Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 15: Abstieg in die Finsternis ------------------------------------- So sehr mich dieser Ort faszinierte, umso mehr verstörte er mich auch. Meine Alpträume nahmen kein Ende, wurden grausamer, gewalttätiger, realer. Mit jedem meiner Tode kam das kalte Erwachen. Schweißüberströmt und mit rasendem Herzklopfen tauchte ich an die Oberfläche meines Bewusstseins und schnappte nach Luft wie ein an Land gezerrter, zappelnder Fisch. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich die Träume kaum noch von der Realität unterscheiden konnte. In einer dieser Nächte hatte ich Ayumi geküsst, nein, nicht wirklich geküsst, sondern nur geträumt, ich würde es tun. Dabei fühlte es sich so verdammt real an, dass ich immer noch das Gefühl hatte, es wäre ein Teil meiner Erinnerung. Wie war das möglich? Außerhalb von Aokigahara hatte ich auch Alpträume gehabt, aber diese handelten oft nur von Masami und waren nie so lebhaft. Aber in diesem verfluchten Wald ließ sich eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion nicht mehr ziehen. Seit jener Nacht, in der Ayumi und ich denselben Traum hatten, erfuhr sie auch von meinen anderen Alpträumen, die mich regelmäßig quälten. Ihre Unbekümmertheit, mit der sie in den Tag hineinlebte, verschwand und sie fühlte sich allmählich unbehaglich an diesem Ort, genauso wie ich. Doch den entscheidenden Schritt zu gehen und Aokigahara endgültig zu verlassen, wagten wir noch nicht. Die Begegnung mit Ayako war das Beste, was uns bis jetzt in unserem Leben passiert war. Außerdem war die Frage noch nicht geklärt, wohin wir überhaupt gehen sollten. Ayumis Vorschlag, uns an Ayako zu wenden, wurde von mir vereitelt. Diese Frau wohnte schon länger hier und es wäre möglich, dass sie auch von solch bizarren Träumen geplagt wurde. Ihr Rat könnte hilfreich sein, so Ayumis Theorie. Aber etwas hinderte mich daran, Ayumis Idee umzusetzen. Trotz Ayakos freundlichen Art und Fürsorge konnte ich kein Vertrauen zu ihr aufbauen. Abgesehen von ihrer unheimlichen Angewohnheit, mitten in der Nacht am Fußende meines Sofas aufzutauchen, war ich allen Erwachsenen gegenüber misstrauisch eingestellt. Angefangen bei Masami, Vater, den Lehrern, bis hin zu den Nachbarn und den ehemaligen Bediensteten – sie alle interessierten sich nur für sich selbst und ihre selbstsüchtigen Begierden. Sie verschlossen die Augen vor der Wahrheit und lebten in ihrer Scheinwelt, während Ayumi und ich gnadenlos der Realität ausgeliefert waren. Hatte ein Erwachsener, der von unserem Leid wusste, uns je geholfen, uns beschützt? Ganz sicher nicht. Also warum sollte dann eine wildfremde Frau das tun, wenn es darauf ankam? Ich war mir sicher, dass hinter der liebevollen, nach Gebäck duftenden Ayako ein dunkles Wesen lauerte, das früher oder später aus dem Sumpf ihres Herzens herauskriechen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Und wenn es soweit war, dann sollten wir nicht hier sein. Es gab nur zwei Menschen auf dieser Welt, denen ich vollkommen vertraute, und einer davon war Ayumi. Der Tod hatte mir meine Mutter genommen und das Leben nahm uns den Vater. Was mit Ayumis Mutter geschehen war, wussten wir nicht. Nachdem sie Ayumi bekommen hatte, war sie einfach abgehauen. Wenn die eigenen Eltern einen im Stich ließen, was blieb einem dann noch? Man war sich selbst überlassen und musste um sein Überleben kämpfen. Aber wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich genug vom Kämpfen. Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben, doch intuitiv hatte ich von Anfang an gewusst, dass das unmöglich war und wir diesen Ort irgendwann verlassen mussten. Wenn meine Träume nicht wären und ich mehr Vertrauen aufbringen könnte, vielleicht, aber auch nur vielleicht, wäre es ganz anders gekommen.   An einem frühen Nachmittag hackte ich draußen vor dem Haus Holz für den Kamin. Nachts wurde es langsam kühler und so hatte mich Ayako damit beauftragt, für die Wärme zu sorgen. Als ich eine kurze Pause einlegte, sah ich zu meiner Schwester, die in unmittelbarer Nähe Wäsche an die Leine hängte, und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Das Holzhacken war eine harte Arbeit, da musste Ayako ganz froh sein, dass das jemand übernahm. Momentan war sie unterwegs, um etwas zu Essen zu besorgen. Wir wussten immer noch nicht, was eine Frau wie Ayako dazu veranlasst hatte, der Gesellschaft den Rücken zu kehren und sich in Aokigahara zurückzuziehen. Soweit ich es beurteilen konnte, war sie eine schöne Frau, und in jungen Jahren bestimmt noch schöner. Sie hätte sicherlich keine Probleme gehabt, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. Aber vielleicht wollte sie das gar nicht, vielleicht lief ihr Leben nicht ihren Vorstellungen entsprechend, sodass es keinen anderen Ausweg gab, als in die Einsamkeit zu flüchten. Ich konnte aus eigener Erfahrung sagen, dass das Leben einem oft einen Strich durch die Rechnung machte und man gezwungen war, andere Wege zu gehen. Während ich meinen Gedanken nachhing, brachte ich das gehackte Holz ins Haus und legte es vor dem Kamin ab. Mein Blick wanderte ohne ein besonderes Ziel durch die gemütlich eingerichtete Hütte, und blieb bei Ayakos Schlafzimmer hängen. Mir war aufgefallen, dass die Tür nie offen stand und ich bis jetzt noch keinen Blick hineinwerfen konnte. Während ich mich fragte, wie es wohl hinter der geschlossenen Tür aussehen mochte, trugen mich meine Beine automatisch dahin und ehe ich mich versah, stand ich mitten in ihrem Zimmer. Die Tür war unverschlossen, anders, als ich es erwartet hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und mit ihm stieg meine Aufregung. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, in ihre Privatsphäre einzudringen, da sie sich auch nicht in unsere einmischte, aber solange sie nichts davon erfuhr... Das Zimmer war ziemlich klein, höchsten 5 Tatami-Matten groß. Es war schlicht eingerichtet und auf das Nötigste reduziert. Was mir auf den ersten Blick auffiel war, dass es keine Gegenstände gab, die dem Zimmer eine persönliche Note verliehen. Keine Bilder, keine Fotos, keine Bücher. Die Wände waren kahl und ausdruckslos. Hier konnte praktisch jeder wohnen, ohne dass man auf seine Person hätte schließen können. Ich beschloss kurzerhand, mich ein wenig genauer umzusehen und öffnete als erstes den Wandschrank, in dem sich nur ein Futon befand. Ich schob die Schiebetüren wieder zu und nahm mir die weiß lackierte Kommode vor. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein Perverser, der die Sachen einer Frau durchwühlen wollte, und so beschloss ich, nur einen Blick hineinzuwerfen, ohne etwas anzufassen. In den Schubladen befand sich nur Ayakos Kleidung. Beim Öffnen der untersten Schublade war meine Hoffnung bereits gering, doch noch auf etwas zu stoßen, das mir mehr Aufschluss über Ayakos Persönlichkeit oder ihre Vergangenheit geben würde, doch ich sollte mich täuschen. In dem gänzlich leeren Fach lag ein einzelnes Polaroid Foto. Überrascht über diesen Befund nahm ich das Foto heraus, um es mir genauer anzuschauen. Darauf war eine junge Frau mit einem Baby im Arm abgebildet. Daneben stand ein kleiner Junge. Die Frau lächelte in die Kamera, doch sie erweckte nicht den Eindruck aufrichtiger Freude. Es war ihr Blick, der ihr Lächeln Lügen strafte. Die Gesichter der Kinder hingegen waren mit einem Stift unkenntlich gezeichnet, wodurch man ihren Gesichtsausdruck nicht identifizieren konnte. Ich fragte mich, welche Geschichte sich wohl hinter diesem Bild verbarg. Obwohl das Foto etwas älter war, konnte man Ayakos jüngeres Ich eindeutig erkennen. Die Frau mit dem zaghaften Lächeln und den melancholischen Augen war ohne Zweifel Ayako. Ich erschauderte, als mir die verblüffende Ähnlichkeit mit Ayumi auffiel. Beide hatten dieselben Gesichtszüge, dieselbe Form der Augen, sogar die Nase war genauso schmal und perfekt wie die von Ayumi. Ich fragte mich, warum mir das nicht schon vorher aufgefallen war. Und urplötzlich erinnerte ich mich. Wie ein Stromschlag durchzog mich die Erinnerung an jenen Traum, den ersten Alptraum, den ich in diesem fluchten Wald hatte. Verfluchte scheiße! Deswegen kam mir Ayako so bekannt vor. Ich war ihr bereits in meinem Traum begegnet. Aber wie war das möglich? „Was tust du da?“ Ich fuhr erschrocken herum, als Ayumis Stimme von der Türschwelle erklang. Ihr fragender Blick durchbohrte mich, verlangte nach einer Antwort, doch ehe ich sie ihr geben konnte, trat sie zu mir. „Du darfst nicht hier sein, Hyde! Das gehört sich nicht“, tadelte sie mich wie ein kleines Kind, doch stieß dabei auf taube Ohren. „Sieh dir das an“, sagte ich und hielt ihr das Foto hin, das ich soeben in der Schublade gefunden hatte. Sie zögerte, doch warf schließlich widerwillig einen Blick darauf. „Sind das Ayako und ihre Kinder?“ „Ich nehm's mal an. Aber fällt dir nicht noch etwas anderes auf?“ Ayumis Stirn legte sich nachdenklich in Falten. „Sie sieht irgendwie traurig aus...“ Ich wurde etwas ungeduldig. Mein Herz pochte vor Aufregung gegen meinen Brustkorb, als wollte es herausspringen, und ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Ich wollte ihr sofort von meinem Traum erzählen, von Ayako, die mir darin erschienen war, und von dieser verblüffenden Ähnlichkeit mit meiner Schwester, die ihr anscheinend gar nicht auffiel. „Ja, aber findest du nicht, sie sieht aus wie...“ Meine letzten Worte wurden durch einen dumpfen Knall unterbrochen, als würde etwas zu Boden fallen. Ayumi zuckte erschrocken zusammen und wir sahen beide gleichzeitig zur Schlafzimmertür. Kaum löste ich mich aus meiner Starre, um das Foto in der untersten Schublade zu verstauen, da sah ich aus dem Augenwinkel eine Person eintreten. Das Foto in der Hand haltend richtete ich mich wieder auf und sah zu der Frau, die uns ohne Umschweife bei sich aufgenommen und dafür kaum etwas als Gegenleistung verlangt hatte, die uns nie nach unserer Vergangenheit gefragt hatte, und fühlte mich in diesem Augenblick wie ein Verräter. „Was habt ihr hier zu suchen?“ Ayako sah uns nacheinander fragend an und ihre ruhige Fassade bröckelte, als sie das Foto in meiner Hand entdeckte. Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich schlagartig, ihre Unterlippe bebte, als würde es sie große Mühe kosten, ihre Fassung zu bewahren. Ayumi fing an, sich zu entschuldigen, doch das schien Ayako nicht im geringsten zu interessieren. Ich spürte, wie sich etwas anbahnte. Eine nervenaufreibende Spannung, die mit einem Mal alles und jeden verschlingen könnte. „Lass uns gehen, Ayumi.“ „Was? Aber...“ Ich achtete nicht auf den Protest meiner Schwester, sondern ergriff ihre Hand und zog sie mit mir. Meine Intuition sagte mir, dass wir so schnell wie möglich verschwinden sollten. „Nein!“ Ayako baute sich vor uns auf und versperrte uns den Weg. Als sie in unsere verdutzten Gesichter sah, rang sie sich ein Lächeln ab. „Wohin wollt ihr denn?“ „Es wird Zeit für uns zu gehen. Wir haben Ihre Gastfreundschaft zu lange beansprucht.“ In der Regel rechtfertigte ich mich nicht für meine Entscheidungen, aber das waren wir ihr schuldig. „Aber wohin wollt ihr denn gehen?“, hakte sie noch einmal nach und drängte mich mit ihrer Frage in die Ecke. „Uns fällt schon etwas ein.“ Es klang nicht sehr überzeugend, aber mir fiel keine bessere Antwort ein. Ich musste gestehen, dass es mir schwer fiel, diesen Ort zu verlassen. Ayako kümmerte sich um uns, als wären wir ihre eigenen Kinder. Ja, sie hatte uns sogar besser behandelt als unser eigener Vater. Und auch wenn ich mich gegen jedes bisschen Zuneigung, die von einem Erwachsenen kam, sträubte, so sehnte ich mich gleichzeitig auch danach. Doch diese innere Unruhe ließ mich nicht los und drängte mich zur Flucht, weswegen ich meine kindliche Sehnsucht nach der Liebe einer Mutter im Keim erstickte. „Ihr dürft nicht gehen... Ihr dürft mich nicht verlassen!“ Ayakos verzweifeltes Flehen durchbrach meine innere Mauer und wühlte mich auf. Sonst konnte nur Ayumi bis zu meinem Herzen vordringen. Ich kämpfte gegen das Gefühl an, das mein Herz erweichen wollte, und senkte den Blick. Das Foto in meiner Hand fiel mir ins Auge. Die Kinder, dessen Gesichter mit einem Stift unkenntlich schraffiert wurden. Ich fuhr mit meinem Daumen darüber und spürte die tiefen Einkerbungen. Jemand musste mit ziemlicher Kraft hineingedrückt haben. Aus Wut oder sogar aus Hass. Ich fühlte mich auf eine merkwürdigerweise Weise mit diesen beiden Kindern verbunden. Vielleicht führten sie dasselbe beschissene Leben wie Ayumi und ich. Vielleicht teilen wir dasselbe Schicksal. Ich hielt Ayako das Foto vors Gesicht. „Sind das Ihre Kinder? Warum sind ihre Gesichter unkenntlich gemacht? Waren Sie das?“ „Hyde...“, hörte ich Ayumi von der Seite flüstern, „nicht.“ „Schon gut, Ayumi“, sagte die Frau vor uns und ihre Stimme hatte wieder an Kraft gewonnen, „die Neugier ist des einen Freud und des anderen Leid.“ Ein bitteres Lächeln legte sich auf ihre schmalen Lippen. „Ich werde dir deine Fragen gerne beantworten, Hyde. Aber dafür seid ihr mir auch ein paar Antworten schuldig.“ In der Welt der Erwachsenen bekam man nichts umsonst. Sie wollten immer eine Gegenleistung. Egal, wie gering diese auch sein mochte. „Geht klar.“ Ich reichte Ayako das Foto und wir folgten ihr in die Kochnische. Der Korb, den sie immer mitnahm, um Nahrungsmittel wie Pilze und Kräuter, Beeren und Äpfel zu beschaffen, und deren Inhalt lagen auf dem Boden zerstreut. Das musste das Geräusch von vorhin gewesen sein. Ayumi half Ayako die Sachen aufzuheben und auf den Tresen zu legen. „Setzt euch. Ich mache uns Tee.“ „Wir wollen nicht lange bleiben. Wir wollen nur Antworten.“ Ayumi berührte meinen Arm und gab mir zu verstehen, dass ich mal wieder den Bogen überspannte. Ich presste die Lippen aufeinander und setzte mich widerwillig an den Tisch. „Wir trinken gerne einen letzten Tee zusammen, Ayako“, sagte Ayumi versöhnlich und nahm neben mir Platz. Meine Schwester wusste, dass wir heute noch gehen würden und das mein Entschluss unumstößlich war, aber sie wollte Ayako nicht vor den Kopf stoßen. Ayumis Mitgefühl und Güte überraschte mich immer wieder. Als der Tee serviert wurde, setzte sich Ayako uns gegenüber. Sie holte das Foto hervor und legte es vor sich auf den Tisch. „Du wolltest wissen, ob das meine Kinder sind. Ja, so ist es. Aber ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo sie sind und ob es ihnen gut geht. Ich habe nur dieses Foto.“ „Wie traurig“, murmelte Ayumi, „wie ist das denn passiert? Hat man dir deine Kinder weggenommen?“ „Ja.“ „Aber wie kann das sein? Dazu hat doch niemand das Recht.“ „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Ayumi und ich wechselten einen kurzen Blick. „Wie meinst du das? Erinnerst du dich nicht mehr?“ Ayumi war ganz schön neugierig. Neugieriger als ich. Sie stellte so viele Fragen, auf die ich nicht einmal gekommen wäre. Während wir auf Ayakos Antwort warteten, schlürfte Ayumi ihren heißen Tee. „Ich erinnere mich schwach.“ Ihre Hand zitterte leicht, doch sie bekam das schnell unter Kontrolle. „Genug von mir. Jetzt seid ihr dran. - Warum seid ihr in diesem Wald?“ „Warum sind Sie es?“ „Fragen mit Gegenfragen zu beantworten ist nicht fair, Hyde.“ „Sie haben nicht alle unsere Fragen beantwortet. Warum sind die Gesichter der Kinder so unkenntlich schraffiert? Wenn es doch das einzige Foto ist, was Sie haben.“ Ayumi stellte ihre leere Tasse auf dem Unterteller ab, wohingegen Ayako und ich unseren Tee noch nicht einmal angerührt hatten. „Tja...“ Ayako legte ihren Kopf schief und betrachtete geistesabwesend die Fotografie. „Sie hatten diese teuflischen Augen, weißt du.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinte und starrte sie entsetzt an. „Wovon zur Hölle sprechen Sie?“ „Genau. Hölle. Da gehören sie hin. Alle Sünder gehören dahin.“ Sie sprach mit der absoluten Ruhe eines Lehrers und dem Wahnsinn eines Fanatiker. Das wurde mir langsam zu abgefahren. Die Frau hatte sie doch nicht mehr alle. Ich wollte mir nicht länger diesen Schwachsinn anhören. Mir war aufgefallen, dass Ayako die ganze Zeit keine konkreten Antworten gegeben hatte. Es wäre gut möglich, dass sie uns angelogen hatte. „Lass uns gehen, Ayumi.“ Meine Schwester reagierte nicht und saß still in sich zusammengesunken da. „Ayumi! Was hast du?!“ Ich rüttelte sie an den Schultern, doch sie starrte mit einem leeren Blick vor sich hin. „Was haben Sie mit ihr gemacht?“, schrie ich Ayako an, doch die Antwort erübrigte sich, als mein Blick auf die einzig leere Tasse fiel. „Keine Sorge. Sie wird wieder. Vorausgesetzt du tust, was ich sage.“ Meine Intuition hatte mich die ganze Zeit nicht getäuscht. Scheiße... Hätte ich doch nur auf sie gehört! Wir hätten sofort verschwinden sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten, aber ich wollte ja unbedingt etwas über die gesichtslosen Kinder auf dem Foto erfahren. Wahrscheinlich hatte ich auch Recht, was deren Schicksal betraf. „Was wollen Sie von mir?“ Ayako hob ihre Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. „Köstlich. Probiere mal.“ Ich wusste nicht, was für ein krankes Spiel sie spielte, aber es machte mich rasend vor Wut. Ich ballte meine Hand zur Faust und schlug auf den Tisch, sodass die Tassen auf ihren Tellerchen klapperten. „Was wollen Sie, verdammt!?“ Ayako war von meinem Ausbruch unbeeindruckt. Sie stellte die Tasse wieder ab und sah mir direkt in die Augen. „Ich möchte nur, dass ihr bleibt.“ Diese Frau war unberechenbar. Wenn ich nicht das tun würde, was sie verlangte, würde Ayumi dann für immer in diesem Zustand bleiben? Ich wollte es nicht herausfinden. Mir blieb keine andere Wahl, als zu gehorchen. Hilflosigkeit war ein dreckiges Miststück. „In Ordnung“, gab ich widerwillig von mir. Ayako lächelte flüchtig. „Tut mir leid, Hyde. Aber ich vertraue dir nicht mehr. Du warst ohne Erlaubnis in meinem Zimmer, hast meine Sache durchwühlt, dich in meine Vergangenheit gedrängt, um deine Neugierde zu befriedigen. Dennoch... ich will, dass ihr hier bleibt. Bei mir. Ihr seid fast wie meine eigenen Kinder.“ In ihrem Blick blitzte Wahn auf und ich schluckte. „Was soll ich tun, damit Sie mir glauben?“ „Viel kannst du nicht tun. Vertrauen lässt sich nicht so einfach aufbauen. Aber das weißt du ja am besten, schließlich hast du mir doch nie richtig vertraut, nicht wahr?“ Ich schwieg, aber sie hatte mich natürlich durchschaut. Ayako erhob sich und deutete mir an, ihr zu folgen. Ich überlegte kurz, ob ich sie überwältigen sollte, doch das würde Ayumi nur schaden. Also schluckte ich meine Wut demütig herunter. Nach Ayakos Geheiß schob ich das Sofa zur Seite und entdeckte überrascht eine Falltür. „Rein da.“ Ich öffnete sie und blickte in die Finsternis. Bevor ich hinabstieg, wandte ich mich noch einmal an die Frau, die sich um uns besser gekümmert hatte als unsere Eltern und die letztendlich genauso unberechenbar und grausam war wie sie. „Was meinten Sie vorhin, als Sie sagten, Ihre Kinder hätten teuflische Augen?“ Einen Augenblick lang verdüsterte sich ihre Miene. Sie trat einen Schritt näher an mich heran und schien etwas in meinem Blick zu suchen. „Sie waren grün.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)