Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 20: Eine gute Nachricht ------------------------------- „Ich hoffe, ihr habt gute Nachrichten für mich, sonst wüsste ich nicht, warum ihr es so spät noch wagen solltet, mich zu stören.“ „Haben wir“, erklang Larkins Stimme durch den Lautsprecher von Rays Handy, welches vor ihm auf der gläsernen Tischplatte lag. Er selbst saß auf seinem Drehstuhl und lehnte an dessen Polsterung, während er mit den Fingern der rechten Hand ungeduldig auf den Tisch trommelte. Wenn sie das hörten – gut. Sie sollten ruhig wissen, dass Rays Geduld sich allmählich ihrem Ende näherte. Ehrlich gesagt konnte er eine weitere schlechte Nachricht kaum mehr ertragen; zu viele hatten die vergangenen Wochen geprägt. Er war es leid, von keinem Verbleib seiner Schwester zu erfahren, stets von Samuel nur mit den Worten vertröstet zu werden, dass sie suchten – suchten, suchten und immer noch suchten. Wie schwer konnte es sein, seine missratene Schwester ausfindig zu machen? Offenbar sehr schwer, schließlich war davon auszugehen, dass sie die Hilfe eines verfluchten Ritters in schimmernder Rüstung genoss. Ray würde Chandra noch mit Freuden zeigen, dass der Held ihres Märchens ihr auch nicht zu einem Happy End verhelfen konnte. „Habt ihr meine Schwester gefunden?“, fragte Ray, bevor Larkin oder auch Ian etwas äußerten. „N-nein“, folgte Larkins Antwort, deren unsicherer Unterton Ray nicht entging. „Inwiefern könntet ihr dann gute Nachrichten für mich haben?“ Er hörte das Luftholen, ehe die Antwort folgte: „Wir sind ihm begegnet.“ Ray kam nicht umhin, zumindest überrascht die Augenbrauen zu heben. Nicht dass seine Gesprächspartner das hätten sehen können. „Ihm? Wissen wir mittlerweile, wie unser Freund heißt?“ „Nun ja … nein.“ „Daraus und aus dem Wort ‚begegnet‘ schließe ich, dass ihr ihn wieder aus den Augen verloren habt, nachdem ihr in gesehen habt, und er nun nicht bei euch ist. Nun, Larkin, sagtest du nicht, ihr hättet gute Nachrichten für mich?“ Rays Stimme schien ruhig, aber verborgen in dieser Ruhe schlummerte eine Bedrohung, die seinen Gesprächspartnern auch durch das Telefon und über hunderte Kilometer entfernt nicht entgehen konnte. In dem Moment, als Ray dazu ansetzte, fortzufahren, öffnete sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Arbeitszimmers und sein Vater trat hindurch. Unbeirrt sprach er weiter: „Diesem Bastard ohne meine Schwester zu begegnen ist ja nicht mal unbedingt schlecht. Hättet ihr ihn in eure Gewalt gebracht, hättet ihr ja wenigstens aus ihm herausprügeln können, wo er meine liebe Schwester versteckt hat. Aber nein, das ist euch wohl zu einfach erschienen.“ Mit wachsamem Blick verfolgte er, wie Jerome sich dem Tisch näherte, um dann an die Wand gelehnt zu verweilen. Warum auch immer er schon wieder hier war – vermutlich hatte er direkt gewittert, dass es Neuigkeiten gab. Jedoch keine zufriedenstellenden, also konnte er nach Rays Erachten direkt wieder abzischen. „Es … tut uns leid“, ertönte Larkins Stimme wieder aus dem Telefon, „aber er war nicht allein und die Situation hat es nicht hergegeben, jemanden zu entführen, ohne Aufsehen zu erregen.“ „Natürlich nicht“, erwiderte Ray kopfschüttelnd – als wäre es völlig absurd, etwas anderes anzunehmen. „Wo seid ihr ihm begegnet?“ Er hatte so viele Leute darauf angesetzt, entweder Chandra zu finden oder aber Cryptopokémon zu verteilen, dass er nicht im Blick hatte, wo sich Larkin und Ian aufhielten. Aber es war in der Tat ein amüsanter Zufall, dass ausgerechnet sie es waren, in dessen Arme Chandras kühner Ritter gerannt war. Ray musste sich zwar ständig mit negativen Nachrichten vertrösten lassen, doch immerhin schien auch diesem Mistkerl das Glück nicht gerade hold. Das erfreute Ray zumindest ein wenig, wenngleich es ihn nicht milde stimmte. Diese Trottel hatten Glück, dass sie gerade nicht vor ihm standen. „In Portaportus. Er war wie gesagt nicht alleine dort, aber Ihre Schwester war nicht bei ihm.“ Portaportus … Selbstverständlich ein Ort, an dem Ray Cryptopokémon haben wollte. Schließlich war Portaportus nicht nur die größte Stadt Orres, sondern zugleich die strahlendste und ein widerwärtiger Quell an Lebensfreude, in welchem düstere Pokémon zweifellos direkt auffielen. Vor zwei Wochen hatte er den Befehl gegeben, diese verteilen zu lassen und dabei gehofft, so Chandra und ihren Retter aus deren Versteck locken zu können. Dass man nun zumindest Letzteren gesehen hatte, war also keine durch und durch schlechte Nachricht. Vielmehr schien dieser ihm bislang Unbekannte genau so zu handeln, wie Ray es vermutet hatte. Die Cryptopokémon boten eine herrliche Möglichkeit, ihn hervorzulocken. Sentimentalität und Empathie waren schon immer die Schwächen der Schwachen gewesen. Eine durch und durch positive Nachricht war es aber auch nicht. Nun war dieser verfluchte Bastard fort und zukünftig mit Sicherheit vorsichtiger. „Wie ist er euch entkommen?“, verlangte Ray zu erfahren. „Er hatte starke Pokémon. Sehr starke.“ Das überraschte Ray nicht. Wer als Außenstehender nach Pyritus kam, der war kein Anfänger, was Pokémon betraf. „Und ihr hattet ihm nichts entgegenzusetzen, nehme ich an? Ich habe euch wohl die falschen Cryptopokémon gegeben.“ Ehe Larkin wieder in Rechtfertigungsversuche verfallen konnte, wie er es nur allzu gerne tat, schlug Ray geräuschvoll die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, um sich anschließend zu erheben. „Nun gut. Immerhin können wir nun abschätzen, in welcher Gegend der Region er sich aufhält und die Suche dort intensivieren.“ Er trat an die Wand zu seiner Linken und vor die dort hängende Karte von Orre. Viel zu oft hatte sein Blick in den vergangenen Wochen auf ihr gelegen, immer überlegend, wo zur Hölle Chandra sein könnte. Sein Blick schweifte zur linken Hälfte. „Portaportus also. Ich hätte mir ja eigentlich denken können, dass dieses Arschloch aus Westorre stammen muss.“ Aber weshalb interessierte er sich so sehr für Cryptopokémon, dass er den weiten Weg auf sich nahm, nur um eines zu stehlen? Doch nicht nur aus Nächstenliebe – da musste mehr dahinterstecken. Selbst mit dem neugewonnenen Wissen war Ray ratlos. Portaportus war im Westen ein Knotenpunkt. Es war also nicht weiter verwunderlich, dass er ausgerechnet dort gesehen worden war – möglich, dass er selbst dort lebte, aber genauso gut konnte es tatsächlich so sein, dass er lediglich wegen der Cryptopokémon dort gewesen war, und in dem Fall konnte er aus einer umliegenden, aber auch aus einer weiter entfernten Stadt kommen. Im Westen gab es ein paar mittelgroße Städte und unzählige kleine, unbedeutende. Portaportus bot einfach eine gute Anlaufstelle für Neuigkeiten. „Nun bist du nach all der Zeit immer noch ahnungslos.“ Jerome trat hinter ihn, in seiner heute nicht ganz so kratzigen Stimme lag leiser Spott. „Vielleicht sehen wir sie nie wieder.“ Rays Blick lag weiterhin starr auf der Karte, aber sein Körper spannte sich an, als er den kühlen Atem seines Vaters im Nacken spürte. „Vielleicht solltest du dich da raushalten, wenn du auch nicht weißt, wo sie ist.“ „Nun ja, es ist ja auch nicht meine Aufgabe, das zu wissen. Sondern deine, mein Sohn.“ Dieser Mann genoss es zu sehr, in seiner Wunde herumzustochern. Ray würde ihm nicht die Genugtuung einer weiteren Antwort geben. „Du solltest sie lieber anketten und wegsperren, falls du sie jemals wiederfindest. Bevor sie dir wieder ohne große Mühen davonrennt.“ Mit einem Satz wandte Ray sich dann doch seinem Vater zu und begegnete dessen starrem Blick. Die stahlgrauen Augen machten ihrer Farbe alle Ehre; sie schienen, als könnten sie ihr Gegenüber jeden Moment erdolchen, so sehr stand die Verachtung in ihnen. Doch Ray waren diese kalten Augen wohlvertraut und sie konnten ihm schon lange keine Angst mehr machen. „Wenn es so weit ist, werde ich das entscheiden. Nicht du“, stellte er klar. „Dann entscheide diesmal weise.“ Ray fühlte die Temperatur im Raum noch um einige Grad sinken. Dass Jerome es überhaupt wagte, so mit ihm zu sprechen, während noch weitere Ohren seine Worte hören konnten! Immer wieder untergrub er Rays Autorität, doch er tat dies nicht mit dem Ziel, dessen Position zu schwächen. Er wollte einzig und allein sehen, wie sein Sohn reagierte, wie er sich gegen die Sticheleien zur Wehr setzte. Es musste ihm wohl eine perverse Freude bereiten. An diesem Abend stand es Ray danach, die Situation schnellstmöglich aufzulösen. Der Zorn über seine Lage brodelte ohnehin stetig in ihm und Jerome würde diesen heute nicht zum Überlaufen bringen. Er trat wieder an den Arbeitstisch und stützte die Hände auf dessen Platte ab. „Habt ihr mir sonst noch etwas Nennenswertes mitzuteilen, oder ist euer Quell an ‚positiven Nachrichten‘ für heute erschöpft?“, wandte er sich an sein Handy. Am anderen Ende war ein Räuspern zu vernehmen. Natürlich hatten die beiden trotz der Gesprächspause nicht aufgelegt – das taten sie erst, wenn Ray das Gespräch für beendet erklärte. „Nein …“, sagte Larkin. „Es – es gäbe da vielleicht noch eine Sache“, warf Ian ein. Ray spitzte die Ohren. Ian war von beiden immer der ruhigere; wo Larkin nach vorne preschte und seine Meinung gerne ungefragt kundtat, hielt er sich lieber bedeckt. Gut möglich, dass er, wenn er dann mal sprach, etwas von Bedeutung äußern wollte. „Ja …?“ „Er … dieser Typ … er hatte ein auffälliges Pokémon bei sich.“ „Inwiefern?“ „Er hatte ein Arkani, doch sein Fell war nicht orange, sondern vielmehr gelb, nahezu … golden. Und es war verdammt groß, größer als andere seiner Art, würde ich meinen.“ Schweigend verinnerlichte Ray die neue Information. Ein großes, gelbgefärbtes Arkani – ein interessanter Fakt, aber wie vermochte diese Tatsache ihm zu helfen? Pokémon, die sich farblich von ihren Artgenossen unterschieden, fielen natürlich auf. Er könnte seine Leute zukünftig auch nach diesem Pokémon Ausschau halten lassen, aber ein derart großes Pokémon war keines, das ein Trainer permanent neben sich führte. Dieser Fakt half ihm nur bedingt. Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als neben ihm das Lachen seines Vaters erklang. Es schien aus tiefster Kehle zu kommen und aufrichtig zu sein, nicht bloß Spott, aber es verursachte auch einen trockenen Hustenanfall. Als Jerome sich wieder gefangen hatte, meinte er: „Wer hätte das gedacht … was für ein Zufall.“ „Wovon sprichst du?“ Jerome verschränkte die Arme vor der Brust, sein Blick glitt nach unten ins Leere. Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen, passend zu dem Funkeln in seinen Augen. Was auch immer er dachte, es erfüllte ihn offenbar mit Vergnügen. „Das goldene Arkani …“ Plötzlich öffnete er seine Arme wieder und legte eine Hand auf Rays Schulter, dem bei diesem Kontakt ein Schauer über den Körper jagte. „Ich glaube, ich weiß, nach wem du suchst, mein Sohn.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)