Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 18: Dünnes Eis ---------------------- Zayn hasste es, zu warten. Vor allem hasste er es, auf Vince zu warten, weil dieser immer zu spät zu Verabredungen kam. War er dann doch mal pünktlich, grenzte dies beinahe an ein Wunder. Dieser Junge schaffte es einfach nicht, auf eine Uhr zu schauen, geschweige denn, seine Zeit etwas besser zu managen. Zayn hatte es nach all den Jahren aufgegeben, auf Besserung zu hoffen. Also ließ er einmal mehr ungeduldig seine wertvolle Zeit verstreichen, während er auf den asphaltierten Boden zu seinen Schuhen starrte. Er saß auf einer der metallenen Bänke, die vor dem Labor unweit der Eingangstüren standen. Der Tag war noch nicht alt, die Uhr zeigte gerade mal kurz nach Zehn. Allerdings hatte er sich einiges vorgenommen und da war es besser, nicht zu spät damit anzufangen.  Sein Blick glitt nach vorne zur Straße, die durch den kleinen Waldabschnitt zum Labor führte, als er die Motorengeräusche eines Autos vernahm. Doch leider war es nur der Wagen seiner Mutter, der über die Auffahrt rollte, und so musste er weiter auf Vince warten. Nachdem Cara das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte, kam sie Richtung Eingangstüre gelaufen. Als ihr Blick auf Zayn fiel, hob sie die Augenbrauen. „Oh, Zayn. Wartest du etwa auf jemanden?“ Unter ihrem grauen Mantel trug sie eine weiße Bluse und die riesige, prall gefühlte Tasche, die sie mit sich herumschleppte, zeugte davon, dass sie soeben von einem Hausbesuch zurückkam. Sie war eine angesehene, erfolgreiche Pokémon-Ärztin und sie arbeitete viel im Labor, wenn verletzte oder kranke Pokémon ihrer Hilfe bedurften, aber nicht alle Pokémon konnten mit ihren Trainern und Besitzern ins Labor kommen. Manchmal war ihr Zustand zu schlecht, einige waren aber auch schlichtweg zu groß. In solchen Fällen machte sie Hausbesuche und half den Pokémon vor Ort. Gemessen an der Erschöpfung, die in ihrem Gesicht stand, hatte es sich an diesem Morgen wohl um einen besonders hartnäckigen Fall gehandelt. „Ja“, grummelte Zayn auf ihre Frage. „Ich warte mal wieder Ewigkeiten auf Vince, der einfach nicht pünktlich sein kann.“ „Nun ja“, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, „vielleicht ist es diesmal der Uhrzeit geschuldet? Was habt ihr denn so früh schon vor?“ „Nichts.“ „Oh, interessant, nichts. Und was ist mit Chandra, während du nichts machst?“, schmunzelte sie. „Was soll mit ihr sein? Sie ist hier im Labor und wird sicher eine Beschäftigung finden.“ Er war ja schließlich nicht ihr Aufpasser und sie konnte sich gut mit sich selbst beschäftigen, seit sie wieder mehr Interesse daran hatte, mit ihren Pokémon zu üben. Warum bedachte ihn seine Mutter dann also mit diesem wissenden Lächeln? „Ah, ich verstehe. Was auch immer ihr vorhabt, Mädchen sind nicht erwünscht.“ „Genau.“ „Ich dachte nur, wo du sie doch zuletzt kaum aus den Augen lassen konntest. Bist sogar mit ihr nach Portaportus gefahren und das für mehr als einen Tag. Aber vielleicht ist so ein wenig Abstand ab und zu ganz gut. Man soll ja schließlich nicht zu sehr aufeinanderhängen.“ Bei diesen mit Bedacht gesprochenen Worten warf Zayn seiner Mutter einen irritierten und zugleich verlegenen Blick zu. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber … hör auf damit. Das ist gruselig“, stellte er fest und wandte sich danach demonstrativ von ihr und ihren Aussagen ab. „Wie du meinst, Zayn. Aber vergiss nicht, dass ich auch mal in deinem Alter war und weit mehr verstehe, als du denkst.“ Mit einem Grinsen auf den Lippen wandte sie sich von ihm ab und ging Richtung der Eingangstüren. „Ich werde Chandra ausrichten, dass du heute sehr beschäftigt bist. Aber komm nicht zu spät nach Hause, ja? Für heute Abend ist ein Unwetter angesagt.“ „Jaja“, erwiderte er abwesend, was seine Mutter aber wohl nicht mehr gehört hatte. Die automatischen Türen hatten sich bereits wieder hinter ihr geschlossen. Genau das war ja das Problem. Seine Mutter verstand zu viel. Und sie war im Moment wirklich die Letzte, mit der er über Chandra reden wollte. Das alles war auch ohne eine Fragen stellende Mutter schon kompliziert genug. Exakt in diesem Augenblick erschien Vince‘ Auto in Zayns Blickfeld und bewahrte ihn davor, weiter darüber nachzudenken. Kaum eine Minute später schlug die Tür zur Beifahrerseite zu und Zayn ließ sich in die Polsterung des Sitzes sinken, legte den Sicherheitsgurt an – bei Vince‘ Fahrstil hätte er gerne noch einen zweiten Gurt gehabt – und warf seinem Freund eine lockere Begrüßung zu. „Ja, hallo. Hast du mal auf die Uhr gesehen? Was bringt mich in aller Herrgottsfrühe dazu, dich durch die Gegend zu kutschieren?“, war dessen wenigere freundliche Begrüßung, zusammen mit einem genervten Seitenblick. Müdigkeit hin oder her, er hatte immerhin nicht vergessen, sich eine für ihn typische schwarze Kappe auf den Kopf zu setzen. Zayn lachte: „Hast du gerade wirklich Herrgottsfrühe gesagt? Dann solltest du wissen, dass zehn Uhr für die meisten Menschen nicht unter ‚in aller Herrgottsfrühe‘ fällt.“ „Wie auch immer“, grummelte Vince. „Es ist zu früh und ich weiß nicht mal, warum ich so früh aufstehen musste.“ „Wann bist du heute Nacht nach Hause gekommen?“ Ein weiterer Seitenblick und ein „Spät“ waren Vince‘ Antwort darauf. „Bist du nüchtern?“, hakte Zayn weiter nach. „Wäre ich sonst hier?“ „Worauf wartest du dann noch? Dein Gast möchte kutschiert werden. Los.“ So grummelig Vince auch früh morgens sein konnte, Zayn wusste, dass er sich jederzeit auf seinen besten Freund verlassen konnte. Er würde auch mitten in der Nacht herfahren, wenn Zayn seine Hilfe benötigte. Vince startete den Motor wieder und fuhr vom Parkplatz. Als sie das kleine Waldstück durchquerten, fragte er: „Also, was hast du vor? Deine Nachricht heute Nacht um zwei war nicht sehr präzise. Wieso warst du überhaupt so spät noch wach? Ach nein, warte, ich kann’s mir schon selbst denken.“ Zayn überging Vince‘ Bemerkung und sagte: „Wir müssen nach Portaportus.“ Daraufhin stieß sein Freund erstaunt die Luft aus und warf einen Blick hinters Lenkrad. „Dann … muss ich tanken.“ „Ich geb dir Geld, ja? Es ist wirklich wichtig.“ „Und ich nehme an, du verrätst mir auch gleich, warum? Du brauchst mich vermutlich nicht, um den Sonnenuntergang am Strand zu beobachten, dafür hast du ja Chandra.“ Plötzlich sah Vince skeptisch an Zayn auf und ab und warf einen Blick auf die Rückbank. „Wo ist sie überhaupt?“ „Himmel, warum fragt ihr mich das alle? Sie ist nicht hier. Ich kann sie heute nicht gebrauchen. Aber ich brauche dich“, betonte Zayn. Nun grinste Vince. Sie waren mittlerweile auf dem Weg zur nächstgelegenen Tankstelle. „Ärger auf Wolke sieben?“ „Nein.“ Zayns ‚Nein‘ war vielleicht einen Ticken zu bestimmt. Es gab keine Probleme, im Gegenteil. Alles lief perfekt und gerade deshalb wollte er sie bei dem, was er vorhatte, nicht dabeihaben. Es würde sie nur in Gefahr bringen. Vince sprach einfach weiter: „Ich wusste gleich, dass irgendetwas komisch ist, als ich dich gesehen habe. Man trifft dich in letzter Zeit selten alleine an.“ „Idiot“, entgegnete Zayn kopfschüttelnd und richtete seinen Blick aus dem Seitenfenster. Noch bedeckte ein sattes Blau den Himmel und lieferte keinerlei Anzeichen auf ein baldiges Unwetter. Sollte tatsächlich eines aufziehen, so hatte Zayn zumindest noch genügend Zeit, um vorher seinen Nachforschungen nachzugehen.   ******   Nachdem Vince getankt und sich bei der Gelegenheit einen Kaffee genehmigt hatte, war er, als sie schließlich unterwegs nach Portaportus waren, endlich wieder mehr wie er selbst und nutzte Zayn nicht mehr als Blitzableiter für seine aus Müdigkeit resultierende Mürrischkeit. „Also, dann erzähl mal. Was führt uns heute ins wunderschöne Portaportus?“, fragte er Zayn zum wiederholten Male, sichtlich neugierig. Dieser zögerte nun nicht lange, die Wahrheit auszusprechen. „Dort und auch in anderen westlich gelegenen Städten tauchen seit Kurzem Cryptopokémon auf. Ich will wissen, wieso und wer sie dort verteilt. Ich meine … ich weiß, wer sie dort verteilen lässt. Aber dieser Jemand wird es ganz bestimmt nicht selbst tun. Also will ich wissen, wer es stattdessen macht.“ Es verstrichen einige Sekunden, bis Vince antwortete, nun weniger locker als zuvor. „Du siehst darin aber nicht wieder die Möglichkeit, dir so ein Pokémon zu schnappen, oder?“ „Natürlich nicht“, winkte Zayn ab. „Ich meine es ernst. Diese Pokémon sind gefährlich und wer sie verteilt, wird es vermutlich erst recht sein.“ Wem sagst du das?, dachte Zayn, sagte aber stattdessen: „Ich meine es auch ernst. Es geht mir nicht in erster Linie darum, so ein Pokémon mitzunehmen. Ich könnte gut und gerne darauf verzichten, noch mal einem gegenüberzustehen, aber so einfach ist es nun mal nicht. Es ist ein verdammt schlechtes Zeichen, dass diese Pokémon gerade jetzt hier auftauchen. Vor einer Woche sind wir einem Cryptopokémon in Portaportus begegnet und ich konnte Chandra gerade noch davon abhalten, etwas Dummes zu tun. Und genau das ist auch der Grund, weshalb ich sie nicht dabeihaben will. Es würde sie nur wieder beunruhigen, solche Pokémon zu sehen, ganz abgesehen davon, wie sie auf sie reagiert.“ Trotz aller Sorge um ihr Wohl hatte er Chandra, nachdem sie aus Portaportus zurückgekehrt waren, von seinen Erkenntnissen zu Cryptopokémon in anderen Städten Orres erzählt. Es hatte ihn gequält, zu sehen, wie die Angst diese schönen, grünen Augen verdunkelt hatte, aber es war vonnöten gewesen – spätestens, nachdem sie das Bamelin gesehen hatte. „Du meinst, dass sie sich …“, Vince suchte offenbar nach den richtigen Worten, „schlecht fühlt?“ Zayn lachte daraufhin humorlos auf. „Ja, so kann man es auch nennen. Sie spürt die Dunkelheit dieser Pokémon. Wie sich das für sie anfühlt … Ich glaube, wie tiefe Hoffnungslosigkeit und Furcht. Aber ich weiß es nicht genau. Ich habe nur einen kurzen Hauch davon gespürt, bevor dieses Waaty wieder normal wurde.“ „Ziemlich krass. Ich würde es nicht glauben, wärst du nicht derjenige, der es mir erzählt hat. Wie hat sie das überhaupt gemacht?“ „Keine Ahnung. Es war wie eine innige Umarmung, bei der sie alles Dunkle aus dem Pokémon herausgesogen hat. Nach all unseren Bemühungen, diesen Pokémon zu helfen, war es dann doch so unerwartet einfach.“ Beim Sprechen verlor sich Zayns Blick in der Landschaft außerhalb des Autos. Er war sich gar nicht der Trübsinnigkeit bewusst, die in seine Worte sickerte. „Obwohl es mich einerseits fasziniert, verstört es mich zugleich zutiefst, je länger ich darüber nachdenke. Nach allem, was Chandra mir erzählt hat … Es hätte auch schlimmer ausgehen können. Und ich würde es nicht ertragen, sie zu verlieren.“ Vince schwieg auf diese Aussage hin, aber Zayn erkannte im Augenwinkel immer wieder die kurzen Blicke, die sein Freund ihm zuwarf. Ihm war es nur recht, dass er seine Besorgnis für sich behielt. Er wollte nicht darüber reden. „Nun ja“, stieß Vince plötzlich aus, wieder in seiner altgewohnten Leichtigkeit, mit der er es im Nu vermochte, die unangenehme Stille zu vertreiben, „wie wär’s, wenn du mir dann endlich mal erzählst, was da überhaupt zwischen dir und Chandra läuft?“ „Und wie wär’s, wenn du aufhörst, meiner Schwester Flausen in den Kopf zu setzen?“ „Flausen?“, prustete Vince. „So nennst du das also, ja?“ „Ja, es ist nämlich verdammt unangenehm, wenn meine, wohlgemerkt elfjährige, Schwester uns die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtet, weil sie erwartet, jeden Moment etwas sehen zu können, das sie dir dann weitertratschen kann“, schoss Zayn zurück, jedoch nicht wirklich wütend, wohingegen sich das Grinsen seines Freundes mit jedem Wort weitete. „Ja, das ist wirklich unangenehm – vor allem, wenn dann auch noch alles, was ich ihr erzähle, der Wahrheit entspricht. Im Ernst, Zayn. Wenn ihr nicht wollt, dass euch jeder euer Was-auch-immer schon auf zehn Meilen Entfernung ansieht, dann solltet ihr vielleicht weniger aufeinander kleben. Oder ineinander.“ „Du bist so ein Arsch“, lachte Zayn und legte den Kopf zurück. Er hätte dieses Gespräch gerne noch länger aufgeschoben – nicht, dass er ein Problem damit hatte, mit seinem besten Freund darüber zu reden. Es war nur eben komplizierter, als sich irgendjemand vorstellen konnte. „Also hab ich recht?“ „Was wäre, wenn?“ „Dann … wow. Hier oder in Pyritus?“ Die unverhohlene Neugier tränkte Vince‘ Worte. „Pyritus.“ Die Erinnerung daran erschien wie eine warmes Licht hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Eigentlich hätten ihm andere Ereignisse in dieser Stadt prägnanter im Gedächtnis bleiben sollen, aber nichts vermochte es derart gut, sich gleißend hell durch den Dunst Pyritus‘ in seine Gedanken zu brennen wie die Nähe zu Chandra. Sie war aufregend und gefährlich gewesen und gerade das hatte ihn zu ihr hingezogen – und würde es jederzeit wieder. Er wurde aus seinen Tagträumen gerissen, als Vince mal wieder sehr unsanft um eine Kurve bretterte. „Verdammt, kannst du nicht wie ein normaler Mensch fahren?“, grummelte er. „Nö. Kannst du nicht meine Fragen beantworten?“ „Welche?“ „Wie du das gemacht hast. Wie hast du sie rumgekriegt? Ich meine, du warst wie lange dort? Vier Tage? Das müssen vier aufregende Tage gewesen sein“, mutmaßte Vince. „Hab ich nicht“, erwiderte Zayn knapp. „Hä?“ Vince warf ihm einen irritierten Blick zu, doch dann weiteten sich seine zuvor verengten Augen, als er verstand. „Oh, Shit. Sie hat dich …?“ Ein Nicken. „Ja.“ „Puh.“ Auf diese Nachricht öffnete Vince erst einmal sein Fester ein Stück. „Warst du nicht derjenige, der sich noch vor einem Jahr bei mir beschwert hat, dass Sex ohne Gefühle nichts für dich sei, weil es – wie sagtest du noch gleich? – sich nicht mit deinen ‚moralischen Standards‘ vereinbaren ließe?“ „Das war vor einem Jahr“, betonte Zayn und in Gedanken fügte er hinzu: Und ich weiß, wie ‚ohne Gefühle‘ ist. Das mit ihr … ist nicht so. „Hach ja“, grinste Vince voller Zufriedenheit, „ich wusste es. Dir hat einfach nur die richtige Frau gefehlt. Und wie war’s? Gut? Das wird ja wohl nicht das einzige Mal gewesen sein, oder?“ Zayn schenkte ihm nur ein müdes Lächeln. „Ein Gentleman genießt und schweigt.“ „Ausnahmsweise akzeptiere ich dieses Argument mal.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Du magst sie wirklich, oder?“ Die Antwort war ein zustimmendes Brummen. „Aber das ist nicht der Hauptgrund, aus dem du sie mit hierher genommen hast, nehme ich an?“ „Leider nicht“, erwiderte Zayn und musste nun unweigerlich wieder an das denken, das ihm zurzeit wie ein Pistole im Nacken saß und drohte, sein Glück zu zerschmettern. „Da Chandra den Cryptopokémon helfen kann, ist sie für denjenigen, der hinter diesen Pokémon steht, sehr wichtig. Und das ist auch der Grund, weshalb ich heute nach Portaportus muss.“   ******   Zayn war nicht ohne ein konkretes Ziel nach Portaportus gefahren. Er war mit einem ehemaligen Schulkameraden und guten Freund verabredet. Gregory, den aber alle nur Greg nannten, war zu Schulzeiten einer der wenigen gewesen, die Zayn nicht mit seinem unausstehlichen Verhalten vergrault hatte – genau genommen der Einzige, neben Vince natürlich. Er hatte sich zur damaligen Zeit zwar aus reinem Selbstschutz ein wenig von ihm distanziert, später jedoch Zayns Entschuldigung über dessen dummes Verhalten angenommen. Allerdings war er nach ihrem Abschluss nach Portaportus gezogen, um dort eine Ausbildung zum Koch zu absolvieren, und Zayn war bis zu seinem ersten Aufenthalt mit Chandra lange nicht mehr in Portaportus gewesen. Dementsprechend selten sahen sie sich. Greg arbeitete in jenem Restaurant, in das Zayn Chandra damals geführt hatte. Zu seinem Bedauern hatte er sie eine ganze Weile alleine am Tisch warten lassen, doch er und sein alter Freund hatten sich einfach einige Dinge zu erzählen gehabt. In exakt diesem großflächigen Restaurant standen Zayn und Vince nun also und warteten darauf, dass Greg durch die Tür zur Küche zu ihnen stieß. Zur Mittagsstunde war das Lokal selbstverständlich gut besucht, doch er hatte vorab versichert, dass dies kein Problem sei. Und tatsächlich erschien nach nur wenigen Minuten ein hochgewachsener, junger Mann in schwarzer Küchenkleidung mit weinroter Schürze und zurückgestrichenen, hellbrauen Haaren. Er begrüßte seine Freunde mit einem Handschlag sowie einer kurzen Umarmung und geleitete sie anschließend zu einem freien Tisch in einer ruhigeren Ecke. Dort waren das Stimmengewirr anderer Gäste und das Klirren des Geschirrs zwar nach wie vor überdeutlich zu vernehmen, doch sie drei würden kaum auffallen. „Hast du auch wirklich Zeit? Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten – so voll wie es hier ist“, meinte Zayn, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Ach, mach dir da mal keinen Kopf“, lächelte Greg, wobei sich feine Grübchen auf seiner gebräunten Haut abzeichneten. „Klar habe ich Zeit; ich nehme sie mir einfach. Mein Chef kann mich nicht rausschmeißen, ich bin zu gut. Hat er selbst gesagt.“ „Na dann, angehender Sternekoch“, grinste Zayn. „Aber sag mal, wo hast du denn die hübsche Blonde vom letzten Mal gelassen?“ Zayn konnte über diese wiederholte Frage nur noch die Augen verdrehen, schmunzelte aber. „Sie ist bei mir zu Hause.“ „Und manchmal“, Vince legte ihm die Hände auf die Schultern, „auch in seinem Bett.“ „Junge, übertreib’s nicht.“ Lachend stieß er ihn von sich weg. „Ernsthaft? Läuft da was?“, hakte Greg nach. Zayn ergab sich in sein Schicksal und nickte. „Irgendwie schon, ja.“ Sein Gegenüber schüttelte leicht den Kopf und lächelte ein Lächeln voll aufrichtiger Freude. „Mensch, Zayn, das freut mich, ehrlich. Bring sie doch beim nächsten Mal wieder mit hierher. Ich zaubere euch was ganz Besonderes.“ „Ich kann’s kaum abwarten, aber …“, Zayn wurde wieder ernst, „jetzt haben erst mal andere Dinge Vorrang.“ Greg lehnte sich nach hinten. „Na klar“, seufzte er. „Ich hab mich, wie du wolltest, ein wenig umgehört. Mit Erfolg. Aber es wird dich nicht erfreuen.“ „Schieß los.“ „Ab und zu konnte ich bei anderen Leuten einige Gesprächsfetzen aufschnappen. Hier und da wurden mal auffällig aggressive Pokémon gesehen, immer zugehörig zu Trainern, diese waren aber immer mit den Pokémon überfordert. Ein Trainer wurde von seinem Groink gebissen, das Pokémon ist daraufhin abgehauen, konnte aber später von der Polizei wieder eingefangen werden. Und vergiss den Gedanken gleich wieder“, mahnte er Zayn, als er dessen erstaunten Blick sah, „die rücken das Pokémon nicht raus. Nicht, bis sie davon ausgehen können, dass es nicht wieder Menschen angreift.“ „Dann wird es Zeit, dass sich jemand genauer mit diesen Pokémon beschäftigt. Statt immer nur wegzusehen“, konterte Zayn. „Ich sag’s ja nur. Auch ohne deine Bitte, Augen und Ohren offenzuhalten, wäre mir aufgefallen, dass sich diese komischen Pokémon häufen. Die Touris werden auch allmählich nervös; niemand will nach Portaportus kommen und dann von einem verrückten Pokémon angegriffen werden. Wenn sich das Problem verschärft, könnte das zu einem echten Problem werden. Wir alle hier leben vom Tourismus, aber es gibt genügend schöne Orte jenseits des Meeres, wo es diese Pokémon nicht gibt. Wie heißen sie nochmal?“ „Cryptopokémon.“ Zayn konnte Gregs Ausführungen verstehen, sie bewegten ihn im Moment allerdings nur mäßig. Sollten sich die Cryptopokémon weiterhin ausbreiten, dann hätten sie bald ganz andere Problem als ausbleibende Touristen. „Ah.“ Greg schnipste plötzlich mit den Fingern. „Aber du hast Glück. Gestern hab ich eine junge Frau erwischt, wie sie sich am Telefon bei jemandem über solch ein Pokémon beschwert hat. Ich bin zu ihr und was sie mir erzählt hat, passt zu dem, was du mir gesagt hast. Aggressives, unkontrollierbares Pokémon, das sie von jemandem gekauft hat. Sie war ziemlich angepisst, aber bereit, sich mit dir zu treffen.“ Er fischte in seiner Hosentasche nach einem Zettel, den er Zayn zuschob. „Hier ist ihre Nummer. Ruf sie an und mach ein Treffen mit ihr aus. Aber sei bloß vorsichtig.“ Nachdenklich besah sich Zayn der Nummer auf dem Zettel. Das war, was er sich erhofft hatte – jemanden dazu befragen können, woher er oder sie ein Cryptopokémon hatte. Vielleicht brachte ihn das weiter. Die Informationen von seinem Freund bereiteten ihm aber auch Sorgen, wenngleich sie ihn wenig überraschten. Er hatte die letzten Tage immer wieder Ausschau gehalten nach Meldungen zu neuen Entdeckungen. Nach wie vor keine Sichtungen in Veralia. Das galt aber nicht für größere Städte. „Und was erhoffst du dir davon?“, fragte Greg. „Erst mal will ich wissen, wer die Pokémon verteilt.“ „Und dann? Suchst du die Typen?“ Der Argwohn in Gregs Gesicht war unverkennbar. „Ohne Scheiß, Zayn. Wenn die wirklich aus Pyritus kommen, sind sie gefährlich.“ „Das versuch ich ihm auch die ganze Zeit zu sagen“, warf Vince ein. Mit einem genervten Stöhnen lehnte Zayn sich zurück, als er klarstellte: „Ich weiß besser als ihr beide zusammen, dass die Typen gefährlich sind, danke.“ Greg ließ nicht locker. „Meinst du nicht, dass das ‘ne Nummer zu groß für dich ist?“ „Wenn ich mich nicht darum kümmere, macht es niemand.“ „Und dennoch denke ich, dass es nicht deine Aufgabe ist, sondern die–“ „Die der Polizei? Der Regierung?“ Zayn lachte humorlos. „Die machen aber nichts. Willst du erst warten, bis wir hier völlig überschwemmt werden mit Cryptopokémon? Du kannst ja mal nach Pyritus gehen. Du bist ein anderer Mensch, wenn du wiederkommst.“ Allmählich schien Greg zu begreifen, dass Zayn sich keinen Millimeter von seinem Standpunkt wegbewegen würde. „Ach Zayn …“ „Lass gut sein.“ Zayn erhob sich und rang sich ein Lächeln ab. „Ich stecke da längst viel zu tief drin.“ Das hatte er schon zuvor und spätestens seit Chandra gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, sich der Angelegenheit zu entziehen. Aber das musste er seinem Kumpel nicht erzählen; je weniger dieser wusste, desto besser. „Du warst schon immer stur, wenn du etwas wolltest“, schmunzelte Greg. Er und Vince waren ebenfalls aufgestanden. „Hat sich auch meistens ausgezahlt. Aber du solltest jetzt wieder an die Arbeit. Willst doch niemandem deine grandiosen Kochkünste vorenthalten“, grinste Zayn. „Natürlich nicht. Und du … pass auf dich auf. Du hast ein Talent dazu, dich in Schwierigkeiten zu begeben.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Gregs Lippen und die Sorge zeichnete sein Gesicht unverkennbar. Zayn war dieser Blick wohlvertraut. Er hatte ihn unzählige Male bei allen möglichen Leuten gesehen. Meist hatte er ihn als nervig empfunden. Jetzt bereitete er ihm ein unangenehmes Gefühl. Womöglich deshalb, weil die Sorge der anderen dieses Mal berechtigt war. „Ich werd’s versuchen“, versprach er.   ******   Zayn hatte die Trainerin schließlich angerufen und ein Treffen mit ihr ausgemacht. Allerdings war sie nicht sofort in der Lage gewesen, zu ihnen zu kommen, also hatten er und Vince sich die Mittagsstunden bis zur vereinbarten Zeit anderweitig vertreiben müssen. Schlussendlich waren sie etwas essen gegangen – nicht bei Greg, dort war es zu voll gewesen – und Zayn hatte, während sie draußen in der angenehm warmen Meeresbrise gesessen hatten, nicht aufhören können, den Blick durch die Umgebung schweifen zu lassen. Stets auf der Suche nach einem auffälligen Pokémon und mit einem Ohr bei den Gesprächen anderer Menschen – aber Fehlanzeige. Gerade dann, wenn er vor Ort war, ergab sich nichts Auffälliges. Nichtsdestotrotz wuchs ein wenig Unruhe in ihm heran. Es erschien ihm falsch, friedlich herumzusitzen, während womöglich im selben Moment an einer anderen Stelle in der Stadt Cryptopokémon verteilt wurden. Andererseits … würde man so etwas in der hellsten und strahlendsten Stadt Orres vermutlich eher nachts tun. Im Dunkeln. Sein ungutes Gefühl konnte er ebenfalls nicht abschütteln, je länger sie sich in der Stadt aufhielten. Aber er schenkte dem keine Aufmerksamkeit mehr, als es endlich an der Zeit war, sich mit der unbekannten Trainerin zu treffen. Sie waren vor dem Pokémon-Center verabredet – dies lag an einem an die Promenade angrenzenden offenen Platz und war für jeden erkennbar anhand des großen Pokéball-Symbols oberhalb der Eingangstüren. Als Zayn und Vince dort ankamen, fiel ihnen bereits eine Frau mit viel zu großer Sonnenbrille auf, die sich immer wieder suchend in alle Richtungen umsah. „Hey, bist du Kaleigh?“, fragte Zayn die Fremde, als sie zu ihr stießen. Sie drehte sich erstaunt um und schob fragend ihre Sonnenbrille nach oben, wobei sie ein Paar hellbrauner Augen offenbarte. „Ja. Bin ich mit euch verabredet?“ „In der Tat.“ Zayn reichte ihr zur Begrüßung die Hand und sie stellten sich ihr vor. Kaleigh hatte ihre Sonnenbrille hoch auf ihre dunkelbraune Haarspracht geschoben, aus der ihr ein fransiger Pony auf die Stirn fiel. Ihre Haut war goldgebräunt und ließ vermuten, dass sie sich bei gutem Wetter gerne am Strand aufhielt. Das Lächeln auf ihren üppigen Lippen hatte etwas Herausforderndes an sich. Die junge Frau vor ihnen machte einen alles andere als schüchternen Eindruck; wenn sie als Trainerin nur halb so selbstbewusst war, dann fragte Zayn sich wirklich, was sie dazu gebracht hatte, ein Cryptopokémon zu … kaufen. „Lass uns ein Stück gehen“, schlug er vor. Er wollte nicht unmittelbar vor dem Pokémon-Center darüber sprechen. Es stand ihm allerdings wenig danach, lange mit seinem Anliegen zu warten. „Du hast dir also ein besonderes Pokémon zugelegt?“, fragte er und hielt es für ratsam, erst einmal herauszufinden, wie viel sie selbst über das Pokémon wusste, ehe er ihr mehr erzählte. Kaleigh nickte, wenig begeistert. „Habe ich. Allerdings bin ich nicht sehr zufrieden.“ „Inwiefern?“ „Erst war es stur … irgendwie fast schon ein wenig apathisch und nicht bereit, auch nur eines meiner Worte wahrzunehmen, so schien es mir. Es stand nur stumpf in der Gegend und hat Löcher in die Luft gestarrt. Gut, dachte ich mir, wir kennen uns noch nicht, vielleicht braucht es ein wenig länger. Aber als ich mich ihm in Ruhe genähert habe, ist es plötzlich zum Leben erwacht. Es hat mich zur Seite gestoßen und sein Horn voller Wucht in den Boden gerammt. Ich hatte Glück, dass es mich dabei nicht erwischt hat“, erzählte Kaleigh hörbar aufgebracht. „Von welchem Pokémon ist die Rede?“, fragte Zayn. „Es ist ein Galoppa. Nun ja, nach diesem Ereignis holte ich es schnellstmöglich in seinen Ball zurück. Ein wenig später habe ich es dann noch mal versucht. Aber du kannst es wirklich vergessen, dieses Galoppa ist völlig wahnsinnig! Es hat in seiner Wut einfach einen Flammenwurf auf mich losgelassen! Weißt du, wie gefährlich das ist, wenn du ein Feuerpokémon nicht unter Kontrolle hast?“ Mitten in ihren Ausführungen waren sie dann doch wieder zum Stehen gekommen, allerdings an einer etwas ruhigeren Stelle und nicht mehr direkt vor dem Center. Zayn musste bei Kaleighs Beschreibungen an sich halten, sich nicht voll Fassungslosigkeit die Haare zu raufen. Gerne hätte er ihr gesagt, dass sich solche Dinge verhindern ließen, indem man keine Pokémon von Wildfremden kaufte, jedoch benötigte er noch weitere Infos und wollte sie nicht sogleich vergraulen. Also sagte er in verständnisvoller Tonlage: „Allerdings. Ich habe selbst eines.“ Vince an ihrer Seite hielt sich bedeckt, aber in seinem Gesicht stand jener misstrauische Blick, den Zayn zurückhielt. „Und wie kann das überhaupt sein? Pokémon greifen keine Menschen an. Wenn man sie bedroht, klar, aber nicht grundlos“, fuhr Kaleigh fort. „Wie bist du überhaupt dazu gekommen, dieses Pokémon anzunehmen?“ Sie seufzte. „Ich komme eigentlich aus Sinnoh und bin nur für einen kurzen Trip nach Orre gekommen, wollte mir ein wenig die Städte und die Natur ansehen und anschließend zum Duellberg weiterziehen. Ich bin vor ein paar Tagen mit der Fähre hier angekommen und habe die Kunde von außergewöhnlich starken Pokémon aufgeschnappt. Das hat mich neugierig gemacht. Und na ja, vorgestern Abend ist mir dann zufällig jemand über den Weg gelaufen und hat mir so ein Pokémon angeboten.“ Es fiel Zayn zunehmend schwerer, seine gefasste Haltung aufrechtzuerhalten. Die Art und Weise, wie die junge Frau davon sprach, strotze nur so vor Naivität. „Ist der Handel mit Pokémon bei euch in Sinnoh legal, oder wieso bist du dem so neutral begegnet?“ Na, das funktionierte ja gut mit dem Freundlich-bleiben. Sie verdrehte daraufhin die Augen und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich nicht. Aber wollen wir nicht alle starke Pokémon haben? Die Versuchung, ein starkes Pokémon zu bekommen, ohne es mühselig suchen und trainieren zu müssen … die war so groß. Und na ja“, sie lächelte unschuldig, „er hat mir das Pokémon gezeigt. Es war ruhig, aber wirkte soweit normal. Woher hätte ich wissen sollen, dass es so ausrasten kann?“ Ja, woher? War doch auch eine völlig normale Situation. „Nimm mir die Frage nicht übel, aber hat es dich nicht skeptisch gemacht, dass dir jemand ein starkes Pokémon anbietet? Die allerwenigsten trainieren erst ein Pokémon, bis es stark wird, um es dann zu verschachern. Wie gesagt, Handel mit Pokémon ist nach wie vor ein Verbrechen. Das hätte dir doch komisch erscheinen müssen.“ So langsam schienen seine unterschwelligen Vorwürfe sie doch zu erzürnen. Ihr Lächeln war längst verschwunden, stattdessen lag ein widerwilliges Funkeln in ihren Augen. „Ja, und selbst wenn? Jetzt ist es ohnehin zu spät. Aber hätte ich das gewusst, hätte ich dieses Pokémon nie angenommen. Ich wollte ein starkes, ja, aber kein … was auch immer.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du scheinst jemand zu sein, der Ahnung davon hat. Kannst du mir sagen, was mit dem Pokémon los ist? Ich habe schon gedopte Pokémon gesehen und die waren nicht so drauf wie dieses Galoppa.“ „Ich kann es dir nicht genau sagen, aber diesem Pokémon wurde etwas sehr Schlimmes angetan.“ „Ah … und du? Du interessierst dich nur dafür, weil du was tun willst? Den Pokémon helfen? Kein Eigeninteresse daran, selbst so eines zu haben?“ Zayn erwiderte ihre dreiste Frage mit einem lockeren Grinsen. „Nein. Ich habe es nicht nötig, mir ein vermeintlich starkes Pokémon zu erkaufen.“ Vince zog scharf die Luft ein und Kaleigh nickte schmunzelnd. „Und ja. Es liegt mir daran, ihnen zu helfen.“ „Na dann.“ Sie klatschte in die Hände, als wäre der ernste Teil ihres Gesprächs damit beendet. „Ich kann mit diesem Galoppa nichts anfangen, es ist mir zu riskant. Wenn du willst, kannst du es nehmen.“ „Tatsächlich? Das würde ich gern.“ Kaleigh bejahte und löste den Pokéball von ihrem Gürtel. Er wollte ihn ihr gerade abnehmen, als sie ihn wieder zurückzog. „Moment mal – nicht umsonst natürlich. Ich will nicht auf den Kosten für dieses Pokémon sitzen bleiben“, stellte sie klar. Das hatte Zayn bereits vermutet. „Na schön“, seufzte er und holte sein Portemonnaie hervor, „wie viel hast du bezahlt? Und versuch ja nicht, dir einen Bonus obendrauf zu schlagen. Ich kenne die Preise für solche Pokémon.“ Das tat er nicht, nicht genau zumindest. Aber das wusste sie ja nicht. Sie nannte ihm den Preis und er wäre beinahe aus allen Wolken gefallen. Doch er öffnete sein Portemonnaie – gerade wollte er einen Blick hineinwerfen, als Vince ihn am Arm zu sich zog. „Du entschuldigst uns kurz, ja?“, wandte er sich erst an Kaleigh, danach mit gesenkter Stimme an Zayn. „Bist du jetzt völlig verrückt? Du willst ihr echt das Cryptopokémon abkaufen? Für den Preis?“ „Ja, klar. Was habe ich für eine andere Wahl?“ Natürlich schien das extrem. Aber Zayn konnte es nicht verantworten, dieses arme Pokémon seinem Schicksal zu überlassen. Kaleigh war kein Unmensch, aber auch nicht unbedingt eine einfühlsame Trainerin. Wer wusste schon, was mit dem Galoppa geschehen würde – womöglich würde es in seinem Ball versauern oder gar ausgesetzt werden. Aber ein Cryptopokémon in Freiheit war keine vertretbare Option. Diese Wesen waren eine Gefahr für die Allgemeinheit und außerdem empfand Zayn das Bedürfnis, ihm zu helfen. Seit er zum ersten Mal eines gesehen hatte, wollte er ihnen allen helfen. Leider fehlten ihm die Mittel dazu, aber solange er zumindest die Möglichkeit sah, eines von ihnen zu retten … eines war besser als keines. Aber Vince sprach das Problem an der ganzen Sache aus. „Es geht nicht um das Geld, aber wie stellst du dir das vor? Ich muss dich ja wohl nicht daran erinnern, wie das beim letzten Mal ausgegangen ist. Deine Mutter wird dir den Kopf abreißen, wenn du noch mal mit so einem Pokémon ankommst. Und Chandra? Soll sie etwa wieder ihren Geheimtrick anwenden, um dem Pokémon zu helfen?“ Natürlich wollte er nicht, dass Chandra sich erneut in Gefahr brachte. Er wollte das nicht noch einmal miterleben müssen. „Nein“, erwiderte er angesäuert. „Es muss eine andere Möglichkeit geben. Aber ich kann nicht einfach wieder gehen und so tun, als wüsste ich von nichts. Akzeptier das bitte einfach.“ Für einen Augenblick starrte Vince ihn lediglich an, als hätte er noch etwas zu sagen, doch dann sah er nach unten. „Na gut. Du musst selbst wissen, was du tust. Ich vertraue auf dein Urteil.“ „Danke.“ Zayn wandte sich wieder Kaleigh zu, um ihr das Geld für das Pokémon zu geben – er konnte selbst nicht fassen, was er im Begriff war zu tun –, als er sah, dass er gar nicht ausreichend Bargeld bei sich hatte. Mit entschuldigendem Blick drehte er sich doch wieder zu seinem Freund. „Kannst du mir was auslegen?“ „Ey, das ist jetzt nicht dein Ernst“, stöhnte Vince fassungslos, ging aber der Bitte nach und griff nach seinem Portemonnaie. Wenngleich er mit Zayn nicht immer einer Meinung war über dessen Vorhaben, so war nichtsdestotrotz auf ihn Verlass. Zayn kramte die benötigte Summe zusammen, als ihm seine letzte und wichtigste Frage wieder in den Sinn kam. „Sag mal, wer genau hat dir eigentlich das Pokémon verkauft?“ Kaleigh legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Das war so ein Mann, bestimmt an die zwanzig Jahre älter als ich. Dunkel gekleidet, sah ein bisschen zwielichtig aus. Ich denke, er war nicht von hier. Ich konnte nicht so viel von seinem Gesicht erkennen, war ja dunkel. Aber …  oh, genau! Ich erinnere mich. Er hatte so eine zackige, hässliche Narbe in seinem Gesicht – rechte Wange, wenn ich mich nicht irre. Die hätte ich gar nicht vergessen können, so auffällig, wie die war.“ Während ihrer Ausführungen hatte Zayn ihre Umgebung beobachtet, um auszuschließen, dass jemand hinsah, als sie, nun ja, ein Pokémon käuflich erwarben. Bei ihren letzten Worten war er allerdings nahezu erstarrt. Ein kalter Schock war durch seine Glieder gefahren und hatte alle Bewegung von ihnen genommen, sodass er es nun lediglich vermochte, Kaleigh anzustarren. Es verstrichen einige Sekunden, in denen sämtliche Umgebungsgeräusche verschwanden, als würde das Begreifen des neuerworbenen Wissens seine ganze Wahrnehmung für sich beanspruchen. Es war sein Kiefer, der sich als Erstes lockerte, um todernst zu fragen: „Ein Narbe?“ „Ja, wie gesagt.“ „Hey, Zayn, was ist los? Alles in Ordnung?“, hakte Vince nach, hörbar beunruhigt. Es könnte ein Zufall sein. Bedeutungslos. Zayn schüttelte langsam den Kopf. Oder es ist kein Zufall und wir sollten schnellstmöglich von hier verschwinden. Er zwang sich zur Gleichgültigkeit und entgegnete: „Alles bestens“, dann übergab er Kaleigh möglichst unauffällig das Geld und nahm im Gegenzug den Pokéball an sich. „Ein gut gemeinter Rat. Halt dich in Zukunft von solchen Kerlen fern. Und mach bei deinem Trip durch Orre einen großen Bogen um Pyritus, wenn du keinen Ärger willst.“ „Ich, ähm, okay“, war Kaleighs Antwort. Sein plötzlich ernstes Verhalten irritierte sie offenbar. „Dann sind wir ja fertig. Danke für deine Mithilfe.“ Sie verabschiedeten sich von Kaleigh und beschlossen, dass es an der Zeit war, zurückzufahren. Zayn hatte ein Cryptopokémon in der Tasche; das war mehr, als er sich für den Tag erhofft hatte, und nach den erworbenen Informationen stand ihm nicht länger der Sinn danach, nach weiteren Cryptopokémon Ausschau zu halten. Er wollte in Ruhe über den nächsten Schritt nachdenken. Was er bezüglich des Pokémons machen sollte, wusste er nicht. Seine Mutter würde ihn in der Tat in zwei Hälften reißen, sollte er noch einmal ein Cryptopokémon im Labor oder auch nur in dessen Nähe aus seinem Ball lassen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Die Risiken waren enorm und ein ausgewachsenes Galoppa nicht minder gefährlich als ein Waaty – im Gegenteil. Zu Torben brauchte er gar nicht wieder gehen, der würde im Ernstfall loyal gegenüber Zayns Mutter sein. Und Chandra … gut möglich, dass sie der Umstand, ein Cryptopokémon in ihrer Nähe zu haben, weniger verstören würde als beim ersten Mal, als Zayn heimlich eines bei sich getragen hatte, aber er sah wenig Hoffnung für die beiden. Das Flammenkleid dieses Pokémons verbrannte jeden, dem es kein Vertrauen schenkte. Selbst wenn Chandras Einfühlungsvermögen mit diesen Pokémon derart tiefgreifend war, dass sie das zustanden bringen könnte … Es war zu gefährlich. Zayn würde sie nicht in die Nähe des Pokémons lassen. Also musste er sie einmal mehr in Unwissenheit lassen. Aber er hasste es, ihr etwas derart Wichtiges vorenthalten zu müssen, und er wurde diese quälende Stimme nicht los, die ihm zuraunte, dass es für das Galoppa keine andere Hilfe gab. Doch es musste, verdammt. Es musste eine andere Möglichkeit geben. „Ich kann nicht fassen, dass ich gerade Geld für ein Pokémon bezahlt habe“, meinte er, um sich davon abzulenken. Geld war erheblich unkomplizierter als seine anderen Sorgen. Auch wenn es ihm übel aufstieß, dass er so letzten Endes Ray Geld zuschob. Denn der war es doch, der von dem Ganzen profitierte. Aber immerhin konnte dieser sich nun nicht darüber beschweren, dass er ihm ein Cryptopokémon gestohlen hatte. Zayn hatte es erworben – nach Rays Maßstäben legal. „Und ich kann nicht fassen, dass ich auch noch ein Drittel dazu beigesteuert habe“, seufzte Vince an seiner Seite. „Aber in Zukunft solltest du dir eine andere Taktik überlegen. Du kannst nicht jedem sein Cryptopokémon abkaufen.“ „Schon klar“, grummelte Zayn. Sie waren mittlerweile ein gutes Stück von der Promenade entfernt und durchquerten ein ruhigeres Viertel von Portaportus. Hier reihten sich schicke, weißblaue Fachwerkhäuser aneinander, die häufig gemütliche Gasthöfe beinhalteten, die eine günstigere Option zu den edlen Hotels oberhalb der Promenade waren. Nicht selten fanden sich dazwischen auch mal kleine Läden mit allerlei Souvenirs oder handwerklich gefertigter Ware, in welche es Touristen nur allzu gerne verschlug. An diesem Nachmittag war die breite, gepflasterte Straße allerdings auffallend leer. Das war vermutlich dem bevorstehenden Wetterumschwung geschuldet. Es heulte bereits ein frischer Wind durch die Gassen, der die Fensterläden der Häuser klappern ließ. Nach und nach wurde das Blau des Himmels mit dem Grau heranziehender Wolken überschattet und durch das Verschwinden der Sonne sank die Temperatur nach unten. Vince hatte am Mittag Ewigkeiten nach einem Parkplatz gesucht, weswegen sie nun etwas länger bis zum Auto zu laufen hatten. Wenn sie es vor Regeneinbruch schafften, war Zayn das nur recht. Doch auch davon abgesehen wollte er schnellstmöglich fort. Er vernahm plötzlich einen Vibrationston, den er von seinem eigenen PDA kannte. Dieser hier kam jedoch von Vince‘ Gerät. Zayn hatte ihn schon zuvor im Gespräch mit Kaleigh vernommen, da hatte sein Freund den Anruf aber ignoriert. „Da muss ich diesmal rangehen, könnte wichtig sein“, seufzte Vince und nahm den Anruf entgegen. Zayn hörte nicht zu, nahm bloß wahr, dass Vince sich beim Telefonieren ein Stück hinter ihm zurückfallen ließ. Er selbst lief weiter, gemächlichen Schrittes, aber doch stetig. Ein Hauch von Regen lag in der Luft. Für die Touristen mochte die herabfallende Nässe störend sein, doch für die Natur war sie vonnöten. Es hatte die vergangenen Wochen viel zu selten geregnet. Beim Schlendern kam Zayn an einem Laden vorbei, in dessen Schaufenster handgeschnitzte Figuren verschiedenster Pokémon präsentiert waren. Er erkannte ein Evoli darunter und musste an Chandra denken. Sie hätte vermutlich voll Begeisterung an der Scheibe geklebt und die Figuren bestaunt. Sie war mit wenig zu begeistern, denn sie hatte es nicht verlernt, sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Nicht verwunderlich, angesichts ihrer Geschichte. Mit einem leichten Lächeln zog er weiter und merkte so gar nicht, dass er und Vince sich zunehmend voneinander entfernten. Nach einer Weile drehte er sich um und sah Vince an die zwanzig Meter entfernt von ihm vor einem Laden stehen. Er blickte nicht in Zayns Richtung, sondern telefonierte nach wie vor. Missmutig beschloss Zayn, an Ort und Stelle auf seinen Freund zu warten. Es hatte ohnehin keinen Sinn, schon vorauszugehen. Kaum hatte er den Gedanken gedacht, legte sich eine schwere Hand auf seine linke Schulter und wandte ihn herum. In dem Gesicht, welchem er sich nun gegenübersah, zeichnete sich eine überraschte Gewissheit ab. Jene Gewissheit, die ihm förmlich den Boden unter den Füßen wegzog. Die Narbe in diesem Gesicht hätte Zayn überall wiedererkannt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)