Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 11: In den Tiefen der Dunkelheit ---------------------------------------- Ich lief eine lange Straße entlang, lief so schnell ich konnte. Mein Herz schlug wild, meine Lunge brannte. Ich wusste, ich wurde verfolgt, doch wagte mich nicht umzudrehen, aus Angst, man würde mich kriegen, sobald ich einen Blick nach hinten riskierte. Es war eine sternenlose Nacht. Nur der Mond wies mir den Weg. Wie lange lief ich schon? Ich spürte meine Beine nicht mehr, als würden sie sich mit unsichtbarer Kraft bewegen, ohne dass ich sie bewusst kontrollierte. Ich verspürte den Drang, mich zu vergewissern, dass sie noch da waren, und sah hinab. Doch kaum senkte ich meinen Blick, ließ meine gesamte Konzentration nach. Als hätte jemand plötzlich eine Vollbremsung gemacht, um mich aufzuhalten. Ich stolperte über meine eigenen Füße und fiel kopfüber auf die Straße. Mit meinen Händen schaffte ich es noch rechtzeitig, den Sturz abzufangen, um nicht mit dem Kopf aufzuschlagen, doch der Schmerz in meinen Handflächen war nicht minder qualvoll und breitete sich wie eine Welle über meinen gesamten Körper aus. „Kommt raus, kommt raus, ihr lieben Kinder.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich zitterte vor Angst. Nein! Ich durfte mich nicht fürchten. Die Angst würde mich verschlingen, wenn ich sie zuließe. Mein Blick wanderte zu meinen aufgeschürften Händen, zu den kleinen Händen eines Kindes. „Was…“, entwich es mir leise. Schweißperlen tropften mir in die Augen, sodass es meine Sicht behinderte. Ich kniff die Lider fest zusammen, öffnete sie wieder, doch meine Hände hatten immer noch die Größe und die Form eines Kindes, nicht eines Erwachsenen. Erst jetzt merkte ich, dass auch der Rest meines Körpers auf die entsprechende Größe geschrumpft war. Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was mit mir geschehen war, hörte ich erneut diese Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war kaum ein Flüstern und doch wusste ich instinktiv, dass die Quelle der Stimme ganz in meiner Nähe war. „Hyde…“ Ayumis Stimme. Wie helles Licht, das unerwartet durch die Dunkelheit dringt. Ihre zierlichen Hände berührten meine Wangen. Im Gegensatz zu mir sah Ayumi ihrem Alter entsprechend aus. Sie lächelte. Doch es war ein trauriges Lächeln, das einzige Lächeln, das sie mir schenken konnte. „Lauf weg!“, schrie ich, obwohl sie mir gegenübersaß, „lauf! Schnell! Sie ist gleich da!“ Doch sie rührte sich nicht vom Fleck, liebkoste weiterhin mein Gesicht mit saften Berührungen. „Du wirst mich doch beschützen, Hänsel?“ Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch es war offensichtlich, dass sie diese Worte gesagt hatte. HYDE! MEIN NAME IST HYDE! Als hätte sie meine Gedanken gelesen, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange, der sich diesmal ganz anders anfühlte. Nicht prickelnd und kühl, sondern unangenehm feucht, und diesmal verursachte er keinerlei Herzklopfen, sondern hinterließ eine tiefe, trostlose Leere. „Ayumi…“, hauchte ich, als sich ihre Arme wie Schlangen um meinen Hals legten, „Ayumi!“ Ich konnte nicht atmen und rang zappelnd nach Luft, versuchte mich von ihr loszureißen. „Deine Mutter ist nicht mehr böse auf dich.“ Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es sich nicht mehr um Ayumi handelte, sondern um Masami. Ihre Fingernägel gruben sich in meinen Rücken, bohrten sich tiefer in mein Fleisch. „Du siehst deinem Vater sehr ähnlich.“ DU BIST NICHT MEINE MUTTER! VERSCHWINDE! FASS MICH NICHT AN! Ich wollte sie anschreien, doch mein Mund gehorchte mir nicht mehr. „Hyde… Mein lieber, wunderschöner Junge.“ Wessen Stimme war das? Wo kam sie her? Ich kannte sie nicht. Mein Blick wanderte suchend umher, und dann erblickte ich sie am Ende der Straße. Ayumi, schoss es mir als erstes in den Sinn, doch die Frau war um einiges älter. Sie war groß und schlank und hatte langes, schwarzes Haar. Ihre Augen waren zwei dunkle Punkte. Aber abgesehen von diesen Unterschieden erinnerte sie mich an Ayumi. „Wer bist du?“, fragte ich sie und streckte meinen Arm nach ihr aus. Sie war zu weit entfernt, als dass ich sie auf diese Weise erreichen könnte, doch ich wollte es wenigstens versuchen. „Warte! Geh nicht! Wer bist du?“ Auf eine mir unverständliche Weise konnte ich mich von Masami befreien, um der fremden Frau, die mich so sehr an Ayumi erinnerte, zu folgen. Diesmal kam ich nicht so schnell voran. Meine Beine fühlten sich bleischwer an. Ich bewegte mich nur mit Mühe vorwärts. „Warte! Bleib stehen! Wer bist du?“ Meine Rufe zeigten keine Wirkung, denn sie setzte ihren Weg unbeirrt fort. Ohne Vorwarnung brach der Weg vor mir ab und ging steil nach unten. Nur mit Mühe konnte ich das Gleichgewicht halten, um nicht in die Tiefen, die sich vor mir auftaten, zu stürzen. „Es tut mir leid, Hyde.“ Ich wandte mich um und sah Vater vor mir. „Es tut mir leid“, wiederholte er und stieß mich gnadenlos die Schlucht hinunter.   Mit pochendem Herzen erwachte ich aus meinem Alptraum, der mich zutiefst verstörte. Um mich herum herrschte Dunkelheit. Nur der Mond erleuchtete ein wenig die Umgebung. Ganz wie in meinem Traum. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass ich mich nicht in meinem Zimmer befand. Ich war in einem Wald. Träumte ich etwa immer noch? „Hyde?“ Ayumis Stimme schreckte mich auf. Sie kauerte neben mir auf dem harten Boden, ihre großen Augen auf mich gerichtet wie zwei funkelnde Sterne. In ihren Augen glitzerten Tränen. „H-Hyde! Du bist endlich wach! I-ich hatte solche Angst um dich.“ Ich fuhr mir durch mein zerzaustes Haar, das mir in den Augen hing, immer noch irritiert, ob das alles immer noch ein Traum oder bereits die Wirklichkeit war. „Was ist passiert? Wo sind wir?“, fragte ich schließlich, auch wenn ich es bereits erahnte. Ich ertastete eine Beule am Hinterkopf und augenblicklich fielen mir die letzten Minuten wieder ein, bevor ich das Bewusstsein verlor. Das Gespräch mit Vater und Masami, der Schlag auf den Hinterkopf. „Ich habe alles mitangehört. Du, Vater und Masami habt euch so heftig gestritten. Ich hatte solche Angst, dass Vater dich fortschickt! D-dann wäre ich allein mit Masami…“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr fort. „Dann hörte ich einen lauten Krach und auf einmal war es still im Zimmer. Ich habe gelauscht, aber es war so schwer zu verstehen, was da vor sich ging. Später am Abend hat mir Vater erzählt, du seist fortgelaufen, aber das wollte ich nicht glauben. Nie wärst du ohne mich gegangen.“ Ayumi sah mich erwartungsvoll an und ich nickte zustimmend. „Und dann?“, hackte ich nach, als die Pause immer länger wurde. „Ich war den Rest des Abends auf meinem Zimmer und gab vor zu schlafen. Doch wie könnte ich? Ich hatte die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl. Spätnachts hörte ich Geräusche im Flur und schlich leise hinaus. Als mir klar wurde, was die beiden vorhaben…“ Ayumis Stimme brach und sie legte sich die Hand auf den Mund. Dadurch klang ihr Schluchzen gedämpft, als käme es von weit, weit her. „Vater hatte vor, dich in diesen Wald, Aokigahara, zu bringen und dich hier aussetzen… mit der Hoffnung, dass du nie herausfindest.“ Aokigahara. Der Selbstmordwald. Hier hatten schon viele Menschen ihren Tod gefunden. Wie poetisch, Vater. So sehr hasst du mich? „Ich bin mir sicher, dass es Masamis Idee war“, fügte Ayumi bitter hinzu, als hätte sie meine Gedanken erahnt, „aber er… er hat nichts dagegen unternommen.“ Sie ballte ihre kleine Hand zur Faust. Ich hatte sie noch nie so wütend und enttäuscht zugleich gesehen. Selbst dann nicht, als Vater sie nicht vor Masamis Übergriffen bewahrt hatte. Ich umfasste ihre schmalen Schultern und brachte sie dazu, mich anzusehen. „Und du? Was machst DU hier? Hat Vater dich etwa auch…“ Ayumi schüttelte heftig den Kopf. „Nachdem mir klar wurde, was sie vorhaben, habe ich mich weit hinten im Kofferraum versteckt und mich mit einer Decke zugedeckt. Ich hatte solche Panik, dass er mich entdeckt! Aber er bekam nichts davon mit. Er war wohl zu sehr damit beschäftigt, selbst nicht von jemandem entdeckt zu werden.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich mit ihr schimpfen, dass sie sich ohne nachzudenken einer Gefahr ausgesetzt hatte und nun genauso wie ich in diesem Wald feststeckte? Oder sollte ich genau deswegen ihren Mut bewundern? Schweigend umarmte ich sie. Wir saßen eine Weile da, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und lauschten der Stille. „Hyde?“ „Hm?“ „Was wird jetzt aus uns?“ Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt und gefürchtet, dass sie früher oder später zur Sprache kommen würde. „Ich werde uns hier rausholen“, sagte ich entgegen meiner Ängste, auf ewig in diesem Wald umherzuirren. „Ich werde uns hier rausholen“, wiederholte ich selbstsicherer, „versprochen.“ Der Mond sah schweigend auf uns herab und schien uns unseres Vorhabens wegen zu verhöhnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)