Verkehrtes Ich von Sains ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich war anfangs unsicher, wohin ich gehen sollte, und zog erstmals die Wiesen entlang in Richtung einer größeren naheliegenden Stadt. Reila, mein Spiegelbild, folgte mir brav und eine Zeitlang still, doch dann fragte sie: „Was hast du denn nun vor?“ Ich drehte mich entnervt um: „Hast du überhaupt eine gewisse Ahnung von dieser Welt? Woher kommst du eigentlich?“ „Aus einer Anderwelt!“, meinte sie kühl und klar. „Einer Anderwelt?“, fragte ich ungläubig. Doch Reila blockte ab: „Ist nicht so wichtig. Aber ich gebe dir recht, ich kenne diese Welt nicht. Aber meistens sind sie alle gleich aufgebaut.“ „Ach? Dann ist das nur eine Weitere von vielen, auf derer du warst?“ Reila schaute mich entsetzt mit weit offenen Augen an: „Nein! Man kann eigentlich nicht wechseln. Mich wundert’s schon, dass ich hier her kam. Aber ich freue mich so sehr hier bei dir zu sein.“, beim letzten Satz fing sie an mich wieder bösartig anzulächeln. Nervös zuckte ich zusammen und meinte eingeschnappt: „Diese ist anders. Hier herrscht Krieg. Und das schon seit einem Jahr. Wobei… Eigentlich gab es noch nie ein gutes Verhältnis zum Nachbarland.“ Ich überlegte: Wann begann der Krieg überhaupt als ein solcher zu zählen? Doch Reila fühlte sich nur bestätigt: „Ich sagte doch – wie jede andere Welt auch. Finde mal eine Welt ohne Krieg.“ Genervt ging ich weiter. Man konnte einfach nicht mit ihr reden! Ich ignorierte Reila eine Weile. Ihr schien das nichts auszumachen. Im Kopf versuchte ich die Kausalkette durchzugehen, wie es soweit eigentlich kommen konnte. *Vergangenheit* Ich war pleite gewesen – wie so oft in meinem Leben. Der Bauer Ischlo entließ mich von meiner Arbeit ende Herbst. Ich half ihm jeden Herbst über bei der Feldarbeit. Es ging leicht und harte Arbeit war ich gewohnt. Dafür gab es ein warmes Bett und sogar zwei Mahlzeiten am Tag! Das war etwas besonderes, denn bei keiner anderen Arbeitsstelle gab es mehr zu essen. Am Ende des Herbstes bekam ich meine 50 Silberlinge. Wenn man Mahlzeit und Unterkunft dazu rechnete, handelte es sich um einen verdammt guten Lohn! Aber mehr als zwei Wochen würde man nie damit auskommen. Aber es war jeden Herbst so seit meinem vierzehnten Geburtstag. An meinem zehnten Geburtstag war ich einem Obmann begegnet. Das war der erste Einschlag in meinem Leben, an den ich mich noch erinnern konnte. Er sah in meinen Augen, dass ich nicht für das Leben war, das ich bis dahin geführt hatte, dass ich mich besser verdingen konnte, und gab mir fünf Silberlinge für ein Lederpanzer und eine Keule. Ich freute mich riesig und lief direkt auf dem Markt zu einem Lederhändler und tauschte das Geld gegen die zwei Sachen ein. Er kicherte. Ich dagegen hatte totale Probleme den Lederbrustharnisch an meinem noch zu kleinen Oberkörper fest zu bekommen. Es dauerte eine Weile, in der er sich amüsierte an dem lustigen Anblick, bis er zu mir kam und mir half. „So siehst du fast wie ein Krieger aus!“, meinte er lächelnd. Mein Grinsen reichte von einem Ohr bis zum Nächsten. „Ich bin ein Krieger! So!“, meinte ich und bewegte die Keule. Der Obmann hielt mit der Hand meinen Keulenschlag auf und sprach zärtlich lächelnd: „Noch nicht ganz! Erst musst du dich beweisen!“ Er schaute auf das Stadttor. „Beweisen? Wie denn?“, fragte ich ihn neugierig. Er schaute kurz zu mir und dann wieder zum Tor. Sein Lächeln verschwand und sein Finger zeigte auf das Tor. „Es ist kein gefährlicher Weg, aber für jemanden, der die Stadt noch nie verlassen hat? Wer weiß…“ Er zuckte mit den Schultern. Ließ eine Minute verstreichen und erklärte: „Deine Aufgabe wäre zur nächsten Stadt zu gehen, wo der Älteste wohnt. Ich weiß nicht, ob du seine Geschichte kennst, aber niemand wird Krieger ohne seine Erlaubnis. Wenn du also Krieger werden willst, dann musst du zu ihm gehen und eine Erlaubnis holen!“ Ich nickte. *Gegenwart* Reila unterbrach barsch meine Gedanken. „Da ist eine Stadtmauer!!!“, rief sie lautstark. „Ja.“, bestätigte ich sie. „Wau! Welche Stadt das wohl ist?“, fragte sie erfreut. Ich blieb stehen, wurde betrübt und blickte voller schmerzlicher Erinnerung auf die Stadt: „Das ist Vresna“ Ich merkte ihren Blick auf mir ruhen. „Du kennst die Stadt?“ Ich seufzte und ließ meine Schultern sinken. „Ich bin hier aufgewachsen.“ Langsam torkelte ich wieder los und sprach traurig weiter: „Und habe hier den Mann getroffen, wegen dem ich mich damals entschloss, die Stadt zu verlassen.“ *Vergangenheit* Es war das erste Mal, dass ich aus der Stadt gehen wollte. Langsam und vorsichtig pirschte ich mich an das Stadttor an. Wieso eigentlich? Täglich gingen viele Leute ein und aus und eine Kontrolle gab es nur bei Zutritt zu einer Stadt. Der Obmann schrieb mir einen Zettel – nur leider konnte ich nicht lesen. Kaum einer der unteren Bürgerklasse konnte lesen. Den Zettel hatte ich fest mit einem Seil um meine Hüfte gebunden und schaute alle paar Sekunden darauf, ob er noch da war. Meine Hand glitt zu dem Papierstück und erleichtert seufzte ich dann. Hinter einer Wassertonne vor dem Tor hielt ich an und spähte nach den Wachen. Belustigt über mein Verhalten kicherten sie nur. Ich kannte sie gut. Beide sogar mit Namen. Einmal hatte mir einer von ihnen sogar zwanzig Kupferlinge gegeben! Danach grüßte ich ihn bei jeder Begegnung. Doch jetzt musste ich raus. Raus aus einer Stadt, wo ich bis jetzt immer gelebt hatte. Noch nie war ich vor dem Tor. Wie es dort wohl aussieht?, überlegte ich. Was mich dort erwartet? Ob dort andere Wesen leben? Ich wusste es nicht. Noch nie hatte jemand über die Welt hinter dem Tor erzählt. Ein großes Geheimnis umgab dieses Tor. Noch nie war ich dem so nahe und noch nie wollte ich überhaupt wissen, was sich dahinter sich verbarg. Ein Schwarzes Loch, dachte ich immer. Eines das einen hineinreißt und in dem die Tiefen des Todes herrschten. Ja, aus der Stadt gehen, bedeutet Tod. Das sagte meine Mutter, als mein Vater aus der Stadt ging. Er kam nie wieder. Aber seit seinem Fortgang habe ich auch nie wieder was von ihm gehört. Und nun müsste ich ihm folgen. Ich atmete tief durch. „Ich schaffe das!!“, sagte ich mir immer und immer wieder. Doch meine Beine wollten nicht hören, sie bewegten sich kein Stück näher an das Tor heran. Meine Arme zitterten bei dem Gedanken mich an das Tor weiter heran zu bewegen. „Ich schaffe das!“ Doch auch die nächste Aufmunterung, die ich mir gab, versagte. Ich bekam immer mehr Angst. War ich wirklich schon bereit zu sterben? *Gegenwart* Reilas Blick strahlte eine erfreute Neugierde aus. Doch ich blieb stumm. Auch auf ihre ständige Bettelei zu erzählen, ging ich nicht mehr ein. Ich hing meinen Gedanken nach, bis sie dann einschnappte: „Du bist doof. Was soll denn dabei sein? Oder ist etwas Schlimmes passiert?“ Ich schüttelte den Kopf: „Es war nur eine Begegnung, die mein Schicksal veränderte. Nichts, was dich angehen würde.“ Sie schaute sich die Landschaft an. Hier und da mal ein Baum oder Strauch, aber alles in allem eher eine verschneite Landschaft. Der Schnee lag noch zentimeterhoch und nur der Trampelpfad zeigte einen verschleierten Blick auf die darunter verborgene Erde. „Beim Hexenmeister lag kein Schnee…“, meinte sie monoton. Verwunderung überkam mich. „Das merkst du erst jetzt?“ Sie funkelte mich wütend an. „Das liegt daran, dass der Zauberer an einem Vulkan sein Haus hat.“, erklärte ich hastig: „Dort ist es immer sehr warm. Deswegen kann es dort gar nicht schneien. Hier dagegen ist offene Landschaft. Der Boden kühlt auch sehr schnell ab, weil das Grundwasser sehr tief liegt.“ „Ach? Es hängt vom Grundwasser ab?“, fragte sie mich zweifelnd. Ich wusste es nicht. Man hatte es mir nur mal erzählt. *Vergangenheit* Ich hatte es vollbracht und war bei den Wachen. Da Winter war, wurde es schnell dunkel. So war die Dämmerung schon eingebrochen und das Licht verdüsterte sich. Die Wachen schauten mich traurig an. „Kleines!“, sprach der zu meiner linken. „Bist du sicher, dass du im Dunkeln raus möchtest und nicht bis morgen warten willst?“ Ich schaute ihn lange an und sprach dann leise: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich weiß gar nicht, ob ich mich morgen noch traue.“ Er seufzte. Mein Blick wanderte hinaus. Das Tor war nicht geschlossen und dahinter lag eine weiße, helle Landschaft. „Wieso ist es dort so weiß?“, fragte ich ihn: „So ist es ja gar nicht dunkel.“ Die Wachen kicherten. „Das ist jedes Jahr im Winter so.“, meinte der rechts stehende Wachposten. Der Linke erklärte: „Das liegt am Grundwasser. Außerhalb des Dorfes steht es niedriger und innerhalb des Dorfes höher. Deswegen liegt draußen Schnee und hier drinnen keiner.“ „Das ist gefrorenes Wasser. Hast du das noch nie gesehen?“ Ich drehte den Kopf wieder zum rechten Wachposten und schüttelte ihn unsicher. Schnee. Nein, gesehen hatte ich das noch nie. Der Linke schaute ernst nach draußen: „Wenn die letzten Waldhüter kommen, wird das Tor bis morgen geschlossen. Wenn du wirklich raus willst – dann am besten jetzt. Solange die Waldhüter noch in den Wäldern sind, werden sie dich retten, wenn etwas passiert. Aber wenn du auf dem Trampelpfad bleibst, sollte eigentlich nichts passieren. Er wird dich zur Straße bringen, die direkt zur nächsten Stadt führt.“ *Gegenwart* Wir waren knapp vor dem Tor. Es sah ramponiert aus. „Wann warst du das letzte Mal hier?“, fragte mich Reila. Ich dachte nach. „Als ich den Ort das erste Mal verlassen hatte.“ Sie grübelte. Ihr Gesicht durchzog sich mit Falten: „Warst du da nicht zehn?“ Ich musste instinktiv lächeln. „Ja. Und ich bin, meines Wissens nach, die Einzige, die kein Waldhüter ist und dennoch wiederkehrt. Aber wir bleiben hier nicht lange!“ „Wieso denn nicht?“, schnappte sie wieder ein. „Das ist kompliziert. Wir bleiben nur diese Nacht und ruhen uns aus.“ „Was ist daran kompliziert?“, Reila blieb stehen und musterte mich von oben bis unten. „Das verstehst du nicht!“, antwortete ich. Reilas Augen funkelten vor Ärger: „Wieso sagst du immer, ich würde es nicht verstehen? Hast du Angst davor, dass ich es verstehe? Oder verstehst du es selbst nicht?“ Zorn stieg in mir auf: Wie kannst du es nur wagen? Was verstehst du von dem Leben eines Anderen? - hätte ich ihr am liebsten an den Kopf geschmissen. Doch ich biss mich nur auf die Unterlippe. Schweigend ging ich auf die Wachen zu und begrüßte sie. Reila blieb noch ein wenig stehen, folgte mir dann doch noch. Ich merkte dass ihr Blick auf mir ruhte. Doch, dass er nicht mehr funkelte, merkte ich nicht. Zu sehr versuchte ich das Feuer der Wut zu ersticken. Denn schon damals lernte ich, dass es nie gut war sich dem Eifer des Gefechts hinzugeben. Die Wachen ließen uns mit einem Nicken passieren. Die Stadt hatte sich nicht verändert. Das alte Fass, hinter dem ich mich damals verkrochen hatte, stand immer noch genau an derselben Stelle und fing das Regenwasser auf. Hier, hinter der Stadtmauer, lag wie immer keine einzige Flocke Schnee. Sehnsucht breitete sich in mir aus. Nach langer Zeit war ich zum ersten Mal wieder in meinem Geburtsort. Die Gassen, die Menschen – alles sah genauso aus wie damals, als ich den Ort verlassen hatte. Ich kehrte in einer Schänke ein. Die Einzige in dem Ort, die auch Fremdenzimmer zum Übernachten hatte. Als ich das Zimmer bezahlte, merkte ich erst, dass Reila gar nicht mehr hinter mir war. Ich schaute mich erschrocken um. Wo war sie? „Wirt? Hast du ein Mädchen, das genauso aussieht wie ich, hier gesehen? Mein Zwilling?“ Er lachte. „Kind! Ich weiß doch, dass du ein Einzelkind bist!“ Er hatte recht. Aber Zwilling traf es am besten für eine Beschreibung. Ich schaute mich abermals um. Es war zwar voll, aber überschaubar und Reila erblickte ich nirgends. Also ging ich wieder hinaus. Vor der Tür stand sie. Ich sah in ihren Augen eine Art von Furcht, die ich bei ihr nie vermutet hätte. Sie starrte das Schild über der Schänke an: „Listiger Fuchs“ „Reila?“, frug ich. Ihr erschrockener Blick richtete sich auf mich. Sie war kreidebleich. Vorsichtig ging ich auf sie zu. „Reila?“, frug ich vorsichtig erneut und ging sachte noch einen Schritt auf sie zu. Plötzlich bemerkte ich den Wandel ihn ihrem Gesicht. Sie schaute mich mit ihrem resignierenden Gesichtsausdruck an: „Wie sagst du dauernd: Du würdest es ja eh nicht verstehen! Jeder Mensch ist anders!“ Sie ging einfach drauf los und ins Gebäude rein, als hätte es nie eine Angst oder so etwas in der Art gegeben.  Hosted by Animexx e.V. 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