Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 12: Die alte Hütte -------------------------- Ich konnte mein Versprechen nicht halten. Am ersten Tag war ich noch guter Dinge. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen Weg aus diesem verfluchten Wald herauszufinden. Aber Aokigahara wurde nicht umsonst der Selbstmordwald genannt. Wer einmal hier drin gefangen war, kam nicht wieder heraus. Und ich hatte die Befürchtung, dass wir uns immer weiter in die Tiefe des Waldes verwirrten. Der Hunger und die Erschöpfung meldeten sich bereits am ersten Abend. Ayumi kannte sich ein wenig mit essbaren Beeren aus, sodass wir nicht gänzlich mit leeren Bäuchen herumlaufen mussten, doch die kleinen Mahlzeiten, wenn man das überhaupt so nennen konnte, reichten nicht aus, um uns ausreichend zu sättigen und bei Kräften zu halten. Wir beschlossen unsere Suche nach dem Ausgang für heute zu beenden und uns schlafen zu legen. Der Mond stand hoch am Himmel und schien zwischen dem Geäst auf uns herab. Der harte Boden diente uns als Bett, unsere Arme als Kissen – und unsere Körper schenkten uns Wärme. Ayumi schlief als erste ein, doch bei mir wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich machte mir Sorgen, wie es weitergehen sollte, und ich machte mir Vorwürfe. Dass wir beide in diesem Dilemma steckten, war allein meine Schuld. Wäre ich nur nicht so aufmüpfig gewesen, hätte ich bloß meinen Mund gehalten... Dann hätte Vater mich gar nicht erst in diesem Wald verschleppt, Ayumi wäre ihm nicht gefolgt und wir würden nicht in dieser aussichtslosen Lage stecken. Ich biss mir schmerzvoll auf die Unterlippe und drückte Ayumi näher an mich heran. Es war sinnlos, sich Vorwürfe zu machen, wenn es nicht mehr zu ändern war. Ich würde uns hier herausschaffen, wir würden ganz sicher nicht in diesem Wald verrecken. Dafür würde ich sorgen. Doch nach zwei weiteren Tagen und zwei weiteren Nächten schwand langsam meine Hoffnung. Der Pfad schien kein Ende zu nehmen. War das überhaupt ein Pfad? Drehten wir uns womöglich sogar im Kreis? Ich spürte die Wut in mir aufsteigen, die durch meine Hilflosigkeit ausgelöst wurde. „Verdammt“, fluchte ich, als wir das nächste Mal eine Pause einlegten. Ich ballte eine Hand zur Faust und ließ meinen Frust an einem Baum aus. Ayumi stellte sich zu mir und nahm meine pochende Hand in ihre kleinen Hände. „Das bringt doch nichts“, sagte sie beschwichtigend. In ihrem Blick lag keinerlei Vorwurf oder Verzweiflung. Sie schien immer noch darauf zu vertrauen, dass wir einen Weg nach draußen finden würden. Doch das Schlimmste war, dass sie immer noch Vertrauen in mich hatte, was meinen Selbsthass nur von mehr schürte. Ich hielt ihrem hoffnungsvollen Blick nicht stand und wandte meinen ab. „Lass uns weiter.“ Ich wollte mich grade in Bewegung setzen, da ergriff Ayumi aufgeregt meine Arm. „Hyde! Sieh mal! Ein Sikahirsch.“ Mein Blick folgte ihrem Zeigefinger, der in die Richtung eines Gebüsches wies. Tatsächlich. Vor uns stand ein Hirsch in seiner ganzen Pracht. Sein majestätisches Geweih ragte in die Höhe. „Wunderschön“, murmelte Ayumi ehrfürchtig. Selbst in dieser heiklen Lage, in der sie sich befanden, konnte sie sich immer noch für Dinge begeistern. Ich bewunderte sie in diesem Moment mehr denn je. Seit wir aufgebrochen waren, hatte sie sich kein einziges Mal beschwert, geschweige denn die Hoffnung verloren. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie intensiv musterte. Der Hirsch interessierte mich nicht mehr. Ich sah, wie sie ihren Atem anhielt und ihre Augen voller Begeisterung auf ihn richtete, als könnte er jeden Moment verschwinden, wenn sie nicht still war. Der Sikahirsch sah plötzlich in unsere Richtung, als in der Ferne ein Ast knackte. Mich durchfuhr ein seltsames Gefühl. Als würde mich ein menschliches Wesen anschauen. Seine braunen Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken. Doch dieses Gefühl war unbegründet, schließlich war das nur ein Tier, das nicht wissen konnte, welche dunklen Begierden ich in meinem Herzen versteckte. Der Moment schien eine Ewigkeit anzudauern, bis der Hirsch schließlich die Flucht ergriff. „Und weg ist er“, sagte meine Schwester mit einem Hauch von Traurigkeit in der Stimme. „Und weg ist er“, wiederholte ich und sah ihm nach, während er mit großen, grazilen Sprüngen zwischen den Eichen verschwand. Instinktiv ergriff ich ihre Hand und zog sie mit – dem Hirsch hinterher. „Hyde, nicht so schnell! Was ist denn auf einmal?“ Wenn ich das wüsste... Ich hatte nur das dringende Bedürfnis diesem Sikahirsch zu folgen. War es deswegen, weil er mich mit diesen menschlichen Augen angesehen hatte? „Hyde! Nun warte doch...“ Sie stolperte hinter mir her und auch ich spürte, wie schwer sich mein Körper anfühlte. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und lief in dieselbe Richtung, in der der Hirsch verschwunden war. „Hyde...“ Plötzlich hielt ich inne, sodass Ayumi ebenfalls gezwungen war, anzuhalten. Vor uns breitete sich eine Lichtung aus, als hätten sich die Bäume wie ein Vorhang geöffnet und die Bühne freigegeben. Und auf jener Bühne befand sich eine alte kleine Holzhütte, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. „Ist das da etwa...“, murmelte Ayumi ungläubig und schien ihr Glück kaum fassen zu können, „wir sind gerettet!“ Sie lief auf die Hütte zu, bevor ich etwas erwidern konnte. „Ayumi! Warte!“, rief ich ihr nach und eilte ihr hinterher. Wir wussten nicht, wer dort wohnte, und ob derjenige Fremden gegenüber freundlich gesinnt war. Doch auch ich konnte meine Aufregung, die mit Freude einherging, nicht verbergen. Als ich Ayumi erreichte, klopfte sie bereits an die Tür. „Riechst du das?“, fragte sie mich und sog den Geruch gierig durch die Nase. Tatsächlich roch es köstlich nach Essen. Mein Magen bestätigte es mit einem lauten Knurren. Da uns nach mehrmaligem Klopfen niemand aufmachte, rüttelte ich an der Tür, die überraschenderweise unverschlossen war. Das war sehr unvorsichtig von demjenigen, doch ich störte mich nicht daran. Wir wechselten mit Ayumi einen vielsagenden Blick und im stillen Einverständnis betrat ich als erster die kleine Hütte. Es gab keinen Flur, sodass ich direkt mitten in einem großen Zimmer stand, das anscheinend als Wohn- und Esszimmer diente. Auf der rechten Seite befand sich eine kleine Kochnische, von wo aus wahrscheinlich der leckere Geruch stammte. Ich versuchte, das erneute Zusammenziehen meines Magens zu ignorieren und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Ist jemand hier?“ Keine Antwort. Ich winkte Ayumi zu mir und sie trat dicht an meine Seite. Auch ihr Magen meldete sich, sie legte verlegen ihre Hand auf ihren Bauch. Unsere Blicke wanderten automatisch zu dem Topf auf dem Herd. Ob da drin eine leckere Suppe kochte? Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, stand ich bereits in der Kochnische, mein Blick auf den Topf gerichtet. „Hyde...“, hauchte Ayumi leise, unsicher „sollten wir nicht lieber auf den Besitzer warten?“ Ich griff nach einem Handtuch und zog den Deckel hoch, ohne auf Ayumis Einwand einzugehen. Wenn wir nicht bald etwas aßen, würden wir vor Hunger umfallen. Ich würde mich im Nachhinein bei dem Koch entschuldigen. Gerade als ich die Schränke nach Tellern durchsuchte, öffnete sich die Eingangstür. Ich drehte mich abrupt um, bereit eine Erklärung abzuliefern, und hielt plötzlich inne. Eine Frau mittleren Alters stand in der Tür und sah sich verwundert um. Sie betrachtete uns mit stiller Neugierde. Ihre dunklen, aufmerksamen Augen musterten zunächst Ayumi und blieben dann an mir haften. Ihr schwarzes Haar, das durch vereinzelte graue Strähnen durchzogen war, hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing. Sie hatte einen Korb am rechten Arm hängen, in dem Kräuter und Pilze lagen. Mich überkam ein dumpfes Gefühl, sie zu kennen. Aber ich konnte mich nicht entsinnen woher. „Oh, mit Besuch habe ich gar nicht gerechnet“, sagte sie lakonisch und lächelte uns unverwandt an. „Bitte entschuldigen Sie, dass wir einfach eingedrungen sind! Wir irrten nun schon so lange und hatten solchen Hunger...“ Ayumi verbeugte sich entschuldigend und auch ich löste mich langsam aus meiner Starre. Mir war nicht bewusst, wie dümmlich ich schaute, bis ich mein Antlitz in dem Spiegel neben der Haustür erblickte. Ich schloss meinen halbgeöffneten Mund und räusperte mich. „Ja, tut uns leid...“, stammelte ich und verbeugte mich tief. „Ach, schon gut.“, sagte sie leichthin und winkte ab, „Gäste hatte ich seit Jahren nicht mehr. Ihr seid eine willkommene Abwechslung.“ Sie ging zu der kleinen Kochnische, wo ich immer noch stand, stellte ihren Korb auf dem Küchentresen ab und sah dann zu mir. Ihr durchdringender Blick jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Die Teller sind da oben.“ Ich sah sie für einen Moment verständnislos an. „Die hast du doch gesucht, oder nicht? - Ihr seht wirklich hungrig aus. Ich kann es euch nicht verübeln, dass ihr dem Geruch gefolgt seid.“ Sie wies auf ein Schränkchen, das ich noch nicht durchsucht hatte, bevor sie sich ihren Sachen zuwandte. Ayumi und ich wechselten einen überraschten Blick. Wir hatten wohl beide nicht mit dieser Gastfreundlichkeit gerechnet. Nichtsdestotrotz drängte sich mir die Frage auf, wer diese Frau eigentlich war, die so einsam und allein in den Tiefen des Aokigahara hauste. Und vor allem, warum sie mir so bekannt vorkam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)