Noise Break von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 16: Warum bist du zu mir gekommen? ------------------------------------------ [LEFT]Jenseits der Tür sah sie zuerst nur Dunkelheit. Nerida ging in die Knie, um einen besseren Blick ins Innere zu werfen. Bei genauerer Betrachtung entdeckte sie verschiedene Schuhe und Jacken, die an Kleiderbügeln hingen. Es war das Innere eines Schrankes.[/LEFT] [LEFT]Neridas Herz beruhigte sich ein wenig bei dieser Normalität. Eine Verbindung in eine andere Welt hätte sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Eine Höhle vielleicht oder zumindest ein dunkler Keller, aber nicht einen Schrank.[/LEFT] [LEFT]Sie lauschte. Niemand schien gerade da zu sein, also könnte sie durch die Tür gehen, um hoffentlich mehr herauszufinden. Solange Sabia nicht da war, gab es auch keine Möglichkeit, dass sie Nerida wieder beeinflussen könnte. Doch wenn sie erwischt wurde, wären die Konsequenzen vermutlich schlimmer als nur eine Standpauke.[/LEFT] [LEFT]»Was würde Darien tun?«, murmelte Nerida, obwohl die Antwort absolut klar war: »Er würde sagen, ich darf mich einfach nicht erwischen lassen.«[/LEFT] [LEFT]In einem solchen Moment wurde ihr wieder bewusst, wie unterschiedlich sie waren. Sein Optimismus und sein Aktionismus blieb ihr normalerweise nur zu bewundern – aber ausnahmsweise wollte sie es ihm nachmachen.[/LEFT] [LEFT]Ohne darüber nachzudenken kroch sie durch die niedrige Tür in den Schrank hinein. Sabias Geruch hüllte sie sofort ein, sie musste sich also in deren Zimmer befinden. Neridas Herz schlug wieder schneller bei der Vorstellung, dass sie nicht nur der Wahrheit näher kam, sondern dass sie auch endlich mehr über die Person erfuhr, die sie eine Freundin genannt hatte. Zu schade, dass es nun zu einer bittersüßen Erfahrung werden würde.[/LEFT] [LEFT]Nerida hielt inne, um ein weiteres Mal zu lauschen. Es war immer noch still.[/LEFT] [LEFT]Sie drückte eine der Schranktüren auf, zum Glück waren diese nicht abgeschlossen.[/LEFT] [LEFT]Als sie das Zimmer endlich betrat, konnte sie sich wieder aufrecht hinstellen. Ihre Augen huschten sofort in alle Richtungen, begierig, alles aufzusaugen und zu verarbeiten.[/LEFT] [LEFT]Der Raum war groß genug für ein Bett, einen großen Schreibtisch, ein Sofa daneben und den Schrank, alles war aufgeräumt und sauber. Es sah vollkommen normal aus, nichts wies darauf hin, dass es sich um eine andere Welt handelte. Das hatte sie aber auch nicht wirklich erwartet, schließlich war Sabia eindeutig menschlich, und sie fand sich in ihrer Welt gut zurecht, sie mussten sich also ähnlich genug sein.[/LEFT] [LEFT]Auf dem Tisch lag ein geschlossener Laptop, den sie nicht anfassen wollte, genauso wie die Schubladen; sie fühlte eine irrationale Furcht, dass ihre Fingerabdrücke sie verraten könnten. Ansonsten fand sie nichts, was hilfreich wäre. Keine Papiere, die frei herumlagen, keine Tagebücher, die praktischerweise nur darauf warteten, Hintergründe zu enthüllen.[/LEFT] [LEFT]Hinter dem Schreibtisch hingen Poster an der Wand, die Werbung für Filme machten, von denen Nerida noch nie gehört hatte, auch die Namen der Schauspieler sagten ihr nichts. Sabia hatte ihr gegenüber nie etwas von Filmen erwähnt.[/LEFT] [LEFT]Sie trat ans Fenster. Offenbar befand sie sich in einem normalen Haus, im ersten Stock. Draußen fuhren vereinzelte Autos auf einer Straße in der Nähe, im Nachbargarten rechte ein Mann gerade die Blätter auf seinem Rasen zu einem Haufen.[/LEFT] [LEFT]Weiter weg konnte sie Hochhäuser erkennen, die sie auch aus ihrer Heimatstadt kannte. Kein Wunder, dass Sabia sich so gut bei ihr zurechtgefunden hatte.[/LEFT] [LEFT]Was war der Unterschied zu ihrer Welt? Warum war Sabia zu ihr gekommen?[/LEFT] [LEFT]Immer noch ohne etwas anzufassen ging Nerida in Richtung der Tür. Kurz davor hielt sie inne, da ihr Blick auf die Wand daneben fiel. Dort hing ein einziges eingerahmtes Foto. Es zeigte Sabia, mit offenen Haaren, vermutlich als sie noch ein wenig jünger gewesen war. Neben ihr stand ein ernst aussehender Mann. Seine Haare waren braun, er trug formelle Kleidung und eine Brille. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen: das rechte war grün, das linke golden.[/LEFT] [LEFT]»Iris-Heterochromie«, murmelte sie.[/LEFT] [LEFT]Davon hatte sie bereits gelesen, aber normalerweise sah sie etwas Derartiges nur in Filmen.[/LEFT] [LEFT]Viel wichtiger war aber, dass sie glaubte, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Es war nur eine ferne, kaum zu fassende Erinnerung, tief in ihrem Inneren, die sie nicht einzuordnen wusste. Vielleicht irrte sie sich auch, weil der Tag ihr bislang so viele Erkenntnisse gebracht hatte und sie damit ein wenig überfordert war.[/LEFT] [LEFT]War dieser Mann Sabias Vater?[/LEFT] [LEFT]Nerida wandte sich von dem Bild ab und trat näher an die Tür. Sie legte ihr Ohr an das Holz. Aus dem Rest des Hauses war nichts zu hören. Das gab ihr den Mut, auf den Flur hinauszutreten.[/LEFT] [LEFT]Ein heller Teppich bedeckte den Boden des engen Ganges, auf den nur wenig Licht fiel. Weitere Fotos von Sabia hingen an den Wänden, auf diesen war sie aber meist allein zu sehen. Eine kleine Sabia bei ihrer Einschulung, mit ihren Mitschülern auf einer Feier, mit verschiedenen Personen auf einer Theaterbühne. Es war, als gäbe es in diesem Haus nur Sabia. Bislang hatte Nerida keinerlei Bilder von ihrer Mutter gefunden oder ein weiteres von ihrem Vater.[/LEFT] [LEFT]Mehrere Türen gingen von diesem Gang ab, eine geschwungene Treppe führte nach unten. Weitere Räume hier oben zu durchsuchen, erhöhte nur die Chance, erwischt zu werden. Vielleicht war in einem der Zimmer sogar jemand, der bislang nur noch nicht auf sie aufmerksam geworden war, das wollte sie nicht herausfordern. Im Erdgeschoss gab es außerdem mehr Fluchtmöglichkeiten, falls sie entdeckt wurde, also wählte sie die Treppe.[/LEFT] [LEFT]Auf jeder einzelnen Stufe hielt sie für eine Sekunde inne, stellte sicher, dass sie kein Geräusch verursachte und auch nichts hören konnte. Draußen lachten Kinder, während sie sich langsam vom Gebäude entfernten.[/LEFT] [LEFT]Neridas Blut rauschte inzwischen in ihren Ohren, was es ihr erschwerte, andere Dinge zu hören. Aber sie glaubte, dass es im Haus immer noch ruhig war.[/LEFT] [LEFT]Schritt für Schritt folgte sie der Wendung der Treppe, bis sie endlich unten stand. Von hier aus konnte sie direkt ins offene Wohnzimmer sehen. Auf der anderen Seite des Sofas stand ein gut gefülltes Bücherregal, direkt daneben hingen kompliziert aussehende Bilder an der Wand, die auf den ersten Blick nur willkürliche Linien zu sein schienen; nach der anfänglichen Verwirrung fiel ihr jedoch auf, dass es sich dabei um Zeichnungen von Neuronen und verschiedenen Zellen handelte.[/LEFT] [LEFT]Ihre Augen wanderten weiter nach rechts, wo sie ein Erkerfenster entdeckte, davor stand ein Schaukelstuhl – und darin saß jemand.[/LEFT] [LEFT]Nerida entfuhr ein überraschter Laut. Sie schlug die Hände über ihren Mund, unfähig den Blick abzuwenden. Ihr Herz schlug sofort schneller, die Aufregung wühlte ihren Magen auf.[/LEFT] [LEFT]Die Person im Schaukelstuhl – eine grauhaarige Frau – bewegte sich nicht, sie starrte einfach nur aus dem Fenster hinaus. Neben ihr befand sich ein Infusionsständer, sie musste krank sein.[/LEFT] [LEFT]Da keine Reaktion erfolgte, beruhigte Nerida sich langsam wieder. Das Profil der Frau kam ihr bekannt vor, sie erinnerte sich, dass Sabia erzählt hatte, ihre Mutter sei sehr krank. Es war nicht überraschend, dass sie hier saß.[/LEFT] [LEFT]Nerida wollte langsam nach links weggehen, um ihre Suche im Esszimmer fortzusetzen, als sie eine schwache Stimme aus der Richtung der Frau hörte: »Bist du schon zurück, Hiwa?«[/LEFT] [LEFT]Das war der Geißel-Name ihres Vaters. Warum wurde er von dieser Unbekannten ausgesprochen?[/LEFT] [LEFT]Nun wirklich neugierig geworden, näherte Nerida sich dem Schaukelstuhl. Mit jedem Schritt wurde deutlicher, dass diese Frau nicht einfach nur krank war: ihre Haut hatte sich gräulich verfärbt und unterschied sich damit kaum noch von ihrem Haar, auf ihrem rechten Arm lag eine Kruste, die fast wie Stein aussah, ein wenig davon kroch auch bereits ihren Hals hinauf. Keine der Nerida bekannten Krankheiten verursachte das in einem Menschen, lediglich manche Arten von Dämonen erlitten diese Versteinerungen, wenn sie schwächer wurden, um sich zu schützen.[/LEFT] [LEFT]Schließlich blieb Nerida direkt vor der Frau stehen, sie sah in ihre grünen Augen, die durch sie hindurchzustarren schienen, vollkommen unberührt, dass jemand ihre Aussicht störte.[/LEFT] [LEFT]Sie kannte diese Augen, hatte sie erst am Morgen zuletzt gesehen, doch da waren sie aufmerksam und voller Elan gewesen, nicht so eingesunken und mit dunklen Schatten gesäumt wie hier.[/LEFT] [LEFT]Von ihrer Erkenntnis überwältigt sank Nerida in die Knie, ohne den Blickkontakt zu brechen. »Mama?«[/LEFT] [LEFT]Konia – das, was von ihr übrig geblieben war jedenfalls – lächelte ein wenig. »Neri, willkommen zurück. Wie war die Schule?«[/LEFT] [LEFT]Ihre Stimme klang rau, erinnerte kaum noch an die von Neridas Mutter. Doch sie konnte es nicht leugnen, besonders nicht nachdem sie derart angesprochen worden war.[/LEFT] [LEFT]»Was ist passiert?«[/LEFT] [LEFT]»Das Essen ist gleich fertig.« Konia wandte den Blick von ihr ab, das Lächeln erlosch sofort. »Wasch dir die Hände. Wenn dein Vater hier ist, werden wir essen.«[/LEFT] [LEFT]Nerida wollte ihre Hände nehmen, ihr beim Aufstehen helfen und sie fortbringen. Aber das hier war nicht ihre Mutter, ermahnte sie sich selbst. Es war die Konia dieser Welt. Irgendetwas Furchtbares musste mit ihr geschehen sein, deswegen war sie an diese Infusion angeschlossen. Ihr wurde bereits geholfen, Vane würde seine Frau niemals im Stich lassen.[/LEFT] [LEFT]Doch im selben Moment wurde Nerida etwas anderes bewusst: Vane war nicht hier. Konia hatte von ihm gesprochen, doch das bedeutete nichts, wenn sie nur weggetreten war. Außerdem waren sie auch nicht in Athamos. Und Sabia lebte in diesem Haus. Wie passte das alles zusammen?[/LEFT] [LEFT]Nerida folgte dem Infusionsschlauch von Konias linker Hand bis zur kleinen Glasflasche zurück, die am Ständer befestigt war und aus der es beständig tropfte. Auf dem Etikett erkannte sie das Wort Laudanum. Das ergab noch weniger Sinn. Warum sollte man ihr als Dämon Opiate verabreichen, besonders wenn sie bereits derart geschwächt war? Es sei denn …[/LEFT] [LEFT]»Sie betäuben dich?«, hauchte Nerida.[/LEFT] [LEFT]Konia reagierte darauf nicht.[/LEFT] [LEFT]Was sollte sie tun? Nerida konnte sie nicht einfach hier lassen, doch gleichzeitig war das nicht ihre Mutter, nicht ihre Welt, wo sollte sie Konia denn hinbringen? Es war unmöglich, sie mit sich zu nehmen – schon allein, weil sie Vane dann die ganze Wahrheit erzählen musste, denn wer sonst sollte sich um sie kümmern?[/LEFT] [LEFT]»Was machst du da?!«[/LEFT] [LEFT]Nerida zuckte zusammen und wich zurück. Sie sah zur Eingangstür, wo der Mann stand, den sie bereits auf einem der Fotos gesehen hatte. Sein Blick war derart finster, dass Nerida noch ein wenig weiter zurückwich.[/LEFT] [LEFT]»Wie bist du hier hereingekommen?«, fragte er.[/LEFT] [LEFT]Sie konnte ihm nicht sagen, wie sie hergekommen war. Vermutlich würde er es nicht einmal glauben, selbst wenn es ihr gelänge, es ihm zu erklären.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise kam in diesem Moment Sabia aus dem Gang, der zur Küche führte. Im Gegensatz zu sonst trug sie einen dunkelgrünen Blazer über einem weißen Hemd, dazu einen knielangen schwarzen Faltenrock; es wirkte wie eine Schuluniform. Sie sah Nerida überrascht an, fing sich aber schnell wieder. »Oh, hier bist du also.«[/LEFT] [LEFT]Dann wandte Sabia sich an den Mann: »Das ist eine Freundin von mir, Vater. Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe. Das war eine sehr spontane Sache.«[/LEFT] [LEFT]Seine Mimik wurde ein wenig weicher, als er seine Tochter ansah. »Ich verstehe.«[/LEFT] [LEFT]»Ich war nur kurz in der Küche«, erklärte Sabia weiter, »da muss die Neugier sie gepackt haben. Aber wir gehen jetzt in mein Zimmer.«[/LEFT] [LEFT]Sie winkte Nerida zu sich, diese folgte ihr nur zu gern, vorbei an dem unheimlichen Mann, der jede ihrer Bewegungen musterte. Als sie neben Sabia stand, nahm diese ihre Hand, doch die Stimme von Sabias Vater ließ sie beide noch einmal innehalten: »Sind wir uns schon einmal begegnet?«[/LEFT] [LEFT]Hilfesuchend sah Nerida zu Sabia, die sofort lachte. »Also wirklich, Vater. Diese Frage ist ein Klischee, denkst du nicht? Wie solltest du sie je getroffen haben?«[/LEFT] [LEFT]Er sagte nichts mehr, wandte sich ab und ging zu Konia hinüber. Sabia zog Nerida mit sich die Treppe hinauf, bis in den Raum, in dem sie bereits gewesen war. Erst nachdem sie sichergestellt hatte, dass die Tür geschlossen war, ließ sie Neridas Hand wieder los.[/LEFT] [LEFT]»Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell herausfindest, wo ich wohne«, gab Sabia lächelnd zu.[/LEFT] [LEFT]Sie wirkte nicht wütend, eher vergnügt.[/LEFT] [LEFT]»Ich fühle mich geehrt«, fuhr sie fort, »dass du dir so viel Mühe gemacht hast, mich zu finden.«[/LEFT] [LEFT]Nerida hätte ihr widersprechen können, schließlich war es recht einfach gewesen, dahinter zu kommen, welchen Weg Sabia wohl benutzte. Doch einerseits war sie nicht schlagfertig genug, und andererseits war da etwas anderes: »Was ist hier los? Warum ist meine Mutter hier?«[/LEFT] [LEFT]»Das ist nicht deine Mutter«, erwiderte Sabia. »Sie ist meine.«[/LEFT] [LEFT]»Du weißt, wovon ich rede.«[/LEFT] [LEFT]Sabia hob die Hände. »Ich beantworte dir gern alles, wenn du mir vorher etwas sagst. Wie bist du so früh darauf gekommen, dass ich aus einer anderen Welt komme?«[/LEFT] [LEFT]Also erzählte Nerida ihr in knappen Worten, wie sie mit den Lehrern und dann mit Haze und Abby gesprochen hatte. »Dass diese kleine Tür etwas damit zu tun hat, war mir sofort klar. So oft wie du abgelenkt hast, sobald ich sie angesprochen habe, war das durchaus verdächtig.«[/LEFT] [LEFT]Sabia lächelte. »Oh, das hätte ich mir denken müssen. Du bist eben intelligenter als ich.«[/LEFT] [LEFT]Vermutlich sollte sie sich davon geschmeichelt fühlen, doch Nerida wartete noch auf die Beantwortung ihrer Fragen. Aber Sabia sagte nichts weiter, sie lächelte nur.[/LEFT] [LEFT]Nerida verschränkte die Arme vor der Brust. »Kannst du jetzt dein Versprechen einhalten?«[/LEFT] [LEFT]»Natürlich, verzeih.« Sabia bot Nerida einen Stuhl an, dann setzte sie sich ebenfalls an den Schreibtisch, dabei wirkte sie eigenartig vergnügt. »Oh, wie soll ich anfangen?«[/LEFT] [LEFT]Die wachsende Ungeduld ließ Nerida ein leises Schnauben ausstoßen – das Sabia zum Lachen brachte: »Das ist wirklich neu. Aber du hast recht, ich sollte mir nicht so viele Gedanken machen. Also, wir haben bereits über die Chaosbrecher gesprochen, nicht wahr?«[/LEFT] [LEFT]Nerida nickte. Zu wissen, dass es etwas mit dieser Gruppe zu tun hatte, gefiel ihr jedoch nicht.[/LEFT] [LEFT]»In deiner Welt« – Sabia zeigte auf sie – »haben sie damals verloren. In dieser hier haben sie jedoch gewonnen.«[/LEFT] [LEFT]Das kam derart unerwartet, dass Nerida die Augen aufriss.[/LEFT] [LEFT]Sabia nickte erfreut. »Ja~. Es ist gar nicht so schlimm, unter der Herrschaft von Armas. Jedenfalls wenn man sich nicht gegen ihn stellt. Vater und ich tun das nicht, also leben wir gut.«[/LEFT] [LEFT]»Was ist mit Athamos und Abteracht?«[/LEFT] [LEFT]»Anscheinend waren die Albträume sehr von Armas' Plänen angetan«, erwiderte Sabia. »Ich habe gehört, dort, wo Athamos früher war, hausen nun nur noch Nachtmahre.«[/LEFT] [LEFT]Sie zuckte mit den Schultern, als wäre das vollkommen trivial für sie. Für Nerida war das jedoch ein Schlag in die Magengrube. Was bedeutete das für alle, die dort gelebt hatten? Für ihr Gegenstück in dieser Welt und ihrer Familie?[/LEFT] [LEFT]»Abteracht ist dagegen der größte Widersacher der Chaosbrecher. Die Mitglieder wurden als Terroristen eingestuft und deswegen immer wieder verhaftet.«[/LEFT] [LEFT]Sabia klappte ihr Notebook auf und fuhr es hoch. »Ich weiß nicht genau, wie es dazu kam, dass meine Mutter hier mit meinem Vater endete, ich frage solche Dinge nicht. Vermutlich hat es irgendetwas damit zu tun, dass er den Chaosbrechern zu einem bestimmten Zeitpunkt geholfen hat, so als Dankeschön, nehme ich an.«[/LEFT] [LEFT]Dass Sabia nicht erkennen konnte, wie falsch das klang, jagte kalte Schauer über Neridas Rücken. Sie sprach so locker darüber, als erzähle sie lediglich von einem Film, den sie irgendwann einmal gesehen und der sie mild beeindruckt hatte.[/LEFT] [LEFT]Auf dem Monitor des Notebooks erschien das Bild einer einfachen Winterlandschaft, nur wenige nichts-sagende Verknüpfungen existierten auf dem Desktop, alphabetisch geordnet sogar. Sabia klickte bereits auf einige, während sie weiterplauderte: »Meistens versuchen die Mitglieder von Abteracht, sich ein wenig bedeckt zu halten, weil sie gesucht werden. Vor kurzem wurde dann ein bestimmtes Mitglied gefasst, eine Frau, die den Chaosbrechern im letzten Jahr viele Verluste zugefügt hat. Willst du raten, wer es ist?«[/LEFT] [LEFT]Nerida kannte nicht viele Leute in Abteracht, und von denen, die sie kannte, kam ihr nur eine Frau in den Sinn, die einen solchen Effekt ausüben könnte: »Seline?«[/LEFT] [LEFT]Lachend machte Sabia eine wegwerfende Handbewegung. »Die spielt schon lange keine Rolle mehr. Nein, nein, es ist jemand ganz anderes.«[/LEFT] [LEFT]Schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte. Sie klickte auf eine Datei, worauf sich ein Video öffnete. Es war die Aufzeichnung einer Nachrichtensendung, wie sie an dem Ticker in der unteren Bildschirmhälfte erkennen konnte; dieser verriet ihr auch, dass es sich bei dem gezeigten Ereignis um die Festnahme einer Terroristin handelte. Es wirkte als wäre es von einer Drohne aus der Luft aufgenommen worden.[/LEFT] [LEFT]Zuerst sah man nur eine verlassene Straße hinter einem Einkaufszentrum, wie die Laderampe und eine dunkle Stahltür verrieten. Im nächsten Moment wurde eben diese Tür von innen aufgeworfen und knallte gegen die Außenwand. Zwei Männer zerrten eine Frau heraus, die sich zwar nicht wehrte, aber auch keine Anstalten machte, mit ihnen Schritt zu halten. Sie trug Jeans, dazu eine dicke Jacke mit Fellbesatz an der Kapuze, ihr braunes Haar war zu einem unsauberen dicken Zopf geflochten. Nerida hatte das Gefühl, sie zu erkennen, aber ihr wollte kein Name einfallen. Erst als die Kamera an das Gesicht der Frau zoomte, sie deren grüne Augen sah und das blasse Gesicht, das verhärtet schien, wusste sie, wen sie da beobachtete; ihre Brust zog sich zusammen und raubte ihr die nötige Luft zum Atmen.[/LEFT] [LEFT]Das stumme Video zeigte als nächstes ihre Fahndungsbilder, sie blickte finster in die Kamera, das Antlitz einer Rebellin, die sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen ließ.[/LEFT] [LEFT]Sabia wandte sich ihr mit leuchtendem Gesicht zu. »Ist sie nicht großartig? Als ich sie das erste Mal gesehen habe, wusste ich einfach, dass ich meine Halbschwester kennenlernen musste!«[/LEFT] [LEFT]Bislang hatte Nerida nicht einmal darüber nachgedacht, es vermutlich verdrängt, weil sie sich nicht einmal vorstellen wollte, was dieser Mann ihrer Mutter angetan haben könnte. Doch sie musste sich dem stellen: in dieser Welt war ihr Gegenstück die Halbschwester von Sabia.[/LEFT] [LEFT]»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte Nerida. »Ich bin nicht sie.«[/LEFT] [LEFT]Sie wusste ja nicht einmal, wie irgendeine Version von ihr zu einer Widerstandskämpferin werden konnte. In ihrer Realität würde sie sich vermutlich in einer Ecke zusammenrollen, sollte sie jemals in eine solche Situation kommen.[/LEFT] [LEFT]»Ich konnte schlecht einfach auf die Polizeistation gehen, und sie dort treffen, oder?« Sabia rollte mit den Augen. »Aber dann traf ich diesen Mann, der mir anbot, mir einen Wunsch zu erfüllen.«[/LEFT] [LEFT]Nerida fühlte sich innerlich inzwischen derart unruhig, dass ihre Beine zu zittern begannen. Glücklicherweise nur ein wenig, so dass es kaum auffallen dürfte. Sie wagte nicht, Sabia zu unterbrechen, selbst wenn sie nicht verstand, wie man einfach so einer Person wie diesem Mann begegnen könnte.[/LEFT] [LEFT]»Ich wünschte mir, der Nerida einer anderen Welt zu begegnen – und darauf öffnete sich ein Portal in meinem Schrank, so wie du es gefunden hast.«[/LEFT] [LEFT]Sie sah zu dem Möbelstück hinüber, ihr Blick war geradezu leidenschaftlich. »Natürlich bekam ich das nicht umsonst. Ich musste dafür als Störbrecherin arbeiten und diese Splitter sammeln. Dich durfte ich aber auch dafür anheuern~.«[/LEFT] [LEFT]Inzwischen schien es Nerida lächerlich, dass sie sich Sorgen gemacht hatte, dass Sabia sie ersetzen könnte. Selbst ohne all das zu wissen, hätte sie ahnen müssen, dass etwas nicht stimmte. Wie dumm hatte sie sein können?[/LEFT] [LEFT]Da Sabia nichts weiter sagte, sie dafür aber wieder ansah, traute Nerida sich endlich, eine Frage zu stellen: »Was wird passieren, wenn alle Splitter versammelt sind?«[/LEFT] [LEFT]Die andere zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht. Er hat es mir nicht gesagt, aber es interessierte mich auch nicht. Mir ging es nur darum, dich zu treffen.«[/LEFT] [LEFT]Unvermittelt ergriff sie Neridas Hände. »Du musst dich nicht als Ersatz fühlen! Ich respektiere, dass du einmalig bist – und ich bin froh, gerade dich getroffen zu haben! Du bist perfekt!«[/LEFT] [LEFT]Die Heftigkeit dieser Aussage weckte in Nerida einen Fluchtinstinkt. Sie versuchte, Sabia ihre Hände zu entziehen, doch diese hielt sie nur umso fester.[/LEFT] [LEFT]»Gemeinsam«, fuhr Sabia fort, ihre Augen glitzerten fiebrig, »werden wir diese Splitter zusammensetzen und herausfinden, was geschehen wird – und selbst wenn es den Weltuntergang bedeutet, werden wir zusammen sein.«[/LEFT] [LEFT]»Lass mich los!« Nerida zerrte weiter, doch der Griff wurde nur umso fester.[/LEFT] [LEFT]»Verstehst du denn nicht, was für eine großartige Sache das ist?!« Sabias Stimme wurde schriller. »Das Schicksal hat uns zusammengeführt, damit wir die Welten verändern!«[/LEFT] [LEFT]Mit der Macht der Verzweiflung versuchte Nerida sich ein weiteres Mal zu befreien, diesmal mit einem heftigen Ruck – im nächsten Augenblick fuhr ein brennender Schmerz durch ihren Oberkörper, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nur undeutlich erkannte sie Sabia, die sich auf sie setzte. Ihr Gesicht wirkte verzerrt, eine Fratze, die Nerida zum Schluchzen brachte.[/LEFT] [LEFT]»Ich will nach Hause, bitte.«[/LEFT] [LEFT]»Shh, shh, shh~.« Sabia strich ihr mit einer Hand über das Gesicht. »Keine Sorge, alles wird gut werden. Du wirst schon sehen.«[/LEFT] [LEFT]Mit kraftlosen, zitternden Armen versuchte Nerida sie runterzuschieben, doch Sabia kümmerte sich nicht einmal darum. »Wehr dich doch nicht, wir ...«[/LEFT] [LEFT]Sie hielt inne und sah zur Seite. Nerida folgte ihrem Blick. Ihre Schultasche lag auf dem Boden – und darin bewegte sich etwas.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich sprang der hasenähnliche Dämon heraus. Er stieß ein hohes Kreischen aus, dann stürzte er sich auf Sabia. Davon überrascht stolperte sie zurück und fiel von Nerida herunter. Auf dem Rücken liegend kämpfte sie darum, das Wesen aus ihrem Gesicht zu bekommen, während es immer wieder mit den Krallen ausholte und ihr neue Kratzer verpasste.[/LEFT] [LEFT]Nerida robbte rückwärts davon, während sie sich aufsetzte, das Ereignis fassungslos anstarrend, ohne wirklich zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Wie durch Watte hörte sie Sabia schreien, doch es war derart dumpf, dass sie die Worte, falls welche vorhanden waren, nicht verstand. Sie stieß mit dem Rücken gegen die Schranktür, zog sich an ihr nach oben.[/LEFT] [LEFT]Dann hörte sie Schritte auf dem Gang – Sabias Vater musste aufmerksam geworden sein.[/LEFT] [LEFT]Neridas Fluchtinstinkt meldete sich wieder. Ihr blieb keine Zeit nachzudenken.[/LEFT] [LEFT]Sie ergriff ihre Tasche, tauchte in den Schrank hinein, kroch an der Kleidung und den Schuhen vorbei, durch das kleine Portal, bis ihr gesamter Körper auf der anderen Seite war. Dort richtete sie sich wieder auf, ohne auch nur zurückzublicken.[/LEFT] [LEFT]Jemand stürzte in Sabias Zimmer.[/LEFT] [LEFT]Der kleine Dämon hoppelte an Neridas Seite, als sie herumfuhr und in einer fließenden Bewegung die Tür zutrat. Eine dicke Schicht von Eis bildete sich darüber, um zu verhindern, dass sie so schnell wieder geöffnet werden konnte.[/LEFT] [LEFT]Kaum war das geschehen, sank Nerida wieder in die Knie. Der Hase hüpfte zu ihr hinüber und schnüffelte an ihren Armen. Lächelnd strich sie dem Wesen über den Kopf. »Wie bist du nur wieder aus deinem Käfig herausgekommen? Und warum hast du dich diesmal in meine Tasche verirrt?«[/LEFT] [LEFT]Natürlich bekam sie keine Antwort von ihm, er gab nur einen Ton von sich, der als Schnurren durchgehen könnte. Seine Anwesenheit verdankte sie vermutlich einer ganzen Jahresladung an Glück, das sie nun restlos aufgebracht haben dürfte.[/LEFT] [LEFT]Nerida sah wieder die Tür an. »Was soll ich jetzt machen?«[/LEFT] [LEFT]Für immer konnte sie diese Eisbarriere nicht aufrecht erhalten. Außerdem konnte sie nicht vor ihrer Verantwortung davonlaufen. Sie hatte einige dieser Splitter beschafft, ohne zu wissen, was geschah, wenn sie alle fanden.[/LEFT] [LEFT]Sie musste gut über ihre nächsten Schritte nachdenken, und hoffen, dass Sabia sich wieder genug beruhigte, um ein vernünftiges Gespräch darüber zu führen. Wenn sie erst einmal klar sah, wurde ihr bestimmt bewusst, dass sie nicht mehr für diesen Unbekannten arbeiten konnte, ohne dessen Beweggründe zu kennen. Als ihre Halbschwester müsste Sabia klug genug sein, um das einzusehen.[/LEFT] [LEFT]Vorerst musste sie aber erst hier weg. Ihre Beine fühlten sich noch immer viel zu schwach an, im Großen und Ganzen wollte sie sich nur noch hinlegen und schlafen – nachdem sie ihre Mutter eine Weile umarmt hatte.[/LEFT] [LEFT]Nerida öffnete ihre Tasche. »Komm, spring wieder rein, dann gehen wir nach Hause.«[/LEFT] [LEFT]Der Dämon folgte ihrer Aufforderung sofort, vermutlich, um endlich zu Ronan zu kommen. Mit ihm sicher verstaut, erhob sie sich erneut. Ein letzter Blick auf das Eis, das im Licht schimmerte, und ihr versicherte, dass ihre Welt erst einmal sicher war.[/LEFT] [LEFT]Dann wandte sie sich ab, um diesen Ort zu verlassen und endlich nach Hause zurückzukehren.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)