Noise Break von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 15: Ich darf nicht zurückweichen ---------------------------------------- [LEFT]Ich war unvorsichtig, verriet Sabias Nachricht. Es dauert wahrscheinlich eine Weile, bis ich wieder in die Schule komme. Und bis ich wieder jagen kann.[/LEFT] [LEFT]Nerida zog die Stirn kraus. Allein zu gehen wäre zu gefährlich, deswegen würde sie schweren Herzens darauf verzichten müssen, obwohl dieses Gefühl von Macht, wann immer sie einen neuen Splitter errangen, sie stets aufs Neue zu verführen versuchte. Vielleicht, so sagte ihre Vernunft, war es unter diesen Umständen auch besser, erst einmal nicht mehr zu jagen.[/LEFT] [LEFT]Zuvor muss ich diese Erkältung ausstehen, erklärte Sabia weiter. Halt die Ohren steif und pass solange gut auf dich auf, Neri.[/LEFT] [LEFT]Die Nutzung ihres Kosenamens ließ Nerida wieder lächeln. Sie tippte rasch eine Antwort, um Sabia zu versichern, dass alles in Ordnung sei und ihr eine gute Besserung zu wünschen. Dann blieb ihr nur noch zu hoffen, dass Sabias Beeinflussung von Neridas Mitschülern selbst dann noch anhielt, wenn sie nicht in der Nähe war. Einen kurzen Moment überlegte sie, einfach zu schwänzen, aber sie wusste nicht einmal, was sie ansonsten den ganzen Vormittag tun sollte, und außerdem bekämen ihre Eltern dann garantiert einen Anruf. Es war sicherer, sich an die Routine zu halten.[/LEFT] [LEFT]Nachdem sie sich umgezogen hatte, schloss sie sich ihrer Familie in der Küche an, um dort zu frühstücken. Sogar Darien war an diesem Morgen schon da, weswegen er sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck musterte. »Du bist heute echt spät dran, Nerdia.«[/LEFT] [LEFT]Sie setzte sich, ehe sie sich ihm widmete. »Ich heiße nicht Nerdia, wie du weißt.«[/LEFT] [LEFT]Augenblicklich war auch die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und die von Ronan auf sie gerichtet. Darien blinzelte irritiert.[/LEFT] [LEFT]Erst da wurde ihr bewusst, dass der Satz wesentlich ernster geklungen haben musste als geplant. Sie lachte, um die Situation zu entschärfen. »Hin und wieder muss ich ihn ja daran erinnern, oder?«[/LEFT] [LEFT]Zu ihrem Glück verzog ihr Zwillingsbruder seine Lippen zu einem Lächeln. »Gratuliere, du lernst langsam dich durchzusetzen. Das solltest du öfter tun.«[/LEFT] [LEFT]Damit widmeten sich ihre Mutter und Ronan wieder ihrem Frühstück, während Vane die Stirn runzelte. »Mir wäre es lieber, sie müsste sich nicht durchsetzen. Und dass du sie nicht so oft ärgern würdest, Darien.«[/LEFT] [LEFT]»Aber dafür sind Geschwister doch da, Dad.«[/LEFT] [LEFT]»Wer sagt das?«[/LEFT] [LEFT]»Alle.«[/LEFT] [LEFT]Über diese simple Antwort seufzte ihr Vater lediglich, dann konzentrierte er sich auch wieder auf sein Essen. Darien und Nerida folgten diesem Beispiel. Auch wenn es in ihrem Inneren noch rumorte, auf eine gute Weise jedoch. Sie hatte sich erfolgreich gegen einen Spitznamen gewehrt, der ihr nicht behagte, obwohl er von ihrem Bruder kam. Mit diesem neu gewonnenen Selbstbewusstsein dürfte ein Schultag auch ohne Sabia keine Probleme bei ihr verursachen. Aber wenn sie schon an diese dachte …[/LEFT] [LEFT]»Mama, glaubst du, es wäre eine gute Idee, wenn ich jemandem die Hausaufgaben bringe, wenn diese Person krank, aber gar nicht in meiner Klasse ist?«[/LEFT] [LEFT]Da Konia eine normale Schule besucht hatte, im Gegensatz zu Vane, war sie die passende Person für diese Frage – auch wenn sie Darien direkt wieder zum Ächzen brachte: »Du willst echt jemandem Hausaufgaben bringen? Die Person ist bestimmt glücklich, wenn sie mal nichts davon sehen muss.«[/LEFT] [LEFT]Nerida ignorierte ihn, genau wie ihre Mutter, die ihr dafür antwortete: »Sabia würde sich bestimmt darüber freuen. Aber weißt du denn, wo sie wohnt?«[/LEFT] [LEFT]Es wunderte Nerida nicht im Mindesten, dass Konia sofort wusste, wer gemeint war. Genauso wenig die Gegenfrage. Bislang hatte sie nie darüber gesprochen, dass sie einmal bei ihrer Freundin zu Hause gewesen wäre, also war Konias Schlussfolgerung vollkommen richtig, wie sie dann auch zugab, indem sie die Frage verneinte.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise war das aber nicht genug für Konia, um ihr von dem Vorhaben abzuraten: »Du wirst ohnehin die Materialien von ihrem Lehrer holen müssen. Frag ihn dann am besten auch, wo sie wohnt. Für diesen kurzen Besuch wird Sabia bestimmt Zeit haben.«[/LEFT] [LEFT]Der Vorschlag klang vernünftig, so würde sie es versuchen.[/LEFT] [LEFT]Nerida bedankte sich bei ihrer Mutter und frühstückte schweigend weiter. Allein die Vorstellung, an diesem Tag möglicherweise endlich zu sehen, wo Sabia lebte, vielleicht sogar ihren Vater kennenzulernen und ihn zu überzeugen, dass sie ein guter Einfluss war, erfüllte sie mit einem Gefühl von überschäumendem Glück, so stark, dass sie ihr Lächeln nicht unterdrücken konnte.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Die Euphorie hielt den ganzen Vormittag an. Sie begleitete Nerida bis in die Schule, in den Unterricht, ließ jeden ihrer Schritte so leicht werden als befände sie sich auf Wolken. Selbst wenn sie noch Probleme mit ihren Mitschülern hätte, so wären diese am heutigen Tag an ihr abgeperlt wie Regentropfen an Fensterscheiben, davon war sie überzeugt.[/LEFT] [LEFT]Immerhin gab ihr dieses Gefühl auch den notwendigen Mut, um nach dem Unterricht ohne Umschweife an die Tür des Lehrerzimmers zu klopfen. Früher hätte sie sich das nicht so einfach getraut, allein schon aus Furcht vor einer möglichen Zurückweisung oder irgendeinem Fehler von ihrer Seite aus. An diesem Tag gab es aber nur ihr Klopfen und eine Aufforderung einzutreten.[/LEFT] [LEFT]Das Lehrerzimmer sah normaler aus als gedacht. Ein langer Tisch in der Mitte des Raums, voller Tassen und achtlos liegen gelassener Papiere, eine Küchenzeile an einer Wand, ein Sofa an der anderen und dann noch ein Regal mit mehreren Fächern, die für die einzelnen Lehrer bestimmt sein mussten. Direkt neben der Tür gab es auch eine Pinnwand, an der Stundenpläne und Flyer hingen, ihr Mathelehrer stand gerade davor und korrigierte irgendeinen Aushang mit einem Stift. Als er sie sah, nickte er ihr knapp zu, ohne seine Aufgabe zu unterbrechen.[/LEFT] [LEFT]Nerida erwiderte diese Begrüßung ähnlich. Ihre Zielperson saß jedoch am Tisch. Mrs. Brown war eine Frau in den mittleren Jahren, ihr krauses Haar, das einst blond gewesen sein musste, graute langsam aus. Wirklich bemerkbar machte sich ihr Alter hauptsächlich in den Falten ihres Gesichts, die sich besonders an ihren Augen und ihren Mundwinkeln konzentrierten. Die auf ihrer Stirn bildeten tiefe Schluchten, als Nerida sie ansprach. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, ich wollte nur etwas fragen.«[/LEFT] [LEFT]Mrs. Brown musterte sie, versuchte offenbar, sie irgendwo einzuordnen und versagte dabei – Nerida war in keinem einzigen Kurs dieser Frau, aber Sabia hatte sie mehrmals erwähnt, deswegen war sie auch die einzige Person, die sie deswegen ansprechen konnte.[/LEFT] [LEFT]»Schätzchen«, kommentierte Mrs. Brown überraschend warm, »wie kann ich dir helfen?«[/LEFT] [LEFT]Nerida stellte sich knapp vor, ehe sie zu ihrer Frage kam: »Eine Freundin von mir ist in ihren Kursen, ist heute aber krank geworden. Ich wollte ihr deswegen die Hausaufgaben vorbeibringen.«[/LEFT] [LEFT]Mrs. Brown lächelte sofort, was ihre Stirn glättete, aber die Falten an ihren Augen verstärkte. »Das ist ja wirklich lieb von dir, Schätzchen.«[/LEFT] [LEFT]Nerida fragte sich, ob Mrs. Brown aus Gewohnheit so nett war – also keine Angst vor ihr hatte – oder ob sie nur abgewimmelt werden sollte. Sie wusste, dass es Menschen gab, besonders solche, die traumatische Situationen durchlebt hatten, die sich nicht vor Dämonenjägern oder Geißeln fürchteten. Ob das auf diese Frau zutraf?[/LEFT] [LEFT]Mrs. Brown wühlte bereits in einer Ledertasche, in der sie ihre Unterlagen aufbewahrte und redete munter weiter: »Viele Schüler haben heute ja gar kein Interesse mehr an der Schule, dabei ist sie jetzt um so vieles besser als zu meiner Zeit. Kinder ändern sich wohl nur schwer. Vielleicht liegt das aber auch an ihren Eltern. Die Liebe zum Lernen muss manchen wohl mitgegeben werden.«[/LEFT] [LEFT]Statt etwas zu sagen nickte Nerida nur unbehaglich.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise förderte Mrs. Brown die Papiere zutage, die gebraucht worden waren. Triumphierend hielt sie diese in die Luft als wären sie ein Schatz. Nerida nutzte diese Sprechpause, um noch etwas zu fragen: »Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich kenne sie noch nicht sehr lange, und aufgrund ihres strengen Vaters wollte sie mir nicht ihre Adresse verraten. Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?«[/LEFT] [LEFT]Erneut musterte Mrs. Brown sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Du wirst auch keinen Unsinn damit anstellen, oder? Du bist doch ein gutes Mädchen, oder?«[/LEFT] [LEFT]Nerida fluchte innerlich. Sie hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, dass eine ihr fremde Lehrerin sich vielleicht weigern könnte, ihr die Adresse zu sagen – und sie wäre damit auch im Recht. Eigentlich musste es illegal sein, jemandem einfach Adressen anderer mitzuteilen. Warum hatte sie darüber nicht vorher nachgedacht und es selbst noch einmal mit einer Nachricht an Sabia versucht?[/LEFT] [LEFT]Die zuvor verspürte Euphorie fiel in sich zusammen und bildete nun die Ruinen ihres Selbstbewusstseins. Sie wollte sich gerade noch einmal entschuldigen und davonstürmen, da klärte sich Mrs. Browns Gesicht wieder auf: »Ach, du siehst wirklich nicht wie jemand aus, der die Regeln brechen würde. Wie heißt deine Freundin denn?«[/LEFT] [LEFT]Die Erleichterung war groß wie ein Gebirge, das samt und sonders von Neridas Herzen fiel. Sofort fühlte sie sich wieder leichter, zaghaft spähte die Euphorie aus den Ruinen hervor.[/LEFT] [LEFT]»Ihr Name ist Sabia. Sabia Agrona.«[/LEFT] [LEFT]Das gute Gefühl schwand sofort wieder, als Mrs. Brown den Kopf neigte. »Tut mir leid, Schätzchen, aber der Name sagt mir gar nichts.«[/LEFT] [LEFT]In einem ersten Impuls wollte Nerida sie anfauchen, ihr sagen, dass man Sabia nicht einfach vergessen konnte, nein, das nicht einmal durfte! Doch sie hielt sich selbst davon ab, atmete tief durch und versuchte es anders: »Etwas größer als ich, kupferfarbenes Haar, selbe Frisur, goldene Augen, immer ein wenig blass.«[/LEFT] [LEFT]Mrs. Brown schüttelte mit dem Kopf. »Nein, so jemanden habe ich hier noch nie gesehen.«[/LEFT] [LEFT]»Aber das kann nicht sein«, brachte Nerida leise hervor.[/LEFT] [LEFT]Offenbar bemerkte Mrs. Brown die beginnende Verzweiflung, denn sie wandte sich an Neridas Mathelehrer, der inzwischen an der Küchenzeile stand und sich einen Kaffee einschenkte: »John, du als Vizedirektor kennst doch jeden Schüler hier. Sagt dir diese Beschreibung etwas?«[/LEFT] [LEFT]Er wandte sich ihnen nicht einmal zu. »Nein, nie gesehen. Und jemand mit einem solchen Namen wäre mir bestimmt auch in den Akten aufgefallen.«[/LEFT] [LEFT]Neridas Brustkorb zog sich zusammen, ihr Herz brannte, das Blut rauschte in ihren Ohren. »N-nein ...«[/LEFT] [LEFT]Etwas in ihrem Inneren schien zu zersplittern.[/LEFT] [LEFT]Mrs. Brown sah sie wieder an. »Nun, tut mir leid, Schätzchen, aber offenbar hat deine Freundin dich angelogen.«[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Sämtliche Gedanken in Neridas Kopf wirbelten durcheinander, ließen sich nicht mehr fassen und erlaubten ihr selbst auf dem Heimweg nicht mehr sich zu beruhigen.[/LEFT] [LEFT]Sabia hatte sie belogen. Sie ging gar nicht auf diese Schule. Die Bestätigung war von zwei Lehrern gekommen, die keinen Grund besaßen, ihr nicht die Wahrheit zu sagen.[/LEFT] [LEFT]Und wenn Sabia schon in dieser simplen Sache unehrlich gewesen war, in welcher dann noch?[/LEFT] [LEFT]Hieß sie vielleicht gar nicht Sabia Agrona?[/LEFT] [LEFT]Wusste sie doch mehr über den Ursprung der eigenartigen Splitter?[/LEFT] [LEFT]War überhaupt irgendeines ihrer Worte wahr gewesen?[/LEFT] [LEFT]Ihr unerschütterliches Vertrauen in Sabia war zerstört, aus den Bruchteilen bildeten sich nun all diese Zweifel, die sich nicht ignorieren ließen, denn sie hakten sich an ihr fest, verfingen sich in ihren Haaren und bohrten sich unter ihre Haut.[/LEFT] [LEFT]Was sollte Nerida tun?[/LEFT] [LEFT]Der Wunsch Sabia anzurufen und ihr all diese Dinge entgegenzuschleudern und Antworten zu verlangen, war groß, aber sie beherrschte sich. Es gab keinen Grund, warum Sabia ihr plötzlich wirklich die Wahrheit sagen sollte. Wahrscheinlich würde sie stattdessen erneut lügen und versuchen Nerida wieder zu umgarnen. Aber das durfte sie nicht noch einmal zulassen.[/LEFT] [LEFT]Also musste sie selbst herausfinden, was hier los war – ohne zu wissen, wo sie anfangen sollte.[/LEFT] [LEFT]Sie lief bereits durch die Gänge von Athamos, als sie diesen Entschluss fasste. Innerlich ging sie ihre letzten Wochen mit Sabia durch, suchte nach Hinweisen. Sie könnte ihren Großvater fragen, doch es kam ihr seltsam vor, ihn um Hilfe zu bitten, nachdem sie ihn letztes Mal derart abgewiesen hatte. Allein der Gedanke erfüllte sie mit Scham und Reue, sie müsste sich bald bei ihm entschuldigen.[/LEFT] [LEFT]Wer hatte Sabia noch gesehen? Ihr Bruder, Amy, ihre Eltern, doch keinem von ihnen war irgendetwas an ihr aufgefallen. Sollte sie dennoch einen von ihnen fragen? Vielleicht waren es nur kleine Dinge gewesen, denen man beim ersten Mal keine Bedeutung beigemessen hatte, doch wenn man genauer darüber nachdachte, fiel einem doch noch etwas ein.[/LEFT] [LEFT]Nein, da stimmt etwas nicht. Es gibt jemanden, der Angst vor Sabia hatte![/LEFT] [LEFT]Sie fuhr abrupt herum und lenkte ihre Schritte in Richtung des Labors. Zu ihrem Glück war dort gerade niemand, ihre Mutter musste woanders beschäftigt sein. Im Moment stand ihr nicht der Sinn danach, Konia zu erklären, dass das mit der Adresse nicht so einfach war.[/LEFT] [LEFT]Einige der Dämonen, die in Käfigen an einer Wand lebten, hoben träge den Kopf, als sie vorbeilief. Allerdings erkannten sie ihren Geruch, weswegen die meisten von ihnen weiterschliefen, nachdem sie sichergestellt hatten, dass sie kein unbefugter Eindringling war.[/LEFT] [LEFT]Lediglich eines der Wesen, das ein wenig an ein weißes Kaninchen mit etwas zu langen Ohren erinnerte, stellte sich auf die Hinterpfoten und lehnte sich mit den vorderen gegen die Gitterstäbe. Es streckte seine kleine wackelnde Nase hindurch. Nerida hielt inne und stupste den kleinen Dämon an. »War Ronan noch nicht bei dir? Er kommt bestimmt bald.«[/LEFT] [LEFT]Ihr kleiner Bruder verbrachte viel Zeit im Labor, um die harmlosen Subjekte zu füttern, deswegen hatten sich manche, wie dieser Pseudo-Hase, schon extrem auf ihn fokussiert.[/LEFT] [LEFT]Er gab einen winselnden Ton von sich und setzte sich wieder. In dieser Position sah er so traurig aus, dass Nerida ihm am liebsten noch ein wenig mehr Zeit gewidmet hätte – doch Schritte aus Richtung der Krankenstation brachten sie dazu ihren Weg fortzusetzen. Gerade als sie die Tür hinter sich schloss, wurde eine andere im Labor geöffnet.[/LEFT] [LEFT]Ich vermeide Mama nicht gern, aber ich muss erst Antworten finden.[/LEFT] [LEFT]Nur wenige Meter den Gang entlang kam sie endlich an ihrem Ziel an und klopfte.[/LEFT] [LEFT]Ihr Herz schlug ihr inzwischen bis zum Hals, die Zweifel bohrten sich tiefer in sie hinein, wollten Wunden aufreißen und Verunsicherungen schaffen.[/LEFT] [LEFT]»Abby macht auf!«, rief eine fröhliche Stimme aus der Wohnung.[/LEFT] [LEFT]Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Abby strahlte regelrecht, als sie Nerida erkannte und schlang sofort ihre Arme um sie. »Kommst du Abby besuchen?«[/LEFT] [LEFT]Mit einem gezwungenen Lächeln (das Mädchen trug keine Schuld an der Situation und sollte das nicht einmal ansatzweise zu spüren bekommen) tätschelte Nerida ihren Kopf. »Ja, das ist richtig. Ich wollte mit dir und deinem Papa reden.«[/LEFT] [LEFT]Abby löste sich von ihr, nahm ihre Hand und zog sie mit sich in die Wohnung. »Papa! Neri ist da!«[/LEFT] [LEFT]Kieran Haze saß in einem karg eingerichteten Zimmer, umgeben von verschiedenen Plüschtieren und Spielzeug, auf einem dunklen Sofa. Der gesamte Raum war erst Teil seines einst kleinen Zimmers geworden, als Abby zu ihm gekommen war. Davor hatte er lediglich ein Bett besessen, aber inzwischen brachte das kleine Mädchen ihn Stück für Stück zu anderen Dingen, sogar wieder zum Lesen.[/LEFT] [LEFT]Er blickte von seinem Buch auf, als die beiden eintraten, und grüßte Nerida mit einem knappen Nicken; es erinnerte sie so sehr an ihren Mathelehrer, dass sie ein wenig schmunzeln musste.[/LEFT] [LEFT]Abby wischte einige Holzbausteine beiseite, damit Nerida sich auf das Sofa setzen konnte. Dann nahm die Kleine den Platz neben ihr ein und schmiegte sich an sie. »Neri sagt, sie will mit uns reden, Papa~.«[/LEFT] [LEFT]»Worüber?«, fragte er tonlos.[/LEFT] [LEFT]Es war unnötig, Haze in Watte zu packen oder ihm in langen Erklärungen die Situation zu schildern, er hasste das. Also kam sie direkt zum Punkt: »Neulich habt ihr doch meine Freundin Sabia getroffen. Warum habt ihr so seltsam auf sie reagiert?«[/LEFT] [LEFT]Während Haze schwieg, dachte Abby einen Moment nach, ehe sie eine Gegenfrage stellte: »War das dieses unheimliche Mädchen?«[/LEFT] [LEFT]Haze warf ihr einen missbilligenden Blick zu, doch Nerida legte sofort eine Hand auf Abbys Haar.[/LEFT] [LEFT]»Richtig«, sagte sie, »das unheimliche Mädchen. Was war an ihr denn so schlimm?«[/LEFT] [LEFT]»Sie war wie du.« Abby neigte den Kopf ein wenig. »Und gleichzeitig ganz anders.«[/LEFT] [LEFT]Sie lieferte keine weitere Erklärung. Nerida sah hilfesuchend zu Haze, der wie üblich gelangweilt aussah. Aber zumindest verstand er, was sie von ihm wollte: »Deine Freundin hat eine ähnliche Aura wie du. Aber an ihr haftet nichts albtraumhaftes.«[/LEFT] [LEFT]Das ergab beides keinen Sinn. Sabia gehörte nicht zu ihrer Familie, vielleicht aber zu Dämonenjägern, möglicherweise zu solchen, die nicht wollten, dass sie kämpfte oder die keine guten Erfahrungen mit Athamos gemacht hatten. Doch das erklärte dann immer noch nicht, warum Haze und Abby sie als unheimlich ansahen, mit anderen Jägern gab es schließlich keine Probleme.[/LEFT] [LEFT]War sie nur hierher gekommen, um noch mehr Fragen aufzuwerfen? Haze schien jedenfalls nicht gewillt, noch mehr zu sagen. Vielleicht erachtete er das als unnötige Einmischung in eine zwischenmenschliche Beziehung, in die er nicht verwickelt werden wollte.[/LEFT] [LEFT]»Außerdem«, ergänzte Abby plötzlich und zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, »riecht sie nicht wie Neri oder die anderen hier in Athamos, sondern wie Papa und seine Freunde.«[/LEFT] [LEFT]Zuerst war Nerida ratlos, was das bedeuten könnte. Sabia war ähnlich wie sie, roch aber nicht wie sie oder die anderen hier?[/LEFT] [LEFT]Nein, ich muss mich konzentrieren. Nicht auf unsere Unterschiede, sondern auf die Gemeinsamkeit, die sie mit anderen hat.[/LEFT] [LEFT]Abby sprach von Haze, Morte und Ares. Es gab nur eine Sache, die diese drei gemeinsam hatten und sie von allen anderen, die Abby kennen konnte, unterschieden. Für diesen Schluss benötigte Nerida keine Hilfe: »Sabia kommt aus einer anderen Welt ...«[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Selbst mit dieser Erkenntnis hatte Nerida noch nicht zum Handy gegriffen, um Sabia anzurufen. Immer noch hegte sie den Verdacht, einfach erneut eingewickelt zu werden, wenn sie das täte.[/LEFT] [LEFT]Stattdessen hatte sie nach diesem Gespräch Athamos wieder verlassen, ohne erst nach Hause zu gehen. Deswegen stand sie nun mit ihrer Schultasche, deren Gewicht sie vor lauter tosender Gedanken kaum noch spürte, in dem Kreisraum, starrte auf die Splitter in der Blase und dachte nach, versuchte weitere Teile zu finden, um das Rätsel zu lösen.[/LEFT] [LEFT]Weswegen gab es diesen Raum? Was verband ihn mit Sabia? Wusste sie vielleicht doch, was aus diesen Bruchstücken einmal werden würde?[/LEFT] [LEFT]Es gab so viele Fragen, aber keine Antworten darauf. Und da war niemand, den sie darum bitten konnte, ihr zu helfen. Die Entschuldigung bei Gaith sollte unabhängig von jedem Hilfsgesuch sein, damit er ihre Aufrichtigkeit spüren könnte. Außerdem hätte sie jeden Besucher erst über die Natur dieses Raums aufklären müssen und dafür war sie nicht bereit. Niemand sollte wissen, wie sehr sie auf Sabia hereingefallen war, nur um endlich eine Freundin zu haben. Noch dazu könnte es gefährlich werden, sich hier genauer umzusehen, und dem wollte sie auch niemanden aussetzen.[/LEFT] [LEFT]Wie genau Sabia die Welten wechselte oder sogar wo sie herkam, hatte Haze natürlich nicht sagen können, auch nicht nachdem er ihre Aussage bestätigt hatte. Aber in Nerida war bereits ein Verdacht erwacht, deswegen war sie nun überhaupt im Kreisraum.[/LEFT] [LEFT]Sie wandte ihren Blick von den Splittern ab.[/LEFT] [LEFT]Die kleine Tür, die laut Sabia verschlossen war, wirkte weiterhin unscheinbar genug, um sie einfach sofort wieder zu vergessen. Doch Neridas Unterbewusstsein hatte sich damit von Anfang an nicht abfinden wollen und darauf bestanden, dass ein Geheimnis dahintersteckte. Dass sie möglicherweise vollkommen richtig lag damit, gefiel ihr dennoch nicht.[/LEFT] [LEFT]Was würde sie jenseits dieser Tür entdecken, sofern sie wirklich offen war? War es der Weg in Sabias Welt? Oder doch nur eine Attrappe, um sie von der Wahrheit fernzuhalten?[/LEFT] [LEFT]Noch dazu musste sie sich mit der Frage auseinandersetzen, ob Nerida stark genug war, ins Unbekannte vorzustoßen. Was immer sie dort erwartete war vermutlich nichts Angenehmes. Es gab niemanden, der ihr helfen könnte, wenn sie in Gefahr geriete. Sie müsste diese Situation alleine durchstehen, genau wie alles, was sie in der Schule durchmachte.[/LEFT] [LEFT]Und wovon Sabia mich erlöst hat. Doch zu welchem Preis?[/LEFT] [LEFT]Das Beeinflussen anderer Personen, um ein Ziel zu erreichen, behagte ihr immer noch nicht, selbst wenn es für sie gut gewesen war. Es musste auch anders funktionieren – und dafür könnte sie hier den ersten Schritt machen.[/LEFT] [LEFT]»Ich darf nicht zurückweichen«, murmelte sie, um sich selbst Mut zu machen. »Wenn ich nicht gehe, werde ich nie erfahren, was hier los ist, und wie ich es ändern kann.«[/LEFT] [LEFT]Mit diesen Worten griff sie nach dem runden Türknauf, ehe sie es sich doch anders überlegte. Er fühlte sich unangenehm warm an, fast glaubte sie, ein feines Vibrieren zu spüren, wie ein Puls, der durch ein Lebewesen bebte.[/LEFT] [LEFT]Vielleicht log Sabia nicht, zumindest in diesem Bereich. Nerida betete innerlich, dass abgeschlossen war, dass all das nur ein böser Albtraum war, der vom Sonnenaufgang verscheucht wurde – oder ein Missverständnis, das sich bereinigen ließe, sobald Nerida sie anrief.[/LEFT] [LEFT]Sie drehte den Griff und drückte.[/LEFT] [LEFT]Nichts. Die Tür gab keinen Zentimeter nach.[/LEFT] [LEFT]Sie wollte bereits aufatmen, das abhaken und nach diesem misslungenen Versuch erst mit Sabia reden, denn andere Spuren, denen sie nachgehen könnte, gab es für sie nicht.[/LEFT] [LEFT]Doch sie wusste selbst, dass das eine Lüge wäre. Noch gab es schließlich eine andere Richtung, die sie ausprobieren konnte. Davor durfte sie nicht aufgeben.[/LEFT] [LEFT]Die Hand, mit der sie den Knauf hielt, schwitzte.[/LEFT] [LEFT]Es war eine einfache Sache, nur eine kleine Bewegung, und doch fühlte es sich schwerer an als alles andere in ihrem Leben. Selbst das Mobbing hätte sie an dieser Stelle vorgezogen; ein abstruser Gedanke, den sie sofort verscheuchte.[/LEFT] [LEFT]Nerida atmete tief ein, drehte den Griff erneut und zog.[/LEFT] [LEFT]Die Tür öffnete sich.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)