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Verkehrtes Ich

von

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Kapitel 9

Erst gegen Abend fanden wir eine Straßenkreuzung, die zu unserem Glück auch noch beschildert war. Zwar hatte ich noch nie von Kolim gehört, aber da wir hundertprozentig nicht nach Tawaro wollten, kam nur Kolim in Betracht. „Wir sollten nicht auf der Straße gehen!“, paranoid schaute sich Reila um: „Sonst finden sie uns schnell.“ Ich zeigt mein Einverständnis nur durch ein schwaches Nicken: „Nur im Wald gibt es keine Richtungsschilder. Wir sollten etwas parallel zur Straße gehen. Dass, wenn andere vorbeikommen, sie uns nicht direkt sehen und wir uns im Notfall noch schnell verstecken können.“

Noch hatten wir nur Glück, dass die Straße durch den Wald ging. Doch aus Erfahrung wusste ich, dass es nicht auf Dauer war. Wir brauchten Verpflegung und Reiseutensilien, wie eine Karte. Ich grummelte, während ich noch weiter auf die Schilder starrte.

Es dauerte eine Weile, bis ich anfing laut zu denken: „In einer größeren Gruppe sollten wir ebenfalls nicht auffallen. Unter Umständen kann man was zu essen erbetteln oder erarbeiten. Indem man zum Beispiel Kleider wäscht oder das Kochen übernimmt. Und wir hätten keine Sorge mehr, dass wir uns verlaufen.“ „Weist du denn, wohin wir genau wollen?“, fragte sie mich streng. Ich fühlte ihren ungläubig prüfenden Blick auf mir ruhen. Ich zuckte mit der Schulter: „Nach Norden, nach Süden oder einfach nur zur Front.“

Seufzend ließ sie sich zum Boden nieder und setzte sich angestrengt hin.

Ein erneuter Seufzer von ihr. „Du hattest mal gesagt, die einzigen siebzehnjährigen Mädchen an der Front seien Huren. Wenn wir zur Front müssen…“ Barsch unterbrach ich sie: „NEIN!!“, rief ich wütend, ihre Gedanken schon ahnend: „Auf keinen Fall! Entweder vom Süden die Klippen hinunter und über den Meer-weg zum anderen Land oder über das Länderkreuz. Von der Front halten wir uns fern! Hast du mich verstanden?“ Erbost bebte ich vor Zorn.

Reila seufzte nur erneut. „Wie kannst du das nur glauben, ich würde da auch nur annähernd mitmachen?“ „Ist ja gut!“, rief Reila genervt dazwischen und erläuterte ruhiger: „Es war ja nur eine Idee, mehr nicht.“ Ich schniefte vor Zorn erneut und versuchte den langsam verebben zu lassen. „Gruppe oder Wald? Wald wird auf Dauer nur nicht gehen. Kein Wald geht bis zur Landesgrenze durch.“, fragte ich Reila ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sonst schaute ich immer denjenigen, mit denen ich sprach, in die Augen. Aber bei Hurerei war mir nicht zum Scherzen zumute. Ich ging zum Wald: „Wir streifen im Wald weiter, bis wir eine geeignete Gruppe gefunden haben. Ist das okay?“

Reila stand wortlos auf und kam mir hinterher.

Die Stunden vergingen und langsam kehrte der Hunger ein. Am Waldrand fand ich nur Löwenzahn. „Die Blätter schmecken bitter, aber man kann sie essen.“, erklärte ich Reila, die mich angewidert ansah. Ich zuckte mit den Schultern und aß aber nur wenige, um den ärgsten Hunger zu stillen. Wir begegneten kaum Menschen. Eigentlich so gut wie gar keinem. Der Einzige, dem wir begegneten war ein Bettler, dem es noch schlechter ging als uns. Ich erklärte ihm das mit den Blättern, aber er war missmutig und unhöflich. Ich beließ es dabei und zog mit Reila weiter.

Die erste Nacht in einem unbekannten Wald mussten wir auf der nackten Erde übernachten. „Na toll!“, dachte ich. Keine Decke, nicht mal etwas um sich darunter legen zu können und es wurde verdammt kalt in der Nacht.

Die meiste Zeit war ich dann doch wach, weil die Kälte in meine Glieder zu sehr einzog. „Was ist hier nur los?“, fragte ich, als wir ENDLICH weiter zogen.

„Was meinst du?“, fragte Reila. „Na überlege mal? Eine Straße zur Hauptstadt und keiner benutzt sie? Da stimmt was nicht.“ Reila zuckte mit der Schulter. „Na und? Was solls? Ist doch besser für uns.“ Mit dem Das-kannst-du-deiner-kranken-Großmutter-erzählen-Blick schaute ich sie an. Sie fing prompt an zu lachen. Lautstark. Aber es war eh egal, immerhin war keiner in der Nähe, der uns hätte hören können.

„Vielleicht geht ja die Pest herum.“, kicherte Reila. „Mal mir den Teufel nicht auch noch an die Wand. Die Dämonen reichen schon.“, erwiderte ich feixend. Die ganze Lauferei war töricht langweilig. Und da endete der Wald auch schon. Ich schluckte. „Wir machen hier unseren letzten Halt – vorerst.“, befahl ich etwa zwanzig Schritte vom Ausgang des Waldes noch entfernt. Hier konnten wir uns noch verstecken. Auf einer Grassteppe würde das schwieriger werden.

Reila streckte sofort die Glieder und machte sich auf dem Boden lang. „Wird ja auch Zeit für eine Laufpause.“, feixte sie sogleich wieder. Ich ging nicht drauf ein. War ich paranoid? Es ist sonst absolut nicht normal binnen vierundzwanzig Stunden niemandem zu begegnen und das auf einer Straße, die zur Hauptstadt führte. „Weißt du, wie weit es noch ist?“, gähnte teils Silben erratend Reila. Missbilligend schaute ich auf sie herab: „Woher denn? Hab den Namen der Stadt zum ersten Mal auf den Schildern gelesen und da stand keine Entfernung dabei.“

„Aha“, Reila nickte, drehte sich um und schien zu dösen. Ich drehte mich paar Mal noch im Kreis und überblickte den Wald so gut es ging. Es war wirklich keine Menschenseele zu sehen. Dann legte ich mich zu Reila und schlummerte auch ein.
 

„Lei! Lei!“, unsanft wurde ich wachgerüttelt. War das meine Stimme? Ich zwängte mich zu einem Versuch die Augen zu öffnen. Doch dieser scheiterte schon beim Ansatz: „Oh, Reila!!“, riet ich voller Gewissheit: „Bitte. Lass mich noch ein wenig schlafen. Nur fünf Minuten.“

„Lei! Ich hab da so ein Wesen gesehen. Wach auf.“ Sie rüttelte mich wieder heftig. „Ein Mensch mit Lanze?“, panikartig fuhr ich hoch. „Wurden wir gefunden???“ Ich schaute zu Reilas unschuldiger Miene. „Nein. Da war so ein Wesen. Klein und Flügel hatte es!!“, erklärte sie hastig. „Flügel?“, skeptisch schaute ich sie an: „Hattest du da geschlafen?“

„Nein!“, brüllte Reila und erklärte flüsternd: „Es hatte Flügel und flog, als ich aufwachte weg. Ich bin mir ganz, ganz sicher. Es war klein und flog sehr, sehr schnell.“ Ich überlegte: „Vielleicht ein Vogel?“, riet ich genervt weiter. Zornig blickte sie mich an: „Meinst du etwa, ich kann einen Vogel nicht als ein solches erkennen, wenn ich einen sehe? Es hatte ein Gesicht, wie wir auch. Es war so ein Minimensch mit Flügeln!“

Ich seufzte nur, denn es interessierte mich nicht. Langsam streifte ich zum Waldausgang und ignorierte Reila.

Wir gingen nun auf der Straße. Reila erzählte immer noch von ihrer „Begegnung mit dem Flügelwesen“. Es hatte sie sich wohl angeschaut. Als Reila aufwachte, war es angeblich nur paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Und erschreckte sich wohl, genauso wie sie. Das Vieh flog weg und Reila weckte mich rau. Wo ich doch den Schlaf so gut hätte brauchen können.

Ich muffelte schon wieder. Zwei von drei Nächten keinen Schlaf und bei der dritten nicht genügend. Reila bestand darauf, dass sie so ein geflügeltes Wesen gesehen hatte.

Ich fuhr mir durch die Haare. Ein Bad, überlegte ich. Das wäre es nun gewesen. Stattdessen lief ich mit einem kirren Spiegelbild herum, das von winzigen Menschen mit Flügeln redete. Ich grummelte bei dem Gedanken lauter. „Aber so war es!“, sprach Reila völlig überzeugt. Stumpf schaute ich sie an. Glaubt sie, deswegen grummelte ich?

Ich schüttelte den Gedanken weg und ging weiter. Die Stadt war glücklicherweise mittlerweile am Horizont aufgetaucht. Sie war mit einer Holzmauer umgeben. Mehr erkannten wir erst beim Näherkommen. Reila freute sich: „Na endlich!“ Das dachte ich mir auch: ´Na, ENDLICH!´ Hoffentlich hat Reila nun ein anderes Thema, als ihre seltsame Begegnung.

Ungefähr fünfzig Meter noch von der Stadtmauer entfernt, erkannte ich, dass keine Wachen am Tor standen und, dass dies die einzige Straße war, die sich von der Stadt entfernte. Ungefähr zwanzig Meter vom Tor entfernt, teilte sich die Straße, aber es waren keine Schilder mehr vorhanden.

„Schade. Die Schilder hat wohl wer gestohlen.“, interpretierte Reila die Tatsache.

Ich blieb stehen. Keine Wachen, nur Vogelgezwitscher. Mir kam die ganze Situation gar nicht angenehm vor. Da stimmte etwas nicht. Und das ganz gewaltig.Zumal ich auch den Geruch von Blut wahrzunehmen glaubte. Ich schluckte und ahnte Schlimmes. Reila schien dagegen noch gar nichts bemerkt zu haben.

„Was ist? Warum bleibst du stehen?“, fragte sie mich unschuldig. „Riechst du das nicht?“ „Nein. Was denn?“, sie fing an herum zu schnüffeln. Dann erkannte sie es. Blitzartig veränderte sich ihre Miene von neugierig erfreut zu einer wohlbekannten, aber auch entsetzlichen Erkenntnis. „Blut.“, bemerkte sie. Ich nickte. „Das bekommt mir gar nicht.“

Ich schritt auf das Tor zu. Es hatte wirklich keine Wachen. Als ich durch das offene Tor spähte, sah ich keine Menschenseele. Es war wie eine Geisterstadt. Reila spazierte laut brüllend rein: „Hallloooooo? Ist hier jemand?“ Es antwortete niemand. Ich folgte ihr, doch bis auf unser beider Schritte vernahm ich nichts. Sogar die Vogelstimmen waren verschwunden.

Mein Unbehagen steigerte sich mit jedem Schritt. So groß war das Dorf nicht. Ich hätte geschätzt genauso groß wie mein Heimatdorf.

Ich bekam Gänsehaut. Reila rief erneut. Doch auch diesmal antwortete niemand. Wir blieben ratlos in der Mitte des Dorfes stehen. „Was wohl passiert ist?“ „Sollen wir mal in ein Haus eintreten?“, fragte Reila. Ich nickte unsicher.

Ein kalter Schauer der Unwissenheit lief voll Unbehagen meinem Rücken hinunter. Der Blutgeruch war noch relativ frisch. Vielleicht lebte ja noch jemand und war nur bewusstlos und brauchte Hilfe.

Ich ging in das erste Haus hinein und mich traf fast der Schlag. Im Haus war der Blutgeruch noch schlimmer. Und nicht nur der Geruch war grausam. Auch die Frau, die in einer Zimmertür lag mit einer riesigen klaffenden Wunde zwischen den Schulterblättern. Sie wurde überfallen. Das war mir bei dem Anblick schlagartig bewusst. Alles war voller Durcheinander und der geschändete Leichnam bestätigte meine Gewissheit.

Ich streifte schnellen Schrittes durch das Haus auf der Suche nach noch lebenden Bewohnern. Doch ich fand nur noch ein totes Kind. Ich schluckte bei dem Ansehen und ging mit schmerzenden Herzen so schnell wie möglich hinaus.Einer der Gründe, warum ich nie zur Front gehen werde, war, dass ich solche Anblicke einfach nicht ertragen konnte.

Beim zweiten Haus sah es nicht viel besser aus. Zerstörte Stühle, jede Menge Scherben und auch hier Frau und sogar drei Kinder gemordet. Ich ging wieder schluckend raus. Ich kämpfte gegen die Tränen an.

Ich schluckte wieder und schaute zum Himmel. In was für einen herrlichen Blau er erfüllt war, so grenzenlos und frei.

„Reila!!“, rief ich. Ich hörte etwas tapsen, dann erkannte ich sie, als sie aus einem Haus ging. Sie trug einen dicken vollgepackten Rucksack mit sich. Ich erschrak: „Plünderst du etwa Tote aus?“ Wütend starrte ich sie an. Während sie mich nur unschuldig ansah und mit einem Hundeblick antwortete: „Was heißt plündern? Sie sind tot. Was sollen Tote damit? Es ist nur Kleidung, ein wenig Geschirr und eine Karte… und Käse, Dörrfleisch und Brot. Wir brauchen das!“

Ich hatte keinen Elan mit ihr zu streiten. Zu groß war meine Furcht, dass das, was hier passiert war, wiederkommen könnte. Ich schaute mich paranoid um. „Die Banditen müssen grade erst raus sein. Wir sollten uns beeilen, bevor sie wiederkommen.“ Ein Zittern befiel meinen Körper.

Reilas Verhalten behagte mir zwar nicht und war unangemessen, doch es war zweitrangig. Wichtiger war es zu verschwinden, und das so schnell wie möglich. „Da vorne sieht es nach Stallungen aus. Wenn wir Pferde hätten, wären wir schneller.“, grinste Reila mich an, als würde sie nicht verstehen, was hier passiert war. Ich nickte und huschte in die Richtung. Reila folgte mir: „Weißt du, was seltsam ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Hier sind keine Männer. Nur Frauen- und Kinderleichen.“ Ich schluckte erneut: „Ja. Nachher kommen die wieder und denken, dass wir an dem Blutbad beteiligt waren. Wir müssen uns echt beeilen.“

Reila hatte sich nicht geirrt. Es war wirklich ein Stall. Wir gingen hinein. Drei Pferde und vier Kühe standen hier drin. Das schien ein Stall einer reicheren Familie gewesen zu sein.

Ich schaute mich um. Schnell fand ich Sattel, Geschirr und Zügel. Reila blieb nur stumm in der Tür stehen und schaute mir gemächlich zu, wie ich das Pferd sattelte. Urplötzlich fiel mir ein Schniefen auf, dass eindeutig nicht von den Pferden kam. Ich schaute erschrocken zu Reila. Sie weinte nicht. Im Gegenteil, sie schaute mich regungslos an. Da hörte ich es wieder. Es war noch jemand da.

Ich schaute wieder zu Reila und nahm den Zeigefinger zum Mund. Wissend nickte sie mir zu. Ich schlich mich in Richtung des Schluchzens. Es war leise und kam von dem oberen Heuboden. Ich erblickte nichts als Heu. Irritiert griff ich hinein. Da kreischte eine Kinderstimme auf und ein kleiner runder Kopf tauchte aus dem Heuberg auf. Panisch versuchte er sich sofort wieder in dem Heu zu verstecken. Da ertönte Reilas Lachen. Ich schaute sie streng an. „Keine Angst, Kleiner! Ich tue dir nichts.“, sprach ich wohlwollend und freundlich und fing an ihn im Heu zu suchen. „Ja! Genau das haben die Räuber auch gesagt! Und dann haben sie meine Mami gehauen!“, ertönte es weinend. Ich seufzte. Das wird anstrengend, dachte ich.

„Wären die Räuber etwa zwei schutzlose Frauen? Ohne jegliche Waffen? Wie wir?“, sprach ich weiter friedlich auf ihn ein. Es brachte sogar etwas. Schüchtern und vorsichtig kam der Kleine mit braunen Haar bestückte Kopf bis zur Nase etwa heraus. Ich machte keinen Versuch ihn direkt zu schnappen aus Angst, er könnte sich direkt wieder verkriechen. Stattdessen demonstrierte ich ihm meine Aussage und drehte meine Hüfte. Erst ein Stück nach links und dann nach rechts. Er überprüfte mit sorgfältigen Blicken meine Aussage. Er schien mich zwar noch zu verdächtigen, aber glaubte mir soweit, dass er nicht direkt wieder abtauchte.

„Wie heißt du?“, fragte ich vorsichtig. Er zögerte, schaute mich skeptisch an, aber eine Antwort bekam ich auch nach zwei Minuten nicht. „Ich heiße Leira.“, stellte ich mich vor und frug dann erneut nach seinem Namen. Wieder keine Antwort. Reila wurde ungeduldig. Das erste Mal in dem Dorf: „Wir müssen weg! Bevor die Räuber kommen! Wenn er sich so anstellt, dann bleibt er eben hier und fällt den Räubern eben zum Opfer!“

Ich schaute traurig zu ihr, denn ich wusste, dass sie recht hatte. Ich hörte schon das Stampfen von heran reitenden Pferden. Die Räuber kamen grade wieder.

Ich seufzte und schaute wieder zu dem Jungen. Er war sichtbar irritiert. „Meine Mami sagte, ich soll mich hier verstecken, bis sie mich ruft.“ Bemitleidend waren meine Blicke. Denn ich ahnte, dass seine Mutter, wie alle anderen, auf grausamste Weise getötet wurde.

„Komm mit uns!“ Ich hielt meine Hand in seine Richtung, während Reila mit den Füßen stampfte und die Pferde zu ende reitfertig machte.



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