den kaum benutzten Wegen war nicht sehr anstrengend und dauerte nur wenige Stunden. Die kleine Stadt war sehr modern und kompakt gebaut, hinter den stählernen Stadtmauern führten enge, geteerte Straßen vorbei an mehrstöckigen Wohnhäusern und Geschäften, der westliche Betonbaustil hatte sich hier durchgesetzt. Steinerne Gebäudekomplexe mit Glasfenstern und ohne Holz- oder Bambusbauteile, ein kleines Windrad in der Stadtmitte versorgte die Siedlung mit elektrischem Strom, zwar nicht mit viel, aber mit genug um damit einige wenige Lampen und Leuchtreklamen zu betreiben. Im Gegensatz zur Ostmetropole, gab es hier Unmengen von Polizisten und Soldaten, sodass die Stadt sehr sicher und fast frei von Kriminalität schien. Chikará war niemals zuvor dort gewesen, weswegen sie Hanryo schweigend und staunend folgte. Ohne Probleme waren sie hinter die Stadtmauern gekommen, Hanryo kannte die Wachposten, sie ließen die beiden ohne Kontrollen passieren. Bald erreichten Hanryo und Chikará neben den Stadteingang ein öffentliches Reinigungszentrum, wo man gegen Gebühren für beschrankte Zeit in kleinen Kabinen duschen oder baden konnte, oder beim Personal Wäsche waschen, reinigen, flicken oder bügeln lassen konnte. Hanryo bezahlte und sperrte sofort danach Chikará in eine der Kabinen. Drinnen war eine kleine weiße Badewanne, über der ein Duschkopf hing, an der anderen Seite des kleinen Raumes befand sich ein weißes Waschbecken mit Spiegel und einen Halter mit mehreren sauberen Handtüchern, die Decke, die Wände und der Boden der Kabine waren graugekachelt. Von so einen Ort hatte Chikará schon lange geträumt, endlich konnte sie sich mal richtig waschen, lächelnd begann sie ihre Sachen abzulegen. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, schob sie in ihre Kleidung durch einen kleinen Spalt zwischen Tür und Fußboden. Hanryo hob sie auf und gab sie dem Personal zum Säubern, was ihn fast schon ein wenig peinlich war, schließlich hatten ihre Sachen eine Reinigung mehr als nötig. Dann suchte er sich auch eine Waschkabine und gang ebenfalls kurz Duschen. Später holte er die Kleidung von Chikará wieder ab und schob sie ihr wieder unter der Tür zu. Sie war bereits fertig geduscht und abgetrocknet, wenig später öffnete sie wieder angezogen die Türe. Erst jetzt konnte Hanryo sie in ihrer wahren Gestalt sehen, ohne einen Schmutz- und Staubfilm über dem Leib und der Kleidung. Sie hatte weiße, geschmeidige und glatte Haut, leuchtende, smaragdgrüne Augen und lange fransige, blaue Haare. Sie waren nicht gefärbt, das kühle Eisblau war ihre richtige Haarfarbe. Ebenso seltsam waren auch ihre Augen, die wie magisches, neonfarbenes Feuer funkelten, der extreme Farbton sah künstlich aus. Ihr Gesicht war hübsch und ebenmäßig, die weichen Züge wirkten kindlich, genauso wie ihr ganzer zierlicher und zarter Körper. Die Glieder waren dünn und gleichmäßig, die Hände schienen unbenutzt und gepflegt, alle Körperteile sahen wunderschön und symmetrisch aus. Alle Proportionen passten ideal zum Gesamten, nichts wirkte zu groß oder zu klein, zu lang oder zu kurz. Zusammen schaut alles nahezu perfekt. Ihr unvergleichbar anmutiger Leib war nichts desto trotz sehr attraktiv und liebreizend. Ungefähr einmetersechzig müsste sie groß gewesen sein und zirka fünfundvierzig Kilogramm gewogen haben. Sie sah wirklich wie ein Engel oder ein ähnlich spirituelles, unreales Zauberwesen aus, eine höhere Erscheinung, deren optische Schönheit kaum zu beschreiben war. Es war schwer, sie eindeutig in ein Volk oder eine Rasse einzuordnen, man sah ihr ihre Herkunft nicht an, sie wirkte irgendwie östlich und westlich zugleich. Die vielen Jahre in den Slums schienen wirklich spurlos an ihr vorbeigegangen zu sein. In einer anderen Welt hätte sie mit ihrem makellosen Körper mit Sicherheit viel Geld verdienen können. Warum hatte sie denn überhaupt in den Slums leben müssen? Wie konnte sie so tief fallen oder so tief fallen gelassen werden? "Und?", fragte sie leise, ein wenig geschmeichelt von Hanryos verwunderten Blicken. "Gewaschen siehst du ganz in Ordnung aus, jetzt nur noch zum Frisör und neue Kleidung, dann bist du vorzeigbar." "Zu welchen Geschäften gehen wir zuerst?" "Wir essen noch vorher etwas, elf Uhr sind es jetzt, eigentlich ein bisschen früh für das Mittagsessen, aber egal, wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?" "Seit vorgestern Mittag." "Was hattest du da gegessen?" "Altes, trockenes Weißbrot." "Gut, dann werden wir jetzt etwas Besseres auftreiben." Wenig später befanden sie sich in einem kleinen Restaurant, das an der anderen Seite des Stadteingangs lag. Schwarzblaue Bodenkacheln, kleine rötliche Holztische und Stühle, einige Aquarien mit prächtigen Goldfischen, bunte Orchideen und viele Bilder von idyllischen See- und Meereslandschaften. Trotz des schönen Ambientes, schient es ein erschwingliches Lokal zu sein, die wenigen Gästen waren so ziemlich alle vom Militär. Hanryo und Chikará setzen sich an einen der Tische, wo letztere sofort begann, die weiße Speisekarte zu studieren, dabei wirke ihr Blick sehr angestrengt. "Und, was willst du haben?", fragte Hanryo freundlich. "Weiß ich noch nicht", antwortete sie und hielt sich die Karte noch näher vor die Augen. "Was steht da?" "Hast du eine Sehschwäche?" "Nein!", widersprach sie wütend. "Du kannst aber lesen, oder?" "Das ist alles so klein geschrieben, das man nichts erkennt!", schimpfte sie weiter. "Wie dem auch sei, gleich gehst du zu einem Augenarzt, würde ich dir raten. Wenn man nicht gut sehen kann, kann man auch nicht gut kämpfen." "Ich soll kämpfen?", fragte sie ungläubig. "Ja, natürlich. Aber keine Sorge, ich werde dich vorher noch gut trainieren, ich werde dich zur besten Kämpferin überhaupt machen", erzählte er belächelnd. "Ich hatte doch noch nie eine Waffe in der Hand?" "Doch, die hattest schon sehr oft Waffen in den Händen." "Nein, ganz bestimmt nicht, wie kommst du darauf?" "Egal, wir klären das später, soll ich dir die Karte vorlesen?" "Ja, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben", sagt sie abweisend. Hanryo nimmt die Speisekarte und beginnt sie ihr vorzulesen: "Katanamachi-Reisteller, Sushi, Nudeln, Frühlingsrollen, Bambussprossensuppe, hast du dich schon für etwas davon entschieden, war etwas für dich dabei?" "Ich kenne so gut wie nichts davon, kannst du mir was empfehlen?" bat sie ihn leise. "Sushi, das schmeckt hier am besten, deswegen sind hier auch die ganzen armen Goldfische in den Aquarien." "Ich bin nicht tierlieb, ich nehme die Fischstäbchen." Er grinste kurz und sagte schließlich: "Du gefällst mir, du gefällst mir wirklich, ich werde viel aus dir machen." "Aber vorher bitte noch Essen, ich habe seit mehr als zwei Tagen nichts mehr gegessen." "Was willst du trinken?" "Cola, gibt es das hier?" "Nein, aber Zitronenlimonade." "Auch gut." Kurz darauf erschien am Tisch ein Kellner und nahm die Bestellung an. Es dauerte nicht lange, bis den beiden ihr Essen serviert wurde, jeder erhielt eine Portion Goldfisch-Sushi. Chikará staunte nicht schlecht, als sie ihre Mahlzeit erblickte, eine komische Mischung aus Fischstücken und Pflanzenteilen. Nach einigen Momenten des Zögerns, begann sie es zu essen. Hanryo bemerkt indes schnell, dass sie schon lange nicht mehr beim Essen beobachtet wurden war, beziehungsweise dass sie schon lange nicht mehr gesittet gegessen hatte. Sie stopfte alles schnell hinein, schmatzte und hielt die Essstäbchen völlig falsch. Aber was hätte man auch anderes erwarten sollen nach ihrem langen Aufenthalt in den Slums? Er bemühte sich dennoch, ihr einen Schnellkurs in Tischmanieren zu erteilen, seine kleinen, freundlichen Anweisungen trugen schnell ihre Früchte. Diese Sache mochte er an ihr von Anfang an besonders, sie war sehr lernfähig. Binnen geringer Zeit war sie dank ihm in der Lage, Speisen so zivilisiert einzunehmen wie ein Ritter am Hofe eines Königs. Hoffentlich würde sie auch ebenso gut das Kämpfen erlernen, dachte Hanryo sich. Nach einer halben Stunde waren die zwei Essensschalen restlos geleert, Chikará hatte alles sehr gut geschmeckt, trotz des sonderbaren Anblicks, sie hätte gerne noch eine weitere Portion gehabt, aber sie hatte Angst, sich ihren großzügigen Begleiter gegenüber als Vielfrass zu entpuppen. Vielleicht würde sie dann in seiner Gunst sinken oder vielleicht sogar wieder alleine gelassen? Aber ein braves Mädchen wollte sie nicht auf Dauer spielen, zudem gab es ja auch noch unendlich viele unbeantwortete Fragen zwischen ihnen. Nachdem Hanryo bezahlt hatte, gingen beide hinaus. In der Nähe des Restaurants befand sich eine steinerne Sitzbank, nahe der Stadtmauer, sie setzten sich dorthin, ihre Blicke wanderten nach oben zum Horizont. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Sonne brannte heiß hinunter auf die menschenvolle Einkaufsstraße. Es gibt von allen Fachhandelsgebieten mindestens eine kleine Verkaufsstelle in Katanamachi, auch Mediziner und Esoterikkünstler boten ihre Dienste an. Als Hanryo sich unbeobachtet fühlte, steckte er seiner Gefährtin ein Lederportemonnaie in die Hosentasche, Chikará bemerkte dies und blickte ihn sofort verwundert an. "Du hast die Wahl. Ich gebe dir fünf Stunden um alles Nötige einzukaufen, was du brauchen wirst auf unserer Reise. Neue Kleidung, ein Schwert, Kosmetik, eventuell auch eine Sehhilfe. Das Geld, das ich dir gegeben habe, reicht vollkommen aus. Tu das, oder flieh vor mir, du hast die Wahl. Ich werde dich nicht verfolgen. Such es dir aus, willst du frei sein oder meine Gefährtin werden? Ich werde hier auf dich, wie gesagt, in fünf Stunden warten, wenn du nicht wiederkommst, so sei es, wenn du kommst, wirst du bei mir bleiben und mich begleiten auf einer weiten und anstrengenden Reise, ich werde auch weiterhin für dich sorgen und dir die Antworten geben, nach denen du dich so sehr sehnst. Falls du den anderen Weg einschlagen solltest, werde ich dir nicht böse sein. Es ist deine freie Entscheidung." Überrascht blieb Chikará einige Minuten lang nachdenkend sitzen, dann stand sie auf und verschwand ohne sich noch einmal umzudrehen in der Menschenmasse auf der Einkaufsstraße. Die fünf Stunden sollten schnell vergehen. Hanryo besuchte in der Zeit einen alten Freund, der ihn neue Landkarten verkaufte, die sehr neu waren und viele unbekannte Winkel der Region zeigten. Nun wartete Hanryo an jener vereinbarten Steinbank auf Chikará. Er blickte abwechselnd auf seine langsamtickende, silberne Armbanduhr und auf die Einkaufsstraße, die immer noch überfüllt von kauffreudigen Menschen war. Trotz kleinerer Bedenken und Zweifel war er fest davon überzeugt, dass Chikará wiederkommen würde zu ihm, sie hatte eine gute Seele, das hatte er schnell erkannt. Zudem, wenn sie nicht zurückkommen sollte, würde sie niemals den Sinn von seinem Handeln und ihre eigene Bestimmung erfahren. Er wusste aber auch sehr wohl, dass er sie nicht lange mit der Wahrheit zappeln lassen dürfte. Wenn sie den Vertrauensbeweis erbringen und wieder hier erscheinen würde, so sollte sie bald alles erfahren. Noch bevor sich Hanryo in Befürchtungen und Misstrauen stürzen konnte, stand Chikará plötzlich direkt vor ihm. Die Fetzenkleidung war umgewandelt wurden in eine schwarze Plastikfaserhose und ein schwarzes Polyesterhemd, überdeckt von einem langen pechschwarzen Ledermantel und einem schwarzen Baumwollhalstuch, abgerundet wurde die dunkle Erscheinung durch schwarze Lederschuhe. Ihre dunkle Gestalt wirke sehr magisch und geheimnisvoll. Die lange blaue Mähne reichte nur noch bis zum Hals, in ihrem schönen Gesicht saß eine Brille mit silbernem Gestell und ovalen Gläsern, sie hatte wohl seinen Ratschlag ernstgenommen. Ein strahlendes Lächeln begrüßte Hanryo. Die Griffe schwerer, bunter Einkaufstaschen lagen in ihren Händen. Die Vertrauensprobe war bestanden. "Das Geld ist weg", begann Chikará ein Gespräch. "Ich hoffe, du hast es sinnvoll investiert", sagte er. "Schau mich an", entgegnet sie grinsend. "Ab jetzt kann man dich überallhin mitnehmen, hast du alles Nötige gekauft?" "Natürlich." "Zeig mir später alle Sachen, wir müssen jetzt weiter, zum Bahnhof, vor dem Einbruch der Nacht sollten wir in Cháo sein. Dort habe ich ein kleines Haus. Gib mir ein paar der Taschen zum Tragen, es ist nicht weit bis zum Bahnhof." Der vermeidliche Bahnhof bestand aus einem kleinen Bahnsteig, neben den sich ein kleines graues Haus befand, wo man die Fahrtickets bekam. Es dauerte nicht lange bis eine qualmende, dunkele Dampflokomotive mit Tender und drei Zweite-Klasse-Personenwagons eintraf, ein üblicher Personenzug in dieser Gegend. Im Inneren der grauen Wagen befanden sich braune Ledersitzreihen zu je drei Sitzplätzen, saubere Glasfenster ermöglichten einen Blick nach draußen. Ein Platz wurde allein benötigt, um das gesamte Gepäck zu verstauen, zwei blieben für die eigentlichen beiden Fahrgäste, Chikará wollte gerne am Fenster sitzen. Nur wenige Leute fuhren mit in diesem Wagon, die meisten von ihnen schienen nicht allzu reich zu sein, einfache Soldaten und Landstreicher insbesondere. Ein Pfiff ertönte, dann bewegte sich der Zug langsam und mit ruckartigen Bewegungen vorwärts, raus aus der Kleinstadt, hinein in die Steppenlandschaft. Eine weite grüne Ebene. Leichte Windstöße fegten wie Wellen über die wilden Graspflanzen, weiche Wolkenmuster schwebten am Horizont. "Eine wunderschöne Welt ist das hier", spricht Chikará Hanryo an. "Ja, hierhin sind die Menschen sie noch nicht zerstört." "Wie groß ist eigentlich dein Haus?" "Es hat nur vier kleine Zimmer, aber das reicht vollkommen." "Du sagtest, ich werde kämpfen müssen, gegen wen denn?" "Ich weiß es nicht, ich kann es nur vermuten." "Und wen vermutest du?" "Sehr gute und erfahrene Kämpfer." "Wieso werde ich gegen sie kämpfen müssen?" "Weil sie auf der anderen Seite stehen." "Auf welcher Seite stehen wir?" "Auf der Guten aus meiner Sicht, auf der Bösen aus Sicht unserer Gegner." "Was ist denn deine Sicht?" "Das wirst du noch erfahren." "Wieso bist du immer so rätselhaft?" "Wie versprochen, werde ich dir zuhause alles erzählen, sei nur geduldig", beendete Hanryo das Gespräch. Die Fahrt dauerte ungefähr fünf Stunden. Der Bahnhof von Cháo, der wesentlich größer als der von Katanamachi war, stellte eine wichtige Station im Güterverkehr dar, da in dieser Gegend fast der gesamte Reisanbau des Landes betrieben wurde. Viele Tonnen des preiswerten Nahrungsmittels verließen jeden Tag den Gleisweg. Chikará hatte nicht viel Zeit, um sich die großen Speicherhallen, die schweren Lokomotiven und anderen Stahlgiganten anzuschauen, Hanryo wollte mit ihr schnellstmöglich zu seinem Haus. Der kurze Weg durch ein paar Gassen und durch einen kleinen Tunnel war schnell zurückgelegt. Das Haus war eine kleine Bambushütte, von außen sah sie recht unstabil aus, aber hinter der Holztüre verbürgte sich ein schöner, kleiner Raum, wo man zuallererst die großen Einkaufstaschen abgestellte. Das Zimmer war eingerichtet mit einem viereckigen Metalltisch, einem hellen Ledersofa, einer schwarzen Kochstelle, einigen Zedernholzschränken, grauem Teppichboden, Bambuswänden mit je einem Glasfenster an jeder Seite und mit vielen Bildern von Maschinen, die an den Wänden hingen. Drei Holztüren führten hinaus aus diesem Raum, eine ins Badezimmer und zwei in kleine Schlafräume. Das Badezimmer bestand aus einer Dusche, einer Toilette und einem Waschbecken, hellblaue Kacheln überdeckten den Boden und die Wände. Die beiden Schlafräume umfassten jeweils nur ein Bett mit einer Federmatratze und braunen Wolldecken, neben den eine einfache Holzkommode stand. Nach einem kleinen, aber aufmerksamen Rundgang hatte sich Chikará an die neue Unterkunft gewöhnt. "Nettes Eigenheim, es sieht nur ein wenig unrobust aus, Bambus", kommentierte sie das Haus. "Außen eine Schicht, innen eine und dazwischen eine Stahlplatte, siehst du die glänzenden Stellen zwischen den Bambusstücken?" "Ja, ich erkenne sie." "Dieses Haus hält viel aus, glaub es mir." "Zwei Schlafzimmer, für mich ein eigenes, oder?" "Natürlich, eine Nacht neben dir hat mir gereicht", lästerte Hanryo. "Zeig mir doch mal, worin mein Geld von dir investiert wurde." "Gut, fangen wir an", Chikará begann die großen Einkaufstaschen auszupacken und nebenbei alles haargenau zu erklären. "So, neben den schwarzen Stiefeln, die ich gerade trage, habe ich noch zwei paar Turnschuhe gekauft, zum Kämpfen schienen die mir geeigneter. Sieben Paar schwarze Strümpfe, Strumpfhosen liegen mir nicht so. Dann, eine blaue Jeans, vielleicht etwas zu eng, aber das ist verkraftbar, dieselbe Hose, die ich gerade trage, noch mal in Weiß. Du merkst, Röcke sind absolut nichts für mich, die sind mir zu feminin und offenherzig. Ein weißes und ein schwarzes Hemd und einen schwarzen Baumwollpullover. Zwei schwarze, ein weißes und ein blaues Halstuch. Zu dem schwarzen Mantel noch eine kürzere weiße Jacke. Ich habe auch auf dich gehört und war bei einem Augenarzt, ich bin leicht kurzsichtig, aber die Brille soll hauptsächlich gewährleisten, das mir beim Kämpfen kein Blut in die Augen spritzen kann. Die neue Frisur hast du wohl schon bemerkt, etwas kürzer schien mir kämpferischer und wilder. Den Rest, so allerlei Kosmetik und Alltägliches, muss dir nicht unbedingt zeigen, oder?" "Spar dir die Kleinigkeiten." "Aber das allerbeste muss ich dir noch zeigen." Sie packte ein Schwert aus einer Lederhülle aus, ein Katana, anschließend hielt sie die Waffe stolz hoch wie einen Pokal. "Meine großartige Waffe!" Es war ein zirka einmeterlanges, einschneidiges Schwert mit einen Zweihandgriff, der umwickelt war mit einem schwarzen Band, die glänzende Stahlklinge war leicht gebogen. Hanryo war überrascht, solch eine professionelle Waffe fortgeschrittener Kämpfer hatte er bei ihr nicht erwartet, obwohl er auch selbst ein ähnliches Schwert besaß. "Gute Wahl, es ist wirklich eine hervorragende Waffe, aber weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?" "Im Laden war mir so, als hätte so eine Waffe schon einmal gehabt und mit ihr gekämpft, ich kann mich nicht wirklich erinnern, ich weiß es nur irgendwie." "Wir werden morgen sehen, was du damit kannst." "Bist du denn insgesamt mit meinen Einkäufen zufrieden?" "Ja, du hast ein gutes Händchen für kämpferische Ausrüstung." "Wieso leistest du dir bei soviel Geld kein größeres Haus?" "Wieso sollte ich, ich bin von meiner Militärzeit nichts Besseres gewöhnt." "Aber heute bist du doch nicht mehr bei der Armee." "Nein, ich bin noch Soldat." "Du sagtest aber zuletzt, du wärest keiner mehr?" "Ich arbeite nicht mehr für ein Land oder eine Organisation, ich arbeite heute nur noch für meine Überzeugung und meine Heimat." "Und wo ist deine Heimat?" "Auf den anderem Kontinent, hinter dem großen Ozean, dort lebten einst die großen Drachen." "Drachen sind doch nur Legenden!" Hanryo lacht. "Die sind doch alle ausgestorben", erklärte Chikará. "Das meinst nur du, zugegeben, es gab einmal viel mehr von ihnen auf der Welt, aber auch heute gibt es noch viele." "Als nächstes sagst du bestimmt, dass dein Urgroßvater ein Drache gewesen sein soll?" Sie lässt sich auf das Ledersofa fallen und blickt wie erstarrt zur Zimmerdecke. "Ich bin wirklich ein Drache", entgegnete Hanryo nüchtern. Sie schaut ihn daraufhin kritisch und ungläubig an. "Dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast, hast du mir ja schon bewiesen, aber jetzt übertreibst du völlig!" "Nein, es ist wahr." "Beweis es mir!" "Das kann ich nicht." "Na also! Gib zu, das du lügst!" "Gut, ich beweise es dir." Hanryo schloss die Augen. Blitzartig wuchsen aus seinem Rücken große, rötliche Schwingen, die seine Kleidung beim Austreten zerfetzten und nach wenigen Sekunden wieder in seinem Körper zurück verschwanden. Chikarás Blick blieb wie gefesselt am Körper ihres Begleiters haften, sie schwieg, wurde blass wie eine Leiche und schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich denke, das reicht zur Überzeugung", sprach Hanryo lässig. "Wie, wie viele von euch Drachen gibt es?", fragte sie ihn stotternd. "Weniger als hundert, das mit dem Ausstreben stimmt irgendwo schon." "Aber in Geschichten sind Drachen doch immer Reptilienviecher?" "Viele können heutzutage diese Form nicht mehr annehmen, unter ihnen bin auch ich selbst, aber die Schwingen sind mir immerhin geblieben." "Kannst du auch Feuerspeien?" "Nein, leider nicht." "Ein Drache bist du also, unfassbar", urteilte sie immer noch verblüfft. "Nun, ich habe mir das nicht ausgesucht." "Man sagt doch immer, Drachen seien böse Monster oder so, du bist aber gar nicht so." "Nur Vorurteile, aber gibt es auch genug Böse von uns." "Drachen, man entdeckt immer wieder neue Wunder auf dieser bizarren Welt." "Drachen sind keine Wunder, sie sind eine Rasse wie die Menschen oder die Jishus." "Verrückt, aber warum interessierst du dich denn jetzt für mich und hilfst mir?" "Du bist ebenfalls ein Drache." Chikará schloss die Augen und ließ ihre Arme am Sofarand hinunterfallen. "Das bin nicht, das wüsste ich, oder?" "Warum versteckst du eigentlich immer deinen Hals?" Sie öffnete wieder die Augen und schaute Hanryo wütend an. "Das hat nichts damit zu tun!" "Doch, warum immer Rolltragenkleidung oder Halstücher?" "Ich mag es halt so", versuchte sie sich herauszureden. "Irgendwann, es ist schon sehr, sehr lange her, da hat jemand versucht dich zu töten. Du hast es zwar überlebt, aber eine große, schmerzende Narbe blieb dir bis heute." Chikará stand wieder auf, stellte sich vor Hanryo hin und nahm wie in Gedanken versunken ihr Halstuch ab, eine sehr große, halbverheilte Wunde kam zum Vorschein. "Es war ein guter, gerader Schlag, aber du konntest in letzter Sekunde gerettet werden." Sie zog sich wieder das Halstuch an und setzte sich auf das Sofa. "Ich habe diese Narbe, seitdem ich denken kann, ich weiß nicht, wo sie herkommt, und warum sie nicht verheilt." "Sie wird leider niemals verheilen." "Wer war das?", schrie sie. "Warum wollte er mich töten?" "Du warst für sein Volk eine große Bedrohung." "Ich werde dir die ganze Geschichte später erzählen, sie ist sehr lang. Es ist sehr lange her, du hattest einen Gedächtnisverlust, deshalb kannst du dich an nichts mehr erinnern." "Einen Gedächtnisverlust?" "Ja, wieso und weshalb weiß ich leider nicht, ich kenne nicht deine ganze Geschichte." "Welcher Drachenart gehöre ich denn an?" "Du bist ein Kaiserdrache." Sie nickte. "Das hört sich nicht schlecht an." "Du bist die mächtigste und stärkste Drachenart überhaupt." "Wirklich?", fragte sie skeptisch. "Ja, wirklich." "Warum habe ich denn nie etwas davon gemerkt? Hör endlich auf mit den Märchen!" Hanryo nahm auf einmal ein Messer und wollte es in Chikarás Kopf rammen, aber noch bevor sie zusammenzucken konnte, zersprang die Klinge in tausend Einzelteile, Chikará hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen, zitternd tastete sie zuerst ihren heilgeblieben Kopf ab, dann starrte sie nur noch Hanryo an. "Du bist unverwundbar und unsterblich." Sie stand vom Sofa auf und ging zu einem der Fenster, draußen war es inzwischen stockdunkel. "Wieso fiel mir das niemals selbst auf?" "Vielleicht waren die Drogen es schuld, außerdem rechnet man als Mensch ja auch nicht mit so etwas, und man versucht alles irgendwie logisch zu erklären." "Wenn ich unverwundbar bin, wie konnte ich dann diese Narbe am Hals bekommen?" "Es gibt wahrscheinlich nur eine einzige Waffe auf der gesamten Welt, die dir Schaden zufügen kann, ein verfluchtes Schwert aus ferner Vergangenheit, aber dieses Werkzeug des Bösen ist heute sehr gut versteckt, mach dir keine Sorgen." Sie setzte sich wieder auf das Sofa, ein großer Schock saß tief in ihrer Seele. "Und wie wird es jetzt weitergehen?" "Morgen trainieren wir in einem nahliegenden Waldgebiet, wir werden langsam anfangen, keine Sorge." "Verrat mir noch eine letzte Sache, warum hilfst du mir?" "Es ist meine Bestimmung, ich wollte dir helfen." Chikará zögert einige Momente. "Ich bin sehr müde, ich muss über das alles unbedingt eine Nacht lang schlafen." "Es sei dir gegönnt, nimm das linke der beiden Schlafzimmer, die Türe kannst du ruhig abschließen, deine Sachen werden ich in den Schränken hier verstauen. Steh morgenfrüh auf, wenn du ausgeschlafen bist, wir haben alle Zeit der Welt. Gute Nacht." "Danke, gute Nacht." Sie erhob sich von dem Sofa und ging in ihr Zimmer, dabei wirkte sie immer noch etwas geistesabwesend und rastlos. Hanryo war sehr froh, dass sie nun die Wahrheit kannte, ihr Gespräch war besser verlaufen, als er es erwartet hatte. Jetzt hatte er ihre Solidarität endgültig gewonnen, jetzt würde sie für ihn die treuste Gefährtin überhaupt werden, so hoffte er. Endlich hatte er sein erstes großes Ziel erreicht. Glücklich packte er ihre Kleidung und Ausrüstung in die Holzschränke, bevor auch er Schlafen ging. Chikará hatte soviel Unvorsehbares und Unverstellbares, aber dennoch Wahres erfahren, dass ihre Gedanken keine Ruhe finden konnten. Als sie im Bett lag, versuchte sie die Geschehnisse zu verarbeiten. * Kaiserdrache. Was war das genau? Drachen, sie gehörten doch eigentlich nur in ein Märchenbuch? Welche Vergangenheit? Eine ausgelöschte Vergangenheit, ohne auch nur die geringste Erinnerung. Welche Feinde? Gedächtnisverlust? Wo war die Vergangenheit? Wo war nur? Wo war sie? * Hanryo klopfte an der Türe des Schlafzimmers. "Chikará, bist du schon wach?" "Ehrlich gesagt, nein", antwortete sie gähnend. "Tut mir leid, ich wollte dich ja ausschlafen lassen, aber wir müssen doch langsam einmal aufbrechen, es ist bereits Mittag." "Schon gut, ich stehe auf." Chikará zog sich an, wusch sich schnell und nahm ein kleines, verspätetes Frühstück zu sich, dann begaben sich Hanryo und sie zum Bahnhof, das einzige Gebäck der beiden waren ihre Kampfschwerter. Mit einem großen roten Güterzug fuhren sie gen Norden, wo sich ein Laubwald befand. Ein unbeladener Flachwagon diente ihnen als Transportmittel, Hanryo kannte viele Arbeiter der Eisenbahngesellschaft, sie ignorierten immer seine Schwarzfahrten. Ohne Grund und Nutzen war seine Anwesenheit jedoch nicht, sofern Räuber oder andere aggressive Kreaturen auftauchten, kämpfte der ausgebildete Elitekrieger stets an der Front neben dem unerfahrenen Bahnpersonal, aber solche Situationen waren eher die Ausnahme. Chikará legte sich auf den Rücken und betrachtete den blauen Himmel während der ruhigen Fahrt vorbei an Reisfeldern. Das tiefe, kühle Himmelblau, ein endloser Ozean über der Welt mit schneeweißen Wolken als wandernde Wellen. Die ewige, blaue Leere, in deren Obhut große Vögelschwärme reisten, sie flogen höher als alles von Menschenhand erbautes Wunderwerk, tauchten tiefer im endlosen blauen Meer als alles Menschliche. Wunderschönes blaues Idyll der Unvergänglichkeit. Der Zug hielt kurz an, Hanryo und Chikará stiegen vom Wagon und gingen ins nahliegende Waldstück. Der uralte Boden war grün von Einzellern, Moos, Flechten, kleinen Kräutersträuchern und anderem Pflanzen. Große Eichen ragten zum Himmel, durch ihr dichtes Blätterdach fielen nur wenige Sonnenstrahlen. Vögelgezwitscher und leichtes Windrauschen waren zwischen den mächtigen Baumstämmen zu hören. Kleine Insektenschwärme tanzten durch die Lichtungen, der Weg, sofern er erkennbar war unter dem Grün, verlieft vorbei an vielen verfallenen Holzhütten. Die Menschen hatten sich vor langer Zeit von hier zurückgezogen, in die städtische Lebenswelt waren sie voller Enthusiasmus gegangen, sie hatten ihre alten, hölzernen Eigenheime hinterlassen. Trotz der Herrschaft der grünen Natur, schien der Forst leblos und verlassen zu sein. Die wenigen Tiere, die einem begegneten, waren lediglich Singvögel oder kleine Nager, von richtigen Waldbewohnern wie Rot- oder Schwarzwild fehlte jede Spur, ebenso wenig fand man hier Jäger oder Wanderer, geschweige denn Ureinwohner oder exotische Lebensformen. Für Hanryo war dies ein optimaler Trainingsort. Chikará marschierte mit weitgeöffneten Augen durch das Dickicht, sie fand hier alles magisch, diese unberührte Natur, diese ursprüngliche Welt, voller Harmonie, Idylle und Anmut. Ein Paradies ohne Betongrau oder Neonfarben, aber auch ohne wahre Lebewesen, ein Zauberwald wie aus einem Märchen, als wäre es ein schöner Traum, der nicht enden wollte. Chikará pflückte eine kleine Heckenrose, die aus einem großen Dornenstrauch hervorragte, sie betrachtete sie versunken in ihrem magischen Bann, starkes, leidenschaftliches Blütenrot, eine rote Flamme im ewigen Waldgrün. Niemals war ihr die vollkommene Schönheit der Natur so nah und greifbar, niemals so offensichtlich und zugleich versteckt im endlosen Pflanzenmeer. "Was ist das hier für ein seltsamer Ort, Hanryo?", fragte Chikará. "Der Eichenwald." "Er ist so märchenhaftschön." "Ja, das ist er." Sie dreht sich zu Hanryo. "Ich glaube, ich weiß, warum du mich zurück auf den anderen Kontinent bringen sollst, damit ich über die wenigen noch Lebenden unserer Art herrsche, stimmt es?" "Nein." Ein längeres Schweigen folgte. Chikará setzte sich auf einem dünnbewachsenen Baumüberrest. Sie dachte nach. Hanryo merkte, dass sie unter dem ständigen Halbwissen sehr litt, dennoch sollte sie noch nicht alles erfahren, weswegen er versuchte, sie abzulenken. "Chikará, ich muss dich ein paar Tage lang im Schwertkampf schulen, danach werden wir andere Drachen treffen." "Welche?", sie schaute ihn erwartungsvoll an. "Ich kann dir nichts versprechen, einige habe ich seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen, aber eine Sache solltest du wissen, wir Drachen sind uns gegenüber niemals feindselig, dies ist vielleicht der größte Unterschied zwischen uns und den Menschen." "Ich dachte bis vor kurzem, es gäbe auf der Welt nur Menschen. Nun, kannst mir nicht auch noch andere Arten zeigen, zum Beispiel die Jishu, von denen du einmal geredet hast?" "Kein Problem, ich kenne einige, aber sie sind sehr kompliziert, sie besitzen sehr seltsame Weltanschauungen und Eigenarten. Lass uns ein anderes Mal ausführlich darüber reden, beginnen wir jetzt mit dem Training." "Gut, unterhalten können wir uns auch noch später", sagt Chikará zustimmend. Sie packten die beiden Schwerter aus, und Hanryo fing an, seine Gefährtin in die Kunst des östlichen Schwertkampfes einzuweihen. Er selbst hatte bereits vielen Soldaten die alte, aber immer noch sehr effizienten und leichten Schlagvarianten, Kombinationen und Abwehrtechniken der Drachenkrieger und Ostritter gelehrt. Obwohl er niemals an Turnieren oder Wettkämpfen teilgenommen hatte, sondern sein Wissen lediglich in unübersichtlichen Schlachten oder versteckten Duellen angewandt hatte, hatten ihn viele in der Vergangenheit für einen der besten Schwertkämpfer gehalten. Das Training verlief sehr gut. Chikará lernte schnell und aufmerksam, binnen kurzer Zeit beherrschte sie auch anspruchsvolle Attacke und komplizierte Paraden. Weshalb sie alles derart leicht erlernen konnte, wusste sie selbst nicht und war deswegen einwenig verwundert. Hanryo vermutete, dass sie vielleicht schon früher einmal im Schwertkampf ausgebildet wurde. Auch wenn ein Großteil ihres Lebens ausgelöscht wurden war, einige Dinge waren vielleicht im Gedankenchaos ihres Gehirns erhalten geblieben. Zu Beginn des Sonnenuntergangs traten die beiden die Rückreise an. Derselbe Zug wie am Morgen brachte sie zurück nach Chaó, sie verweilten auf demselben Flachwagon, jedoch schlief Chikará nun, die vielen Stunden des Kampftrainings hatten sie sehr müde gemacht, sobald sie auf den Boden des Wagens lag, fielen ihre Augen zu. Hanryo betrachtete ihren schlummernden Körper mit einem leichten Lächeln. Wenn sie schlief, stellte sie wenigstens keine Fragen, sagte er sich selbst. Sie hatte sich ihre Ruhe verdient, schließlich hatte seid seit langem nicht mehr trainiert. Zum ersten Mal, seitdem er sie in den Slums getroffen hatte, bekam Hanryo Hoffnung, dass vielleicht doch alles funktionieren könnte und er sie heil nach Drachenland bringen könnte, so wie er es sich selbst versprochen hatte. Doch das Ziel war noch sehr weit weg, der lange Weg war gefährlich und es würde bestimmt noch Unmengen von unvorsehbaren Schwierigkeiten auf sie zukommen. Mit dem Anhalten des Zuges im Bahnhof erwachte Chikará. Hanryo und sie verließen das Bahnhofsgelände und gingen durch den Tunnel zurück nach Hause. Dort angekommen, setzten sich beide zunächst erschöpft auf das Ledersofa. Beide gähnten fast gleichzeitig, Chikará fielen erneut die Augen zu, und Hanryo stützte sich mit einem Arm dem Kopf ab. Beide waren am Ende ihrer Kräfte. "Willst du heute Abend noch duschen?", fragte Hanryo, woraufhin Chikará wieder die Augen öffnete. "Lieber morgenfrüh, jetzt würde ich bestimmt unter der Dusche einschlafen", antwortete sie und gähnte noch einmal. "Hast du Hunger oder Durst?" "Beides." "Reis und Apfelsaft?" "Ja, wenn es nicht zulange dauert, gerne." Hanryo packte die Kampfschwerter wieder weg in einen Schrank, aus einem anderen holte er eine Glasflasche mit Apfelsaft, zwei Trinkgläser, zwei Essschalen aus weißem Porzellan, zwei paar Essstäbchen, einen Metalltopf und etwas Reis. Während Chikará den Saft trank, kochte Hanryo das Essen. "Etwas sauer, aber gut", kommentierte Chikará ihr Getränk. "Saure Äpfel sind natürlicher, die Süßen sind oft chemisch behandelt oder Schlimmeres. Ich hoffe, dir reicht einfacher Reis ohne Gemüse, Fleisch oder Soße, für mehr bin ich jetzt auch zu müde." "Es ist schon gut, normalerweise sind doch Frauen für das Kochen zuständig?" "Nur bei Menschen, bei Drachen gibt es solche Regeln nicht, fast alle Drachenfrauen, die ich kannte, arbeiteten auch als Soldaten oder ähnliches." "Wirklich? Ich selbst kann mich noch nicht wirklich mit den Gedanken anfreunden, ein Drache zu sein." "Das kommt schon noch, du bist ja immerhin erst seit einem Tag ein Drache." Chikará lächelte und schwieg einige Momente. Nachdem Essen konnte sie endlich in ihr geliebtes Bett gehen. An diesem Tag war sie viel zu müde, um sich den Kopf über die Erfahrungen des Tages zu zerbrechen, sie schlief sofort ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)