Meereskinder von Alaiya ================================================================================ Kapitel 1: Ferne Heimat ----------------------- Die Nacht war Sternenklar und der Mond, der über dem Horizont stand, schien so nah. Doch Rhona wusste, dass er weit fort war. Zu weit. Unerreichbar. Egal, was die Mythen sagten. Die Luft war hier so klar. Das Wasser, das ihren Körper umspülte, warm. Es war anders, als das Wasser der Lochs, anders, als das Wasser der Nordsee. Es war das Meer und doch so anders. Seltsam, waren doch alle Meere der Welt miteinander verbunden. Wie konnte das Wasser hier so warm und klar, das Wasser in ihrer Heimat so dreckig und kalt sein? Sie trieb rücklings auf dem Wasser, ließ sich von den Wellen tragen, sah zum Himmel hinauf. Ihr weißes Kleid trieb im Wasser, zog sie aber nicht unter. Auch ohne ihr Fell war sie eine gute Schwimmerin. Auch ohne ihr Fell, hatte sie eine besondere Bindung zum Wasser. Doch sie wusste nicht, wo es war, wusste nicht, wer es gestohlen hatte. Ihr Fell. Ihr schönes weißes, weiches Fell. Ein Plätschern im Wasser ließ sie aufschrecken. Sie drehte sich auf dem Bauch, um zu schwimmen, richtete sich auf, um sich umzusehen. Dann sah sie das weiche, bleiche Gesicht, umrahmt von den schwarzen Haaren. Entstellt von den Tattoos unter ihren Augen. Ja, Rhona wusste, dass diese Teil der Kultur waren, doch sie jagten ihr noch immer Angst ein. Das Wesen, das wie Rhona eine menschliche Gestalt trug, kam aus seinem Versteck zwischen zwei im Wasser liegenden Felsen hervor. Es war nackt, hatte den Körper einer hübschen Frau. Der Rücken war mit Tattoos bedeckt, so auch die Arme, die Beine. Rhona kannte den Namen des Wesens, das zumindest zum Teil menschlich war, wie sie. „Kaimana“, flüsterte sie. Die bläulichen Augen der Frau sahen sie an und sie schwamm an Rhona heran. Die felsige Lagune, die sich zum Norden hin dem Pazifik öffnete, bot ihnen Schutz. Schutz vor Menschen, Schutz vor Blicken. Die Frau, Kaimana, streckte ihre Hände nach ihr aus, umfasste die ihren und zog sie an sich heran. Sie roch an Rhonas weißem Haar, das auf der Oberfläche des Sees schwamm. Kaimana konnte nicht sprechen, so viel wusste Rhona mittlerweile. Sie konnte nicht sprechen, da sie keine Zunge hatte. Jemand hatte sie ihr rausgeschnitten. Weil man sie fürchtete. Rhona wusste vieles nicht über diese Kultur. Ach, sie wusste nicht einmal, warum sie hier war. Sie hatte einen Ort gesucht, an den sie gehörte, an dem sie ohne ihr Fell zuhause sein konnte. Denn die anderen Selkies, die am Grund der Nordsee lebten, konnten nicht länger ihre Familie sein. Denn auch wenn sie länger tauchen konnte, als ein Mensch, auch wenn sie besser schwimmen konnte und den Druck der Tiefe besser widerstand als ein normaler Mensch, so war sie ohne ihr Fell doch kein richtiges Selkie. Sie konnte nicht am Grund des Ozeans leben. Und wie konnte sie ihr Fell wiederfinden? Sie hatte so viele Orte besucht und war hier. Hawaii. Am Rand der Insel Kauai. Es war anders, als ihre Heimat in Schottland. So fremd. So weit fort. So anders. Sie konnte nicht hier bleiben und doch hatte sie hier das erste Wesen gefunden, das ihr so ähnlich schien. Natürlich verstand sie vieles nicht, doch sie wusste, dass Kaimana das Kind einer Mu und eines Mannes von der Insel war. Die Mu waren nicht einmal tief in der Kultur verankert gewesen und doch hatte man sie gefürchtet. Deswegen wohl auch die Tattoos, soviel glaubte Kaimana zu verstehen. Sicher, viele Leute hier trugen ihre Tattoos mit Stolz, doch nur wenige hatten einen Körper, der so mit ihnen bedeckt war, wie der Kaimanas. Sie glaubte, dass sie dazu hatten dienen sollen, ihre übernatürliche Natur zu unterdrücken. Dergleichen hatte sie auch in Asien gesehen. Ihre Hände griffen die Kaimanas. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ Kaimana entfernte sich genug, als dass sie Rhona ansehen konnte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Augen glänzten intelligent. Sie machte einen kurzen Laut. Dann schwamm sie etwas zurück. Rhona wusste, was sie sagen wollte: „Komm.“ Und Rhona folgte ihr, als die andere Frau - halb Mensch, halb Mu - sie aufs Meer hinaus führte. Sie hatten es schon öfter gemacht. Ihre Hände griffen einander, verschränkten sich, als Kaimana untertauchte und Rhone folgte. Das Meer war hier flach, sieben, acht Meter tief. Und so klar, dass sie selbst im Licht des Mondes den Boden sehen konnte. Einige Fische schwammen hier, beachteten sie nicht. In der ferne schwammen zwei Haie träge in der Strömung. Sie waren keine Gefahr. Es war eine andere Welt. Eine fremde Welt. Eine Welt so anders, als ihre Heimat. Wie gern wollte sie dahin zurück. Die Hand der Mu griff die ihre fester. Kaimana zog sie mit sich, zu einem Felsen, der ein Stück vom Ufer der Insel entfernt aus dem Wasser ragte. Sie tauchten auf, lächelten, tauchten unter, tauchten bis zum Fuße des Felsen, wo ein schwarzes Loch sich als Eingang öffnete. Hier lebte Kaimana. Sie tauchten aus dem Wasser auf und fanden sich in der Höhle wieder, die Kaimana ihr Zuhause nannte. Die Luft roch salzig, aber nicht abgestanden. Die Höhle war belüftet, da weiter oben sich einige Löcher gen Himmel öffneten. Dunkelheit herrschte, doch ein Plätschern verriet, dass Kaimana sich aus dem Wasser gezogen hatte. Dann ein Zischen, gefolgt von einem flackernden Licht. Dann erhellte das Licht einer Kerze tänzelnd die Höhle. Kaimana sah sie erwartungsvoll an. Rhona hievte sich selbst aus dem Wasser. Sie ging zu Rhone. Ihre Füße hinterließen Nasse spuren auf dem Boden. Irgendwann einmal hatte Kaimana hier Dinge hingebracht: Einen kleinen Tisch, einige Decken, Schmuck und einige Bilder, die - gewellt und leicht verblichen - in Rahmen auf dem Tisch standen. Sie zeigten einen Mann und einen Jungen. Ihr Vater und ihr Bruder. Rhona verstand nicht, warum sie die Bilder aufbewahrte. Sie legte eine Hand auf Kaimanas nackte, tattoowierte Schulter, woraufhin sich die junge Frau zu ihr umdrehte, sie küsste. Rhona wusste nicht mehr, wann es angefangen hatte. Sie gab sich dem Kuss hin und spürte, wie sich Kaimanas Körper an sie schmiegte. Sie brauchten beide Nähe. Sie brauchten beide Liebe. Sie strich über Kaimanas Rücken, hielt sie für einen Moment. Es war so anders, als die Zukunft, die ihr als junger Selkie versprochen worden war. Doch vielleicht war es eine Zukunft. Die Wellen rauschten gegen den Felsen und erzeugten eine beruhigende Klangkulisse, als die beiden jungen Frauen aneinander geschmiegt gegen die Wand der Höhle lehnten. Sie hatten einige der Decken fest um sich geschlungen. „Du weißt, dass ich irgendwann gehen werden“, meinte Rhona voller Reue. Kaimana sah sie an, nickte, schüttelte dann aber den Kopf und lächelte traurig. Sie legte eine Hand auf ihre Wange. Sah sie an. Sie machte einen leisen Laut. Rhona verstand: „Warum?“ Sie konnte die Frage doch selbst nicht beantworten. Eigentlich war das eine Lüge, die sie sich selbst erzählte. Die Wahrheit war viel einfacher: „Vielleicht finde ich irgendwann mein Fell.“ Kaimana zog sie an sich und küsste ihre Stirn. Dann sah sie sie wieder an, hielt ihr Gesicht nun in beiden Händen. Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht ewig hier bleiben“, antwortete Rhona. Kaimana schüttelte wieder den Kopf. Dann zeigte sie auf sich, sah sie an. Rhona seufzte. „Du könntest mit mir kommen.“ Die großen, blauen Augen Kaimanas sahen sie an. Wieder ein Kopfschütteln, dann griff sie Rhonas Hand und führte es zu ihrer Brust, in der ihr Herz langsam schlug. Noch einmal schüttelte sie den Kopf. Rhona verstand und doch … Sie beugte sich vor, küsste Kaimana ihrerseits. „Ich will dich nicht zurücklassen.“ Und Kaimanas Arme umschlungen sie und zogen sie wieder an ihren Körper heran. Sie machte einen leisen Laut, dessen Bedeutung Rhona nur zu gut verstand: „Dann bleib.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)