Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 9: Auf Leben und Tod ---------------------------- Während ich auf dem Dach des Schulgebäudes lag, die Arme unter meinem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen, überlegte ich, wie unser Leben weiterlaufen sollte. Gestern war, bis auf ein paar Zwischenfälle, ein wunderbarer Tag. Ich habe mit Ayumi geschwänzt, wir haben Eis gegessen und sind dann später nach Hause gegangen. Trotz Vaters Schelte würde ich es nicht rückgängig machen, selbst wenn ich könnte. Dass ich regelmäßig schwänzte, war Vater längst bekannt, aber er konnte nichts dagegen tun und hatte sich bereits damit abgefunden. Doch dass ich Ayumi zu diesem Verhalten verleitete, konnte er nicht dulden. Ich hatte darauf nichts Trotziges erwidert, was ich sonst immer tat, sondern nur geschwiegen. Wahrscheinlich hatte Vater ausnahmsweise Recht. Ich hatte mir nichts dabei gedacht zu schwätzen, da ich es oft genug tat. Aber Ayumi hatte einen guten Ruf zu verlieren. Sie war ziemlich gut in der Schule und wenn sie sich Mühe gab, konnte etwas Anständiges aus ihr werden. Ich hingegen... Meine Noten waren durchschnittlich und das regelmäßige Fehlen in der Schule und die Auseinandersetzungen mit Lehrern und Schülern zogen negatives Licht auf mich. Was brachte es mir überhaupt, zur Schule zu gehen? Ich würde vielleicht meinen Abschluss gar nicht schaffen. Also warum Zeit verschwenden? Vielleicht sollte ich besser die Schule abbrechen und arbeiten. Dann konnten Ayumi und ich ausziehen und ein eigenes Leben aufbauen. Bei dem Gedanken grinste ich vor mich hin. „Was grinste denn so dumm, Arschgesicht?“ Ein Schatten hatte sich auf mein Gesicht gelegt, doch bevor ich meine Augen öffnen konnte, bekam ich einen heftigen Tritt in die Brust. Ich schnappte nach Luft, stieß denjenigen zur Seite und nahm sofort Abstand ein. Tomoya Takarai sah mich abfällig an und spuckte aus. Hinter ihm traten zwei weitere Typen hervor, die ich jedoch nicht kannte. Der eine war einen Kopf größer als wir alle. Er hatte ein brutales Gesicht und hervorstechende Augen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Der andere war bisschen kleiner als ich, aber in seinen Augen glitzerte etwas, was man als Wahnsinn bezeichnen konnte. Eine lange Narbe zierte sein Gesicht. Er leckte sich die Lippen, als könnte er es kaum abwarten, sich auf mich zu stürzen. „Willst du wieder auf's Maul?“, sagte ich ungerührt an Takarai gerichtet und rappelte mich auf. Die Stelle, die er mit seinem Fuß getreten hatte, schmerzte noch, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte nicht vergessen, wie abfällig er über Ayumi gesprochen hatte. Und diese zwei Schlägertypen, die er zur Verstärkung mitgebracht hatte, jagten mir keine Angst ein. Takarai gab nur ein verächtliches Schnauben von sich und warf seinen Begleitern einen kurzen Blick zu, als wollte er mir zu verstehen geben, dass ich nicht in der Position war, ihm zu drohen. „Du spuckst ganz schön große Töne, Wichser“, zischte er, „wenn wir mit dir fertig sind, nehmen wir uns deine Schwester vor.“ Mein Puls beschleunigte sich augenblicklich, ich spürte die Wut in mir aufsteigen. Er würde seine Worte noch bereuen. Ich würde ihn schon allein wegen dieser Bemerkung windelweich prügeln und seine hirnlosen Begleiter ebenso. Takarai schien meine Anspannung nicht zu entgehen und er grinste hinterhältig. „Willst du wissen, was wir mit ihr machen werden?“, provozierte er mich weiter, „wir werden sie...“ „Halt dein verdammtes Maul!“, schrie ich. Bei der Vorstellung daran, was sie ihr antun könnten, stieg der Ekel in mir auf. Ich spürte, wie ich gleich die Beherrschung verlieren würde. Ich ballte meine zitternden Hände zu Fäusten. Der Große lachte auf, bevor er sich ohne Vorwarnung auf mich stürzte. Ich konnte seinem ersten Schlag nicht mehr ausweichen, sondern hob nur abwehrend die Hände. Hätte ich das nicht getan, hätte er mich mitten im Gesicht getroffen und mir garantiert die Nase gebrochen. Ich taumelte zurück und ehe ich mich versah, holte er zum nächsten Schlag aus. Diesmal traf er mich direkt in der Magengrube. Durch die Wucht, mit der er zuschlug, blieb mir fast die Luft weg. Scheiße... der war ja verdammt schnell für seine Größe. Ich hatte keine Zeit mich zu erholen, denn der andere mit dem wahnsinnigen Blick kam angelaufen. Nur mit Mühe entkam ich seinen Tritten. Nachdem ich deren Taktik halbwegs durchschaut hatte, kassierten sie ein Paar Schläge von mir. Doch ich hatte die Rechnung ohne Takarai gemacht. Es sah zunächst so aus, als würde er sich raushalten, doch dann tauchte er vollkommen überraschend inmitten des Kampfes auf und brachte mich für einen Augenblick aus dem Konzept. Sie machten sich diese Gelegenheit zunutze, der Große packte mich von hinten und hielt meine Arme schmerzvoll fest. Doch das war noch gar nichts zu der Woge des Schmerzes, die darauf folgte. Zuerst versuchte ich mich zu wehren, nach ihnen zu treten. Doch der Wahnsinnige und Takarai schlugen erbarmungslos mit ihren Fäusten und Beinen auf mich ein, bis mein Körper langsam schlapp machte und leicht nach vorne sackte. Blut hatte sich in meinem Mund gesammelt und ich spuckte es den beiden vor die Füße. Es traf deren Schuhe und der Kleine packte mich brutal an den Haaren und riss meinen Kopf zurück. Er holte zum Schlag aus, doch Takarai hielt ihn zurück. „Wir wollen ihn ja nicht umbringen“, sagte er, „vorerst.“ Der Kleine ließ mich widerwillig los, sodass mein Körper wieder schlaff nach vorne sackte. Ich hörte wie jemand sich eine Zigarette anzündete. Takarai hockte sich vor mich hin und stieß mir den Rauch ins Gesicht. Es brannte in meinen Augen. Zu allem Überfluss lief mir auch noch mein eigenes Blut in die Augen und ich musste blinzeln, um wieder etwas sehen zu können. „Entschuldige dich“, sagte dieser und zog genüsslich an seiner Zigarette. Ich vermutete, er meinte die Tracht Prügel, die er von mir bekommen hatte, nachdem er abwertend über Ayumi gesprochen hatte. „F...“ „Was?“ „Fick... dich...“ Takarai lächelte flüchtig und erhob sich wieder. Sie konnten mich ruhig weiter verprügeln, aber ich würde mich nie dazu herablassen, mich bei diesem Schwein zu entschuldigen. Plötzlich wurde ich nach vorne gestoßen, bis zu der Kante des Daches. Meine Augen weiteten sich etwas, als mir bewusst wurde, was sie vorhatten. Mein Kopf wurde wieder an den Haaren zurück gerissen, damit ich in die gefühllosen Augen von Tomoya Takarai blicken konnte. „Deine letzte Chance, Shinya“, sagte er ausgesprochen ruhig, als würden wir unbefangen über das Wetter plaudern, „entschuldige dich und vielleicht werden wir nicht allzu hart zu deiner Schwester sein.“ Es ertönte ein dreckiges Lachen von meinen Peinigern. Bei der Erwähnung von Ayumi brannte mir plötzlich eine Sicherung durch. Ich schrie, spuckte ihm Flüche ins Gesicht und riss an meinen Händen, die im eisernen Griff steckten. „Ich bring dich um, du mieses Arschloch!“, spie ich ihm in seine hässliche Visage, „euch alle!“ Ich wusste nicht, woher diese Kraft kam, mich noch einmal aufzulehnen, aber ich spürte, wie Adrenalin durch meinen Körper schoss. Takarai wischte sich das Blut und den Speichel vom Gesicht, das er abbekommen hatte, und gab dem brutalen Riesen ein kaum merkliches Zeichen. Er zerrte an mir und versuchte mich über die Kante des Daches zu ziehen. Ich musste an den Moment denken, als ich das letzte Mal mit Yuji hier war. Wie ich mich an den Rand des Daches gestellt und vom Tod gesprochen hatte. Damals war meine einzige Sorgen, dass ich mich mit Ayumi gestritten hatte. Ayumi. Wer sollte denn jetzt auf sie aufpassen? Sie hatte doch niemanden außer mir. Murai. Wäre doch nur Murai hier, damit ich ihm wenigstens sagen könnte, dass er auf sie Acht geben soll, wenn ich nicht mehr da bin. Ich hatte den Kuss immer noch nicht vergessen, aber wenn er nur auf sie aufpassen könnte, würde ich es verzeihen. War das nun die Strafe dafür, dass ich den Tod verspottete, als ich mich an den Rand des Daches gestellt hatte? Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, die zum Dach führte. Einen Moment lang herrschte Stille, keiner rührte sich, als hätte jemand die Zeit angehalten. „Drei gegen einen ist ganz schön unfair, findet ihr nicht?“ Murais Stimme klang wie aus einer fernen Welt. Doch nah genug, um mich aus diesem Alptraum zu entziehen. „Verpiss' dich! Das geht dich nichts an!“, schnauzte Takarai. „Ich bin Vertrauensschüler. Ich denke schon, dass es mich etwas angeht.“ Seine Stimme klang scharf und bedrohlich. „Oder soll ich die Polizei rufen?“ Takarai schnalzte genervt mit der Zunge. Unerwartet wurden meine Hände befreit. Der Große ließ von mir, wodurch ich meine Stütze verlor und kraftlos zu Boden sank. „Wir sind noch nicht fertig, Missgeburt“, zischte Takarai und spukte auf mich, bevor die drei abzogen. Murai ging vor mir in die Hocke und sah mich mit gerunzelter Stirn an. „Du siehst scheiße aus.“ Hätte ich nicht solche Schmerzen, hätte ich gelacht. Aber so brachte ich nur ein kleines Lächeln zustande. „Fick dich.“ Murai grinste. „Du solltest mir lieber dankbar sein. Ohne mich würde dein Körper zertrümmert vor der Schule liegen.“ Da hatte er nicht ganz Unrecht. „Ich bin immer noch sauer auf dich“, murmelte ich und verzog mir schmerzvoll das Gesicht, als ich mich versuchte aufzurichten. Murai kam mir zur Hilfe und stellte mich behutsam auf die Beine. „Alte Kamellen“, sagte er nur, während er mich stützte, „kein Wunder, dass diese Typen es auf dich abgesehen haben, wenn du dich so aufspielst.“ Ich hätte ihn liebend gern von mir weg gestoßen, aber dann wäre eher ich zu Boden gestürzt. „Halt einfach deine Fresse, ok?“, sagte ich und Yuji lachte. „Irgendwann wird dich wirklich einer abmurksen, Hyde.“   ~*~   Am nächsten Tag war Tomoya Takarai tot. Seine Leiche wurde frühmorgens von dem Schuldirektor auf dem Schulhof aufgefunden. Die Polizei ging von einem Selbstmord aus. Takarai solle sich gestern nach der Schule auf das Dach des Schulgebäudes begeben haben. Sobald alle Schüler und Lehrer das Gelände verlassen hatten, habe er sich hinuntergestürzt.   Ich konnte diese Nachricht nicht fassen. Seit heute Morgen sprach die ganze Schule davon, doch es fühlte sich nicht real an. Takarai und Selbstmord? Gestern war er noch ganz darauf versessen, mich umzubringen. Das ergab einfach keinen Sinn. Aber wenn es kein Selbstmord war, dann war das... Mord? Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken runter. Gestern hatte ich mir selbst noch seinen Tod gewünscht. Hatte ich ihm nicht sogar gedroht, ihn umbringen? Und jetzt war er wirklich tot. Ich konnte nicht sagen, dass mich sein Tod traurig machte. Es war kein großer Verlust für die Menschheit, aber... es schockierte mich dennoch, dass irgendwo in der Schule ein Mörder frei herumlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)