Daemon 2 von yazumi-chan (Akte Holland) ================================================================================ Kapitel 1 --------- An diesem Abend wimmelte es im Cherry Club von Besuchern. Rotes und pinkes Licht pulsierte über die Stripperinnen, die sich in schwarzen Dessous und Plateau-High-Heels um die Stangen bogen, kopfüber herabrutschten und sich lasziv ihrem Publikum darboten. Geldscheine steckten in Strumpfbändern aus Latex oder ragten aus ihren gepushten Dekolletés. Pfiffe und Rufe mischten sich mit dem Wummern des Basses. Ich stand mit Henry an der Bar, spülte, presste Orangen, mixte Cocktails und goss Alkohol und andere Drinks in Gläser, bevor sie über den Tresen wanderten und gegen Geld eingetauscht wurden. Barhocker gab es keine, was mich normalerweise vor Gesprächen mit Betrunkenen bewahrte, doch heute wäre auch so keine Zeit dafür gewesen. Die Ankündigung einer Live-Band hatte halb Distrikt 18 angelockt; Männer unterschiedlichsten Alters und zahlreiche Frauen füllten die freien Flächen des Clubs, bis an Vorankommen nicht mehr zu denken war. Ich kam mit den Bestellungen kaum noch hinterher und musste mir mehrfach auf die Zunge beißen, um die ungeduldigsten Typen nicht anzufahren, wenn sie sich lautstark beschwerten. Ich stand unter Adrenalin, schwitzte und Haarsträhnen klebten in meinem Gesicht. Mein Kopf schwirrte von Rezepten und Preisen. Mein einziger Trost war, dass Henry noch weniger hinterherkam. Er hatte erst vor zwei Wochen angefangen und war die ruhigeren Tage gewohnt. Ich war ziemlich sicher, dass er am Ende seiner Schicht heulend zusammenbrechen würde. Verbissen mixte ich zwei Long Island Iced Tea und schob einem Mann seinen Gin Tonic zu, bevor er mich anmachen konnte. Als er verschwand, entstand eine kleine Lücke, die sich jedoch sofort durch zwei neue Kunden füllte, die Bier bestellten. Neben mir ließ Henry ein Glas fallen. Wieder öffnete sich eine kleine Lücke, durch die ich dieses Mal das Band-Set-Up entdeckte. Verstärker, ein Mikro, alles bereit für den Auftritt der vier Mitglieder, die in einer halben Stunde starten sollten. Dann stutzte ich. Auf einem der Verstärker prangten zwei gelbe Handabdrücke. Ich kniff die Augen zusammen, doch schon verdeckten zwei Jungs mein Sichtfeld. Ich donnerte den beiden ihren Tequila hin und drückte Henry das Geld in die Hand. „Bin kurz auf Toilette“, sagte ich im Vorbeigehen. Henrys Blick wanderte von dem Geld zu mir und dann zu der Menschentraube am Tresen. Sein Gesicht färbte sich grün, doch da war ich schon im Durcheinander der Clubgäste verschwunden und steuerte zielsicher auf die kleine Bühne zu, auf der ich den Verstärker entdeckt hatte. Ich drängte mich durch das Gewühl der feiernden und johlenden Männer und musste einige Grabscher abwimmeln, die mich mit einer der Stripperinnen verwechselten, doch dann stand ich vor der Absperrung. Schwer atmend und klebrig vom Schweiß der Anwesenden starrte ich die gelben Handabdrücke an. Sie leuchteten grell gegen das schwarze Plastik und ich konnte mir mein Versäumnis nur durch den stressigen Abend und die Wand aus Fleisch erklären, die mich größtenteils vom Rest des Clubs abgeschnitten hatte. Die Spuren waren frisch und als ich die Bühne etwas umrundete, entdeckte ich gelbleuchtende Fußabdrücke, die in den Backstage-Bereich führten, wo die Überwachungsräume und die Toiletten und Umkleiden der Angestellten lagen. Ich schob mich an der Security vorbei, der ich meinen Ausweis unter die Nase hielt und folgte den Spuren in den schlecht beleuchteten Gang dahinter. Der Lärm von zuvor rang noch in meinen Ohren nach, doch die Luft schien einige Grad kühler und war frei von der Mischung aus Schweiß und Parfum. Die gelben Abdrücke führten mich zu einem kleinen Raum, den der Clubbesitzer der Band für den heutigen Abend zur Verfügung gestellt hatte, doch danach gingen sie wieder ab und führten zu der Männertoilette, in der sie verschwanden. Zögernd blieb ich stehen. Ich war nicht gerade scharf darauf, die Männer dort drin beim Pissen zu erwischen, besessen oder nicht, andererseits gab es mir den Vorteil der Überraschung. Ohne Ida, die einen Wirt mit ihrem Körper fixieren konnte und während meiner Schichten aus offensichtlichen Gründen Zuhause blieb, musste ich altmodisch vorgehen; die Austreibung schnell hinter mich bringen, bevor der Daemon seinen Wirt nutzte, um mich anzugreifen. Das kleinere Übel wählend, schob ich sanft die Tür auf und trat ein. Ich war erleichtert, als ich nur eins der Bandmitglieder entdeckte, das mit gesenktem Kopf vor dem Pissoir stand und konzentriert mit seinen Urinstrahl in das Porzellan zielte. Wäre noch jemand hier gewesen, hätte ich auf das Überraschungsmoment verzichten und denjenigen evakuieren müssen—nichts war nerviger, als einen Daemon umständlich zu exzidieren, nur damit er sich sofort auf den nächsten Wirt stürzte. Ich umrundete den Mann mit lautlosen Schritten, Hände in Hunter-Manier erhoben, die Fingerspitzen zusammenliegend und Daumen übereinander, sodass ein dreieckiges Guckloch entstand. Der Daemon hatte mich noch nicht bemerkt. Er schien zu beschäftigt damit, den Körper seines Wirts richtig zu bewegen. Gut so. Ich verkleinerte das Loch zwischen meinen Händen für zusätzlichen Fokus und hob die Stimme. „Relictus.“ Der Austreibungsschlüssel entriss dem Daemon einen markerschütternden Schrei, der mir alle Haare zu Berge stehen ließ. Der Wirt drehte den Kopf, Arme ausgebreitet. Dunkle Rasterzöpfe hingen über die breiten Schultern und seine Nasenflügel blähten sich wie Nüstern. Seine Jeans rutschte ein Stück tiefer. Ich bereute, nicht noch kurz gewartet zu haben, bis er fertig war. „Relictus“, wiederholte ich. Der Daemon machte einen Schritt vor, dann noch einen und holte zum Schlag aus. Ich rollte zur Seite, stieß mir auf den Fliesen die Schulter und kam in Exzisionshaltung wieder auf die Füße. „Relictus.“ Dieses Mal konnte der Wirt die Reaktion nicht verbergen; er knickte kurz ein, schüttelte sich und öffnete den Mund zu einem Kreischen. Schwarzer Rauch floss heraus wie schwerer Nebel, doch der Daemon zog sich zusammen und verschwand wieder im Inneren des Mannes. Er rannte auf mich zu. Ich musste einem Schlag ausweichen, riss den Kopf nach hinten, um einem Ellenbogenhieb zu entkommen und stöhnte, als sich sein Knie in meinen Bauch grub. Mit verzerrtem Gesicht wirbelte ich herum, bis ich in seinem Rücken stand und trat ihm heftig in die Kniebeuge, bevor ich einen Satz zurückmachte und wieder die Hände hob. „Relictus.“ Der Wirt riss den Kopf nach hinten, presste beide Hände auf seinen Mund und hielt den schwarzen Rauch so davon ab, seinem Körper zu entweichen. Zischend machte ich noch einen Schritt zurück und fand mich mit dem Rücken zur Tür. Ich drückte mit aller Kraft dagegen, bis mir einfiel, dass sie sich nur nach innen öffnete. Gottverdammte Scheiße. Der Daemon erhob sich wankend und rauschte kreischend auf mich zu. Ich hielt die Arme vorgestreckt, verstärkte ein letztes Mal meinen Fokus, bereit, was auch immer für einen Angriff einzustecken, da rutschte die Jeans das letzte Stück herunter, verhedderte seine Beine und das Bandmitglied stürzte Gesicht voran auf die Fliesen. „Relictus!“, rief ich und dieses Mal hielt nichts den Rauch davon ab, aus dem Körper getrieben zu werden. Die schwarze Säule verdichtete sich, formte einen Bogen und bildete schließlich den Daemon, der nun auf vier spindeldürren Beinen und reichlich desorientiert vor mir stand. Gelbe Glubschaugen fixierten mich und er fletschte die fingerlangen Zähne, von denen Geifer auf den Boden tropfte. „Ganz schön klein für so ein hartnäckiges Biest“, kommentierte ich, während ich in Gedanken bereits meine Strategie plante. Ein mittelstarkes trigonales Muster sollte reichen. „Hast dich in seinem Körper wohl ganz schön heimisch gefühlt.“ Der Daemon schoss vor, offenbar der Ansicht, er könne meinen Monolog zu seinen Gunsten nutzen. Ich war anderer Meinung. „Haesitare!“ Der Fixierungsschlüssel ließ den Daemon in der Bewegung erstarren, so als hätte man ihn schockgefrostet, eine Klaue zum Angriff ausgestreckt. „Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich und begann damit die aufsteigende Reihe der Schwächungsschlüssel. Der Körper des Daemons wurde schlierig, Rauch stieg von seinen Gliedern auf und verpuffte mit dem Geruch fauler Eier. „Decedere, Deficere“, fuhr ich mit der absteigenden Reihe fort. Der Daemon zitterte, immer noch unbeweglich. Rauch strömte aus seinem gesamten Körper und seine Augen quollen hervor, als ich mich näherte. Er schrumpfte förmlich in sich zusammen. „Manere“, sagte ich, um ihn stillzuhalten, dann legte ich eine Hand zwischen seine geweiteten Augen. „Supplicium.“ Der Daemon schrie—und implodierte. Ich rümpfte die Nase bei dem Gestank nach faulen Eiern, der nun das Bad füllte und richtete mich auf. Abwesend rieb ich meinen Bauch, wo das Knie des Wirts mich getroffen hatte. Es war nichts Ernstes, aber als ich mich streckte, schoss ein scharfer Schmerz durch die Gegend und ich sog zischend die Luft ein. Für’s erste hielt ich mich lieber leicht gekrümmt. Da der Daemon erledigt war, widmete ich mich dem Bandmitglied. Der Mann hatte das Bewusstsein verloren, was für einen Wirt normal war, allerdings war er vor der Austreibung mit dem Gesicht auf die Fliesen gefallen, ohne sich abzustützen, und ich wollte zumindest sichergehen, dass er atmen konnte. Ich drehte ihn mit einem Ruck um und überprüfte das Gesicht. Die Nase blutete stark und von dem kleinen Höcker und dem Schnitt darüber war ich ziemlich sicher, dass sie gebrochen war. „Sorry, Kumpel“, sagte ich, packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn Richtung Wand, um ihn sitzend dagegen zu lehnen. „War nicht mit Absicht.“ Leicht angewidert begann ich, seine Hose hochzuzerren. Da schwang die Tür auf. „Ey Charlie, bist du kacken oder wieso brauchst du so—“ Ich hockte neben einem bewusstlosen Charlie mit heruntergezogener Hose und fand mich Auge in Auge mit den drei restlichen Bandmitgliedern wieder, die mich mit offenen Mündern anstarrten. Ich räusperte mich und machte einen Schritt von Charlie weg. „Ich weiß, wie das aussieht“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände, „aber ich kann alles erklären.“     Fünf Minuten später fand ich mich mit einer sehr wütenden Band, einem noch wütenderen Manager, einer belustigt dreinschauenden Security und einem sehr verwirrten Clubbesitzer in dessen Büro wieder und musste unwillkürlich an Henry denken, der inzwischen vermutlich von den Massen überrannt worden war. „Sie wollen mir also sagen, dass meine Barkeeperin ihren Gitarristen vergewaltigen wollte?“ „Was denn sonst?“, fauchte der Typ, den ich als Sänger identifiziert hatte. Er hatte versucht, mich zu verprügeln, bevor seine Freunde ihn zurückgezerrt und mich zur Security geschleppt hatten. Der Clubbesitzer wandte sich zu mir. Er war kahlköpfig, klein und sah eher wie ein Bibliothekar als ein Stripclubinhaber aus. „Was haben Sie zu ihrer Verteidigung zu sagen, Ms. Thynlee?“ „Wie ich der Band bereits erklärt habe, war Ihr Gitarrist von einem Daemon besessen. Als hauptberufliche Daemonenhunterin bin ich ihm gefolgt und habe eine Exzision durchgeführt.“ „Und warum haben Sie diese … Exzision in der Männertoilette vorgenommen?“ „Er war gerade dort und alleine“, sagte ich. „Ich wollte vermeiden, dass noch jemand verletzt wird.“ „Selbst, wenn das stimmt …“ Er rang die Hände und schielte zu dem Manager, der mich mit seinem Blick durchbohrte, „Mr. Ronald hat mir versichert, dass, sollte ich Sie nicht zur Verantwortung ziehen, er Sie wegen Körperverletzung und Nötigung verklagt.“ Ich schnaubte. „Das ist doch lächerlich.“ „Lächerlich ist einzig und allein Ihre Geschichte“, erwiderte der Manager namens Ronald und beugte sich über den Tisch zu mir herab, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Seine stahlblauen Augen fixierten mich. „Sie wurden in der Männertoilette gefunden, wo Sie damit beschäftigt waren, Charlies Hose auszuziehen—“ „Ich wollte sie ihm wieder anziehen!“ „—und Sie sind die einzige Zeugin für die Exzision des Daemons. Niemand sonst hat ein auffälliges Verhalten bei unserem Gitarristen bemerkt, ich frage also, woher wussten Sie davon?“ Ich erhob mich von meinem Stuhl und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. „Ich bin ein Auge, und ich kann Daemonenspuren sehen“, sagte ich gereizt. „Wie Ihnen jeder in Distrikt 16 sagen kann. Soll ich Zeugen aufrufen, Euer Ehren?“ Der Manager blieb unbeeindruckt. „Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Auseinandersetzung mit Ihnen dazu geführt hat, dass Charlie derzeit bewusstlos und mit gebrochener Nase im Krankenhaus liegt, seinen heutigen Auftritt verpasst und wir bereits angenommene Angebote nachträglich werden ausschlagen müssen, bis er wieder auftrittsfähig ist. Der finanzielle Schaden ist beträchtlich, mal ganz abgesehen von der Publicity, die der Band dadurch verloren geht.“ Er trat zurück und wandte sich wieder an meinen Chef. „Und wenn mir dieser Schaden nicht ersetzt und Ihre Barkeeperin nicht sofort entlassen wird, werde ich Sie beide verklagen, Mr. Welmy.“ Er verließ zusammen mit den Bandmitgliedern das Büro und ließ mich mit Welmy und der Security alleine. Der Clubbesitzer wischte seine Brille fahrig an seinem Jackett ab und seufzte. „Es tut mir leid, Ms. Thynlee, aber ich kann mir keinen Gerichtsprozess erlauben. Dazu fehlen mir die Mittel. Sicher verstehen Sie das.“ Ich dachte an Ida, die Zuhause auf mich wartete, darauf vertrauend, dass ich Geld verdiente und uns über Wasser hielt. Ungewollt fiel mir mein letztes Gespräch mit Rock vor sechs Monaten ein. „Sag es. Bring es hinter dich.“ „Du bist gefeuert.“ „Ich verstehe vollkommen“, sagte ich knapp und ging zur Tür. „Wenn ich das nächste Mal einen Daemon in Ihrem Club sehe, lasse ich ihn Amok laufen. Kriege ich wenigstens noch meinen Check für diesen Monat?“ Welmy nickte hastig, schrieb mir einen Kredit aus und begleitete mich zur Tür. Als wir an der Bar vorbeikamen, sah ich Henry, der von drei breitgebauten Typen angemacht wurde, weil er irgendetwas an ihrer Bestellung missverstanden hatte und den Tränen nahe war. „Fuckers“, murmelte ich, dann, lauter „Ey, Arschlöcher! Die Band tritt nicht mehr auf, also verpisst euch hier!“ Mr. Welmy zuckte zusammen. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Ich ließ ihn stehen und verließ den Club. Draußen angekommen war es schon dunkel, nur die pinke Neonbeleuchtung des Clubschilds und die mottenumschwärmten Straßenlaternen spendeten Licht. Inzwischen musste es nach Mitternacht sein. Die Luft war schwül und drückend; außer einer seltenen Brise hielt sich die Hitze vom Nachmittag hartnäckig. Ich fächerte mir mit meiner Hand Luft zu und stapfte zum Stadtzentrum, wo mein Büro lag. Ich gab es nicht gerne zu, aber bislang war der geplante Neuanfang in Distrikt 18 ein einziger Flop. Unser Büro war kleiner als meine damalige Wohnung in Rocks Hunterbasis; ich schlief auf dem Sofa, wusch mich notdürftig in dem Waschbecken des kleinen Gästebads und ernährte mich von allem, was mit Mikrowelle oder Kaffeemaschine zubereitet werden konnte. Für mehr war kein Geld da. Und jetzt? Wieder gefeuert. Gottverdammte Scheiße. Was war das hier, irgendeine schicksalhafte Fügung? Karma? Ich riss mich aus den düsteren Gedanken und stapfte die drei Treppenstufen zu der Eingangstür hoch. Der Schlüssel klickte im Schloss, die Tür schwang auf. Ida wartete bereits auf mich. >Coon! Du bist zurück! Ihre gleißend weiße Gestalt flog aufgekratzt auf mich zu und fiel mir um den Hals, was bedeutete, dass ihre kalte Substanz halb in mir versank. „Hey, Partner“, begrüßte ich sie. Über unseren Köpfen surrte der Ventilator und wirbelte die schwüle Sommerluft auf. >Jemand hat angerufen, während du weg warst. Ich wollte selbst rangehen, aber … „Ich weiß.“ Besorgt beobachtete ich, wie ihre helle Farbe einem schmutzigen Grau wich und sie zu Boden sank. Ida war ein Dae, die Vorstufe zu einem Daemon, was bedeutete, dass sie in ihrem weißen Zustand kaum körperliche Masse besaß, um mit ihrer Umgebung zu interagieren. Aber je dunkler ihre Färbung, umso näher stand sie einer endgültigen Verwandlung. Seit sie vor sechs Monaten gestorben war, hatte sich die Kontrolle über ihren Gemütszustand erheblich verbessert, aber sie war trotzdem noch ein Kind, das sich von kleinen Dingen aus dem Gleichgewicht bringen ließ. Sie machte keine Anstalten, ihre dunkle Farbe zurückzuziehen und sah schmollend zur Seite. „Hat die Person wenigstens aufs Band gesprochen?“, fragte ich, um sie abzulenken. Das hellte ihre Stimmung augenblicklich auf. >Ja! Es geht um einen Auftrag, aber ich habe nicht genau verstanden, was wir tun müssen. „Dann höre ich mir das wohl am besten an“, sagte ich, ließ meine Tasche auf den Boden fallen. Idas Körper wurde wieder ein gutes Stück dunkler. >Ich will selber ans Telefon gehen können. Mein Herz zog sich bei ihren Worten zusammen. Wenn ich damals schneller reagiert hätte, wenn ich den Daemon früher bemerkt hätte … Ich schüttelte den Gedanken ab. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Ida war tot. Je schneller ich das akzeptierte, umso besser. Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Unsere Köpfe drehten sich abrupt zur Tür. >Ein Besucher! Ida wurde milchig weiß und flog an die Decke, wo sie wie eine Hummel umherschwirrte. Auch ich konnte die Aufregung nicht unterdrücken, als ich mich zwischen Schreibtisch und Anrichte hindurchschlängelte. Besuch um diese Uhrzeit bedeutete noch ein Auftrag. Vielleicht kam endlich Schwung in die Sache und es war nicht so schlimm, dass ich gefeuert worden war. Mit einem Lächeln im Gesicht zog ich die Tür auf und fand mich Auge in Auge wieder mit … „Andrew“, sagte ich, wesentlich weniger euphorisch. Er sah verletzt aus, als mein Lächeln bei seinem Anblick schwand, doch Sams schlaksiger Schützling mit der pickligen Haut fing sich schnell wieder und streckte mir zur Begrüßung die Hand hin. Ich nahm sie skeptisch. „Hallo Ms. Thynlee“, sagte er und guckte an mir vorbei ins Büro. „Hallo Ida.“ >Andrew! Ida schwirrte hinaus, warf sich dem jungen Hunter um den Hals und fiel fast durch ihn hindurch. Ich war ziemlich sicher, dass sie sich nur so freute, weil er sie dank seiner Sichtlinsen sehen konnte, nicht unbedingt, weil es Andrew war. Sie hatte seit Monaten mit niemandem außer mir geredet. „Was tust du hier?“ Bevor er antworten konnte, fiel mir unsere Begegnung vor Idas Haus ein. „Nein, lass mich raten. Du bist —“ „— die Verstärkung.“ Er grinste breit und tätschelte Ida, wobei er unbeholfen mit der Hand durch die Luft wedelte, so als würde er eine Fliege verscheuchen wollen. Ich war nicht sicher, was ich von Andrews plötzlichem Auftauchen halten sollte. Ich kannte ihn nicht sonderlich gut. Außer unserer gemeinsamen Exzision vor einem halben Jahr war ich ihm nur einmal flüchtig begegnet und hatte ihn von beiden Treffen als übereifrig und zu selbstsicher in Erinnerung. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass die Kombination ihm eines Tages den Hals brechen würde. Aber ich konnte ihm schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen. Seufzend trat ich zur Seite. „Komm rein.“ Andrew grinste und folgte mir ins Büro. „Hübsch haben Sie es hier“, sagte er gedehnt, als wir etwas später mit Instantkaffee auf dem Sofa saßen. „Lüg nicht“, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. Andrew tat es mir gleich, schob nach dem ersten Schluck die Tasse jedoch angeekelt von sich. „Also, was machst du hier?“, fragte ich. „Wenn du zu Besuch hier bist, hättest du wenigstens Sam mitbringen können.“ „Ich … habe ihr nicht direkt Bescheid gesagt, dass ich komme. Aber ich habe eine Nachricht hinterlassen, damit sie weiß, wo ich bin!“ Ich hob eine Augenbraue. „Abgehauen?“, fragte ich. „Süß. Bist du da nicht ein bisschen zu alt für?“ „Das müssen ausgerechnet Sie sagen“, murmelte Andrew. „Sie haben mich doch einfach in der Wohnung liegenlassen und sind ohne ein Wort aus dem Distrikt verschwunden.“ „Ich wusste nicht, dass ich dir Rechenschaft über meinen Aufenthaltsort schulde“, sagte ich. „Außerdem hatte ich zu dem Zeitpunkt noch ein paar andere Dinge im Kopf.“ Harry und seine bewaffneten Agenten, zum Beispiel. „Ist ja auch egal.“ Andrew faltete die Hände in seinem Schoß und knetete nervös die Finger. „Ich bin jetzt ein offizieller Hunter und ich habe schon einige Jobs alleine durchgeführt.“ „Herzlichen Glückwunsch.“ Ida warf mir einen schiefen Blick zu. >Sei nicht so gemein, Coon. Ergeben hob ich die Hände. „Tut mir leid, Andrew. Wirklich gute Arbeit, deine Arbeit zu machen. Jetzt komm zur Sache.“ „Ich dachte, also ich würde gerne—wenn Sie nichts dagegen haben, versteht sich—bei Ihnen arbeiten?“ „Arbeiten?“, fragte ich. „Bei mir?“ Er nickte und sah mich dabei von unten an, als sei er ein verdammter Welpe. >Oh ja, Coon, bitte, das ist toll! Ida flog aufgeregt durch das Büro und hüpfte dann in Dae-Manier neben Andrew auf und ab. >Es ist immer so langweilig, wenn du wegmusst und mich nicht mitnimmst. Und er kann mich sehen. Bitte sag ja! Ich schnalzte mit der Zunge. „Andrew“, sagte ich. „Das ist zwar irgendwie rührend, dass du den Distrikt gewechselt hast, nur um mit mir zusammenzuarbeiten, aber ich will ehrlich mit dir sein.“ Ich machte eine Geste, die das gesamte Büro umfasste. „Ich wohne hier. Wir haben seit Monaten keine guten Aufträge bekommen und halten uns geradeso über Wasser. Ich kann dich nicht bezahlen. Ich kann dir nicht mal versprechen, dass du mehr zu tun haben wirst, als putzen und Brettspiele spielen. Du wärst mit Rocks Organisation besser bedient.“ „Das ist mir egal.“ Andrew stand auf und schien nicht mal zu bemerken, dass sein Gesicht dadurch aus Idas Bauch ragte. „Als wir gemeinsam den Daemon exzidiert haben … da war ich panisch und nutzlos und Sie haben trotzdem Zeit gefunden, mich zu verbessern und wachzurütteln. Ich habe Sie in Gefahr gebracht und Sie haben mir geholfen. Ich will mich revanchieren. Ich will Ihnen helfen, und wenn ich dafür umsonst Ihr Klo putzen muss.“ Verdutzt von der leidenschaftlichen Ansprache nahm ich Andrew erneut unter die Lupe. Hektische Flecken hatten sich auf seinen Wangen gebildet, Schweiß perlte auf seiner Stirn und das zottige, blonde Haar hing schlaffer, als ich es in Erinnerung hatte. „Ich habe dich nur gecoacht, weil ich ohne dich gestorben wäre“, sagte ich leise. „Du bildest dir Beweggründe ein, die es nicht gab. Ich bin keine Heilige.“ „Das habe ich nie gesagt.“ Er setzte sich wieder und sah auf seine Hände herab. „Aber das ändert nichts an meiner Entscheidung.“ Seufzend wollte ich mir durchs Haar fahren, nur um mich daran zu erinnern, dass ich wegen der Hitze einen Pferdeschwanz trug. „Du musst deine Ausgaben selbst decken“, warnte ich ihn. „Es ist Ende des Monats und wir kriechen auf dem Zahnfleisch. Aber du kannst auf der zweiten Couch schlafen, wenn du willst.“ Er nickte enthusiastisch, drehte sich um und entdeckte Ida, die ihn schmollend ansah, nur um plötzlich breit zu grinsen und ihm beide Handflächen entgegenzustrecken. Er gab ihr einen kräftigen Doppel-High-Five und schlug geradewegs durch ihre Hände hindurch. Plötzlich sah Ida misstrauisch zu mir. >Warum bist du eigentlich schon zurück? Sonst kommst du immer später heim. Ich hustete. „Ich, eh … ich wurde gefeuert. Deswegen hoffe ich wirklich, dass dieser Anrufer einen gut bezahlten Auftrag hat.“ Andrew sah von seiner Pseudorangelei mit Ida auf und schaute mich verwirrt an. „Was für eine Arbeit hatten Sie denn?“ „Nebenjob“, erklärte ich, während ich aufstand um zum Telefon ging. „Ich habe vor zwei Monaten angefangen, als uns das Geld ausging. Es sollte was Übergangsmäßiges sein, aber wahrscheinlich wäre ich dort verrottet.“ „Und was war das für ein Nebenjob?“, fragte Andrew skeptisch. Ida kam mir mit ihrer Antwort zuvor. >Eine Baaar. Und ich durfte nie mit. Aber warum haben sie dich gefeuert, Coon? „Ein kleines Missverständnis“, sagte ich schnell. Nie im Leben würde ich Ida erzählen, dass man mich mit einem hosenlosen Bandmitglied auf der Männertoilette gefunden hatte. Andrew schielte misstrauisch zu mir. „Sie hat glaube ich Schlimmeres gesehen als Jugendliche, die sich betrinken, Ms. Thynlee“, sagte er. „Das ist kein Grund, sie nicht mitzunehmen.“ „Es war keine Baaar“, sagte ich und ahmte dabei Idas Stimmlage nach. „Es gibt dort Tänzer. Und Stangen.“ Zuerst sah Andrew verwirrt aus, dann wurde er knallrot und schaffte es nicht, den schnellen Blick über meinen Körper zu verbergen. „Ach, diese Art Bar“, sagte er dümmlich, verschluckte sich und musste husten.  „Spar dir das Kopfkino, Andrew“, sagte ich. „Ich war Barkeeper.“ Ich war nicht sicher, ob der Ausdruck auf Andrews Gesicht Erleichterung oder Enttäuschung war, aber ich wandte mich endlich dem Anrufbeantworter zu, der schon die ganze Zeit blinkte. Zeit, meiner wahren Berufung zu folgen. Als ich die Nachricht abspielte, plärrte mir die gestresste Stimme von Oliver Correl entgegen, einem der Gründer in Distrikt 18. „Hallo Raccoon, hier ist Oliver. Ich hatte gehofft, dich noch zu erreichen, aber sei‘s drum … wir haben ein Problem. Meine Hunter haben einen Hort entdeckt, Ecke Bolton Road. Meine eigenen Hunter sind leider alle mit anderen, wichtigen Aufträgen beschäftigt, daher dachte ich, ich frage mal rum. Ich habe schon fast alle selbstständigen Hunter im Distrikt durchtelefoniert, aber bis auf einen haben alle haben abgelehnt. Du bist meine letzte Hoffnung. Wenn du Interesse hast, ruf mich zurück. Die Bezahlung ist gut, du wirst es nicht bereuen.“ Piep, piep, piep. Niemand sagte etwas. Schließlich drehte ich mich zu den anderen beiden um. „Wir sollen eine ganze Rotte exzidieren?“, fragte ich ungläubig. „Dafür sind ihm seine eigenen Hunter wohl zu schade. So ein Arsch.“ „Ms. Thynlee, ich halte das für eine ganz schlechte Idee“, sagte Andrew. Er war leichenblass. „Eine Rotte mit nur zwei Leuten, das ist Wahnsinn!“ >Was ist eine Rotte? „Eine Rotte ist ein loser Zusammenschluss von Daemonen, die an einem festen Ort hausen“, erklärte ich. In Gedanken war ich schon drei Schritte weiter. Mit meiner freien Hand umfasste ich den Kredit in meiner Hosentasche, den Welmy mir geschrieben hatte. Das Geld reichte kaum für die Miete dieses Monats, geschweige denn für Essen oder die Miete danach. Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht darauf ankommen lassen, im nächsten Monat einen Job zu finden, auch wenn ich wusste, wie schlecht die Jobsituation in Distrikt 18 war. Aber ich hatte es satt, in Bars zu arbeiten und tatenlos rumzusitzen. Ich verdrängte die Erinnerung an meine letzte Begegnung mit einer ausgewachsenen Rotte und stand auf. „Ruf Oliver an und sag ihm, dass ich annehme“, sagte ich. „Bolton Road, ja? Das ist nicht weit von hier. Und Ida?“ >Ja? „Ich werde deine Hilfe brauchen.“ Kapitel 2 --------- Keine fünfzehn Minuten später erreichten Ida und ich ein heruntergekommenes Wohnhaus am Ende der Bolton Road. Einige der Fenster waren eingeschlagen, Putz bröckelte von den Wänden. Nirgends brannte Licht. Selbst die Straßenbeleuchtung schien schummriger. Was das Haus jedoch als Daemonenhort kennzeichnete, war der Streifen gelber Farbe, den jemand dick über die Tür gepinselt hatte, zusammen mit Absperrband und einem Aufkleber des Chiefs, der auf dem geriffelten Glas der Eingangstür pappte. Ich verzog das Gesicht. Rotten lagen nicht grundlos am untersten Ende der Beliebtheitsskala; das hohe Risiko wurde nur von Veteranen in Kauf genommen, die sonst keine andere Wahl hatten. Hinter der Absperrung stand ein junger Mann. Ich joggte näher, bis er mich entdeckte und sich von der Fassade abstieß, Ida dicht hinter mir. Sein dunkles Haar war in einem kleinen Pferdeschwanz in seinem Nacken zusammengefasst und dichter Bartstoppel bewucherte Kinn, Wangen und Hals. Er trug ausschließlich schwarz. „Sie sind der andere Hunter?“, fragte ich, als ich ihn erreichte. Er nickte knapp und reichte mir seine Hand. „Daniel Holland.“ „Raccoon Thynlee“, stellte ich mich vor. Bei meinem Namen horchte er auf, sagte jedoch nichts. „Kommt sonst noch jemand?“ Daniel schüttelte den Kopf. Er wirkte nicht sonderlich traurig über diese Tatsache. „Wir sind die Einzigen.“ Sein Blick glitt an mir vorbei zu Ida. Ich wusste nicht, ob er natürliche Sicht hatte, aber sehen konnte er sie. „Ein Dae“, stellte er trocken fest. Ida lächelte ihn verunsichert an. >Ich bin Ida. Daniel nickte langsam und streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin. Ida mimte ein Händeschütteln mit hellen Fingern, die durch seine hindurchglitten. „Du kannst mich Dan nennen“, informierte er sie. Dann, an mich gewandt, „Ist sie immer so weiß?“ Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. „Sie ist launisch. Ida, wenn du etwas mehr Substanz annehmen könntest, wäre das super.“ Ida nickte, schloss die Augen und ich sah dabei zu, wie ihr Farbton von milchig weiß zu rauchgrau wechselte. Daniel runzelte die Stirn, doch wie zuvor kommentierte er das Geschehen nicht. „Hatten Sie es schon mal mit einer Rotte zu tun?“, fragte er, während wir uns unter dem Absperrband durchduckten. Ein Schrei. Gelbe Fußabdrücke. Blut, das von Fingerspitzen tropfte. Ich unterdrückte die unliebsame Erinnerung und nickte. „Wir müssen immer unseren Rücken freihalten“, sagte er. Ich nickte und widmete meine Aufmerksamkeit dem Flachmann an seinem Gürtel. Er schien mir nicht der Typ Hunter, der betrunken zu einem Auftrag auftauchte, aber was er sonst darin lagerte, war mir ein Rätsel. Daniel schloss die Eingangstür auf und drückte sie vorsichtig mit der Schulter nach innen. Wir schlüpften durch den entstandenen Spalt und bewegten uns lautlos über die Fliesen zum Treppenhaus, vorbei an den Briefkästen, die an der Wand hingen. Aus den oberen Stockwerken drangen gedämpftes Kreischen und das Quietschen einer alten Tür zu uns herunter. Abschätzend schielte ich zur Decke. Wir waren noch nicht mal in Sichtweite und trotzdem hämmerte mein Herz bereits viel zu schnell. Ich hasste mich dafür, dass allein der Gedanke an eine Rotte mir so übel mitspielte. „Unglückliche Sache, das hier“, flüsterte Daniel ungefragt, während wir uns durch die Dunkelheit vortasteten und die Stufen erklommen. Ich war ihm dankbar, dass er die Stille für mich brach. „Der Chief wollte das Gebäude ursprünglich abreißen, weil das Risiko der Infiltration zu hoch war, doch der Käufer des Grundstücks hat in letzter Sekunde abgesagt und sie haben das Vorhaben abgebrochen.“ „Einige der Gebäude waren markiert, obwohl die Absperrung fehlte“, sagte ich, als ich mich an meine Ankunft erinnerte. Die gelbe Farbe leuchtete in der Dunkelheit wie ein Mahnmal von den Türen. „Sind die Horte alle schon exzidiert?“ Ein Schmunzeln schlich sich auf Daniels Züge, als er an mir vorbei die Treppe emporstieg. „Ich hatte hier die letzten Wochen viel zu tun“, gestand er. „Dieses Viertel des Distrikts liegt nahe an der Grenze, da kommt es immer wieder zu Rottenbildungen.“ „In welchem Stadium befindet sich diese hier?“, fragte ich und kniff die Augen zusammen, um die neongelben Daemonenspuren auszumachen, die den oberen Teil des Treppenhauses bevölkerten. Ungewollt stieg mir der Geruch ungewaschener Körper und rostigen Eisens in die Nase. „Die Infiltration kann erst vor wenigen Tagen passiert sein“, erklärte Daniel. „Expansion also“, murmelte ich. „Zumindest eine gute Nachricht.“ „Bislang hat der Chief immer schnell gehandelt. In den letzten Jahren hat er große Verluste gemacht. Er will sicher vermeiden, noch einen Stadtteil an die Biester zu verlieren. Wenn es so weiter geht, wird das hier bald alles Ödland sein.“ Ida schwebte über mich hinweg und sah sich staunend um. >Was heißt Expansion? „Dass es dort oben von Daemonen nur so wimmelt“, sagte ich und nahm die letzten zwei Treppenstufen auf einmal, bevor ich mich abrupt an die Wand presste, Hände übereinandergelegt vor mich haltend. Nichts. Der Flur war leer. Ich atmete erleichtert auf. „Immerhin haben sie noch nicht angefangen, sich gegenseitig aufzufressen. Sag mal, Daniel, wie viele von diesen Aufträgen hast du schon unter dem Gürtel?“ Er zuckte die Schultern und trat an mir vorbei in den kleinen Flur. „Habe aufgehört zu zählen. Sagen wir einfach, dass ich in den letzten zehn Jahren mehr Rotten exzidiert habe, als gesund ist.“ Ich schnaubte. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand schwang quietschend auf und zwei Daemonen sprangen schrill kreischend auf uns zu. „Depulsio!“, schrie ich automatisch. Die gebogenen Krallen schrammten wirkungslos über meine Haut und hinterließen nichts als einen kalten Lufthauch. Ida fauchte und rammte den größeren der beiden zur Seite. Sie drückte sich fest gegen seinen Körper und verschmolz halb mit ihm, bis die beiden nicht mehr auseinanderzuhalten waren. Bevor ich mir Sorgen um sie machen konnte, setzte der kleinere der beiden zum Sprung an. Meine Hände flogen in seine Richtung. „Manere“, befahl ich und sah zufrieden dabei zu, wie der Daemon in der Bewegung verharrte und mich hasserfüllt aus seinen glühenden Glubschaugen fixierte. Daniel nickte mir zu. „Du hast hier alles unter Kontrolle, wie ich sehe. Ich nehme den zweiten Stock.“ Mit wippendem Pferdeschwanz verschwand er die Treppe hinauf. Von oben ertönte ein Poltern und Kreischen. Es hatte begonnen. Während Ida ihren Daemon weiterhin in Schach hielt, ging ich auf meinen eigenen Gegner zu, Hände auf seinen Brustkorb gerichtet. Für einen Winzling wie diesen sollte ein lineares Muster genügen. Ich wählte eine Kombination mittlerer Kategorie. „Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich deutlich und sah dabei zu, wie schwarze Rauchschwaden von dem sich windenden Daemon aufstiegen und sich wie Gewitterwolken unter der Decke sammelten. „Manere.“ Fixierungsschlüssel. „Deficere, Decedere, Occidere.“ Wiederholung der linearen Kombination. Ich machte den letzten Schritt vor, legte meine Hand auf seine Stirn und beendete das Muster mit dem Exzisionsschlüssel der dritten Kategorie, „Supplicium.“ Der Daemon fiel in sich zusammen. Ich richtete mich gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Ida gegen eine Wand geschleudert wurde und halb hindurch glitt. Ihr Daemon hatte sich aus der Umklammerung befreit und raste nun wie ein tollwütiger Hund auf mich zu. Mit einem Hechtsprung wich ich zur Seite aus, rollte mich ab und kam im selben Moment wieder auf die Füße. „Sidere.“ Der Daemon kreischte, kämpfte gegen die Fixierung an, doch außer einigen Zentimetern konnte er sich nicht bewegen. „Abire, Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich atemlos. Die aufsteigende Reihe der trigonalen Schwächung brannte auf meiner Zunge. „Decedere, Deficere, Abire.“ Wieder schrie der Daemon, als die absteigende Reihe das Muster vollendete, und riss an seinen unsichtbaren Fesseln. Diesmal durchbrach er sie und schoss auf mich zu. Ida warf sich dazwischen und umschwirrte ihn mit plötzlichen Attacken auf seinen Körper. Irritiert bremste der Daemon. „Sidere“, wiederholte ich. „Deficere, Decedere, Occidere. Deficere, Decedere, Occidere.“ Das lineare Muster traf ihn zweimal kurz hintereinander. Jaulend ging der Daemon zu Boden, krümmte und wand sich, während Ida wie von der Tarantel gestochen durch den Flur schoss und nach dem nächsten Gegner Ausschau hielt. Ich hielt mich nicht lange mit Fixierungen auf. Die Mischung aus trigonaler und linearer Schwächung hatte genug Schaden angerichtet, um ihn für‘s erste lahmzulegen. Meine Hand packte zielsicher die schwarze, geleeartige Masse seiner Stirn. „Mors“, sagte ich laut und sah zu, wie die Augen des Daemons nach außen gedrückt wurden und sein dunkler Körper zerfiel. Vorsichtshalber trat ich nacheinander die beiden anderen Türen ein, folgte dem Flur und spähte in die Räume. Kein frisches Gelb weit und breit. Dafür die Leichen eines Pärchens, das im Wohnzimmer lag, der Teppich unter ihm blutgetränkt, die stinkenden Körper mit Bissen übersät. Der Geschmack von Galle füllte meine Kehle, doch ich hielt mich nicht lange genug auf, um mir die Gesichter einzuprägen und mein langjähriges Training drängte die aufsteigenden Erinnerungen vorerst zurück. Ich trat zurück auf den Flur des Wohnhauses. Ein kurzer Blick zu Ida bestätigte meine Vermutung. Ihre Wohnung war ebenfalls leer. Der erste Stock war gesichert. Gemeinsam rauschten wir hinauf ins zweite Obergeschoss, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, wo Daniel gerade einen fetten Daemon schwächte, während zwei weitere vor einer aufgebrochenen Tür standen und allem Anschein nach fixiert waren. „Ich links, du rechts.“ >Geht klar. Eingespielt, wie wir inzwischen waren, dauerte es nur wenige Minuten, bis ich auch Idas Daemon exzidiert hatte. Hinter mir war Daniel ebenfalls mit seinem Gegner fertig. Die Luft stank nach faulen Eiern und dichter Rauch verschleierte die Sicht. „Wie viele Stockwerke noch?“, fragte ich. „Fünf.“ Ich stöhnte.  Nachdem alle Wohnungen gesichert waren, erklommen wir zu dritt das Treppenhaus. Mein Hals tat bereits weh und das Kreischen von oben war mit der Zeit lauter geworden. Allmählich fragte ich mich, ob die Eskalation der Rotte nicht vielleicht doch bereits im Gange war. Ida schoss an mir vorbei und flog rückwärts die Treppen empor. >Also mir macht es Spaß! „Du bist ja auch nicht normal“, murmelte ich gutmütig und trat in den Flur des dritten Stockwerks. Neben mir blieb Daniel stehen. Ich folgte seinem Beispiel und schluckte schwer. Auf den Fliesen hockte ein Daemon und biss große Stücke aus dem formlosen Körper unter sich, der wimmernd Rauch absonderte und mit den dürren Gliedmaßen zuckte. Der Gestank war so unerträglich, dass ich unwillkürlich eine Hand vor meine Nase drückte. Ida flog unbeirrt weiter rückwärts. Erst, als sie unsere Blicke bemerkte, drehte sie sich um und schwirrte erschrocken unter die Decke. Von dort betrachtete sie das Geschehen mit beklommener Miene. Ich konnte es ihr nicht verübeln. „Gottverdammte Scheiße“, fluchte ich und hob beide Hände, während ich durch den Mund atmete, um dem Gestank zu entgehen. Rotten in der Eskalationsphase waren nie schön mitanzusehen und von der Menge an Rauch zu schließen, hatte dieses Exemplar schon eine ganze Handvoll seiner Artgenossen verschlungen. Ich wollte nicht wissen, wie stark es bereits war. „Wir müssen uns zurückziehen. Ohne Verstärkung haben wir keine Chance. Daniel, hörst du mir zu?“ Daniel machte einen Schritt auf den Daemon zu, der das letzte bisschen Kopf verschlang und merklich anschwoll, bevor er die Masse in seine eigene integrierte und wieder normale Form annahm. Misstrauisch beobachtete ich, wie Daniel die Hände sinken ließ. Dann drehte er sich plötzlich zu mir um. „Raccoon, Ida, ich darf vorstellen: das ist mein Bruder, Isaac.“ Ich starrte ihn an. Isaac richtete sich stumm auf und starrte ausdruckslos zurück. Seine schwarze Farbe nahm kaum merklich ab, gerade genug, um mich davon zu überzeugen, dass er in der Tat kein Daemon war. Er hatte die Gestalt eines Jungen, elf oder zwölf Jahre alt, mit kinnlangem Haar und einer Stupsnase. Trotz seiner tiefgrauen Färbung war die Ähnlichkeit zu Daniel verblüffend. Ida zeigte sich, wie so oft, begeistert. >Er ist ein Dae? So wie ich? Ich konnte nur nicken. Plötzlich fragte ich mich, wie viele Daemonen Daniels Bruder schon gefressen hatte. Isaac legte den Kopf schief, während er Ida betrachtete, die langsam von der Decke herabschwirrte. Sie wollte gerade etwas sagen, da wandte er den Blick ab und widmete sich Daniel. »Stockwerke vier bis sieben sind gesichert. „Warst du schon in den Wohnungen hier?“ »Noch nicht. >Hey! Ida schwebte direkt vor Isaac, der überrascht zurückwich. Sie streckte ihm ihre Hand hin. >Ich bin Ida. Isaac ignorierte die Hand und starrte sie stattdessen an. Dann sah er zu Daniel zurück. »Nehmen wir sie mit? Sein Tonfall gefiel mir ganz und gar nicht. „Was soll das heißen?“, fragte ich und machte einen Schritt vor. Ida spürte mein Misstrauen, wurde dunkler und schoss hinter meinen Rücken. „Hier nimmt niemand irgendwen mit, nur damit das klar ist.“ Daniel hob beschwichtigend die Hände. „So meinte er das nicht.“ „Wie meinte er es denn?“, fragte ich bissig. Dan seufzte. „Mein Vater, Arnold Holland, hat ein besonderes Interesse an Huntern, die mit Dae zusammenarbeiten, seit mein Bruder einer wurde. Er würde Ida und dich sicher gerne kennenlernen. Er hat ein Anwesen, gleich an der nördlichen Grenze.“ Skeptisch hob ich die Augenbrauen. Ein Anwesen? Nach Geldproblemen bei Dan klang das nicht gerade. Waren Rottenexzisionen sein Hobby oder war er einfach nur lebensmüde? „Darüber können wir und später unterhalten“, sagte ich. „Lasst uns den Job schnell hinter uns bringen. Ich bin hundemüde.“ Ida, die nie schlief, streckte mir im Vorbeifliegen die Zunge heraus, wurde schneeweiß und huschte durch die geschlossene Wohnungstür. Gemeinsam mit Daniel brach ich die Tür auf und stolperte in den kleinen Hausflur. Kaum waren wir drinnen, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Gelbe Spuren führten in alle Räume, überlagerten sich in unterschiedlichen Intensitäten und reichten an manchen Stellen bis an die Decke. Ida schwirrte voran und verschwand in einem kleinen Raum. Daniel überholte mich und ging vor, Arme erhoben, Isaac dicht dahinter. Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, was los war. War es der Geruch von trockenem Blut? Das leise Plärren des Radios? Ich fühlte mich gewaltsam in mein altes Zuhause bei den Thynlees zurückversetzt. Mit wackligen Schritten ging ich weiter. Ida kehrte kopfschüttelnd aus ihrem Raum zurück, Daniel und Isaac hatten bereits das Zimmer gewechselt. Ich nahm den letzten, unbesetzten Raum unter die Lupe. Schlafzimmer. Gelbe Fußspuren bevölkerten Bett, Kleiderschrank und Dielen so dicht, dass ich kaum erkennen konnte, wo sie begannen oder aufhörten. Vorsichtig trat ich an das Bett heran und hob die herabhängende Decke mit dem Fuß hoch, während ich die Hände vorgestreckt hielt. Plötzlich hörte ich ein Poltern und Idas schrillen Schrei. Sicher, dass ihr etwas zugestoßen war, fuhr ich herum und fand mich Auge in Auge mit dem Daemon wieder, der sich im Schrank versteckt hatte und mit geballter Kraft in mein Gesicht sprang. „SIDERE!“ Der Daemon krachte in die Dielen, die unter seiner Masse und der Wucht des Fixierungsschlüssels splitterten. Ida raste auf mich zu. Ich warf ihr ein schnelles Lächeln zu, um sie zu beruhigen. Der Daemon nutzte den Moment und vergrub seine Zähne in meinem nackten Knöchel. Ich spürte das Daemonengift als Kälte, die sich rasend schnell durch mein Bein fraß, die Wade hoch, das Knie entlang und hinauf in meinen Oberschenkel. >DAN, HILFE! Ida war da, rabenschwarz, und flog wie ein Pfeil auf den Daemon zu, der von der Wucht des Aufpralls gegen die Wand geschleudert wurde. Nebel legte sich um meine Gedanken, während ich Ida dabei zusah, wie ihre Augen sich gelb färbten, sie auf alle Viere sank und sich mit aufgerissenem Maul auf den Daemon stürzte. Ich rutschte zu Boden. Plötzlich war Daniel zur Stelle, den ausgezogenen Gürtel in der Hand. Durch einen Schleier sah ich, wie er das Leder um mein Bein schnürte, kurz vor dem Saum meiner Shorts, das schwarze Gift in meinen Adern pulsierend. Er förderte ein Taschenmesser zu Tage und ritzte kleine Schnitte entlang der dunklen Linie, die sich von meinem Knöchel hinauf zur Innenseite meines Schenkels schlängelte. Mit geübten Bewegungen schraubte er den Flachmann auf und kippte eine nach Essig stinkende Flüssigkeit in die Schnitte. Zischend krallte ich die Finger zu Fäusten, bis meine Nägel sich in meine Handflächen bohrten. Die schwarze Linie verlor an Farbe. Daniel beugte sich herab und begann, das Gift aus meinem Knöchel zu saugen und neben sich auf den Boden zu spucken. Als er meinen Oberschenkel erreicht hatte, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Mir war speiübel. Im Hintergrund versenkte Ida ihre Zähne im Genick des Daemons und riss seinen Kopf ab, bevor sie den Rest verschlang. Isaac schwebte daneben, sichtlich angetan. Nach endlosen Minuten ließ Daniel sich auf seine Hacken zurücksinken und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ich starrte auf mein Bein. Die dunkle Linie war nur noch schwach zu erkennen, stattdessen blutete ich aus den kleinen Schnitten, um die sich bereits mundförmige Blutergüsse bildeten. Mein Blick wanderte zu den dunklen Glibberflecken, die Daniel auf die Dielen gespuckt hatte und mein Magen drehte sich um. Ich wand mich zur Seite und übergab mich neben das Bett. Ida war sofort an meiner Seite. >Coon, geht es dir gut? Tut es weh? „Alles in Ordnung“, presste ich hervor und wünschte mir nichts sehnlicher, als ein Glas Wasser. Oder im Erdboden zu versinken. Beide Alternativen erschienen mir fantastisch. Ida sah mich besorgt an und strich beruhigend mit einer kühlen Hand über meine Wange. „Danke“, sagte ich, ohne aufzusehen. „Wie ein verdammter Anfänger“, fluchte Daniel. Die Dielen knarzten, als er sich erhob. „Ein paar Sekunden später, und ich hätte nichts mehr tun können. Ich habe dir ausdrücklich gesagt, dass wir unsere Rücken freihalten müssen und du überprüfst den Schrank nicht?“ Ida hob sofort die Stimme in Protest, doch statt einzustimmen, kniff ich die Augen zusammen. Er hatte Recht. Ich hatte mich wie ein Rookie verhalten, ein Hunter, der gerade auf seinem ersten Auftrag war. Ohne Daniel wäre ich jetzt tot. Was war nur los mit mir? Ich begann, zu zittern. Als hätte die Nahtoderfahrung all meine Barrieren zum Bröckeln gebracht, stiegen die verdrängten Erinnerungen nun in mir auf. Sonnenlicht, das gefiltert durch mein ungeputztes Kinderzimmerfenster dringt. Das schrille Klingeln an der Tür. Annies erstickter Schrei. Der Blick in den Flur, Annie am Boden, die Bisswunde im Oberarm, eine Pfütze aus Blut. Johns Schrei, der Daemon, der sich auf ihn stürzt, der Geruch von Blut, Schwefel, gelbe Spuren, überall gelbe Spuren … Ich holte tief Luft und presste die Handballen gegen meine Augen, bis ich bunte Farbflecke sah. Idas Stimme zog mich in die Gegenwart zurück. >Coon? Du musst aufstehen. Bitte. Einige Sekunden rührte ich mich nicht. Ich wollte nicht aufstehen, wollte mich nicht bewegen. Mein Bein war noch immer eiskalt und als ich die Hände sinken ließ und die Schatten aus meinem Sichtfeld blinzelte, entdeckte ich die dunkle Linie, die sich wie ein schwarzer Blitz durch Wade und Oberschenkel zog. Schließlich jedoch überwog die Sorge um Ida, deren Stimme immer verzweifelter klang. Ich setzte mich aufrechter hin, stützte mich ab, um aufzustehen— —und knickte ein. Ich starrte auf das verräterische Bein, das unter meinem Gewicht eingebrochen war. Es war wie taub, ich konnte nur die Kälte spüren, doch bei genauem Hinsehen erkannte ich das Beben der Gliedmaße. Ida schwirrte besorgt um mich. >Fühlst du dich nicht gut? „Nein, es geht schon“, sagte ich schnell. Zu schnell. Daniel drehte sich um und sah mich an. Seine Augen waren zusammengekniffen. Ich presste die Lippen aufeinander und wagte einen erneuten Versuch, diesmal darauf bedacht, das Gewicht hauptsächlich auf mein linkes Bein zu verteilen. Es klappte. Ich stand, wacklig, aber aufrecht. Daniel beobachtete mich, während Isaac zu ihm schwebte und leise etwas flüsterte. Ich konnte kein einziges Wort verstehen, doch von den Blicken, die mir zuteilwurden, war das Thema ihrer Unterhaltung nicht schwer zu erraten. „Hauen wir hier ab“, murmelte ich an Ida gewandt und humpelte zur Tür. „Die Rotte wurde exzidiert.“ Daniel folgte mir mit etwas Abstand. Ida blieb nah an meiner Seite, einen Arm ausgestreckt, so als sei sie bereit, mich im Notfall zu fangen. Zähneknirschend schleppte ich mich voran. Das Treppenhaus stellte die erste Hürde dar. Zuerst schaffte ich die Stufen alleine, doch als ich einen Moment nicht aufpasste, gab mein Bein wieder unter mir nach und ich stolperte vorwärts. Nur Daniels Hand um meinen Unterarm bewahrte mich vor einem sehr unangenehmen Sturz. „Danke“, sagte ich, zum zweiten Mal an diesem Abend, und wollte mich aus seinem Griff lösen, doch er hielt mich fest. „Ich helfe dir“, sagte er und nahm an meiner schwachen Seite Position auf. Gemeinsam stiegen wir die Treppen hinunter, er langsam, ich halb hopsend. „Was ist mit meinem Bein los?“, fragte ich leise, als der Abstand zu den beiden Dae groß genug war, um nicht überhört zu werden. Ida hatte es irgendwie geschafft, Isaac in ein Gespräch zu verwickeln. „Ich bin nicht sicher“, antwortete Daniel, während wir weitergingen. „Daemonenbisse werden selten überlebt. Bis das Gift das Herz erreicht, dauert es nur wenige Sekunden. Du hattest Glück, dass er dich am Knöchel und nicht weiter oben gebissen hat. So konnte ich das Gift aussaugen.“ „Du hast irgendetwas auf die Wunde gekippt“, sagte ich. „Essig?“ Er nickte. „Es ist kein Wundermittel, aber es hilft, das Gift zu neutralisieren. Meistens reicht die Zeit nicht, es anzuwenden, aber ich habe es trotzdem lieber dabei.“ „Also ist das Gift nicht völlig aus meinem Kreislauf raus?“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu früh, um das zu sagen.“ Wir erreichten das Erdgeschoss und ich wartete, während Daniel die schwere Eingangstür aufdrückte und offenhielt, damit ich hindurchhumpeln konnte. „Aber das Gift hat Schaden in deinem Bein angerichtet. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis dein Körper sich davon erholt.“ „Oder ob“, sagte ich. Daniel schwieg. Ida lachte hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah dabei zu, wie sie angeregt mit den Armen ruderte und augenscheinlich versuchte, Isaac aus der Reserve zu locken. Der Junge zeigte keinerlei Reaktion. „Wie lange ist er schon bei dir?“, fragte ich. „Achtzehn Jahre“, sagte Daniel. Er lächelte, aber es wirkte gequält. „Wir sind Zwillinge. Mit zwölf wurden wir von einem Daemon angegriffen, der einem Hunter entwischt ist. Mein Bruder hat sich vor mich geworfen und den Biss für mich abgefangen. Seitdem ist er auf mich fixiert. Er würde alles tun, um mich am Leben zu halten.“ Ich schluckte schwer. Achtzehn Jahre … „Er wirkt sehr abwesend“, sagte ich, bevor die Stille unangenehm werden konnte. „So lange tot zu sein, hat diesen Effekt“, erwiderte Daniel. Gemeinsam gingen wir die Straße entlang. Die wenigen Straßenlaternen spendeten nur schummrig orangefarbenes Licht. Die raue Oberfläche der Pflastersteine drückte sich durch meine Sohlen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ida jemals so wird“, sagte ich. Wir sahen zu dem ungleichen Pärchen hinter uns. Ida hatte ein helles mausgrau angenommen und demonstrierte gerade, wie man Purzelbäume in der Luft machte, während Isaac sie vom Boden aus beobachtete. „Vielleicht nicht“, gab Daniel zu. „Aber sie ist auch erst einige Monate alt. Es dauert eine Weile, bis sie begreifen, was sie verloren haben. Für Isaac war es besonders schlimm. Ich war sein Spiegelbild und er sah mich aufwachsen, das Leben führen, das er geopfert hatte. Ich fühle mich noch immer schuldig deswegen.“ Seufzend fuhr er sich durchs Haar. „Manchmal wünschte ich, er wäre damals einfach gestorben.“ Ich hielt den Blick stur nach vorne gerichtet. Ida, tot? Ich konnte es mir nicht vorstellen. „Genug davon“, sagte Daniel, als die Atmosphäre umzuschlagen drohte. „Hast du dir die Einladung durch den Kopf gehen lassen?“ Er reichte mir eine zerknitterte Visitenkarte, die er aus den Tiefen seiner Hosentasche förderte. Ich nahm sie entgegen, zögerte aber. Daniel schien ganz okay zu sein, aber die Art, wie Isaac von dem Mitnehmen gesprochen hatte, gab mir ein mulmiges Gefühl. Das letzte Mal, als ich ein Anwesen besucht hatte, war ich von Kriguard in seinem Keller eingesperrt und fast von seinem Bodyguard erschossen worden. Ich war nicht gerade scharf darauf, in eine ähnliche Situation zu geraten. „Vielleicht ein andermal“, sagte ich ausweichend und verstaute die Visitenkarte in meiner Geldbörse. „Ich werde mich erst mal erholen und versuchen, einen regulären Auftrag zu kriegen.“ Dan nickte, aber er wirkte enttäuscht. Wortlos klopfte er mir auf die Schulter und pfiff durch die Finger. Augenblicklich löste Isaac sich aus Idas Beschlagnahmung und trat an seine Seite. „Verabschiede dich von Raccoon, Isaac“, sagte Daniel. Isaac seufzte und streckte mir seine Hand hin. Die schwarze Färbung hatte er im Vergleich zu Ida nicht abgelegt. Ich fragte mich abwesend, ob er immer so nah an der Schwelle zum Daemon war oder ob er einfach kein Interesse daran hatte, sich wie Ida vom Wind treiben zu lassen. Ich ergriff seine Hand, schüttelte sie und ließ los. Blinzelte. „Melde dich!“, rief Daniel mir zu, bevor er und Isaac in der nächsten Gasse verschwanden. Ida schwebte an meine Seite, Kopf nachdenklich schief gelegt. Ich starrte auf meine Hand. >Ich mag Isaac. Auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Abwesend nickte ich und setzte mich in Bewegung, Hand immer noch erhoben. Ida schwirrte vor mich und hob die Augenbrauen. >Was ist los? „Isaac“, sagte ich und hob den Kopf, um Ida in die weißen Augen sehen zu können. „Ich konnte ihn anfassen.“ Kapitel 3 --------- Ida war aufgekratzt, als wir in unserem Büro ankamen. Andrew schlief leise schnarchend auf dem zweiten Sofa, nur in eine Decke gewickelt. Das größere hatte er frei gelassen. Dankbar ließ ich mich darauf sinken und bettete mein Bein auf die Polster. Die Kälte hatte nachgelassen, dafür pochte es höllisch und die dunkle Linie pulsierte schmerzvoll, so als hätten mich Wespen unter der Haut gestochen. >Was bedeutet das, Coon? Aufgebracht schwirrte Ida zu mir und blieb wenige Zentimeter über mir schweben. >Er ist ein Dae, so wie ich, also warum kann er dich berühren und ich nicht? „Keine Ahnung“, sagte ich müde und massierte mit zusammengebissenen Zähnen mein Bein. Inzwischen war es nach drei Uhr morgens. Ich konnte kaum die Augen offenhalten, aber so, wie Ida durch unser Büro titschte, würde ich vorerst keine Ruhe bekommen. „Vielleicht liegt es an seinem Alter. Er ist schon viel länger tot als du.“ Ida sah nicht zufrieden mit dieser Antwort aus, nickte aber und ließ sich schwarz wie ein Schatten auf das gegenüberliegende Sofa sinken, wo sie meist ihre Nächte verbrachte. Andrew riss nach Luft schnappend die Augen auf, Schweiß auf der Stirn und fasste nach seinem Herzen. Erschrocken flog Ida zur Decke, kam aber im nächsten Moment zurück. >Oh Andrew, es tut mir leid! Ich hab dich vergessen. „K-kein Problem“, stammelte er und setzte sich mit zittrigen Händen auf. Ich hatte nur das schummrige Licht über meinem Schreibtisch angemacht, daher lag eine Seite seines Gesichts im Dunkeln. Sein Blick fiel zu mir. „Willkommen zurück, Ms. Thynlee. Ich wollte eigentlich wach bleiben, aber ich war heute Morgen schon so früh unterwegs und …“ „Mach dir nichts draus“, sagte ich und fuhr mit meiner Beinmassage fort. „Die Rotte ist exzidiert. Alles lief glatt.“ Ida warf mir einen tadelnden Blick zu. >Gar nicht wahr. „Ida“, sagte ich warnend, doch sie hatte sich längst an Andrew gewandt. >Coon wurde gebissen. Dan hat sie gerettet. „WAS?!“ „Da haben wir den Schlamassel“, murmelte ich, während Andrew aufsprang und vor meinem Sofa auf die Knie fiel. „Wo wurden Sie gebissen? Was ist passiert? Wie haben Sie— oh.“ „Ja“, sagte ich, als seine Augen an meinem Knöchel hängen blieben. „Genau da.“ Die Bisswunde war angeschwollen und schwarz umrandet. Von den Ausläufern ging die dunkle Giftlinie aus, die sich durch mein Bein schlängelte. Andrew fuhr die Überreste mit zwei Fingerspitzen nach. Ich wartete geduldig darauf, dass er meinen Oberschenkel erreichte, bemerkte, was er da tat und die Hand zurückriss, so als hätte er sich verbrannt. „Tut mir leid, Ms. Thynlee“, sagte er hastig und sah zu mir auf. „Ich war nur … ich dachte—“ „Genug mit diesem Ms. Thynlee-Unsinn“, sagte ich und ließ mich gegen die Sofalehne sinken. Ida schwebte an meine Seite und rollte sich wie eine Katze an meiner Seite ein. „Wenn du in Zukunft hier wohnen und für mich arbeiten willst, kannst du meinen Vornamen benutzen.“ „Raccoon?“ Ich nickte ermutigend. Andrew schluckte, offensichtlich nervös. „Ich habe mich das schon eine Weile gefragt“, sagte er schließlich und setzte sich etwas bequemer im Schneidersitz vor mich hin. „Ihr Name ist ein Nimbus, oder?“ >Nimbus? „Ein Waisenname“, sagte ich. Andrew nickte und setzte die Erklärung fort. „Wenn Kinder als Waisen aufwachsen, wird ihnen von einer außenstehenden Person ein Name gegeben, der ihrem Aussehen oder ihrem Charakter entspricht. Es sind immer englische Begriffe, wie zum Beispiel Sky, Brave oder Daisy.“ „Oder Rock“, sagte ich. Andrew sah überrascht zu mir. Davon hatte er also nicht gewusst. „Wir lebten damals im selben Waisenhaus, allerdings ist er fünf Jahre älter als ich.“ „Also sind Sie tatsächlich …“ „Eine Waise? Ja.“ Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen. „Du musst nicht so um das Thema herumtanzen. Ich habe meine Eltern nie kennengelernt.“ „Und wer war es?“, fragte Andrew. „Wer hat Ihnen, ich meine, wer hat dir deinen Namen gegeben?“ „Sunny“, sagte ich und ließ mich seitlich in die Polster sinken, Rücken zu Andrew gedreht. „Sein Name war Sunny.“     Das Kribbeln meiner sich regenerierenden Sicht weckte mich am nächsten Morgen. Stöhnend rieb ich mir die Augen, bis sie wehtaten und setzte mich auf. Ein Sonnenstrahl fiel durch die halbschrägen Jalousien direkt in mein Gesicht. Andrew schlief noch tief und fest; sein leises Schnarchen füllte das kleine Büro. Ida, die während meiner Nachtruhe gerne durch die Straßen stromerte, um sich nicht, wie sie gerne verkündete, zu Tode zu langweilen, schwebte vor unserem leeren Kalender. Als sie mich bemerkte, schwirrte sie sofort an meine Seite. Sie sah besorgt aus. >Wie geht es dir? Ich zuckte die Schultern und stand vorsichtig auf. In Wahrheit ging es mir verdammt beschissen. Meine rechte Schulter und mein Rücken taten von dem Abrollen auf unnachgiebigen Fliesen weh, meinen Bauch durchzuckte bei jeder Streckung ein plötzliches Ziehen und mein Bein … Nun. Mein Bein pochte und juckte und schien bei jedem Schritt Richtung Kaffeemaschine einknicken zu wollen. „Ms. Thynlee?“, ertönte es schläfrig aus Andrews Sofaecke. „Sind Sie schon wach?“ „Nenn mich Coon“, seufzte ich. Ida kicherte. Sie hatte diesen Satz damals ebenfalls zu hören bekommen. „Ich habe heute ein paar Aufträge in der Stadt zu erledigen“, sagte ich. „Andrew, du kannst den Telefondienst übernehmen. Nimm alles an, was reinkommt.“ Ida umflog mich gekonnt, machte einen Salto durch die Luft und landete mit ausgebreiteten Armen auf der Sofalehne. >Warum treffen wir uns nicht mit Dan? Er hat uns doch eingeladen. Und wir könnten Andrew mitnehmen! „Wir können nicht einfach zusätzliche Gäste anschleppen“, murmelte ich. „Außerdem habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Am besten vergisst du die beiden wieder.“ Ida blieb unbeeindruckt. >Aber er hat dir seine Karte gegeben. Er wird traurig sein, wenn du nicht anrufst. Genervt sah ich zu meinen beiden Schützlingen. Ida schmollte und Andrew erwiderte verdattert meinen Blick. Schließlich seufzte ich geschlagen. „Fein, ich rufe die Woche mal an, damit du mit Isaac spielen kannst. Aber nicht jetzt.“ Ich überprüfte die Uhrzeit auf meinem Diensthandy. Das Display zeigte 6:43 Uhr und die grelle Bildschirmbeleuchtung entfachte das Kribbeln in meinen Augen von neuem. Vier Stunden Schlaf reichten eindeutig nicht aus, um meine Sicht vollständig wiederherzustellen, aber für Schlaftabletten fehlte mir seit Wochen das Geld. Und um ehrlich zu sein, hatte ich lange keine mehr gebraucht. Während ich meinen bitteren Kaffee trank und Ida bei Laune hielt, konnte ich mich der schleichenden Vorahnung nicht entziehen, dass sich das schon bald ändern würde.     So erniedrigend es auch war, ich brauchte Andrews Hilfe beim Umziehen. Mein Bein anzuwinkeln, tat so weh, dass ich beim ersten Versuch einen erschrockenen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. Als ich nur noch in Slip und Tank-Top vor ihm saß, wurde Andrew puterrot, was die Pickelsituation in seinem Gesicht nicht gerade verbesserte. Mit halb geschlossenen Augen half er mir in eine knielange Jeans und wandte sich dann schnell ab, damit ich ein unbedrucktes T-Shirt überziehen konnte. Humpelnd und steif machte ich mich alleine auf den kurzen Fußweg in die Stadt. Ida blieb im Büro. Alltägliche Erledigungen langweilten sie und mit Andrew, der bei ihrem Bitten und Betteln nicht wieder eingeschlafen war, hatte sie einen neuen Spielpartner. Von dem bisschen Bargeld, das ich noch hatte, kaufte ich Kaffee, Essig und einige reduzierte Mikrowellengerichte. Wenig später kam ich auf dem Weg zur Bank am Cherry Club vorbei, aus dem nach und nach Besucher tröpfelten. Mein Bein schmerzte bei jedem Schritt, aber ich biss die Zähne zusammen und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich den gesamten Mittag und Nachmittag auf dem Sofa schlafen konnte, in der Gewissheit, die Miete einmal pünktlich zahlen zu können. So spontan der Auftrag gestern auch gewesen war, so schnell hatte Oliver Correll für mein Gehalt gesorgt. Als ich die schlicht gehaltene Bank erreichte, war der Kredit bereits abgegeben worden und die kurvige Dame an der Auszahlung tauschte ihn, zusammen mit dem Check von Welmy, gegen insgesamt dreißigtausend Drat ein, was in Distrikt 18 ziemlich genau zwei Monatsmieten entsprach. Ich stopfte das Geld in mein Portemonnaie und verließ das temperierte Gebäude. Ich war kaum in die nächste Gasse gebogen, da klingelte mein Handy. Mein Diensthandy. Überrascht starrte ich auf das Display. Hier war ein Name, den ich so schnell nicht wieder erwartet hatte. Dankbar über die Ausrede, mein Bein zu entlasten, lehnte ich mich an eine Hauswand und hob ab. „Rock“, begrüßte ich meinen ehemaligen Boss. „Was gibt’s?“ „Coon!“ Seine tiefe Stimme erinnerte mich an dunkle, warme Hände, Wodka in flachen Gläsern und sein breites, weißes Lächeln. „Wie macht sich die Selbstständigkeit?“ „Oh, ich kann nicht klagen“, sagte ich gedehnt und verlagerte mein Gewicht auf das linke Bein. „Andrew ist zu Besuch gekommen. Und selbst? Wie läuft das Geschäft?“ Rock schwieg. Im Hintergrund konnte ich das Klirren von Gläsern und Marys undeutliche Rufe aus der Küche vernehmen. „Seit du weg bist, bekommen wir nur noch einen Bruchteil der früheren Aufträge“, erklärte Rock. „Ich musste die Prozente kürzen. Die Stimmung ist schlecht. Einige Hunter denken über einen Wechsel nach. Paige bekommt großen Zulauf.“ Er zögerte. „Es ist einfach nicht dasselbe ohne dich.“ Für einen Moment war ich so wütend, dass ich nicht sprechen konnte. „Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen“, presste ich hervor. Rock ignorierte meinen Kommentar. „Nachdem du aus dem Distrikt verschwunden bist, habe ich mich ausgiebig mit Harry unterhalten. Ich will dich nicht mit den Details langweilen, aber Fakt ist, dass wir es mit seiner Aussage geschafft haben, Kriguard dranzukriegen. Es war zwar sein Bodyguard, der Britta erschossen hat, aber dank der Kameras und Reagans Zeugenaussage ist er auch verhaftet worden.“ „Was ist mit Harry?“, fragte ich. „Die Sache mit Harry ist abgehakt. Wir mussten ihm einen Deal machen, aber er hat inzwischen den Distrikt verlassen. Er ist irgendwo in 9. Weit weg von uns.“ Ich runzelte die Stirn. Es gefiel mir nicht, dass unser ehemaliger Head of Security auf freiem Fuß war, andererseits hatte er sich nur bereichert und meinen Ruf ruiniert, nicht seine eigene Tochter ermorden lassen. Rock hatte die richtige Entscheidung getroffen. „Und da der Kriguard-Fall aufgelöst wurde, bin ich wieder im Reinen?“ Rock schwieg. „Du kannst es mir ruhig sagen, Rock“, murmelte ich genervt. „Ich bin nicht mehr zwölf.“ „Du wirst nicht mehr für Brittas Tod verantwortlich gemacht“, sagte er. „Allerdings ist Lorenes und Idas Ableben weiterhin ein schwarzer Fleck in deiner Akte. Es sind nicht viele Ausrutscher, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass beide vertuscht wurden. Ich weiß —“, unterbrach er meinen Einwurf, „dass beide Fälle inoffiziell waren. Aber Kriguard hatte mehrere Wochen, um dich als die Böse darzustellen, bevor er verhaftet wurde. Es gibt viele, die deine Dienste wieder in Anspruch nehmen wollen, aber genauso viele halten dich für unverantwortlich. Idas Alter hilft nicht gerade.“ „Ida hat noch das beste Schicksal erwischt“, sagte ich. „Sie kann weiterhin am Leben teilnehmen, im Gegensatz zu den anderen.“ „Denkst du das wirklich?“, fragte Rock leise. Mein Mund wurde trocken. Ida war ein Dae, aber das machte ihre Existenz nicht automatisch minderwertig. Lorene und Britta waren tot, doch Ida würde weiterhin leben, Freunde haben, spielen. Nichts alleine anfassen oder bewegen. Für die meisten unsichtbar sein. Für immer ein Kind bleiben. Stetig Kontrolle über ihre Emotionen behalten müssen, damit sie nicht zu einem Daemon wurde. „Solange ich Ida zum Lachen bringen kann, wird mich niemand davon überzeugen, dass sie tot besser dran wäre“, brachte ich mühsam hervor. „Coon, so habe ich das nicht —“ „Ist mir egal, wie du es gemeint hast“, unterbrach ich ihn. „Komm einfach zur Sache. Du erzählst mir das doch alles nicht nur, um mich auf dem Laufenden zu halten. Spuck‘s schon aus.“ „Ich möchte dir anbieten, zurückzukommen“, sagte Rock. „Mary hat dein Zimmer freigehalten, alles ist unverändert.“ „Zurückkommen?“, fragte ich. „Nachdem du mich gefeuert hast?“ „Coon, bitte.“ Er klang verlegen. „Du weißt, dass ich keine andere Wahl hatte.“ „Die hat scheinbar nie jemand“, erwiderte ich trocken. „Wenn Harry uns nicht so manipuliert hätte, wärst du weiterhin meine Top-Hunterin, und das weißt du.“ „Das ist nicht der Punkt!“, fauchte ich. „Fünfzehn Jahre habe ich für dich gearbeitet, in deiner Basis gelebt, mich abgerackert, mit dir die Organisation hochgezogen, neue Hunter ausgebildet. Du und Mary wart für mich wie meine Familie! Aber kaum war ich nicht mehr von Nutzen, hast du mich fallen lassen. Denkst du wirklich, ich habe Lust, zu dir zurückzukommen?“ „Coon —“ „Danke für den Anruf, Rock“, sagte ich über seine leere Entschuldigung hinweg. „Spar dir den nächsten, ich bleibe hier. Grüß Mary von mir.“ Mit diesen Worten legte ich auf. Ich umklammerte mein Handy so fest, dass ich glaubte, es jeden Moment zu zerquetschen. Mir war heiß und kalt gleichzeitig und ich konnte meinen Puls in meiner Kehle spüren. Sein Angebot, wieder für ihn zu arbeiten, war schlimm genug, aber meine Gedanken klebten an einem anderen Teil der Unterhaltung, wie Fliegen in einem Spinnennetz. Ida. Ich wusste es doch. Gottverdammte Scheiße, ich wusste, dass es nicht dasselbe war. Dass sie darunter litt, tot zu sein. Sie war so aktiv, so lebensfroh, und nur weil ich nicht aufgepasst hatte, weil ich einen offensichtlichen Hinweis ignoriert und von dem Daemon überrascht worden war, hatte sie sterben müssen. Britta wurde von ihrem Bodyguard getötet. Ich hatte mein Möglichstes getan, sie vor dem Daemon zu beschützen. Lorene war gebissen worden, weil ich nicht stark genug war, um den Daemon schnell zu exzidieren. Für beide hatte ich Ausreden. Nicht für Ida. Ihr Schicksal war einzig und allein meine Schuld. Ich holte zittrig Luft. So zu denken, half ihr nicht weiter. Solange sie noch lachte, solange sie ihr Dasein nicht hasste, würde ich bei ihr bleiben und alles tun, um sie glücklich zu machen. Isaac mochte verlernt haben, zu lächeln, aber nicht Ida. Niemals Ida. Dafür würde ich sorgen. Ich richtete mich auf. Am Ende der Straße konnte ich schon den Cherry Club erkennen. Fast alle nächtlichen Besucher hatten sich in den Morgen verlaufen, nur drei Typen torkelten noch in meine Richtung und betraten lachend und grölend meine Gasse. Sie schienen nicht an mir interessiert, zumindest bis einer von ihnen aufsah, seine Kumpane anstupste und zu mir nickte. Das Grüppchen wurde langsamer. Ich war nah genug, um die glasigen Augen ausmachen und die Alkoholfahne riechen zu können, bevor ich mich an die Gesichter der drei Männer erinnerte. Sie hatten gestern Nacht Henry angemacht. Ohne groß nachzudenken, wählte ich die Nummer unseres Büros und wartete angespannt, während die drei näherkamen. Nach dem dritten Klingeln hob Andrew ab. „Selbständige Hunterbasis Raccoon Thynlee, Sie sprechen mit —“ „Hi Andrew“, unterbrach ich ihn. „Hör zu, ich bin in der Gasse hinter dem Cherry Club an der Gassing Street. Schnapp dir Ida und komm her. Ich werde vermutlich gleich deine Hilfe brauchen.“ „Coon, was —“ Der Rest seiner Antwort wurde von dem Piepen abgeschnitten, als ich auflegte. Die drei Typen waren nur noch wenige Meter entfernt. Ich verlagerte mein Gewicht und humpelte unauffällig los, um nicht durch unbedachtes Einknicken meine Verletzung preiszugeben. Die drei beschleunigten ihre Schritte, leicht schwankend und aufgefächert und warfen sich gegenseitig spekulative Blicke zu. Mit steinerner Miene ging ich weiter, auch wenn mein Herzschlag sich beschleunigte und mein Gehirn auf Fluchtinstinkt umschaltete. Umzudrehen war jedoch keine Option. Selbst in Topform war ich eine miserable Sprinterin; mit meinem lahmen Bein hatte ich keine Chance, das Grüppchen abzuhängen, das aussah, als würde es regelmäßig ganze Tage im Fitnessstudio verbringen. Stattdessen bewegte ich mich mit hochgerecktem Kinn und schmerzlich langsam vorwärts. Uns trennten nur noch drei Schritte, als der linke Typ, bullig und mit Drachentattoos auf beiden Armen, zu sprechen begann. „Du bis‘ doch die Barkeeperin, oder?“, fragte er und deutete mit dem Daumen hinter sich zur pink beleuchteten Fassade des Cherry Clubs. „Nein“, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Genau genommen war es nicht mal eine Lüge. Welmy hatte mich schließlich gefeuert. „Doch, doch, ich erkenne dich“, sagte der Dunkelhäutige auf der anderen Seite. Er war schlaksiger, mit fettigen Locken und grobporiger Haut. „Du hast uns lautstark als Arschlöcher beschimpft. Oder, Johnny?“ Johnny, der in der Mitte stand, verschränkte die Arme und nickte. Der Schweiß der vergangenen Nacht klebte das T-Shirt und sein rotes Haar an seine Haut. „Kann mich nicht erinnern“, sagte ich trocken. „Sorry, Jungs. Sicher, dass ihr mich nicht verwechselt?“ Mit festen Schritten ging ich an ihm vorbei, doch seine Hand schoss zur Seite und packte mich am Arm. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich in Zeitlupe zu ihm um. Ich versuchte, mich loszureißen, doch er hielt mich unnachgiebig fest. „Lass los“, sagte ich durch zusammengebissene Zähne, „oder ich schlag dir die Fresse ein.“ Grinsend verstärkte er den Griff um mein Handgelenk. Seine Freunde lachten lautstark. „Das würde ich gerne —“ Man konnte über meine Sprintfähigkeiten sagen, was man wollte, aber wenn ich etwas hatte, dann gute Reflexe. Meine Faust schoss blitzschnell vor und traf mit einem dumpfen Knirschen genau auf seine Nase. Johnny jaulte auf und ließ mich stöhnend los, während ihm ein Schwall Blut über Mund und Kinn strömte. Zufrieden schüttelte ich meine Faust aus. Leider blieb mir nicht viel Zeit, meinen Triumph zu genießen. Johnny wich fluchend vor mir zurück, dafür packte mich der Lockenkopf von hinten und hebelte mir gekonnt den Arm auf den Rücken, bis ich auf Zehenspitzen stehen musste, um mir nicht die Schulter auszukugeln. Sein Freund kam bedrohlich auf mich zu. Das Muskelspiel unter seiner Haut erinnerte mich an Drahtseile, die übereinander schrammten und erweckte die Drachen auf seinen Armen zum Leben. „Wir hab’n gehört, was passiert ist“, lallte er und beugte sich so nah zu mir, dass ich die geplatzten Adern in seinen Augen erkennen konnte. „Wegen dir is‘ die Band nicht aufgetreten. Weißt du, wie teuer die Tickets für den Abend waren?“ Statt einer Antwort fletschte ich die Zähne und kämpfte gegen die Arme an, die mich von hinten festhielten, doch der Schmerz trieb mir augenblicklich die Tränen in die Augen. „Ey, Marco“, rief mein Fänger und legte dabei sein Kinn auf meine Schulter. Der Geruch von Alkohol und Rauch füllte meine Nase. „Schau mal nach, ob sie Geld dabeihat.“ Aus den Augenwinkeln konnte ich sein Grinsen erkennen. Weiß, umrandet von prallen Lippen und dunkler Haut. „Als Entschädigung.“ Marco lachte und begann damit, meinen Oberkörper abzutatschen. Als er meine Hosentaschen und die Geldbörse darin erreichte, gab ich einen verzweifelten Schrei von mir und stieß ihm das Knie in die Weichteile, bevor ich den Kopf nach hinten riss, um seinem Freund ebenfalls die Nase zu brechen, doch er wich schnell genug aus. Dasselbe konnte ich nicht von Marco sagen. Er griff sich in den Schritt, sackte stöhnend auf die Knie und sah wenige Sekunden hasserfüllt zu mir auf. Ich reckte das Kinn vor. Dann ertrank ich ihn Schmerz, als mir von hinten die Arme hochgerissen wurden, ich zurückstolperte, mein Bein unter mir nachgab und ich nach unten sackte. Ich schaffte es gerade noch, den Sturz zu verhindern, damit sich meine Schulter nicht völlig auskugelte, aber dann umschlang ein muskulöser Arm meinen Hals und drückte zu. Tränen füllten meine Sicht mit Schlieren, durch die ich verschwommen wahrnehmen konnte, wie Marco sich aufrappelte und nun doch meine Geldbörse schnappte, während Johnny Blut auf den Boden spuckte und sich an meiner Einkaufstüte zu schaffen machte. „Ihr werdet damit … nicht durchkommen“, presste ich zwischen den Zähnen hindurch. „Meine Freunde sind … auf dem Weg hierher. Ihr seid am Arsch, Fucker.“ „Dann beeilen wir uns wohl besser“, fauchte Johnny. Ihm strömte weiterhin Blut aus der Nase, wenn auch nicht mehr so stark, und seine Stimme klang, als schleppe er seit Wochen eine Erkältung mit sich rum. Er riss meine Einkaufstüte auf, zertrat die Mikrowellengerichte auf der Straße, bis der gesamte Asphalt mit Nudeln, Gemüse und Soße verschmiert war und machte sich dann an dem Instantkaffee zu schaffen, dessen Verpackung er öffnete und das tiefbraune Pulver überall verstreute. Marco entledigte unterdessen meine Geldbörse ihres Inhalts. Mit lauten Flüchen und Schreien musste ich mit ansehen, wie er mein Geld, die Miete für zwei Monate, meinen gesamten Besitz mit ringbesetzten Wurstfingern abzählte und in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Dreißigtausend Drat. Weg. „Hab alles“, sagte er und warf die Geldbörse zu Boden. „Lass uns abhauen, Havi.“ Mein Bein pochte unermüdlich. Ich wollte nur noch, dass die drei gingen, dass sie mich in Ruhe ließen. Andrew und Ida waren nicht rechtzeitig gekommen. Es war kein Wunder, der ganze Überfall hatte nur wenige Minuten gedauert. „Moment noch.“ Bei Johnnys Stimme lief mir ein Schauer über den Rücken. Er hielt die Essigessenz in der Hand und sah abschätzend zu mir. „Wie sieht’s aus?“, fragte er, während er den Verschluss aufdrehte und in meine Richtung ging. „Hast du Durst?“ „Scheiße, John, lass das“, sagte Marco und stellte sich ihm in den Weg, doch John stieß ihn nur zur Seite und blieb vor mir stehen. Ich starrte die Flasche in seinen Händen an. Ich kannte mich nicht besonders gut mit Chemie aus, aber ich war ziemlich sicher, dass fünfundzwanzigprozentige Essigsäure mir Mund, Hals und Magen verätzen würde. Havis Griff lockerte sich leicht, als er zu derselben Erkenntnis kam, doch das bewirkte nur, dass plötzlich mein gesamtes Gewicht auf meinem anderen Bein lastete. Ich rutschte aus seinen Armen und fiel auf den Boden. Panisch krabbelte ich rückwärts, während John mit fast manischem Blick auf mich zukam. Dann sprang er wie ein Raubtier auf mich, blieb auf mir sitzen und kippte mir den Essig ins Gesicht. Instinktiv schloss ich die Augen. Meine Lippen waren zusammengepresst, aber der scharfe Geruch brannte sich wie ein Feuer durch meine Nase. Blind schlug ich nach John, traf aber nur seine Brust und im nächsten Moment pressten zwei Finger meine Nasenflügel zusammen. Den Mund geschlossen, hielt ich die Luft an, atmete nicht, weigerte mich, ihm die Gelegenheit zu geben, mir ernsthaften Schaden zuzufügen. Stattdessen trat ich um mich, strampelte, bockte unter seinem Gewicht, dann brannte meinen Lungen, mehr, mehr … Ich öffnete den Mund in einem verzweifelten Einatmen und der Essig floss über meine Zunge. Das beißende Brennen füllte meinen Mundraum. Wutentbrannt riss ich die Augen auf und spuckte den Essig in Johns Gesicht. Im Gegensatz zu mir waren seine Augen geöffnet. Es war nicht viel, was hineinkam, aber es genügte, um ihn schreiend die Flasche fallen und zurückweichen zu lassen. Hustend und spuckend lehnte ich mich auf die Seite und versuchte, den Geschmack des Essigs loszuwerden. Nur wenige Sekunden in meinem Mund und meine Schleimhäute fühlten sich schon wund an. Auch meine Kehle brannte, obwohl ich nichts geschluckt und nur wenig eingeatmet hatte. Als ich den Kopf wieder hob, hatten Havi und Marco ihren Freund unter den Achseln gepackt und schleppten ihn davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ausgelaugt spuckte ich ein letztes Mal aus und robbte dann zurück zu meinen Habseligkeiten, oder dem, was davon übrig war. Außer der Essigflasche, die bei dem Fall auf den Boden zur Hälfte ausgelaufen war, hatte keiner meiner Einkäufe überlebt. Hoffungsvoll durchsuchte ich meine Geldbörse, doch außer etwas Münzgeld war nichts mehr übrig. „FUCK!“ Ich schlug mit der Faust auf den Asphalt neben mir. „Dreckskerle! Arschlöcher! Wichser!“ Jedes Wort begleitete einen weiteren Schlag, bis zusätzlich zu meinem Bein und meiner Schulter auch noch meine Hand wund war und schmerzhaft pochte. „Gottverdammte Scheiße …“, flüsterte ich, zog die Beine enger an meinen Körper und umklammerte meine Knie mit tauben Händen. Erschöpft schloss ich die Augen. Warum musste immer alles kaputt gehen?     Andrew fand mich wenige Minuten später hockend und mit tränenverschmiertem Gesicht in der Gasse vor, die Überreste des Kampfes noch um mich verteilt. Ida, die mausgrau an seiner Seite geflogen war, färbte sich bei meinem Anblick von einer Sekunde auf die andere pechschwarz und sank aus der Luft herab auf den Boden, als ihre Masse sich vervielfachte. Sie lief an meine Seite und nahm mich in den Arm, ohne Fragen zu stellen. >Ich lasse dich nie wieder allein. Ab jetzt werde ich dich immer beschützen. Ihre Stimme war fest und voller Entschlossenheit, sodass ich unwillkürlich lächeln musste. „Das sollte ich sagen, verdammt“, murmelte ich und umarmte sie zurück. „Wer von uns ist hier die Erwachsene?“ >Erwachsensein ist überbewertet. Andrew starrte mich noch immer wie gelähmt an. Erst, als ich seinen Blick erwiderte, riss er sich zusammen und half mir auf die Füße. „Hast du Wasser dabei?“, fragte ich. Er nickte und zog hastig eine Sprudelflasche aus seinem Rucksack. Ich spülte zuerst meinen Mund, bis das brennende Gefühl abnahm, dann wusch ich mir gründlich das Gesicht. Ich reichte ihm die leere Plastikflasche. „Ein Taschenmesser hast du nicht zufällig auch, oder?“, fragte ich mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Essigflasche. Er schüttelte den Kopf und ich seufzte. „Dann wirst du mir helfen müssen.“ Ich deutete auf mein Bein, das so heftig zitterte, dass ich es nicht einmal leicht belasten konnte. Andrew schluckte schwer, straffte jedoch die Schultern und stellte sich mit dem Rücken zu mir. Er ging in die Hocke. „Und was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte ich. „Ich trage dich.“ Ich blinzelte. Von hinten konnte ich es nicht gut erkennen, aber sein Nacken und seine Ohren färbten sich langsam rot. War es ihm peinlich, mich durch die Straßen zu tragen? Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war er seit seiner Ankunft häufiger rot geworden. Bei der Vorstellung, ich könnte Stripperin sein, als er mir beim Umziehen half, jetzt … Ich hatte mir nichts dabei gedacht, schließlich war er kaum aus der Pubertät raus. Stöhnend rieb ich mir die Nasenwurzel, hüpfte einbeinig zu Andrew und kletterte auf seinen Rücken. Seine Arme hakten sich unter meine Kniekehlen und obwohl die Position meinem Bein höllisch wehtat, biss ich die Zähne zusammen und hielt mich mit beiden Händen an seinen Schultern fest. Er stand ächzend auf, schwankte kurz und setzte sich dann langsam in Bewegung. Ida reduzierte ihre schwarze Färbung gerade so weit, dass sie bequem nebenher fliegen konnte, eine Hand durchgängig auf meinen Arm gelegt. Ich fühlte mich erniedrigt, so durch die Straßen kutschiert werden zu müssen. Ich war Raccoon Thynlee verdammt, einer der besten Daemonenhunter des Landes. Seit Welmy mich gefeuert hatte, war alles schief gegangen—und ich hasste es. Mein Blick glitt von den graffitibesprühten Hausfassaden zu Andrews blondem Haarschopf, der von der Anstrengung leicht verschwitzt war und in Strähnen auf seinem Kopf klebte. Wenn meine Vermutung sich bestätigte, würde ich ein ernsthaftes Wort mit Andrew führen müssen. Er war eindeutig zu jung, um sich in jemanden wie mich zu verknallen. Seufzend kramte ich nach meinem Handy und machte mich auf die Suche nach Daniels Visitenkarte, die ich gestern Nacht so lieblos in meine Hosentasche gestopft hatte, überzeugt, sie nie mehr brauchen zu werden. Zum Glück hatte ich sie nicht weggeschmissen. Während ich mich mit einer Hand an Andrew festhielt, tippte ich mit der anderen die angegebene Telefonnummer in das Tastenfeld ein. Dan nahm nach dem dritten Klingeln ab. „Daniel Holland, mit wem spreche ich?“ „Hi, Daniel“, sagte ich. „Hier ist Raccoon Thynlee.“ „Raccoon! So früh hatte ich nicht mit einem Anruf von dir gerechnet. Ich dachte, du wolltest dich erst erholen.“ „Planänderung. Steht dein Angebot für das Dinner noch?“, fragte ich und unterdrückte das Bedürfnis, sofort wieder aufzulegen. Ich hasste es, nach einer getroffenen Entscheidung wieder angekrochen zu kommen, aber ich durfte mich jetzt nicht von meinem Stolz beeinflussen lassen. Ohne das Geld der beiden Aufträge saßen wir Ende der Woche auf der Straße. Ich brauchte einen Job, egal wie. Obwohl er mich nicht sehen konnte, zwang ich mich zu einem selbstbewussten Lächeln. „Sagen wir, heute Abend?“     Ich zischte, als ich den Essig in die kleinen Einschnitte entlang der dunklen Giftlinie tupfte, atmete aber kurz danach erleichtert auf. Mit heftigem Kribbeln kehrte das Gefühl in meine Wade zurück. Es war meiner Sichtregeneration nicht ganz unähnlich. Ida beobachtete mich wachsam, während ich mit dem Taschenmesser an meinem Oberschenkel zu Werk ging. Andrew lief unterdessen eine Schneise in den Teppichboden. Schließlich warf er die Hände empor und ließ sich auf das gegenüberliegende Sofa fallen. „Aber … das ist nicht fair!“ „Willkommen in der echten Welt“, sagte ich. Ida verzog den Mund. >Was machen wir jetzt? Ich hatte schon eine sarkastische Antwort auf der Zunge, entschied mich im letzten Moment jedoch dagegen und bemühte mich um ein ermutigendes Lächeln. „Mir fällt schon etwas —“ Ein durchdringendes Klingeln durchbrach meine papierdünne Lüge. Verwirrt ließ ich das Messer sinken. Das Klingeln wiederholte sich, mehrfach und in nervtötendem Abstand. Ich rappelte mich auf und massierte einige Sekunden lang mein Bein, bevor ich mich erhob und zur Tür schleppte. Ich hatte sie kaum geöffnet, da nahm ein Schopf blonder Locken mir die Sicht. „Coon!“, rief Samantha glücklich und warf sich mir um den Hals. Sie war kleiner und leichter als ich, trotzdem knickte ich unter ihrem Gewicht ein. Eine Hand schnellte vor und zog Sam am Kragen zurück. „Sam“, sagte ich fassungslos, musste jedoch bei ihrem Anblick unwillkürlich grinsen. Meine beste Freundin hatte sich in den sechs Monaten, die ich nun in einem anderen Distrikt lebte, nicht verändert. Ihr Haar war etwas kürzer, aber davon abgesehen sah sie aus wie immer. Ihre grünen Augen blitzten mich vergnügt an. Hinter ihr stand, zwei Köpfe größer und langgliedrig, Henrietta. Ihr rotbrauner Hautton leuchtete in der morgendlichen Sonne wie Muskat und ihre schwarzen Locken bedeckten ihren Kopf in einem radikalen Kurzhaarschnitt. Eine gigantische Hornbrille saß auf ihrer Nase und gab ihr das Aussehen einer Eule.  „Sachte“, lachte Henny und half Sam auf die Füße. Ich fing mich wieder und stützte mich mit einer Hand an der Tür ab. Wir warfen uns über ihren Kopf hinweg einen vielsagenden Blick zu. Sam sah mich beleidigt an. „Das ist alles?“, fragte sie. „Kein Es tut gut dich zu sehen, Sam. Ich habe dich vermisst, Sam. Du siehst so frisch und jung aus, Sam.“ >SAMMY! Ida ließ sich von ihrer Verwirrung nicht beeindrucken und fiel Sam in die offenen Arme. >Du bist gekommen! „Siehst du, Coon?“, fragte Sam grinsend und tätschelte Idas Lockenkopf. „So begrüßt man eine Dame meines Kalibers richtig. Ida, du Goldstück, was habe ich dich vermisst!“ „Tut mir leid“, sagte ich und lehnte mich an den Türrahmen. „Es tut gut, dich zu sehen.“ Sams Laune steckte mich an wie ein Streichholz eine Öllache. „H-h-hallo Raccoon.“ Bei dem Klang der männlichen Stimme, leise und stockend, sah ich an Sam und Henny vorbei, die zur Seite traten, damit ich den dritten Besucher besser erkennen konnte. Tom Hines war ein stämmiger Mann mit Halbglatze, zu kleiner Brille und den weißesten Zähnen, die ich je gesehen hatte. Er reichte Sam außerdem kaum zum Kinn. Seine Hände formten einige schnelle Zeichen in Gebärdensprache, von denen ich wusste, dass sie Wie geht es dir? bedeuteten. „Wie immer triffst du gleich den wunden Punkt“, murmelte ich und trat zur Seite. „Aber kommt erstmal rein.“ „Rock lässt seine Grüße ausrichten“, verkündete Sam und ließ sich mit einem Seufzer auf das Sofa unter dem Fenster fallen. „Mary auch.“ Henny setzte sich neben sie und akzeptierte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Füße, die wenige Sekunden später in ihrem Schoß landeten. Tom schlurfte zu meiner Kaffeemaschine und begann damit, Unmengen von Kaffeepulver hineinzuschaufeln. Ich ließ ihn machen und setzte mich auf das gegenüberliegende Sofa. „Hat sie das wirklich?“ „Naja, nicht in so vielen Worten, aber seit du weg bist, schlägt sie mich noch öfter mit ihrem Handtuch als früher. Es ist nicht mehr dasselbe ohne dich.“ „Seid ihr deshalb hergekommen?“, fragte ich. „Um mich zu verschleppen?“ Sam schnaubte. „Unsinn. Wenn du mitkommen willst, ist das natürlich eine andere Sache, aber eigentlich haben wir nur alle drei Urlaub genommen und dachten, wir könnten dem legendären Auge in ihrem selbstauferlegten Exil etwas Gesellschaft leisten.“ Sie schmunzelte. „Außerdem bin ich auf der Suche nach meinem Schützling.“ „Wo ist Andrew eigentlich?“, fragte Henny. „Laut seiner Nachricht wollte er zu dir gehen.“ Ich sah mich um. Außer uns fünf war niemand in meinem Büro zu sehen. „Exzellente Frage“, sagte ich langgezogen. „Bis vor ein paar Minuten war er noch hier. Andrew?“ „Sag bloß, er versteckt sich vor mir“, kicherte Sam und tauschte belustigte Blicke mit Ida, die verschwörerisch an ihrer Seite schwebte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, was Sam lauthals zum Lachen brachte. Steifbeinig erhob ich mich, nahm im Vorbeigehen eine von Toms gefüllten Kaffeetassen an und klopfte an die Klotür. „Andrew? Bist du ertrunken?“ Keine Antwort. Mit hochgezogenen Augenbrauen öffnete ich die unverschlossene Tür. Andrew saß auf dem Toilettendeckel, blass und allem Anschein nach in Todesangst. Ich wollte spotten, mich über ihn lustig machen, so wie immer. Stattdessen schloss ich seufzend die Tür. „Was ist?“, fragte ich. „Ist sie sauer?“, fragte er kleinlaut. „Wer, Sam? Ich bitte dich.“ Ich lehnte mich an das Waschbecken. „Sie ist wahrscheinlich unheimlich stolz darauf, dass du alles hingeschmissen und deiner eigenen Nase gefolgt bist. Jetzt komm raus hier und mach die Sache nicht peinlicher, als sie schon ist.“ Andrew lief rot an, nickte jedoch und folgte mir zurück in den Hauptraum. Sam warf ihm über den Kaffeetisch hinweg ein Zwinkern zu. „Was macht mein liebster Straight-A-Student? Streckst du die Flügelchen?“ „Lass ihn, Sam“, sagte Henny und gab ihrer Freundin einen Kuss aufs Ohr. „Du warst in dem Alter nicht besser.“ Sie streckte verschämt die Zunge heraus. „Ertappt. Aber ich muss schon sagen …“, begann Sam, doch dann verstummte sie. Ich sah zu ihr. Ihr Blick war an der dunklen Linie hängengeblieben, die mein gesamtes rechtes Bein entlanglief und die sie scheinbar erst jetzt bemerkt hatte. „Coon“, fragte sie gedehnt, „was ist das?“ Tom schlich mit Kaffee an uns vorbei und nahm neben mir auf dem Sofa Platz. „Erinnere mich nicht daran“, murmelte ich und fuhr mir durchs Haar. „Bei meinem letzten Einsatz hat mir ein Daemon in den Knöchel gebissen. Ich konnte das Gift rechtzeitig aussaugen, aber seitdem habe ich Probleme mit meinem Bein.“ Ida warf mir einen bösen Blick zu. >Gar nicht wahr. Dan hat das Gift ausgesaugt, nicht du. So gelenkig bist du nicht. Sam sah mich entgeistert an, Henny hatte die Stirn gerunzelt. Tom ließ seinen Kaffee sinken und machte mit der freien Hand ein einziges Zeichen. Unglaube. „Wann ist das passiert?“, fragte Henny. „Gestern Nacht.“ „Warst du schon bei einem Arzt?“, fragte Henny. „Noch nicht, aber Dan hat die Wunde mit Essig behandelt, das zieht den Schmerz für einige Stunden raus. Hätte nie gedacht, dass das Teufelszeug auch für etwas gut sein kann.“ Henny nickte, schob Sams Füße zur Seite und erhob sich. „Ich gehe einkaufen“, sagte sie und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Büro. Andrew war die Situation sichtlich unangenehm. Ida schien das zu spüren, denn als Tom einen Zeichenblock und Kohlestifte aus seinem kleinen Aktenkoffer holte und zu skizzieren begann, zerrte sie Andrew mit sich. >Was malst du da? Tom sah zu mir, dann zu ihr. Er öffnete den Mund. „D-dich. W-enn du w-willst.“ >Oh ja, bitte! Während sie über dem Sofa posierte, schnappte Sam sich mein Handgelenk und zog mich sanft durch die Eingangstür hinaus auf die drei Stufen, die hinunter zur Straße führten. Wir setzten uns dicht nebeneinander. „Seid ihr wirklich nur zum Spaß hier?“, fragte ich. Sam sah mich herablassend an. „Von dir kriegt man Lebenszeichen nur per Flaschenpost, ist dir das klar? Ich weiß ja, dass du wahnsinnig beschäftigt bist und all das, aber das treue Fußvolk wünscht sich doch Updates von seiner großen Legende. Als Andrew dann abgehauen ist, dachte ich, dich zu überraschen ist gebührende Rache.“ „Sollte Rache nicht etwas Unangenehmes sein?“, fragte ich grinsend. „Ja, ja, jetzt kommen die Komplimente. Ein bisschen spät, Ms. Thynlee, ein bisschen spät.“ „Ich bin wahnsinnig beschäftigt, schon vergessen?“ Mein Grinsen wurde immer breiter. Gottverdammte Scheiße, ich hatte ihre Stimme vermisst. „Und was tut sich Aufregendes in Distrikt 16? Du hast mich doch nicht alleine rausgeschleppt, um Smalltalk zu halten.“ „Ich halte niemals Smalltalk, Coon, das solltest du wissen.“ Sams Stimme klang plötzlich furchtbar aufgeregt. „Aber wo du mich schon auf frischer Tat ertappt hast, rate, was du verpasst hast!“ Seufzend massierte ich mein Bein. „Tom hat endlich eine Freundin?“ „Was? Jaaa, das auch, aber das ist schon alter Hut! Coon, um wessen Beziehung geht es hier wohl?“ „Deine?“ Ich hielt einen Moment inne, bevor der Groschen fiel. „Sag bloß, Henny hat dir einen Antrag gemacht.“ „HENNY HAT MIR EINEN ANTRAG GEMACHT!“ „Wow, Sam, das ist großartig!“ Ein blubberndes Glücksgefühl stieg in meiner Brust auf. Sam und Henrietta waren seit fünf Jahren zusammen und ein chaotisches Powerpärchen. Ich war froh, dass zumindest einer von uns beiden eine funktionale Beziehung führte. „Ich freue mich so sehr für euch. Ihr seid füreinander gemacht. Wie hat sie es organisiert?“ „Es war furchtbar romantisch, furchtbar kitschig, aber gut-furchtbar, weißt du, nicht schlimm-furchtbar.“ Sam schielte zu mir. Ihre Augen glitzerten. „Wir sind in die Bibliothek gegangen. Auf unserem Tisch von damals war ein Riesenstapel mit fetten Wälzern aufgetürmt und als wir näher kamen, ist alles zu Boden gefallen, genau wie damals, als ihre Bücherburg über ihr zusammengebrochen ist. Dahinter stand die exakte Kaffeesorte, die ich damals getrunken hatte und die mir beim Lachen aus der Nase geschossen ist. Und um den Strohhalm war der Ring. Ich habe Rotz und Wasser geheult, Coon, sowas ist mir noch nie passiert. Es war richtig peinlich.“ „Ach was“, neckte ich sie und legte einen Arm um ihre Schultern. „Sie wäre sicher enttäuscht gewesen, wenn du nicht geheult hättest.“ Eine Weile schwiegen wir. „Und du? Wie geht es dir nach der Sache mit Chris?“ „Ich bin drüber hinweg, schätze ich“, sagte ich ohne große Überzeugung. „Aber du liebst ihn immer noch?“ „NEIN!“ Meine Reaktion war heftiger als erwartet, Sam zuckte jedoch nicht mal. Stattdessen schlussfolgerte sie messerscharf. „Was hast du mir noch nicht erzählt?“ Ich schloss die Augen. Versuchte, die Erinnerung an die Nacht im Hotel nicht zu wirklich werden zu lassen. „Er kam am nächsten Tag vorbei, wollte sich entschuldigen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich seine Entschuldigung sonst wohin stecken kann. Er hat mich ins Zimmer gedrängt und wollte … keine Ahnung, was er wollte, Sam. Ich glaube nicht, dass er es durchgezogen hätte, aber in dem Moment …“ „Es“, sagte Sam emotionslos. Sie nahm meine Hände. „Coon, hat er versucht … wollte er dich vergewaltigen?“ „Ich weiß es nicht!“, sagte ich, frustriert. „Ja, wahrscheinlich. Er war total neben der Spur, bestimmt auch betrunken. Ida war zum Glück da und hat ihn von mir runter gekriegt. Ich habe ihn rausgeschmissen.“ „Warum hast du nicht die Polizei gerufen?“, fragte Sam wütend. Dann, leiser, „Warum hast du mir nichts gesagt?“ Ich schwieg. Warum hatte ich niemandem davon erzählt? „Es tat weh“, sagte ich nach einer sehr langen Pause. „Ich habe ihn jahrelang geliebt, Sam. Dass er mich nur als Lorenes Ersatz gesehen hat, dass meine Gefühle ihm scheißegal waren, war schlimm genug, aber dass ich mich so in ihm getäuscht hatte … Direkt danach war die Sache mit Idas Vater und Harry und danach … ich habe es einfach verdrängt. Ich wollte nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber reden.“ „Oh, Coon.“ Sam schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mich fest. Ich schluckte die Tränen hinunter. „Er wird dich nie wieder anfassen, du wirst ihn nie mehr sehen müssen. Alles wird gut.“ Einige Minuten saßen wir einfach so da und ignorierten die Blicke einiger vorbeigehender Passanten. Schließlich jedoch entdeckten wir Henny, die sich bewaffnet mit einem Gehstock mit robust gefertigtem Metallgriff und einigen Plastiktüten auf uns zu schleppte. Sam drückte mich ein letztes Mal, dann sprang sie auf und half ihrer Verlobten auf den letzten Metern. Ich folgte den beiden ins Haus. „Coon, komm her“, sagte Henny und bugsierte mich auf das Sofa, wo sie mir half, mein verletztes Bein aus der Hose zu befreien. Sie trug Sam auf, die Bandagen, die sie gekauft hatte, mit Essig zu tränken und eng um meine Wade und meinen Oberschenkel zu binden. Sie drückte mir ein Glas Wasser und zwei Schmerztabletten in die Hand. „Ich habe uns Hotelzimmer im KIRA besorgt“, erklärte sie Sam und Tom, dessen Kohlestift geradezu über das Papier flog. „Es sind nur etwa fünfzehn Minuten zu Fuß und Frühstück ist inklusive.“ „Danke Henny“, sagte ich und nickte zu dem Gehstock. „Ich war heute ohne unterwegs. Nicht empfehlenswert.“ „F-fertig“, verkündete Tom und ließ den Kohlestift sinken. Ida schwirrte zu ihm herum und sah auf die Zeichnung. >So sehe ich aus? Mein Herz sank tief in meine Magengrube. Ida war ein Dae, sie war nicht in Spiegeln sichtbar. Es musste das erste Mal seit ihrem Tod sein, dass sie sich selbst sah. Ich rutschte in ihre Richtung, streckte eine Hand aus, um sie in eine Umarmung zu ziehen, wenn der Schock für sie zu groß war. Doch Ida betrachtete das Bild nur einige Momente. Dann, mit breitem Grinsen, berührte sie flüchtig meine Hand. >Kannst du mich nochmal malen? Sie sah hoffnungsvoll in meine Richtung. >Aber diesmal mit Coon. Kapitel 4 --------- Einige Stunden später, als Sam, Henny und Tom zum Hotel gegangen waren, schirmte ich meine Augen gegen die schrägstehende Junisonne ab und pfiff leise durch die Zähne, Hand auf meinen neuen Gehstock gestützt. „Das … ist die richtige Adresse, oder?“ Andrew überprüfte ein drittes Mal den Notizzettel. „Kein Zweifel. Ich dachte nur, dass …“ „Hollands Villa nicht direkt in der Grenze gebaut wurde?“, beendete ich seinen Satz. Daniel hatte uns zwar vorgewarnt, aber die gewaltige Mauer, die Distrikt 18 an allen Grenzen zum Ödland umschloss, war Teil der Hausfassade. Drei Stockwerke, die sich wie gigantische Streichholzschachteln übereinander türmten und mehr Glasfronten als Betonwände aufwiesen, formten ein asymmetrisches Anwesen, dessen Rückseite hoch über das eigentliche Gebäude ragte und mit der Grenzmauer verschmolz. Scharfgeschnittenes Stahlgrau traf auf den wolkenlosen Himmel, dessen tiefes Blau sich ungebrochen in alle Richtungen erstreckte. >Los, kommt schon! Ida flog ungerührt von der Größe der Villa auf das aufwendig verzierte Metallgitter zu, an dem eine Sprechanlage neben dem Tor angebracht war. Andrew nickte mir zu. Gemeinsam folgten wir Idas heller Gestalt über den knirschenden Kies. Obwohl es Sommer war, fühlte ich mich in den Winter von Distrikt 16 zurückversetzt. Kein einziger Baum oder Busch zierte den Hof des Holland-Anwesens; Grau und Schwarz dominierten soweit das Auge reichte. Am Tor klingelte ich und meldete uns bei der verzerrten Stimme als Daniels Gäste an. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ein lautes Sirren ertönte und das Tor sich auf einer Seite öffnete, um uns durchzulassen. Ida war längst durch die Stäbe geflogen und winkte uns ungeduldig von der großen Stahltür zu, die ich als Haupteingang identifizierte. Als wir sie einholten, hüpfte Ida bereits aufgeregt durch die Luft. >Ihr braucht viel zu lange! „Beruhige dich, Partner“, murmelte ich und hievte mich mit Andrews Hilfe die drei Stufen empor. „Nicht alle hier Anwesenden können fliegen.“ „Eigentlich schade.“ Erschrocken sah ich auf. Die Stahltür hatte sich so lautlos geöffnet, dass ich Daniel nicht bemerkt hatte, der an den Türrahmen gelehnt stand und uns mit verschränkten Armen beobachtete, Mundwinkel amüsiert hochgezogen. Neben ihm schwebte, tiefschwarz wie immer, sein Dae. „Hallo, Isaac“, begrüßte ich seinen Bruder. Er nickte kaum merklich und wandte sich dann zur Seite, bis er geradewegs in die Hauswand schaute. »Du solltest nicht durch anderer Leute Wände fliegen. Das ist unhöflich. Ich folgte seinem Blick und entdeckte im nächsten Moment Idas Füße, die halb aus der Wand ragten. „Ida!“, fauchte ich. Sie schoss aus der Wand, färbte sich einige Stufen dunkler und sah betreten zu Boden. >Tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen. „Ist schon okay, Ida“, warf Daniel schnell dazwischen. „Du wirst noch genügend Gelegenheit bekommen, dich in unserem Haus umzusehen. Aber wir haben Personal und würden nicht wollen, dass du versehentlich jemanden auf dem Klo erwischst, nicht wahr?“ Ida nickte mit gesenktem Kopf. „Kommt rein“, sagte Dan und winkte uns an ihm vorbei durch die Tür. „Willkommen im Holland-Anwesen.“ Das Parkett unter unseren Füßen glänzte frisch poliert und warf den Klang hallend in dem langen Flur zurück. Die hohen Wände waren bar jeder Dekoration. Gemeinsam gingen wir durch das Foyer zum Speisesaal. Ein Dienstmädchen klopfte mit zwei Knöcheln an und stieß den Türflügel auf. Mit einem ausgebreiteten Arm und leicht gebeugtem Kopf wies sie uns hinein. Ich sah mich überrascht um. Von der grauen Fassade, den Fenstern und den Stahltüren, hatte ich eine moderne Einrichtung erwartet, stattdessen begrüßten uns eine dunkle Holztafel, grün gepolsterte Stühle mit gewundenen Armstützen, ein leerer Kamin und ein Kristallkronleuchter, der hoch über unseren Köpfen hing und das Sonnenlicht, das durch die Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite fiel, in tausend Facetten spiegelte. Einzig die schweren Samtvorhänge boten etwas Sichtschutz nach außen, waren momentan jedoch zur Seite gezogen. Am Kopfende des Tisches saß ein Mann, um die sechzig, mit schütterem, graumeliertem Haar und einem tiefgefurchten Gesicht, das hinter der winzigen Brille umso älter wirkte. Als er uns bemerkte, erhob er sich vorsichtig und kam auf uns zu. Die Butlerin, die mit gesenktem Kopf an seiner Seite stand, trat unauffällig in den Hintergrund. Isaac schwebte an uns vorbei und zu Arnold Holland, der dem Dae den Kopf streichelte. Gemeinsam erwarteten sie unser Näherkommen. „Sie sind also die berühmte Raccoon Thynlee“, sagte er lächelnd, als wir ihn erreichten. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ Ich wechselte die Seite meines Gehstocks und schüttelte seine dargebotene Hand, runzlig wie zerknülltes Papier, und erwiderte das Lächeln, auch wenn es sich sehr gekünstelt anfühlte. Ich hasste diese gezwungene Höflichkeit, aber mit der Bitte im Hinterkopf, die ich im Laufe des Abends würde äußern müssen, wagte ich nicht, das Protokoll zu brechen. „Ist mir eine Ehre, Sie zu treffen, Mr. Holland“, sagte ich. „Das ist Andrew, mein Mitarbeiter und Ida, mein Dae.“ Ida winke schüchtern. >Hi. „Wunderbar.“ Er neigte sich zu ihr herab. Wenn ich genau hinsah, konnte ich den Umriss der Sichtlinsen in seinen Augen erkennen. „Schön dich zu treffen, kleine Ida. Meine Söhne Isaac und Daniel kennst du natürlich schon. Das dort drüben ist meine Butlerin, Eugenie. Wenn du etwas brauchst, sprich sie einfach an.“ Mein Blick huschte zu Eugenie, die bei der Erwähnung ihres Namens kurz den Kopf gehoben hatte. Ihr Haar war ein Stahlvorhang, glatt und scharf geschnitten. Obwohl es schon grau war, wies ihr Gesicht nur wenige Falten auf. Keine Lachfalten um den Mund, keine Furchen um die Augen. Aus der Entfernung war es schwer auszumachen, aber von der Art, wie sie Ida betrachtete, war ich sicher, dass sie ebenfalls Sichtlinsen trug. Ich schätzte, dass es nicht unnatürlich war, schließlich lebte Isaac her. Vermutlich hatte Holland das gesamte Personal mit Linsen versorgt. „Genug der Formalitäten“, sagte Holland und gestikulierte in Richtung des gedeckten Tisches. „Setzen wir uns, mit vollem Magen bespricht sich das Geschäftliche gleich viel besser, nicht wahr? Ida, möchtest du dich vielleicht umsehen? Isaac zeugt dir gerne unser Anwesen. Bei uns Erwachsenen wirst du dich nur langweilen, das garantiere ich.“ Ida runzelte die Stirn und sah fragend zu mir. Ich nickte ihr aufmunternd zu. Kurz schien sie verunsichert, dann breitete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht auf und sie huschte zur Tür hinaus. Isaac tauschte einen kurzen Blick mit seinem Vater, bevor er ihr folgte. Daniel, Andrew und ich nahmen unterdessen zu beiden Seiten von Holland Platz. Eugenie verließ den Raum. Noch während ich einen Einstieg für das Gespräch suchte, faltete Holland die Hände unter seinem Kinn und betrachtete mich über den Rand seiner runden Brille. „Ich muss gestehen, ich bin erleichtert, Sie hier anzutreffen“, sagte er. „Daniel hat mir natürlich von Ihrem gemeinsamen Auftrag berichtet, aber er war nicht sicher, ob Sie sein Angebot annehmen würden.“ Ich nickte, nicht sicher, wie viel ich ihm verraten konnte. Holland fuhr unbeirrt von meinem Schweigen fort. „Wie sind Sie und Ihr Dae zusammengekommen?“ Das immerhin konnte ich problemlos beantworten. „Ihr Vater war von einem Daemon besessen und sie hat mich um Hilfe gebeten“, erklärte ich. „Das war vor einem halben Jahr. Ich habe sie zuerst abgewimmelt, aber sie ist mir gefolgt und wurde von einem freilaufenden Daemon gebissen.“ Holland senkte den Blick. „Das tut mir sehr leid. Es geht immer so schnell. Sie ist noch so jung, sogar jünger als Isaac damals.“ Er holte tief Luft und schloss die Augen. „Sein Tod hat meiner Frau Regina und mir das Herz gebrochen. Sie hat sich leider nie davon erholt.“ Ich schielte flüchtig zu Daniel, der mit steinerner Miene auf seinen Teller starrte. Einige Sekunden schwelgte Holland in Erinnerungen. Dann schüttelte er sanft den Kopf. „Aber ich habe mich mit der Situation abgefunden. Isaac mag tot sein, doch er ist auch lebendig. Seine Existenz ist anders als unsere, das stimmt, aber deshalb nicht weniger wertvoll. Finden Sie nicht auch?“ „Absolut“, sagte ich, ohne zu zögern. Tatsächlich nahm jedes seiner Worte eine gewaltige Last von meinen Schultern. Seit dem Telefonat mit Rock hatte ich mich bisweilen so gefühlt, als wäre ich die Einzige, die Idas Zustand nicht als Fluch betrachtete. „Als Idas Ankerpunkt fällt Ihnen eine große Verantwortung zu“, fuhr Holland fort. „Haben Sie je darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn Ida ein Daemon wird?“ „Sie ist in der Lage, den Zustand eigenständig zu wechseln“, sagte ich automatisch. „Bis zu ihrer ersten Verwandlung wusste ich nicht mal, dass das möglich ist.“ „Ja, Kinder haben uns Erwachsenen in dieser Hinsicht einen großen Vorteil. Ihre Unschuld erlaubt es ihnen, die tiefen Abgründe des Daemonendaseins wieder zu verlassen. Solange sie sich der Dunkelheit willentlich hingeben.“ „Was soll das heißen?“ Holland lächelte milde. „Es bedeutet, dass jeder Dae unwiderruflich zu einem Daemon werden kann, wenn der emotionale Schock groß genug ist. Denken Sie zurück an den Tag von Idas Verwandlung. War es eine bewusste Entscheidung?“ Ich musste nicht lange nachdenken. Idas entschlossener Blick und ihre Worte waren für immer in meiner Erinnerung eingebrannt. Wenn sie die Bösen sind, darf man sie töten, oder? Damals hatte ich noch geglaubt, sie exzidieren zu müssen. Ich war bis heute nicht sicher, ob ich es geschafft hätte. Holland musste die Antwort auf meinem Gesicht gelesen haben, denn er fuhr fort. „Tatsächlich sind Dae in dieser Hinsicht gefährlicher als herkömmliche Daemonen. „Was meinen Sie damit?“ In diesem Moment kehrte Eugenie zurück, einen kleinen Rollwagen vor sich herschiebend. Holland lächelte und wartete, bis die Butlerin den eisgekühlten Champagner hereingebracht und uns eingeschenkt hatte. Sie bezog hinter Holland an der Wand Stellung, Hände hinter dem Rücken verschränkt, während Holland den Champagner probierte. Ich folgte seinem Beispiel. Der Alkohol kribbelte auf meiner Zunge, herb und feinperlend. Gegenüber verzog Andrew angewidert das Gesicht und ich verkniff mir ein fieses Grinsen. Er konnte noch so sehr den Erwachsenen spielen, für mich blieb er weiterhin ein Kind. Holland hob das Glas in meine Richtung. „Offen gestanden ist dieser Gesprächsteil einer der Gründe, weshalb ich Ida mit Isaac fortgeschickt habe. Ich möchte die Kleine nicht unnötig beunruhigen.“ „Inwiefern?“, fragte ich eisig. „Daniel hat mir natürlich alles von der Hortexzision berichtet. Unter anderem, dass Ida einen Daemon gefressen hat.“ „Das muss sie sich bei Isaac abgeguckt haben“, sagte ich, immer noch bissig. „Vorher hat sie so etwas noch nie gemacht.“ „Oh, das bezweifle ich nicht“, lachte Holland. „Isaac ist … unersättlich, könnte man sagen. Er sieht seinen Kampf gegen die Daemonen als Rache für das Leben, das sie ihm geraubt haben. Aber sicher haben Sie bemerkt, dass er nicht wie ein eskalierter Daemon aussieht.“ „Ich habe gemerkt, dass er nicht so groß wie ein Haus ist, wenn Sie das meinen.“ Holland nickte mir zu. „Ganz recht. Aber Isaac hat genug Daemonen gefressen, um als eskalierter Daemon zu gelten. Hunderte, um genau zu sein.“ „Ein Daemonenkönig?“, fragte ich ungläubig. „So werden sie in bestimmten Kreisen genannt. Die Masse, die Isaac dabei gewonnen hat, würde ihn als Daemon zu einem wahren Monster machen, als Dae jedoch verliert er nie die Gestalt seines zwölfjährigen Ichs. Die Masse verschwindet natürlich nicht einfach.“ Er sah mich vielsagend an. „Deshalb wird er nie weiß“, flüsterte ich, als ich plötzlich verstand. „Er hat zu viel Masse, um in den schwerelosen Zustand überzuwechseln. Und deshalb konnte ich ihn auch anfassen.“ Holland lächelte. „So ist es. Ida ist weit von diesem Zustand entfernt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie zu einem sehr mächtigen Daemon werden kann, wenn sie die Kontrolle verliert und nur einen Bruchteil der Daemonen gefressen hat, um die es sich bei Isaac handelt. Dazu kommt, dass Dae automatisch stärker werden, je länger sie existieren. Selbst wenn Ida nie wieder einen Daemon frisst, wird sie irgendwann die Grenze überschreiten.“ „Aber ist Isaac dann nicht das größere Problem?“, fragte ich. Hollands Blick verhärtete sich. „Sie wissen sicher, wie das Ödland außerhalb der Grenzen entstanden ist?“ „Eskalierte Rotten“, sagte ich und unterdrückte meinen ungeduldigen Unterton. Für wie weltfremd hielt Daniels Vater mich? „Die stärksten Daemonen einverleiben sich den Rest und werden so stark, dass sie ganze Städte überrennen. Nur wegen ihnen haben sich Daemonenhunter überhaupt zusammengetan und Organisationen gebildet, und um die Bevölkerung der nicht infizierten Städte zu schützen, wurden die Grenzwälle errichtet.“ Holland nickte anerkennend. „Die Kreaturen, die außerhalb der Grenzen hausen, sind so gefährlich, das sich kein Hunter in die Nähe ihrer Horte wagt. Stetig büßen wir neue Stadtteile ein und müssen unsere Grenzen enger ziehen, bis unser Lebensraum langsam aber sicher schwindet. Schon jetzt häufen sich die Attacken und Rottenbildungen innerhalb unserer Mauern. In ein paar Jahrzehnten existiert Distrikt 18 vielleicht nicht mehr. Und wenn es so weiter geht, werden die Daemonen eines Tages die ganze Welt übernehmen und die Menschheit ausrotten. Hunter wie Sie kämpfen dagegen an, Ms. Thynlee. Ein nobler Dienst.“ „Was hat das mit Isaac zu tun?“, fragte ich. „Warum frisst er so viele Daemonen, wenn es ihn in eine tickende Zeitbombe verwandelt?“ „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte Holland. Seine Hand umfasste das Champagnerglas fester, bis die Knöchel unter der transparenten Haut hervortraten. „Isaac muss stärker werden, stärker als alle anderen Daemonen.“ „Das macht keinen Sinn“, entgegnete ich. „Sie erschaffen einen Daemonenkönig innerhalb der Grenzen.“ Sein Gesicht färbte sich von einem Moment zum anderen tiefrot. „Es ist der einzige Weg, diesen Krieg zu gewinnen, Ms. Thynlee!“, schrie er und donnerte mit der geschlossenen Faust auf den Tisch. Daniel fuhr zusammen, Andrew fiel fast vom Stuhl und ich erstarrte in der Bewegung, Augen weit aufgerissen. Holland holte schnaufend Luft und fasste sich ans Herz, dann zwang er ein Lächeln auf sein Gesicht und ließ seine zitternde Hand in seinen Schoß sinken. „Vergeben Sie mir den Ausbruch“, sagte er kurzatmig und nahm einen Schluck Wasser. „Ich kann ein sehr … leidenschaftlicher Mann sein.“ Er lachte, doch es klang hohl, ein Echo in einem dunklen Brunnenschacht. Während Holland Eugenie zu sich winkte und ihr auftrug, den ersten Gang bringen zu lassen, wechselte ich einen raschen Blick mit Andrew. Er hatte das gesamte Gespräch über geschwiegen und sah nach Hollands Ausbruch wie ein geprügelter Welpe aus. Am liebsten hätte ich ihn und Ida geschnappt und wäre sofort abgehauen, aber ich war immer noch nicht dazu gekommen, Holland um seine Hilfe zu bitten, auch wenn mich die Aussicht, in Zukunft mit ihm zusammenzuarbeiten, schüttelte. Das Essen verlief schweigend. Holland ergriff hin und wieder das Wort, doch ich antwortete nur einsilbig auf seine Fragen und Daniels Versuche, die unangenehme Atmosphäre aufzulockern, blieben erfolglos. Während des Desserts huschte plötzlich ein weißer Schatten durch die Tür und fiel mir um den Hals. >Ich habe dich so vermisst! „Ida“, sagte ich lachend und mimte ein Tätscheln ihres wirren Lockenkopfes nach. „Du warst nur eine Stunde weg.“ >Schon, aber Isaac redet nicht viel, wobei du das auch nicht tust, aber du lächelst immerhin, und wir haben schon alle Zimmer gesehen, nur in den Keller durfte ich nicht. „Tragisch“, neckte ich sie und rutschte auf meinem Stuhl zurück, damit sie so tun konnte, als säße sie auf meinem Schoß. Isaac glitt hinter ihr herein, Gesicht so ausdruckslos wie immer, als habe Ida ihn nicht gerade als langweilig bezeichnet. „Ha!“, lachte Holland und klopfte mit der Hand auf den Tisch, „eine so lebhafte, junge Dame. Ich kann verstehen, warum Sie so sehr an ihr hängen, Ms. Thynlee.“ Idas Blick huschte zu mir und ich las so viel Freude aus ihren Augen, dass ich ihr Grinsen unwillkürlich erwiderte. „Aber kommen wir zum Geschäftlichen“, sagte Holland, als alle ihr Dessert beendet hatten. „Sicher sind Sie meiner Einladung nicht nur gefolgt, um sich an meinem Champagner zu erfreuen, auch wenn der es sicher wert wäre. Was kann ich also für Sie tun?“ Ich leckte mir über die Lippen. „Seit ich meine alte Organisation verlassen musste, habe ich mich selbstständig gemacht“, erklärte ich. „Allerdings gehen alle Aufträge an hiesige Organisationen und es ist … schwierig, sich über Wasser zu halten.“ Holland nickte verständnisvoll. „Für Geldprobleme sollten Sie sich niemals schämen. Es kann jeden treffen, ob verdient oder nicht. Sie suchen also eine Möglichkeit, Ihrer Arbeit als Hunterin weiter nachzukommen?“ Ich nickte, erleichtert. „Nun, Sie sind an den richtigen Mann geraten. Ich stehe in engen Kontakt zu dem Chief und habe Netzwerke zu allen Organisationen. Es gibt immer Aufträge, die abgelehnt oder direkt an mich weitergeleitet werden. Daniel und Isaac haben stets viel zu tun.“ Daniel stöhnte zustimmend und zwinkerte mir über den Tisch hinweg zu, während Holland die Aufträge beschrieb, die ich zusammen mit ihm erledigen würde. „Sie werden wöchentliche Auszahlungen Ihres rechtmäßigen Lohnes erhalten, zusammen mit einem Bonus, der festgelegt ist, falls die Arbeit einmal ausbleibt“, fuhr er schließlich fort. „Die genauen Details können wir in meinem Arbeitszimmer besprechen, wo ich die erforderlichen Unterlagen habe. Aber davor“, er machte eine dramatische Pause, „haben Sie etwas dagegen, sich einem kleinen Test zu unterziehen?“ Ich runzelte die Stirn. „Ein Eignungstest?“ „So etwas in der Art“, stimmte Holland zu. „Sehen Sie, es ist nur natürlich, dass Hunter in meinem Dienst die schwierigsten Aufträge abbekommen, hartnäckige Daemonen, Rottenexzisionen, Sie kennen das ja.“ „Vater, Raccoon ist immer noch verletzt“, mischte sich Daniel ein. „Ich glaube nicht, dass du sie schon heute testen solltest. Sicher hat das Zeit, bis sie sich etwas erholt hat.“ „Gerade das ist der Reiz“, sagte Holland. „Ms. Thynlee, Sie haben sich bei Ihrer letzten Rottenexzision verletzt, daher möchte ich zu Ihrer eigenen Sicherheit wissen, ob Sie meinen Ansprüchen gewachsen sind. Und speziell in Bezug auf das, was wir besprochen haben, erscheint es mir wichtig, dass Sie auch unter nicht idealen Umständen bestehen können.“ Je länger die beiden über diesen Test sprachen, desto unwohler wurde mir. Doch Hennys Schmerzmittel wirkten immer noch und das dumpfe Pochen in meinem Bein war kein Grund, mich vor dem Test zu drücken. „Es geht schon“, sagte ich, warf Dan jedoch einen dankbaren Blick zu. „Andrew, nimmst du meinen Gehstock? Ich will ihn nicht mit runternehmen.“ „Ausgezeichnet.“ Holland lächelte breit und rutschte von dem Tisch weg. „Eugenie und Isaac werden Sie in die entsprechenden Räumlichkeiten begleiten. Daniel, komm bitte mit in mein Arbeitszimmer. Es gibt da noch etwas, das wir besprechen sollten.“ Mit diesen Worten verließ er den langen Esstisch, nickte uns zum Abschied zu und verschwand mit Daniel durch die hohe Flügeltür. Andrew blieb einige Sekunden lang sitzen, bevor er tief Luft holte und den beiden hinterherlief. „Was hat er denn vor?“, murmelte ich halblaut. Ida zuckte die Schultern. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten“, ertönte Eugenies Stimme, härter und unnahbarer, als ich von einer Butlerin erwartet hätte. Während sie uns durch die Flure leitete, setzte ich zaghaft einen Schritt vor den anderen und stützte mich an der Wand ab, um mein Bein zu entlasten. Die Essigbehandlung von heute Mittag hielt noch an, aber mir schwante Übles, wenn Holland vorhatte, meine körperliche Fitness zu testen. Es dauerte nicht lange, bevor Eugenie uns durch eine dunkle Tür wies, hinter der steinerne Stufen hinabführten. Ida schwebte stumm an meiner Seite. Ich verlangsamte bewusst meine Schritte, bis die Butlerin mit Isaac im Schlepptau um eine Ecke verschwand. „Was ist los?“, fragte ich tonlos. Ida huschte kurz voran, wohl um nachzusehen, ob Eugenie uns belauschte, tauchte jedoch im nächsten Moment wieder neben mir auf. Als sie sprach, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. >Irgendetwas ist dort unten. „Es ist ein Keller, Ida“, erwiderte ich beruhigend. „Was soll dort so Gefährliches sein?“ >Ich weiß es nicht. Aber als ich Isaac gefragt habe, wollte er nicht antworten und ist noch dunkler geworden. „Das bedeutet doch nichts“, sagte ich, aber ich konnte das ungute Gefühl nicht ignorieren, das mich bei ihren Worten beschlich. >Er wurde nervös, als ich ihn gefragt habe, Coon! Sie sah mich flehend an. >Etwas ist hier faul, ich weiß es einfach. Vertrau mir. Resigniert blies ich Luft durch die Zähne. „Ich werde die Augen offenhalten. Aber wenn wir dort unten nichts Verdächtiges finden, lässt du es auf sich beruhen, verstanden?“ Sie nickte energisch und ich seufzte. „Gut, dann komm jetzt, bevor wir die beiden verlieren.“ Obwohl ich nicht glaubte, dass Holland einen geheimen Folterkeller vor uns versteckte, sprang Idas Nervosität auf mich über und mit jeder Stufe, die wir tiefer in die Dunkelheit vordrangen, klopfte mein Herz lauter. Das letzte Mal, dass ich bewusst einen Keller betreten hatte, war in Kriguards Villa gewesen—und hatte mit Brittas Tod geendet. Am Fuß der Treppe aktivierte Eugenie einen Lichtschalter, der Neonröhren an der Decke in kaltem, weißem Licht aufflackern ließ und einen langen Gang erhellte, an dessen Ende ich eine schmale Tür ausmachen konnte. Zu unserer Rechten führte eine gewundene Treppe weiter in die Tiefe. „Bitte hier entlang, Ms. Thynlee“, sagte Eugenie und wartete, bis Ida und ich an ihr vorbei und einige Meter in den Gang hinein gegangen waren, bevor sie mit Isaac an ihrer Seite folgte. Ein kleines Stimmchen in meinem Hinterkopf, das sich verdächtig nach Ida anhörte, wies mich darauf hin, dass man uns offensichtlich im Auge behalten wollte, damit wir nicht in die falsche Richtung gingen. Die Treppen hinunter, zum Beispiel. Ich verwarf den Gedanken und humpelte tapfer vorwärts. Als wir die Tür erreichten, zog Eugenie einen gewaltigen Schlüsselbund hervor, den sie genauso gut als Schlagring hätte verwenden können, und öffnete die Tür mit einem leisen Quietschen. Ida schoss voran, dicht gefolgt von Isaac. Eugenie und ich folgten. Wir betraten eine Art Trainingshalle, die tiefer gelegt und über eine dreistufige Treppe zugänglich war. Außer einem elektronischen Pult zu unserer Rechten war der Kellerraum leer. Zwei kleine Türen, beide verschlossen, trennten ihn von was auch immer dahinter lag. „Wenn Sie sich bitte auf die Kampffläche begeben würden“, sagte Eugenie. „Mr. Holland wünscht zum Test ihrer Selbstständigkeit ein Duell gegen einen von uns gestellten Daemonen.“ Ich sah abrupt zu ihr. „Ein Daemon?“, fragte ich. „Hier? Im Anwesen?“ Eugenie deutete zu den Türen. „Ein Vorteil, direkt an der Grenze zu bauen“, erklärte sie. „Mr. Holland lockt sie in speziell gefertigte Käfige und kann sie jederzeit für Trainingszwecke benutzen.“ Mir erschien die ganze Situation immer suspekter. Ich hatte erwartet, dass sie meine körperliche Fitness testen würden, vielleicht mit einer Art Parkour, aber nicht, dass man mir einen echten Daemon vorsetzen würde. Aber nachdem ich schon zugesagt hatte, wollte ich jetzt keinen Rückzieher machen. Ich ging los, mein steifes Bein leicht nachziehend. Ohne die Schmerztabletten wäre ich geliefert. Ida schwebte an meiner Seite und sah sich neugierig um. „Ms. Thynlee“, erklang Eugenies Stimme. Ich drehte mich zu ihr um. Sie sah ausdruckslos zu Ida. „Ich muss Sie leider bitten, Ihren Dae hier zu lassen. In diesem Test wird einzig Ihre Fähigkeit als Hunterin bewertet. Ich werde Ida parallel einer anderen Prüfung unterziehen.“ Ida und ich tauschten einen Blick. Als er Idas Unschlüssigkeit bemerkte, schaltete sich Isaac ein. »Vertraust du ihren Fähigkeiten nicht? Ida plusterte sich auf. >Natürlich tue ich das! „Genug ihr zwei“, murmelte ich und trat auf die Kampffläche. „Bin gleich wieder da, Ida.“ Sie schmollte und verschränkte die Arme, blieb aber, wo sie war. Isaac folgte mir in die Vertiefung. Ich kratzte mit der Schuhspitze leicht über den rauen Betonboden. An die Blutergüsse, die ich mir bei einem Sturz zuziehen würde, wollte ich gar nicht erst denken. Als ich den Blick hob, erkannte ich gerade noch, wie Eugenie einige Tasten auf dem Pult aktivierte und schließlich mit Ida im Schlepptau den Raum verließ. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht. Isaac sah mich ernst an. Ich nickte dankbar und dehnte meine Finger. Ich wollte es nicht zugeben, aber ich war froh, dass er im Notfall eingreifen würde. „Von mir aus kann es losgehen.“ Als hätten meine Worte einen Schalter umgelegt, schwang eine der beiden Türen gegenüber auf. Meine Muskeln spannten sich automatisch an, bevor ich durchatmete und eine entspannte Haltung einnahm. Ich verlagerte mein Gewicht auf mein gesundes Bein und wartete. Aus der Dunkelheit hinter der Tür erstrahlte ein gelbes Augenpaar, das pulsierend näherkam. Ihm folgte der unförmige, schwarze Körper eines hüfthohen Daemons, dessen Rückenpartie dunkle Schlieren in die Luft abgab. Er fauchte leise, presste sich flach gegen den Boden und näherte sich Schritt für Schritt. Wie schon tausende Mal in meiner Karriere hob ich die Arme und überlagerte meine Hände, sodass zwischen meinen überkreuzten Daumen und Fingern ein Dreieck freiblieb, durch das ich auf den Daemon zielte. „Deficere“, sagte ich laut und spürte, wie die Worte an Kraft gewannen, kaum dass sie meinen Mund verließen. Der Daemon kniff die hervortretenden Augen zusammen und zischte. „Decedere. Deficere.“ Als hätte der Daemon erst jetzt begriffen, dass ich ihm ans Leben wollte, riss er sich plötzlich vom Boden los und sprintete auf mich zu. Reflexartig wollte ich einen Schritt zurückmachen, blieb im letzten Moment jedoch wo ich war und senkte lediglich meine Hände, um ihn im Visier zu behalten. „Manere!“, befahl ich und der Daemon erstarrte in der Bewegung, wie versteinert. Zufrieden verfiel ich wieder in mein Schwächungsmuster, um die Masse des Daemons zu reduzieren. Schwarzer Rauch schwebte über dem Boden, wo der Daemon stetig an Masse verlor. Es war kein starkes Exemplar und die Erleichterung darüber ließ mich freier atmen. Mein Bein pochte schmerzhaft von dem langen Stehen und ich wollte mir nicht ausmalen, wie es mir ergehen würde, wenn— Ein Zischen riss mich aus meinen Gedanken. Wie in Trance drehte ich den Kopf, weg von dem Daemon, der sich am Boden wand, kaum größer als eine Katze, und Richtung des Geräusches. Ein schwarzer Schatten raste auf mich zu. „Defensio!“, schrie ich und der zweite Daemon prallte einen Meter entfernt von einer unsichtbaren Barriere ab, die sich in letzter Sekunde aus meinem Verteidigungsschlüssel gebildet hatte. Der Daemon rappelte sich auf und schüttelte den gewaltigen Kopf, gelbe Augen funkelnd und schwarze Fangzähne gebleckt. Ich schluckte schwer. Mein Blick huschte zurück zu Daemon Nummer Eins, der die Zeit genutzt hatte, um sich ebenfalls zu erheben und nun auf mich zu humpelte. „Gottverdammte Scheiße“, murmelte ich, dann, lauter, „Haesitare!“ Der Daemon wurde zu Boden gerissen, als hätte unter ihm die Scherkraft abrupt zugenommen. Ich drehte mich zurück zu dem zweiten Daemon, der etwas Abstand genommen hatte, bei dem Anblick seines geschwächten Freundes nun jedoch geifernd Anlauf nahm. „Manere!“ Seine Bewegungen wurden langsamer, als wate er durch Honig, doch er blieb nicht stehen und schüttelte den Fixierungsschlüssel nur wenige Sekunden später problemlos ab. Zischend sah ich zurück zu dem ersten Daemon. Gegen zwei gleichzeitig hatte ich keine Chance, solange ich mich nicht richtig bewegen konnte. Ich musste einen der beiden exzidieren, und zwar sofort. Ich lehnte mich leicht zurück, holte Schwung, und sprang auf Daemon Nummer Eins zu, der erschrocken zur Seite huschte, doch nicht, bevor ich mit meinem schwachen Bein neben ihm aufkam, einknickte und vor Schmerzen fluchend eine Hand nach seinem Kopf ausstreckte. „Nex!“ Der Daemon verpuffte in einer übelriechenden Wolke aus schwarzem Dampf, der mich einige Sekunden lang blind und hustend zurückließ. Als ich wieder sehen konnte, sprang der zweite Daemon gerade auf mich zu, gelbe Augen in Siegestaumel geweitet. Ich rollte zur Seite, stieß meine Schulter auf dem harten Beton und blieb auf dem Hosenboden sitzen, während ich mit beiden Händen zielte. „Sidere. Decedere. Occidere. Mori. Occidere. Decedere. Sidere.“ Der Daemon zischte, als das trigonale Muster in traf und schwarzer Rauch entwich seinem Körper, der sich spinnenartig auf mich zu bewegte. Er verlor an Masse und Körpergröße, doch mein Fixierungsmuster hielt nicht. Wieder und wieder befreite er sich aus der Umklammerung der Schlüssel und kam unaufhaltsam näher. Langsam wurde ich panisch. Ich versuchte, vor ihm wegzurutschen, doch mein rechtes Bein war inzwischen vollkommen taub und nutzlos. Der harte Aufprall hatte der Gliedmaße den Rest gegeben und ihr Gewicht machte es mir schwer, Abstand zwischen mich und den Daemon zu bringen. „Occidere. Mori. Occidere.“ Meine Stimme klang rau. Verdammt, war ich so sehr aus der Übung, dass ich schon nach wenigen Minuten Exzision die ersten Symptome einer Überanstrengung bekam? Eine gestaffelte trigonale Schwächung sollte mir nicht so viele Schwierigkeiten bereiten. Der Daemon schrumpfte weiter. Eine schwarzglänzende Zunge huschte aus seinem Maul und leckte über die wulstigen Lippen, während seine gelben Glubschaugen sich aus seinem Schädel herauszudrücken schienen. Mein Mund wurde trocken. Ich fokussierte meine Hände neu. Schluckte. „Mo—“ Ohne Vorwarnung warf sich der Daemon zur Seite, entwich meinem Zielradius und sprang auf mein Gesicht zu. Der Daemon war zu nah für einen Verteidigungsschlüssel, nah genug, dass ich den Geruch von faulen Eiern auf der Zunge schmeckte. Zu nah, es sei denn … Ich ließ mich zurück kippen, bis ich flach auf dem Rücken lag. Der Daemon war direkt über mir, Klauen nach mir ausgefahren, Zähne gefletscht. „Protectiomors!“, schrie ich, so schnell hintereinander, dass die Worte miteinander verschmolzen. Ich spürte, wie die Krallen meine Haut berührten, genau in dem Moment, da der Verteidigungsschlüssel einen Schutzschild über meinem ganzen Körper ausbreitete. Meine Hand, umhüllt von gleißendem Weiß, schnellte vor und packte die Kehle des Daemons, bevor dessen Zähne sich in mein Gesicht graben konnten. Der Exzisionsschlüssel hing noch in der Luft. Unter dem Druck meiner Finger implodierte der Daemon zu einer schwarzen Rauchwolke. Es dauerte einige Sekunden, in denen ich in Schockstarre keinen Muskel rührte, bevor mein Herz seine Arbeit wieder aufnahm und mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlug. Langsam setzte ich mich auf und sah taub in den weiten Trainingsraum. Die Türen, durch die die beiden Daemonen hereingelangt waren, hatten sich geschlossen, und am anderen Ende des Raumes, nicht mal ansatzweise nah genug, um mir notfalls helfen zu können, stand Isaac. Kapitel 5 --------- Ohne ein Wort zu sagen, rappelte ich mich auf. Mein rechtes Bein zitterte und der Rückweg über den Beton war weniger ein Humpeln als einbeiniges Hopsen. Isaac schwebte hinter mir her. »Sie haben bestanden. Er klang nicht gerade glücklich darüber, andererseits hatte ich Isaac noch nie irgendwelche Emotionen zeigen sehen, daher konzentrierte ich mich auf das Wesentliche. Der Dae hatte versprochen, im Notfall einzugreifen. Ich konnte mir keinen größeren Notfall vorstellen, als dass ein Daemon mir beinahe das Gesicht abbiss. Vertrauen in meine Fähigkeiten war gut und schön, aber im Zweifelsfall bevorzugte ich es, am Leben zu bleiben. Wenn ich auch nur einen Sekundenbruchteil später reagiert hätte, wäre ich jetzt tot. Und Ida … ich wollte nicht daran denken. „Klasse“, sagte ich trocken und hievte mich die kleine Treppe empor, indem ich mich an dem Geländer hochzog und Stufe um Stufe emporsprang. Oben angekommen lehnte ich mich erschöpft an das Pult. Einige Minuten warteten wir schweigend, während sich mein Herzschlag langsam beruhigte und das Adrenalin aus meinem Blutkreislauf wich. Mein Blick ruhte auf der Tür, die sich schließlich öffnete. Eugenie trat ein, dicht gefolgt von einer sehr euphorischen Ida, die schneeweiß auf mich zu flog und in ihrem Versuch einer Umarmung halb durch mich hindurch fiel. >COON! Ich habe bestanden! Ich rang mir ein müdes Lächeln ab. „Ich auch.“ Idas Augen leuchteten und sie vergrub glücklich ihren Kopf in meiner Schulter. Ich schielte an ihr vorbei zu der Butlerin. „Wäre das alles? Ich würde gerne nach Hause und mich erholen. Meine Verletzung ist noch nicht richtig verheilt.“ „Wie Sie wünschen, Ms. Thynlee.“ Sie warf Isaac einen kurzen Blick zu. „Sir Isaac, wenn ich Sie darum bitten dürfte, Ihrem Vater die Testergebnisse mitzuteilen? Er befindet sich mit Ihrem Bruder in seinem Büro.“ Isaac nickte und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. „Ich geleite Sie zum Ausgang“, sagte Eugenie und winkte uns hinter sich her. Nachdem Idas Aufregung verklungen war, bemerkte sie schnell, dass etwas nicht stimmte. Sie warf mir einen unsicheren Blick zu und wurde dunkler, als ich mit zusammengebissenen Zähnen den Kellergang entlang humpelte. >Tut es sehr weh? „Mach dir keine Sorgen.“ Ich holte bebend Luft und fokussierte mich auf die Treppe nach oben. „Andrew kann mich nach Hause tragen, wenn es sein muss.“ Es war nicht meine Absicht, aber die Distanz zwischen Eugenie und mir weitete sich. Ob die Butlerin mir keine Hilfe anbot, weil sie mich weiterhin testete oder einfach nicht bemerkte, dass ich vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, wusste ich nicht, aber ich nutzte den Moment, um außerhalb ihrer Hörweite mit Ida zu sprechen. „Du hattest Recht“, murmelte ich. „Irgendetwas ist hier faul.“ Ida warf mir einen triumphierenden Blick zu. >Was sollen wir tun? Ich sagte nichts, nickte nur in Richtung Eugenie und schwenkte dann meinen Kopf zu der zweiten Treppe, die tiefer in den Keller führte. Ida folgte meinem Blick. Ein entschlossener Ausdruck trat auf ihr Gesicht und sie flog los. Ihr Körper färbte sich tiefschwarz, als sie hinter der Butlerin zu Boden sank. Ihre Augen traten aus ihren Höhlen hervor und färbten sich gelb. Ihr Rückgrat bog sich vor, bis sie auf allen Vieren vorwärts krabbelte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Dann, blitzschnell, sprang sie empor und krallte sich in Eugenies Schultern. Die Butlerin erstarrte für einen Sekundenbruchteil, doch ihre Überraschung hielt nicht lange an. Mit einer Agilität, die ich einer Frau in engem Anzug und Krawatte niemals zugetraut hätte, warf sie sich zu Boden und rollte über Ida hinweg, die knurrend an ihrem Opfer festhielt. Eugenie riss den Mund auf, wohl um nach Hilfe zu rufen, während ihre Hände sich in typischer Hunterform übereinanderlegten, doch Ida war schneller. Wie ein Schatten floss ihre Form durch Eugenies geöffneten Mund hinein. Die Augen der Butlerin glommen kurz gelb auf. Wankend erhob sie sich. „Mission erfüllt“, verkündete Eugenie-Ida gut gelaunt und reckte mir einen ausgestreckten Daumen hin. Ich grinste sie an— —und sackte an der Wand zu Boden. „Coon!“ Ida nutzte ihren neugewonnenen Körper, um zu mir zu laufen, während ich mit Schnappatmung beide Hände gegen die Bisswunde an meinem Knöchel presste, die Augen fest zusammengekniffen. Die Giftlinie in meinem Bein pulsierte wie Lava. Ich presste die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzte. Wir mussten abhauen, aber ich konnte nicht einfach unverrichteter Dinge fliehen. Ida half mir auf die Füße, schlang meinen Arm um ihre Schultern und schleppte mich Richtung Treppe. Die Stufen erforderten etwas Koordination, aber Ida und ich hatten lange genug zusammengearbeitet, um ohne viele Worte einen Rhythmus zu finden, mit dem wir zügig vorankamen. Die Treppe wand sich in schmalen Bahnen um eine zentrale Säule aus dunklem Stein. Je tiefer wir gingen, desto dunkler wurde es, bis Ida am Fuß der Treppe einen Lichtschalter an der Wand ertastete und Neonröhren surrend zum Leben erwachten. Wir befanden uns vor einer Tür aus schwerem Metall ohne Schlüsselloch. Stattdessen hing an der Wand daneben ein kleiner Kasten mit Touch-Pad. Ida legte den Kopf schief und zog mich enger zu sich, damit sie eine Hand ausstrecken und auf das Pad legen konnte. Ein lauter Piepton füllte meine Ohren, im nächsten Moment leuchtete das Display grün auf und ein Klicken verriet, dass die Tür sich geöffnet hatte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Ida zurückzulassen, bis ich herausgefunden hatte, was sich in dem verschlossenen Raum befand. Aber wann immer ich Ida schützen wollte, dachte ich daran, dass sie tot war. Sie hatte Menschen getötet und mich vor einer Vergewaltigung gerettet. Es gab nicht mehr viel, das sie noch schockte. Mal abgesehen davon, dass ich alleine keinen Schritt mehr tun konnte. Meinen Gehstock hatte ich selbstverständlich Andrew überlassen, weil er mich im Kampf nur behindern hätte. Gute Idee, Coon. Blendende Idee. Gemeinsam durchquerten wir die Tür und fanden uns in einem rechteckigen Raum mit niedriger Decke wieder. Als die Bewegungsmelder uns wahrnahmen, erwachten zwei Deckenlampen zum Leben und füllten den Raum mit rötlichem Licht. Eugenie-Ida öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Ich schon. „Was zur Hölle ist das denn?“, fragte ich. Der geheime Raum im Keller von Arnold Holland war ein Schrein. Anders konnte ich es nicht beschreiben. Roter Plüschteppich bedeckte den Boden, doch die Farbe der Wände konnte ich nicht ausmachen. Sie waren zugestellt mit Regalen, Bildern und Portraits, alle von einer Frau mittleren Alters mit kirschrot gefärbtem Haar, hellem Teint und ebenfalls kirschrotem Lippenstift. Mit Idas Hilfe trat ich weiter in den Raum. Hinter uns fiel die Tür zu. Wohin ich auch sah, starrte mir das Gesicht der Frau entgegen. Hollands verstorbener Frau, wie mir jäh klar wurde. Regina Holland. Auf einem der Regale ruhte eine Sammlung aus verschiedenen Puppen, Porzellanpuppen, Stoffpuppen, sogar eine lebensgroße Hartgummipuppe, die alle im Gleichnis von Regina gestaltet waren. Zur linken Seite des Schreins, neben einem roten Ohrensessel, stapelten sich schwarze Lederjournale, Fotoalben, handschriftliche Dokumente. Ein heller Schminktisch war vor ein überlebensgroßes Leinwandgemälde geschoben worden. Der rote Lippenstift lag unberührt und offen darauf. Trotzdem zeigte der Raum kein Körnchen Staub auf. Jemand putzte hier regelmäßig, und von der Art, wie abgegriffen die Gemälde, Notizbücher und Puppen waren, stattete Holland diesen Räumlichkeiten regelmäßig einen Besuch ab. Mir wurde schlecht. „Das ist gruselig“, flüsterte Ida. Es hätte mir schwerfallen sollen, sie mit Eugenies Stimme in Verbindung zu bringen, die so viel tiefer war als ihre, aber die Stimmlage, mit der Ida sprach, hätte ich überall wiedererkannt. Ich antwortete nicht, sondern steuerte die Journaltürme auf der linken Seite des Raumes an. Ich wollte nicht länger hier unten verbringen als unbedingt nötig. „Hilf mir“, sagte ich. Ida hievte mich auf den mit Leder gepolsterten Ohrensessel und ging neben mir in die Hocke. Sie reichte mir das oberste der Bücher. Ich blätterte mich durch das Tagebuch. Das Papier war dick unter meinen Fingerkuppen, die blaue Tinte mit der Zeit verblasst, aber noch gut lesbar. Reginas Handschrift füllte die Seiten mit schräger Schrift, die zum Ende hin immer hektischer wurde. Der letzte Eintrag war auf einen Tag im Winter vor neun Jahren datiert. Er bestand aus einem einzigen Satz.   Ich kann nicht mehr.   Die Einträge davor waren sporadisch. Manchmal hatte Regina wochenlang nicht geschrieben, an anderen Tagen mehrere Seiten für einen einzigen Eintrag gefüllt. Stumm bewegte ich die Lippen mit, während ich mich durch ihr Leben wühlte.   Arnold hört mir nicht mehr zu. Stur war er immer, selbstsicher, das habe ich an ihm geliebt. Aber jetzt hat er sich festgebissen. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, um ihn umzustimmen.   Ich bin nicht mehr mit ihm in den Keller gegangen. Ich kann nicht mit ansehen, was dort unten vor sich geht. Es zerreißt mir das Herz, Isaac so zu sehen. Ich muss mit Arnold sprechen. So geht es nicht weiter. Wenn ich früher gewusst hätte, was er tut, aber ich wusste nichts, ich könnte mich ohrfeigen …   Er hatte heute einen schlechten Tag. Eugenie hat mir eine Heilsalbe gebracht. Ich wünschte, Arnold würde diese Frau feuern. Ich kann ihre ausdruckslosen Blicke nicht mehr ertragen.   Daniel ahnt nichts. Ich glaube nicht, dass er Arnold unterstützen würde. Die Situation ist nicht so aussichtslos, wie er denkt. Ich muss ihm sagen, was im Keller geschieht. Er hat wieder einen Hunter eingeladen. Vermutlich kommt er in zwei Wochen. Ich muss etwas tun.   Meine Augen brannten von dem roten Licht. Eugenie-Ida lehnte sich über mich. „Was schreibt sie?“ „Sie hat herausgefunden, was Holland und Isaac tun, aber sie schreibt nicht, was genau das ist“, murmelte ich frustriert. Ich hatte den gesamten letzten Band durchblättert. „Gib mir das nächste auf dem Stapel. Wir gehen nicht, bevor wir wissen, was Holland für ein Spiel treibt.“ Eugenie-Ida griff nach dem nächsten Buch, doch plötzlich schnellte ihre Hand zur Seite und schloss sich um meine Kehle. Die Fingernägel gruben sich in meinen Hals, drückten mit unglaublicher Stärke zu, pressten mich in die Sessellehne. Ich schlug nach Luft ringend gegen Eugenies Arm, bis sie abließ. Ein erschrockener Ausdruck kam über ihr Gesicht. „Tut mir leid, Coon! Sie hat einfach die Kontrolle übernommen.“ Mit konzentriertem Ausdruck ließ Ida beide Arme sinken. „Ich passe ab jetzt besser auf, versprochen.“ Ich rieb mir den Hals, hustete. „Vielleicht ist sie trainiert darin, Daemonen abzuschütteln“, mutmaßte ich. „Immerhin lebt sie mit den Mistviechern unter einem Dach.“ Eugenie-Ida nickte. Sie reichte mir das Buch, von dem Eugenie uns hatte fernhalten wollen. Dieses war gefüllt mit vollgeschriebenen Seiten, die Einträge dicht hintereinander. Ich blätterte zurück, überflog die Sätze. Sie beschrieb Isaacs Veränderung, dass sie langsam verstand, warum er so geworden war, wie Holland sich weiter von ihr entfernte, wie sehr sie Eugenie hasste. Endlich fand ich den Eintrag, den ich gesucht hatte. Er stammte von fast einem ganzen Jahr vor ihrem Tod datiert. Ich las laut vor.   Meine Hände zittern. Ich weiß nicht, wie ich diesen Eintrag schreiben soll, aber ich muss, während die Erinnerung noch frisch ist. Morgen könnte ich nicht mehr den Mut haben, es aufzuschreiben. Tief durchatmen, Regina. Fang vorne an. Arnold hat endlich erlaubt, dass ich ihn in den Keller begleite. Jahrelang wollte er mich nicht hinunterlassen, weil ich zu zart besaitet bin. Ich habe ihm gesagt: Wer Zwillinge auf die Welt bringt und sie großzieht, ist alles andere als zart besaitet. Er hat gelacht. Dan hat diesen jungen Mann eingeladen, Tobias. Ein junger Mann mit kurzgeschorenem Haar und unschönem Gesicht. Sein Dae schwebte stumm an seiner Seite, aber er merkte davon nichts. Er hat keine Sicht, keine Sichtlinsen, hat sie nie gebraucht. Isaac sagte ihm, dass Eugenie später alleine mit ihm über etwas reden will. Er hat nur mit den Schultern gezuckt. Er war so emotionslos wie … wie Isaac in letzter Zeit. Ich kann meinen Jungen nicht mehr in ihm erkennen. Was hat Arnold nur aus ihm gemacht?! Sie haben ihn in den Trainingsraum gebracht. Isaac ist mit hineingegangen. Arnold hat die Türen geöffnet. Tobias hat sich umgesehen, war sichtlich verwirrt. Isaac hat ihn nur angestarrt, als ein Daemon durch die Tür kam. Ich habe Arnolds Hand gepackt. Ich wollte Tobias warnen, aber ich bekam kein Wort heraus. Sieh genau hin, hat er gesagt. Sie genau hin, meine Liebe. Mir ist immer noch schlecht, wenn ich daran denke. Der Daemon sprang ihn an, biss ihm in die Schulter, in den Hals. Tobias war fast sofort tot. Eben noch hatte er mir ein Kompliment für die Suppe gemacht und dann lag er plötzlich leblos auf dem Beton … Isaac schwebte näher. Dann sank er auf alle Viere. Er verschlang den Daemon. Als der Dae zurückkam, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Geh nicht hinunter, schrie ich. Sieh nicht hin! Er schwebte an mir vorbei, blieb ruckartig stehen, als er den Leichnam sah. Er verwandelte sich vor meinen Augen, wurde zu einem Monster. Und Isaac hat sich ebenfalls verwandelt, hat ihn gefressen wie ein herkömmlicher Daemon. Der Gedanke tut so weh. Wie oft sind er und sein Vater schon hierhergekommen? Wie viele Menschen sind unter meinem Dach kaltblütig ermordet worden? Was soll ich tun? WAS SOLL ICH TUN?   Ich wusste nicht, wie lange Ida und ich reglos dasaßen. All die Masse, die Isaac besaß. Seine Apathie. Seine düstere Stimmung. Alles machte plötzlich Sinn. Er war vielleicht kein Daemon, aber er war definitiv ein Monster. Und Arnold Holland war sein Schöpfer. „Sie bringen Menschen um, Coon.“ Eugenie-Idas Stimme zitterte. Sie schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich öffnete die Arme und ließ sie hineinfallen, sich an meinem Rücken festkrallen. „Das haben sie nicht verdient. Das hat niemand verdient!“ „Du hast Recht“, flüsterte ich, die Wut in meiner Stimme mühsam unterdrückend. Ich tätschelte ihren Kopf, bis sie sich beruhigte. Dass es sich dabei um Eugenies Kopf handelte, nahm ich nur am Rande wahr. Ich konnte Ida anfassen, umarmen, trösten. Das war jetzt das wichtigste. „Wir sollten all diese Tagebücher durchsehen, aber dazu fehlt uns die Zeit“, sagte ich nach einer Weile. „Und ich glaube nicht, dass Regina viel wusste. Sie hat von den Machenschaften ihres Mannes erst ein Jahr vor ihrem Tod erfahren.“ „Was denkst du, wie sie gestorben ist?“, fragte Ida leise. „Meinst du, Holland hat sie umgebracht?“ „Nicht auszuschließen“, sagte ich, dachte jedoch an die vielen fehlenden Einträge in ihrem letzten Journal. „Aber ich glaube eher, dass sie Selbstmord begangen hat.“ Eugenie-Ida krümmte sich plötzlich nach vorne, Hände gegen die Schläfen gepresst. „Urgh!“ „Ida? Ida, was ist los?“ „Sie ist … stark. Ich weiß nicht, ob … ich sie noch lange halten kann. Sie will mich loswerden. Da ist etwas, dass ich … nicht sehen soll.“ „Sehen? Kannst du ihre Gedanken lesen?“ „Hier schweben ein paar rum. Aber die meisten sind weiter unten.“ „Such weiter.“ Ich nahm sie bei den Schultern. „Was siehst du?“ „Sie hatte … da sind Kinder“, sagte Ida stockend. „Aber dann waren sie weg. Daemonen haben sie getötet. Und dann war sie hier. Da ist eine andere Frau. Regina, glaube ich. Sie hat ganz viele blaue Flecken. Holland zielt mit einer Pistole auf sie. Da ist Dan, er zieht ihn weg, schreit. Regina schreit auch. Sie deutet auf Holland, aber ihre Hand zittert. Isaac schwebt vor ihn. Regina weint. Eugenie kümmert sich um sie, aber sie wird weggestoßen. Die Frau ist … jetzt ist sie in der Badewanne. Alles ist rot.“ Ida gab einen erstickten Laut von sich. „Da sind noch mehr Erinnerungen mit ihr, aber sie lässt mich nicht ran. Mehr … mehr kann ich nicht finden“, stöhnte Ida und presste nun beide Hände gegen ihre Augen. „Sie ist wütend, Coon! Ich kann sie nicht mehr lange —“ Eugenies Augen rollten in ihren Höhlen nach hinten, bis nur noch das Weiße zu sehen war und sie sackte in sich zusammen wie eine Marionette ohne Fäden. „Ida! IDA!“ Ihr Mund öffnete sich, schwarzer Rauch explodierte aus der Öffnung und Ida wurde ans andere Ende des Raumes geschleudert, wo sie pechschwarz liegen blieb. Eugenie riss die Augen auf, rang nach Luft, sah hasserfüllt zu mir. „Du wagst es!“, krächzte sich und bevor ich auch nur die Hände heben, geschweige denn ausweichen konnte, stürzte sie sich schon auf mich. Ihre langen Finger fanden wie zuvor meinen Hals und drückten zu, fester, fester, bis silberne Funken vor meinen Augen tanzten. Ihr perfekter Pagenschnitt hing halb in ihr Gesicht, ihre Lippen waren zu einer Grimasse verzerrt. Meine Hände fanden ihre Unterarme, krallten sich ebenfalls hinein, drückten, zogen. Ich strampelte mit meinem gesunden Bein, ignorierte die höllischen Schmerzen, die Eugenie mir dadurch verursachte, dass sie sich auf dem anderen mit ihrem Knie abstützte. Statt mich loszulassen, begann sie, meinen Kopf wieder und wieder gegen die Sessellehne zu schlagen. „Mr. Holland tut—mehr für uns—als du dir—jemals—vorstellen kannst!“ „Lass … mich … los“, presste ich hervor, bevor ich Schwung holte und Eugenie mein Knie in die Seite rammte. Ich konnte sie nicht abschütteln, aber ihr Griff lockerte sich für einen Sekundenbruchteil, und ich nutzte den Freiraum, um einzuatmen, Eugenie an ihren Armen in meine Richtung zu ziehen und meine Stirn gegen ihre Nase zu rammen. Stöhnend fiel Eugenie zurück und stützte sich bei ihrem Fall mit den Ellenbogen auf dem Plüschteppich ab. In dem Moment trat Ida zu ihr heran und sah von oben auf sie herab. >Niemand fasst Coon an. Eugenie hielt eine Hand gegen ihre blutende Nase gepresst, doch sie wirkte benommen. Ida ging neben ihrem Kopf in die Hocke und wurde heller. Streckte eine Hand nach ihrer Stirn aus. Ließ ihre Hand hineinsinken. >Schon gar nicht du. Die Butlerin stöhnte, ihre Haut färbte sich weiß, Schweiß brach auf ihrem Gesicht aus. Ida drückte ihre Hand tiefer, tiefer … Eugenie wimmerte. Wurde still. „Ida“, sagte ich sanft. „Sie ist bewusstlos. Es reicht.“ Ida zog ihre Hand zurück. Wie ich gesagt hatte, kippte Eugenies Kopf zur Seite, Augen geschlossen. Blut tropfte von ihrer Lippe. >Geht es dir gut? Ich rieb meinen wunden Hals. Eugenies Würgeversuche hatten mich heiser und mit Schmerzen in der Kehle zurückgelassen, aber davon abgesehen war ich gut weggekommen. „Nichts passiert“, krächzte ich schließlich. „Denkst du, du kannst noch ein paar Informationen aus ihr herausquetschen?“ Ida nickte und floss als Schatten durch Eugenies halbgeöffneten Mund. Obwohl die Butlerin bewusstlos war, öffnete sie die Augen. „Sie ist wehrlos“, informierte Ida mich. „Ich kann alles sehen. Was willst du wissen?“ „Wie suchen sie Opfer aus?“, fragte ich. „Wie entscheiden sie, wer lebt und wer stirbt? Isaac hat mir während meines Kampfes nicht geholfen, aber er hat auch nicht eingegriffen, um mich zu töten. Was ist ihr Ziel?“ Eugenie-Ida schloss die Augen. Minutenlang lag sie reglos da, ließ die Hülle des Körpers unangetastet, während sie sich durch Eugenies Erinnerungen wühlte. Ich wartete geduldig, bis sie zu sprechen begann, ihre Stimme emotionslos. „Dan lädt sie ein. Isaac lockt Menschen mit einer tiefen Bindung zu ihrem Dae in den Trainingsraum, wo er sie gegen Daemonen kämpfen ließ. Wenn sie gewinnen, passiert nichts. Wenn sie sterben, verlieren die Dae ihren Ankerpunkt und werden von Isaac gefressen.“ „Und in seine Masse integriert, bis er quasi unbesiegbar wird.“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Wenn Isaac jemals die Kontrolle verliert, wird er zu einem Daemonenkönig. Wie kann Holland glauben, ihn kontrollieren zu können?“ Außerhalb der Grenzen war ich noch nie einem echten Daemonenkönig über den Weg gelaufen. Die letzten Überlebenden einer eskalierten Rotte waren die einzige Art von Daemonen, die Hunter nur in Gruppen exzidieren konnten. „Es geht schon ewig so“, fuhr Ida nach einer Weile fort. „Alle sehen so jung aus.“ „Wie viele Jahre?“, fragte ich. „Ich weiß nicht.“ Sie biss sich auf die Lippen und öffnete die Augen. „Mindestens fünfzehn.“ „Fünfzehn“, sagte ich ungläubig. Seit über fünfzehn Jahren ließ Holland Menschen sterben, damit Isaac ihre Dae fressen konnte und stärker wurde. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, oder warum er so weit ging. Ich wusste nur eins. Wir mussten hier sofort weg. „Lass uns gehen“, sagte ich grimmig. Eugenie-Ida nickte entschlossen, erhob sich und hievte mich vom Sessel. Ich hing halb über ihrer Schulter, während wir uns die Treppen hinaufschleppten. Wir brauchten nur wenige Minuten, um den Ausgang des Kellers zu erreichen, wo ich ein leises Relictus murmelte. Eugenies Augen glommen gelb auf, bevor Ida ihren Körper als eine Wolke schwarzen Rauchs verließ.  Ich schob Eugenies bewusstlosen Körper zur Seite und hüpfte einbeinig durch die Tür und hinaus in den Flur. Gemeinsam mit Ida und unter höllischen Schmerzen humpelte ich vorwärts, bis ich das Dienstmädchen entdeckte, das uns einige Stunden zuvor in den Salon geführt hatte. Als sie mich humpeln sah, eilte sie zu mir. „Ms. Thynlee, geht es Ihnen nicht gut?“ „Nur eine alte Verletzung“, sagte ich und ließ mich von ihr ins Foyer bringen. „Mr. Holland erwartet Sie bereits in seinem Arbeitszimmer“, begann sie, doch ich schüttelte den Kopf. Mir stand kalter Schweiß auf der Stirn. „Meine Medizin“, sagte ich und deutete auf mein Bein, „Ich habe sie zuhause vergessen. In diesem Zustand werde ich keine Unterhaltung mehr führen können. Richten Sie Mr. Holland bitte meinen Dank für sein unschätzbares Angebot und das wundervolle Essen aus, ich werde mich morgen wegen weiterer Details mit ihm in Kontakt setzen.“ Das Dienstmädchen hatte die Augen ängstlich geweitet, aber meine Verletzung war nicht gespielt und sie spürte das Zittern meines ganzen Körpers. Sie nickte und setzte mich auf einem Stuhl neben dem Eingang ab. „Ich hole Ihren Begleiter“, sagte sie und verschwand die Treppen hinauf. Während wir auf Andrew warteten, sog ich alle Details des Anwesens in mich ein. Jetzt machte es Sinn, warum das Haus in die Mauer zum Ödland integriert war. Sicher gab es Fallen, die Daemonen in den Keller führten, wo Holland sie entweder als Gegner in seinen sogenannten Tests verwendete oder als Snack für Isaac, wenn er lange keinen frischen Dae mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Mein Blick fiel auf Ida, die nicht mehr schwebte, weil sie im Laufe des Nachmittags so dunkel geworden war. Isaacs Leben hatte ihm übel mitgespielt und ich verstand, dass seine Bindung zu Holland und Daniel sehr stark war. Aber was sie hier taten, war unverzeihlich. Plötzlich fielen mir die Worte von Isaac wieder ein, als er Ida und mich kennengelernt hatte. Nehmen wir sie mit? „Dieser kleine Bastard“, murmelte ich halblaut. Ida warf mir einen Blick zu, fragte aber nicht nach. Sie wusste, wer gemeint war. Einige Minuten später tauchte das Dienstmädchen wieder auf, einen breit grinsenden Andrew im Schlepptau, dessen Gesichtsausdruck sich bei meinem Anblick jedoch sofort änderte. „Coon, ist alles okay?“ „Nicht wirklich“, gestand ich und tätschelte mein rechtes Bein. „Ich kann nicht mehr laufen.“ Andrew nickte und ging vor mir in die Hocke. „Ich trage dich.“ Mir entging nicht, dass er ausgerechnet jetzt meinen Vorschlag annahm und mich duzte, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn deswegen zu necken. Mit der Hilfe des Dienstmädchens kletterte ich auf Andrews Rücken und schlang meine Arme um seine Schultern. Seine Arme hakten sich unter meine Kniekehlen. Ich sog scharf die Luft ein, als mein Bein so zusammengepresst wurde. „Okay?“, fragte er. Ich nickte. „Gehen wir.“ Der Kies unter Andrews Schuhen knirschte mit jedem seiner Schritte. Er bewegte sich langsam, sparte seine Kräfte für den gesamten Heimweg. Andrew war größer als ich, aber nicht besonders muskulös, auch wenn Hunter ein Grundmaß an Fitness für ihren Job mitbringen mussten. Es würde ein langer Heimweg werden. Ida lief an unserer Seite. Sie war schwarz wie Tinte. Ich musste Andrew von unserem Fund im Keller des Holland-Anwesens erzählen, aber solange wir uns noch auf dem Grundstück befanden, wollte ich es nicht riskieren. Mein Schweigen und Idas schlechte Laune entgingen Andrew jedoch nicht. Er brach die Stille, als wir fast die Straße erreicht hatten. „Bist du durchgefallen?“ „Nein, ich habe bestanden“, sagte ich und sah mich zum dritten Mal in genauso vielen Minuten um. Die Villa stand dunkel und verlassen da. Niemand folgte uns. Ich atmete tief durch. „Ich musste alleine einen Daemon exzidieren, das ist alles. Eine meiner leichtesten Übungen. Ich erzähle dir die Details, wenn wir zu Hause sind.“ „Ist dein Bein deshalb so kaputt?“ Seufzend nickte ich. „Es war ein anstrengender Tag“, murmelte ich, zu nah an Andrews Ohr, denn er zuckte zusammen, als ich ihm so nah kam. Rasch zog ich den Kopf zurück. Verdammt, ich hatte vergessen, dass er einen Crush für mich entwickelt hatte. Noch ein Thema, das ich ansprechen musste. Müde rieb ich mir über die Augen. In meiner unbequemen Position auf Andrews Rücken fühlte sich der Heimweg länger an als ohnehin schon. Der Himmel verlor seine Farbe wie eine Leiche, die langsam ausblutete und außer den gelben Straßenlaternen stapften wir schon bald durch erdrückende Dunkelheit. „Was hast du mit Mr. Holland besprochen?“, fragte ich, als ich das Schweigen nicht mehr ertrug. Die Schatten schienen von allen Seiten näher zu kommen. Ich brauchte dringend eine Ablenkung. Andrew zögerte. „Du sagtest, dass das Geld knapp ist. Wenn du jetzt für ihn arbeitest, dachte ich, dass ich … na ja, dass ich helfen könnte. Ich habe ihn gefragt, ob er mich auch anstellen kann. Für ein geringeres Gehalt natürlich. Ich musste auch einen kleinen Test machen, aber —.“ „Nein“, sagte ich. Andrew schrumpfte bei meinem Ton zusammen. „Warum nicht?“, fragte er. „Weil …“ Ich sah mich erneut um. Wir waren alleine. Weit und breit keine Spur von Isaac oder Eugenie oder Holland oder irgendjemandem. „Andrew, Ida und ich haben im Keller Aufzeichnungen von Hollands verstorbener Frau gefunden“, begann ich. „Er und Isaac bringen seit gut fünfzehn Jahren Anker und ihre Dae in ihre Villa und lassen die Wehrlosen von ihnen in sogenannten Tests sterben, damit Isaac die eskalierten Dae fressen und stärker werden kann. Wir können ihm nicht trauen. Morgen früh packen wir unsere Sachen und verschwinden aus dem Distrikt.“ „Das ist doch lächerlich“, sagte Andrew mit belegter Stimme. „Bist du sicher, dass ihr euch nicht vertan habt?“ „Ida hat Eugenies Erinnerungen gesehen“, entgegnete ich. „Glaub mir, wir sind uns sicher.“ „Aber … wir haben kein Geld“, sagte Andrew hilflos. „Was ist mit der ausstehenden Miete, die du noch schuldig bist? Was ist mit den Zugtickets?“ „Ich muss Sam bitten, mir etwas vorzustrecken“, sagte ich. „Ich bin auch nicht scharf darauf, bei Rock angekrochen zu kommen, aber ich bleibe keinen Tag länger hier. Und du auch nicht.“ „Du willst also wieder für seine Organisation arbeiten?“, fragte Andrew rasch. „Wir könnten auch unsere eigene aufmachen. Zusammen.“ Seine Ohren färbten sich knallrot. „Andrew“, sagte ich schmerzlich und schielte zu Ida, die einige Schritte vorauslief und halb mit der Nacht verschmolz. Egal. Wenn ich es schon ansprechen musste, dann jetzt, wo ich sein Gesicht nicht sehen konnte. „Ich bin nicht blind. Ich sehe, wie du mich anschaust. Du denkst vielleicht, dass wir zusammenarbeiten und dadurch zusammenwachsen und ich irgendwann deine Gefühle erwidere. Aber uns trennen zehn Jahre.“ Andrew blieb abrupt stehen. „So viel sind zehn Jahre nicht“, murmelte er. „Zehn Jahre sind eine Menge“, entgegnete ich. „Für mich bist du immer noch ein Kind. Schau mich nicht so entrüstet an, ich sage dir nur die Wahrheit. Für deine Hilfe bin ich dir dankbar, aber unsere Beziehung endet bei Arbeitskollegen und Freunden. Mach dir bitte keine Hoffnungen, dass daraus jemals mehr wird.“ Andrews Griff um meine Beine wurde fester, als er sich wortlos wieder in Bewegung setzte. Es fühlte sich an, als stecke mein Herz in meiner Kehle fest, aber ich nahm meine Worte nicht zurück. Am liebsten hätte ich ihm niemals eine Abfuhr erteilt, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, dass ein klarer Bruch besser war, als sich jahrelang Hoffnungen zu machen, die schließlich doch zu einem Scherbenhaufen aus Bitterkeit zerbrachen.     Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal auf der Couch gesessen hatte. Ich saß in Unterhose auf dem Sofa, mein rechtes Bein auf die Polster neben mir gebettet und ging mit Messer und dem Rest der Essigessenz an meiner Verletzung zu Gange. Zwei Schmerztabletten hatte ich schon intus. Ich sah flüchtig zu Andrew auf, der noch immer kein Wort gesagt hatte. Er stand vor der Kaffeemaschine, die bereits seit einigen Minuten betriebsbereit war. Noch heute Morgen hätte ich eine neckende Bemerkung gemacht, aber jetzt blieb ich still. Ida saß auf der anderen Couch und starrte auf das Bild, das Tom von uns beiden gemalt hatte. Ich war nicht sicher, was sie von dem heutigen Tag am meisten mitgenommen hatte, aber ich war sicher, dass sie reden würde, sobald sie bereit war. Meine Gedanken kreisten bereits mit den nächsten Schritten. Ich wollte meine Selbstständigkeit nicht aufgeben, nur weil es gerade nicht gut lief, aber es war wichtiger, heil aus der Sache mit Holland rauszukommen. Sobald ich in sicherer Entfernung war, konnte ich versuchen, die Autoritäten zu einer Untersuchung von Hollands Anwesen zu überreden. Vielleicht wurde etwas daraus, auch wenn ich nicht daran glaubte. Holland war reich und mit dem Chief befreundet—es würde mich nicht wundern, wenn die höchsten Posten des Distrikts von seinen Machenschaften wussten und sie sogar duldeten. Vielleicht konnte Henny etwas reißen. Sie kannte sich mit solchen Dingen aus. Ich schrieb Sam eine schnelle SMS, in der ich sie bat, gleich morgen früh vorbeizukommen. Ich war so in Gedanken, dass ich Andrew erst bemerkte, als er schon auf der gegenüberliegenden Couch lag, Rücken zu mir gewandt. Kurz drehte er sich zu mir um. Seine Augen waren rot gerändert und plötzlich fragte ich mich, ob er den gesamten Rückweg über geweint hatte. „Gute Nacht, Ms. Thynlee.“ Kapitel 6 --------- „Wo zur Hölle sind die beiden!“, fauchte ich und humpelte durch das Büro. Licht flutete durch die Schlitze der Jalousien. Sam warf mir, nachdem sie einige Schlucke des Kaffees hinuntergewürgt und mir anschließend ihre angefangene Tasse hingeschoben hatte, einen tadelnden Blick zu. „Wo sollen sie schon sein? Sicher hat Andrew nach deiner kleinen Ansprache gestern, die ich übrigens zu gern live miterlebt hätte, sein gebrochenes Herz beruhigen wollen, ist alleine spazieren gegangen und Ida ist ihm gefolgt, um ihn zu trösten.“ „Ida hat sich gestern merkwürdig verhalten“, sagte ich und ließ mich neben Sam auf die Couch fallen. Henny war unterwegs um die Zugtickets zu besorgen und Tom war damit beauftragt, Proviant für die Fahrt zu kaufen. „Vielleicht hätte ich sofort mit ihr sprechen sollen? Sie macht sich Vorwürfe, weil sie Eugenie so angegriffen hat, das spüre ich. Dann noch die ganze Sache mit Isaac und Regina … Gott!“ „Coon, ruhig Blut.“ Ich trank einen Schluck Kaffee und ließ die Tasse härter als nötig auf den Tisch knallen. „Manchmal vergesse ich, dass sie erst sieben ist. Ich hätte ihr nicht diese Einträge vorlesen sollen.“ Das Klingeln der Haustür ließ mich den Kopf heben. Sam war bereits aufgesprungen und riss die Tür auf. Hennys Augen trafen für einen kurzen Moment meine. Die Gläser ihrer Brille ließen sie unnatürlich groß für ihr Gesicht wirken. Ich wusste nicht genau, was es war, aber etwas in ihrem Blick ließ mich leichter atmen. „Hast du schon nach einer Nachricht gesucht?“, fragte sie und begann damit, die leeren Kaffeetassen vom Tisch zu räumen. „Vielleicht hat Andrew dir eine dagelassen, bevor er gegangen ist.“ Unsicher sah ich mich um, stand jedoch schließlich auf und ging zum Schreibtisch. Aber der Tisch war genauso unaufgeräumt wie ich ihn gestern verlassen hatte. „Nichts“, sagte ich frustriert. „Ich glaube, hier steht etwas auf der Rückseite“, verkündete Sam plötzlich. Ich war sofort an ihrer Seite. In der Hand hielt sie das Bild von Tom. Wie sie sagte, war eine Nachricht auf die unbemalte Seite gekritzelt.   Andrew ist in unserer Gewalt. Sie wissen, wo Sie uns finden.   Ein klammes Gefühl machte sich in meiner Brust breit und meine Kehle schnürte sich zu, als Sam sich zu mir umdrehte. „Holland“, sagte ich. Mein Gehirn fügte alle Puzzleteile zusammen. „Isaac ist nach meinem Test zu seinem Vater ins Büro. Wo Andrew auch war, wegen dem Job. Und Andrew meinte gestern, gottverdammte Scheiße, Sam, er hat von einem Test geredet!“ Sam sah mich entsetzt an. „Du glaubst doch nicht —“ „Er hat sich von Isaac besitzen lassen. Oder Isaac hat ihn besessen, ohne dass Andrew es gemerkt hat. Er war die ganze Zeit dabei, als ich ihm von Holland erzählt habe. Und als ich geschlafen habe, hat er die Kontrolle übernommen, die Nachricht geschrieben und Andrew entführt.“ Henny sah zu uns. „Aber was ist mit Ida? Warum weckt sie dich nicht, wenn sie merkt, dass Andrew weggeht?“ „Ich weiß nicht“, murmelte ich und biss mir auf die Lippen. Ich wollte das Bild in meiner Hand zerknüllen, aber stattdessen legte ich es auf den Tisch. „Vielleicht dachte sie, er wäre wegen meiner Abfuhr traurig und wollte ihn trösten, wie Sam sagte. Und jetzt folgt sie ihm.“ Ohne ein Wort zu sagen, stand ich auf, schnappte meinen Schlüssel und humpelte zur Tür. Sam und Henny folgten. Mein rechtes Bein hinter mir herschleppend, ging ich die drei Stufen vor meiner Haustür hinunter und sah mich auf der Straßenkreuzung um. Dank der Uhrzeit war noch nicht viel los und die Sonne hing hinter trüben Wolkenschwaden, die alles in Halbschatten warfen. „Coon, warte!“ „Was?“, fauchte ich. „Wenn du Recht hast, tappen wir genau in seine Falle. Was willst du tun, wenn wir dort ankommen?“ „Keine Ahnung“, sagte ich. „Mit Holland mitspielen, so tun, als würde ich seine Forderungen akzeptieren. Ida ist dort, Sam. Ist mir egal, wie riskant es ist, ich lasse weder sie noch Andrew bei diesen Psychopathen!“ Die Wahrheit war, dass ich mir ein Leben ohne Ida nicht mehr vorstellen konnte. Sie war meine Partnerin, aber sie war mehr als das. Sie war meine Freundin. Meine engste Vertraute. Meine kleine Schwester. An irgendeinem Punkt unseres Zusammenseins war sie genauso mein Anker geworden wie ich für sie. Ich konnte sie nicht zurücklassen. Es war in dem Moment, dass Tom auftauchte. Er winkte uns aus der Ferne zu und holte im Laufschritt auf, als er merkte, dass wir nicht langsamer wurden. Ich war zu aufgewühlt, um seine komplizierteren Gesten zu verstehen und überließ Sam die Interpretation. Sie war immer schneller darin gewesen, Gebärdensprache von ihm aufzuschnappen. Henny drückte mir unterdessen den Gehstock in die Hand, den ich in meiner Eile komplett vergessen hatte. Ich lächelte ihr dankbar zu und sie klopfte mir auf die Schulter. „Wir finden sie. Mach dir keine Sorgen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand in die andere Richtung. Wir wussten nicht, inwieweit die Autoritäten in Hollands Machenschaften eingeweiht waren, aber wenn jemand die Situation überprüfen konnte, dann war es Henrietta Glory, jüngste Juristin in der Geschichte von Distrikt 16. Tom, Sam und ich machten uns unterdessen auf den Weg zu Hollands Anwesen. Ich war nicht sicher, was uns dort erwarten würde, aber an Umkehren war nicht zu denken. Als mein Handy klingelte, blieb mir fast das Herz stehen. Fluchend kramte ich das kleine Gerät aus meiner Hosentasche und nahm den anonymen Anruf an. Ich musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, wer mich anrief. „Holland“, begrüßte ich den alten Mann und beschleunigte meine leicht hinkenden Schritte. „Ah, Ms. Thynlee, ich wusste, dass wir noch einmal sprechen würden.“ „Dann sprechen Sie.“ „Das werde ich, keine Sorge.“ Mein Griff um den Gehstock wurde schmerzfast fest, als ich mir sein selbstzufriedenes Grinsen vorstellte. „Aber solch delikate Angelegenheiten sollten nicht über das Telefon abgehandelt werden, finden Sie nicht auch?“ „Und warum sollte ich zu Ihnen kommen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort natürlich schon kannte. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser in meine Lunge gekippt. „Ihr gestriger Begleiter, Mr. Adams, kam heute Morgen zu mir. Er hat mich gestern um einen Job gebeten, wissen Sie? So viel Ehrgeiz und Aufopferungsbereitschaft sollte belohnt werden, finde ich.“ „Wenn Sie ihm etwas angetan haben —“ „Ihm ist nichts geschehen. Noch nicht. Allerdings …“ Er machte eine Pause und ich schluckte das Gefühl der Hilflosigkeit hinunter, das mich bei dem Gedanken daran, in welchem Zustand wir Andrew vorfinden würden, packte. Sam legte sanft eine Hand auf meinen Rücken, stille Unterstützung. „Allerdings?“, hakte ich nach, als klar wurde, dass Holland nicht von alleine weitersprechen würde. „Allerdings ist er derzeit nicht ganz Herr seines Körpers.“ Meine Gedanken schweiften zu Ida in Eugenies Körper, zu ihren willenlosen Gliedmaßen, den Erinnerungen, die Ida aus ihr hervorgelockt hatte. Ich wusste genau, was er meinte. „Ich bin unterwegs“, sagte ich und legte auf. Meine Hand drückte das Handy so fest, dass ich überrascht war, als es nicht in meiner Faust zerbrach. Sam drückte meine Schulter fester. Tom nickte stumm und formte eine sehr farbenfrohe Beleidigung mit seinen Händen. „Wir holen ihn zurück“, versprach sie. „Ihn und Ida. Und wir beenden seine Machenschaften ein für alle Mal.“ „Wenn er ihnen etwas angetan hat“, sagte ich und beschleunigte meine Schritte, „bringe ich ihn eigenhändig um.“ Den Rest des Weges schwiegen wir. Ich konnte den Gedanken an Andrew nicht ertragen und versuchte stattdessen, mich auf die Schmerzen in meinem Bein zu konzentrieren. Dank Sams Essigbandagen und den Schmerztabletten beliefen sie sich nur auf ein dumpfes Pochen. Ich hoffte, dass die betäubende Wirkung noch einige Stunden anhalten würde. Was immer uns auf Hollands Anwesen erwartete, ich wollte so fit wie möglich sein. Die Straßen waren wie leergefegt, bis auf Autos, die hier und da vor den hohen Wohnungshäusern parkten. Wir waren nur noch zwei Kreuzungen von der Grenze entfernt, als ich plötzlich ein schwarzes Schemen ausmachte. Ich blieb abrupt stehen, woraufhin Sam geradewegs in mich hineinlief. „Was ist?“, fragte sie. „Ich dachte, ich hätte Isaac gesehen“, sagte ich. Vorsichtig setzte ich mich wieder in Bewegung. Hatte ich mir die schwarze Gestalt nur eingebildet? Nein. Wenn ich einem meiner Sinne vollkommen vertraute, dann war es meinen Augen. Schwarz ohne gelben Schimmer bedeutete Dae. Entweder war uns also Isaac entgegengekommen, oder … Ich hatte keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken, denn da schoss Ida um die Ecke. Ihre schwarzen Füße trommelten stumm über den Asphalt, und je näher sie uns kam, desto heller wurde sie, bis sie plötzlich vom Boden abhob und in meine Arme flog. Ohne nachzudenken ließ ich meinen Gehstock los und fing sie auf. Sie sackte einige Zentimeter in mich hinein, aber ich drückte sie nur noch fester an mich, konnte sie nicht nah genug haben. Sie war wieder da. Ida war wieder da. >Coon, es tut mir so leid! Ich habe alles versucht, aber— „Shh“, flüsterte ich und warf Sam über Idas buschiges Haar hinweg einen erleichterten Blick zu. „Alles wird gut“, beruhigte ich Ida, ohne sie loszulassen. „Wir holen ihn zurück. Versprochen.“ Ida nickte und presste sich fester gegen meine Halskuhle. Wo sie mich berührte, kribbelte meine Haut mit Kälte. Meine Hände und Schultern wurden taub. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie nie wieder losgelassen.     Nachdem Ida sich beruhigt und auch Sam um den Hals geworfen hatte, gingen wir weiter. Jetzt, wo zumindest einer der beiden in Sicherheit war, fiel es mir leichter zu atmen. Ida sprach leise mit Tom, während Tom ihr leise und stotternd antwortete, ohne zu weit von meiner Seite zu weichen. „Ich hoffe, Henny geht es gut“, unterbrach Sam mein Gedankengewirr. Ich sah zu ihr. Ihre Stimme klang dünn und ihre Lippen waren zusammengepresst. Vielleicht hatte sie nur mit sich selbst gesprochen, aber jetzt, da ich sie gehört hatte, wuschelte ich ihr durch ihre blonden Locken. „Sie wird in dem Laden ordentlich aufräumen“, sagte ich grinsend. Sam warf mir einen schiefen Blick zu, ließ sich aber zu einem Lächeln hinreißen. „D-d-dort?“, fragte Tom plötzlich. Meine Augen folgten seiner ausgestreckten Hand. Die steingraue Fassade des Holland-Anwesens hob sich nur unmerklich gegen die Grenzmauer ab, die gut fünf Meter über dem flachen Dach emporragte und den trüben Himmel in der Mitte zu durchschneiden schien. Das eiserne Tor stand offen. Wir näherten uns vorsichtig, als sei es der Schlund eines riesigen Monsters und nicht der Eingang zu dem Gelände einer Villa. Ich trat als erstes ein, dicht gefolgt von Sam, Ida und Tom. Mein Blick huschte über den weiten Kiesplatz. Am Fuß der Treppe, etwa fünfzig Meter entfernt, stand Arnold Holland, Eugenie dicht an seiner Seite wie ein gut gekleideter Schatten. Selbst aus der Ferne konnte ich die Feindseligkeit spüren, die wie Hitze von einem zu heißen Ofen von ihr abstrahlte. Und zwei Meter entfernt, mit leerem Blick, stand Andrew. „Gottverdammte Scheiße“, murmelte ich, als ich Isaac nirgendwo entdeckte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich musste meinen Gehstock tief in den Kies drücken, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während wir den Platz vor dem Anwesen überquerten und einige Meter von Holland entfernt zum Stillstand kamen. Aus der Ferne war es mir nicht aufgefallen, aber jetzt sah ich, dass sowohl Andrew als auch Eugenie ein Messer in ihrer Hand hielten. Andrews hing lose in seinen Fingern, die Butlerin hielt ihre Waffe mit der Sicherheit einer Frau, die es schon viele Male genutzt hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie so hasserfüllt vor mir stehen zu sehen, wo ich ihren schluchzenden Körper doch erst gestern in meinen Armen gehalten hatte. Meine Nackenhaare stellten sich auf. „Ms. Thynlee.“ Ich zwang mich, zu Holland zu sehen, dessen honigtriefende Stimme mir das Bedürfnis gab, mich auf seine feinpolierten Lederschuhe zu übergeben. „Was wollen Sie?“, fragte ich grimmig. „Andrew hat nichts mit der Sache zu tun, also lassen Sie ihn gehen.“ „Das würde ich, meine Liebe“, sagte er lächelnd, „wenn ich nicht befürchten müsste, dass Sie sofort den Distrikt verlassen würden. Sie haben gestern einige unglückliche Entscheidungen getroffen und Ihre Nase in Angelegenheiten gesteckt, die nicht die Ihren sind.“ „Ihre Massenmorde?“, fragte ich wütend. „Inwiefern geht es mich nichts an, wenn Sie mein Leben auf's Spiel setzen und nebenbei darauf spekulieren, Ida Ihrem Dae als Dessert zu servieren?“ Neben mir zuckte Ida bei der Wortwahl zusammen, aber ich war zu aufgebracht, um Rücksicht zu nehmen. Ich konnte meine Augen nicht von Holland nehmen, der so unerträglich ruhig und selbstgefällig dastand, als gehöre ihm die Welt, als habe er sich nie in seinem Leben etwas zu Schulden kommen lassen. Ich schmeckte meine Abneigung gegen ihn förmlich auf meiner Zunge, Galle und gekaute Zigaretten. „Massenmorde?“, entgegnete Holland ungerührt. „Ich bitte Sie. Seit zwei Jahrzehnten beschütze ich meinen Distrikt, die gesamte Menschheit, vor der Gefahr, die unkontrollierte Dae und ihre Ankerpunkte darstellen. Können Sie sich die Katastrophe vorstellen, wenn ein zu starker Dae in der Innenstadt mit ansehen muss, wie sein Partner von einem Auto überfahren wird, oder einen Herzinfarkt erleidet, oder anderweitig verstirbt? Er wird zu einem Daemon, dem gefährlichsten von allen. Rachsüchtig, unerwartet, stärker als jeder herkömmlicher Daemon. Es gibt einen Grund, warum wir diese Mauern bauen, Ms. Thynlee. Sie beschützen uns vor dem Grauen, das dort draußen auf uns wartet.“ Plötzlich lächelt er versöhnlich. „Isaac und ich, wir entscheiden nicht wahllos über Leben und Tod. Wir überprüfen lediglich, ob die Partner der Dae auch ohne ihre Hilfe einen Kampf überleben könnten. Es ist eine reine Sicherheitsmaßnahme. Diejenigen, die es nicht schaffen, sind nun kein Risiko mehr für die Menschheit, und der Rest kann weiterhin seinen Kampf gegen Daemonen fortsetzen und seine Dae stärken, bis sie mit uns in den Krieg ziehen können.“ „Wovon redet er da?“, murmelte Sam tonlos neben mir. Ich schüttelte unmerklich den Kopf. Ich wusste es selbst nicht genau. Hollands Logik biss sich in den eigenen Schwanz. „Wenn starke Dae so ein Risiko sind“, begann ich, „was ist dann mit Isaac? Er frisst sein fast zwanzig Jahren Daemonen und Dae. Wieso ist er kein Risiko?“ „Isaac ist zu mächtig, um einfach zu mutieren“, entgegnete Holland abfällig. Andrew-Isaac drehte leicht den Kopf in seine Richtung, das einzige Zeichen, dass der Dae seinem Vater zuhörte. „Er hat seine Emotionen vor vielen Jahren aufgegeben. Er ist die ultimative Waffe für den kommenden Krieg.“ „Welchen Krieg?“ „Den Krieg gegen die Daemonen!“, schrie Holland. Einen Moment zuvor war er noch ruhig gewesen, jetzt flogen Speicheltröpfen aus seinem Mund, als er lautstark fortfuhr und sein Gesicht nahm eine ungesunde rote Farbe an. „Die Menschheit wird an den Rand ihrer Existenz getrieben! Alle paar Jahre verlieren wir ein weiteres Gebiet an die Daemonen, ziehen unsere Mauern enger. Wenn es so weitergeht, wird die Menschheit zusammengepfercht wie Schweine und unsere Rasse wird ausgelöscht werden. Isaac ist der erste Soldat einer Armee aus gemästeten Dae, die Daemonenkönige eigenhändig besiegen und das Ödland für uns zurückgewinnen werden!“ „Der erste?“, fragte ich. „Gibt es noch andere?“ Holland sah mich verächtlich an. „Natürlich gibt es die. Ich bin nicht der Einzige, der das Potential der Dae erkannt hat, auch wenn außer mir niemand die Züchtung so stark vorantreibt.“ „Menschen umbringt, meinen Sie.“ „Es ist ein notwendiges Übel, dass ich auf mich nehme!“, donnerte Holland und zog mit einer Gewandtheit, die ich ihm nie im Leben zugetraut hätte, eine Pistole unter seinem Jackett hervor. >COON! Ida warf sich vor mich, als würde ihr Körper in der Lage sein, eine Kugel abzufangen, und breitete die Arme aus. Im nächsten Moment schoss sie jedoch los und auf Holland zu, offensichtlich in der Absicht, durch ihn hindurch zu fliegen oder ihn zu besitzen, aber Andrew hob blitzschnell die Hand mit dem Messer und presste die Klinge so fest gegen seine Kehle, das einige Blutstropfen seinen blassen Hals herunterliefen. Ida hielt inne und sah hilflos zu mir zurück. Ich schüttelte den Kopf und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie zur Seite fliegen sollte. Vorsichtig hob ich meine freie Hand, um Holland zu beruhigen, doch die Adern an seiner Stirn pochten nur noch stärker auf. „Ich wollte Ihnen das Angebot unterbreiten, sich mir anzuschließen, Ms. Thynlee“, sagte er, dieses Mal in normaler Lautstärke, aber noch immer mit der kaum gezügelten Wut hinter seinen Worten. Mir lief der Schweiß über den Rücken. „Sie sind eine geborene Hunterin und ihr Dae hat sich bereits als äußerst geschickt bewiesen. Gemeinsam hätten wir die Menschheit beschützen können. Aber da Sie sich so von meinen Methoden abgeneigt sehen …“ „Vater?“ Holland drehte den Kopf, genau wie Eugenie, und auch ich lehnte mich zur Seite, um an den beiden vorbei zur Eingangstür der Villa zu sehen. Daniel stand, mit zerzaustem Haar und einem Morgenmantel um die Schultern, in der Tür und starrte unsere Versammlung an. Dann fiel sein Blick auf Hollands Pistole und wanderte hinüber zu Andrew-Isaac, der noch immer das Messer an seine Kehle presste. Die Zeit schien still zu stehen. Tom schluckte. Ida wimmerte. Ich ließ meine Hand sinken. Eugenie presste die Lippen aufeinander. Holland sah Dan ausdruckslos an. „Geh wieder hinein, Sohn“, sagte er. „Es gab ein Missverständnis, nichts weiter.“ „Du zielst mit einer Waffe auf Raccoon“, sagte Dan. „Mit der Waffe, von der du Mama versprochen hattest, dass du sie nie wieder anfasst.“ „Deine Mutter hat damit nichts zu tun“, knurrte Holland und wandte sich etwas mehr seinem Sohn zu. „Geh in den Salon und warte dort, wir sprechen später.“ „Nein.“ Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Wort so viel Kraft haben konnte. Dan machte einen Schritt die Treppe hinunter. „Isaac, was machst du da?“, fragte er in Andrews Richtung. „Warum bist du immer noch in Andrew? Der Test ist längst vorbei.“ „Daniel.“ Hollands Stimme bebte. „Geh. Sofort.“ Dan dachte nicht daran. Er nahm die letzten Treppenstufen und stellte sich ungerührt zwischen den Pistolenlauf und mich. Ich konnte seine Miene nicht sehen, aber seine Stimme nahm einen finsteren Unterton an. „Was zur Hölle geht hier vor sich?“ Also hatte Dan doch nichts gewusst. Das ließ mich dankbar aufatmen, auch wenn sich mein Herz jetzt bei dem Gedanken zusammenzog, dass Dan im Falle einer abgefeuerten Waffe derjenige sein würde, dessen Innereien auf dem Kies landeten. „Dein Vater lässt seit fast zwanzig Jahren regelmäßig Menschen in eurem Keller sterben, damit Isaac ihre mutierten Dae fressen kann“, erklärte ich. „Ich wäre dort unten fast von einem Daemon gebissen worden und Isaac hat nichts unternommen, um mich zu retten. Ida und ich haben die Tagebücher deiner Mutter gefunden, ich wette, wenn du dort unten suchst, wirst du —“ „GENUG!“, schrie Holland und ich zuckte zusammen. Dan drehte sich wie in Zeitlupe zu mir um. „Ist das wahr?“, fragte er, schüttelte jedoch sofort den Kopf. „Das kann nicht sein, Isaac würde nie … er könnte nicht …“ „Wir haben es für dich getan, du undankbarer Junge!“, knurrte Holland und zog damit die Aufmerksamkeit seines Sohnes wieder auf sich. „Dein Bruder ist gestorben, um dich vor einem wilden Daemon zu beschützen und hat sich danach weiter für dich aufgeopfert, damit du in einer sicheren Welt leben kannst und damit er stark genug ist, dich immer zu beschützen! Du musst verstehen, dass wir all das nur für dich getan haben!“ „Für mich?“, fragte Dan heiser. „Ihr habt gemordet und es in meinem Namen gerechtfertigt?“ Er machte einen Schritt vor. „Nein, da ist noch mehr. Mama ist dahintergekommen, oder? Deshalb ging es ihr so schlecht. Deshalb hast du sie geschlagen und —“ „Regina hat nicht verstanden, wofür wir arbeiten, was auf dem Spiel steht —“ „Du hast unsere ganze Familie zerrissen! Wegen dir ist Isaac so kalt geworden, wegen dir ist Mama …“ Er verschluckte sich halb an seinen Worten, so schnell sprudelten die Anschuldigungen aus ihm heraus. „Du hast sie geschlagen und in den Selbstmord getrieben, du verdammtes Arschloch!“ Der Schuss fiel, bevor ich richtig verstand, was geschah. Ich sah regungslos dabei zu, wie Holland schweratmend auf seine Hand starrte, so als könne er nicht glauben, dass sie ihn verraten hatte. Die Waffe glitt aus seinen Fingern. Ich sah Eugenie, die eine Hand vor ihren Mund presste. Sah Ida, die pechschwarz wurde und zu Boden sank. Und ich sah Dan, der leblos vor mir zu Boden stürzte und das Blut, das den grauen Kies rot färbte. Kapitel 7 --------- Für einige Sekunden herrschte absolute Stille. Ich konnte meine Augen nicht von Dan nehmen. Sein Morgenmantel hing halb offen, sein rechtes Bein lag zur Seite gewinkelt und Blut durchsickerte sein weißes T-Shirt. Seine Augen waren geöffnet, die Haut in seinem Gesicht bereits blass und wächsern. Ich hatte viele Tote in meiner Laufbahn gesehen. Dan hätte nur einer von vielen sein sollen. Aber ich erinnerte mich an die Wärme seiner Hände, als er mir nach der Rottenexzision die Treppen hinunterhalf. An den Schmerz in seiner Stimme, als er mir von Isaac erzählte, an Ida und Lorene, die ich beide nicht hatte retten können und die genau wie er blutend vor mir gelegen hatten. Halb erwartete ich, dass sein Geist aufsteigen und ich ein letztes Mal mit seinem Dae würde sprechen können, bevor er sich verflüchtigte. Aber Dan war nicht durch einen Daemon gestorben, sondern durch eine Kugel. Abgefeuert von seinem Vater. Ich hob den Kopf und sah gerade rechtzeitig, wie Holland einen Schritt zurückwich, über seine Füße stolperte und zu Boden ging. Er kroch rückwärts. Eugenie ging neben ihm auf die Knie. Ein Wimmern durchbrach die Stille. Mein Blick schwenkte zu Andrew. Er sah Dans Leiche mit einer Mischung aus Horror und Unglauben an. Seine Hand sank herab, das Messer fiel klackernd in den Kies. Ein Wehklagen, wie ich es noch nie in meinem Leben gehört hatte, drang aus seinem geöffneten Mund, als presse seine Stimme sich erst durch einen Metallschredder, bevor sie an die Luft gelangte. Das Volumen schwoll an, bis sich ein Ringen in meinen Ohren breitmachte. Andrews Kopf kippte nach hinten und sein Mund öffnete sich so weit, dass ich Angst hatte, sein Kiefer könnte brechen. Stattdessen krallten sich schwarze Finger in seine Wangen, zogen einen Arm nach sich und hievten, bis Isaacs ganzer Oberkörper als Rauchsäule aus Andrew hervorkam und sich über seinem Gesicht verfestigte und wuchs. Und wuchs. Ich sah mit Grauen dabei zu, wie Isaacs schwarzer Körper anschwoll, wie seine Augen hervortraten und sich gelb färbten, wie sein Mund einem Maul voller spitzer, schwarzer Zähne wich, alles untermalt von dem kreischenden Geräusch, das der Dae von sich gab. Er zog seinen verbliebenen Fuß aus Andrews Mund, der hustend zur Seite kippte und sich geräuschvoll übergab. Isaac sank auf alle Viere, sein Körper weiter pulsierend. Der schwarze Nebel, der ihn umhüllte, verdichtete sich zu immer mehr Masse, bis der mutierte Dae so groß war, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste. Panik schnürte sich wie Stahlseile um meine Brust. Dans kleiner Bruder verwandelte sich vor meinen Augen in einen Daemonenkönig; und ich konnte nichts dagegen tun. „Isaac“, sagte Holland, seine Stimme gebrochen. „Isaac, mein Junge. Alles wird gut. Du kannst weiterhin helfen, die Menschheit zu retten. Du musst mir nur vertrauen.“ Er lachte gezwungen. Isaacs gigantischer Schädel schwenkte zu seinem Vater herab, der gute fünf Meter unter ihm am Boden saß. »Die Menschheit? Seine Stimme war Donnergrollen, gemischt mit kreischendem Metall und dem Brüllen eines Raubtiers. Sie verdrängte alle anderen Geräusche von dem Vorplatz des Anwesens und verursachte mir Kopfschmerzen. »Die Menschheit war mir egal! Und bevor ich etwas tun, bevor ich auch nur meine Hände heben konnte, öffnete sich Isaacs Maul und schloss sich um den Kopf seines Vaters. Hollands kopfloser Körper fiel von Isaacs Zähnen ab, als dieser fest zubiss. Eugenie stieß einen markerschütternden Schrei aus und warf sich mit gezücktem Messer auf Isaac, der blitzschnell mit seiner Pranke ausholte und die Butlerin mit einem Schwung in Stücke riss. Ihr zerfetzter Körper kam einige Meter entfernt zum Liegen. Ich unterdrückte den Würgereiz, der sich meinen Hals hochkämpfte und machte einen Schritt zur Seite, weg von Dan, Richtung Ida und Andrew, der mit weit aufgerissenen Augen auf dem Hosenboden saß und zu dem Ungetüm empor sah, das aus ihm herausgeklettert war. Und immer noch wuchs Isaac. „Coon, wir haben ein Riesenproblem“, sagte Sam neben mir. Ich hatte völlig vergessen, dass sie und Tom noch hinter mir standen. „Hauen wir ab?“ Mein Blick huschte zu Isaac zurück, der allmählich der Villa hinter sich Konkurrenz machte und nun damit beschäftigt war, eben jene mit seinen gewaltigen Armen zu zertrümmern. „Wir können ihn nicht in die Innenstadt vordringen lassen“, sagte ich. Tom trat an meine Seite, klein und grimmiger denn je. Mit den Händen formte er eine Flut aus Zeichen. Sam übersetzte. Er sagt, „Wir müssen ihn aufhalten. Der Platz hier ist frei von Zivilisten. Einen besseren Ort zum Kämpfen finden wir nicht.“ „Er hat Recht“, stimmte ich zu. „Hier ist es ideal.“ „Du kannst nicht wirklich vorhaben, dieses Ding anzugreifen!“ Sam sah von Tom zu mir, hilfesuchend. „Coon, das ist Wahnsinn! Dir war der Kampf gegen Idas Daemon schon zu riskant. Das hier ist Selbstmord!“ Ich schluckte. „Es ist Selbstmord“, stimmte ich zu. „Aber wenn wir Isaac nicht aufhalten, legt er den gesamten Distrikt in Schutt und Asche. Hunderte werden sterben, bevor die Hunter ihn unter Kontrolle bringen. Wir müssen ihn zumindest ausbremsen und schwächen, bis Verstärkung eintrifft.“ „Verstärkung.“ Sams Augen nahmen einen entschlossenen Ausdruck an. „Also gut, gib mir ein paar Sekunden.“ Sie verschwand mit ihrem Handy am Ohr. Ich nutzte die Ablenkung, die uns die Villa bescherte, um zu Ida zu laufen. Mein Bein tat weh, aber das Pochen verblasste neben der aussichtslosen Situation. >Coon … Ida sah mich verzweifelt an. „Hör mir zu“, sagte ich eindringlich und griff ihre schwarze Hand. „Wir werden versuchen, Isaac aufzuhalten, damit er nicht ungebremst den Distrikt auseinandernimmt. Tom, Sam und ich werden eine Cross-Hatch-Exzision starten und unsere Muster überlappen, aber wir werden deine Hilfe brauchen. Du weißt, was zu tun ist?“ Ida sah zu Isaac, der nun die zehn Meter Marke überschritten hatte. Groß wie ein Haus, genau wie ich befürchtet hatte. Sie nickte mir entschlossen zu. >Verlass dich auf mich. Ich nickte und lief an ihr vorbei zu Andrew, der sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte. „W-was ist das?“, flüsterte er. Seine Stimme zitterte. Wie er so da saß, mit seinen dunkel umrandeten Augen und seinen eingerissenen Mundwinkeln, tat er mir plötzlich unendlich leid. Sam und Tom waren Veteranen. Sie wussten, wie man gegen Daemonenkönige kämpfte, selbst wenn sie es noch nie getan hatten. Andrew war gerade ein halbes Jahr aus seiner Ausbildung raus. Es war nicht fair, dass er jetzt schon mit so etwas konfrontiert wurde. „Andrew, kannst du stehen?“ „Ich …“ Er stockte, sah zu mir auf. Ich hielt ihm meine freie Hand hin. Egal was vorgefallen war, jetzt war nicht die Zeit, darüber zu reden. Er schien zu dem gleichen Schluss zu kommen, denn er ließ sich von mir auf die Füße helfen und kam wacklig auf die Beine. „Warum bin ich nicht bewusstlos?“, fragte er. „Dan sagte, du hättest Isaac freiwillig Kontrolle übernehmen lassen“, mutmaßte ich. „Vielleicht hat es damit zu tun. Hör zu, wir müssen Isaac aufhalten. Sam mobilisiert gerade so viel Verstärkung wie möglich, aber es wird mindestens eine halbe Stunde dauern, bis sie hier sind, je nachdem wo die Hunter stationiert sind. Weißt du, wie eine Cross-Hatch-Exzision funktioniert?“ Andrew sah mich unsicher an. „Ich hab mich ein bisschen mit der Theorie beschäftigt, aber nicht wirklich eingehend —“ Isaac brüllte. Wir fuhren zu dem Daemon herum, der sich von der zerstörten Villa abwandte und langsam auf uns zu bewegte. Schwarzer Geifer troff aus seinem Maul. Uns lief die Zeit davon! „Wir kümmern uns um die Exzision“, fuhr ich schnell fort, während ich Andrew mit mir zu Tom und Sam zerrte, wo Ida bereits mit ihnen wartete. „Alles, was ich von dir will ist, dass du Fixierungsschlüssel auf dieses Ding schleuderst, als gäbe es kein Morgen mehr. Mach keine Pausen, werde nicht langsamer! Wir haben keine Zeit, uns Intervalle für die Fixierung zurechtzulegen, das heißt, wir werden nur schwächen. Du bist der Einzige, der uns Isaac vom Leib hält, okay?“ Andrew schluckte. „Okay.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter und humpelte zu Sam und Tom. „Ich dachte an eine inverse trigonale Leiter, alle damit einverstanden?“ Was Muster anging, war es eine der simpleren Varianten, aber wir hatten keine Zeit, etwas Hochkomplexes einzustudieren. Die beiden nickten. „Gut. Tom, du gibst den Rhythmus vor und übernimmst die Basis. Ich starte aufsteigend, Sam startet absteigend. Knotenpunkt bei Kat3.“ „Ich habe Henny erreicht“, sagte Sam. Ihr Blick huschte zu Isaac, der nur noch etwa zwanzig Meter entfernt war. Sein gewaltiger Körper warf einen großen, unförmigen Schatten auf uns alle. Eine Gänsehaut kletterte meine nackten Arme herab. „Der Chief wusste von Hollands Machenschaften, aber da jetzt alles den Bach runtergeht, hat er sich auf unsere Seite geschlagen. Er schickt alle Hunter mit Kapazitäten in unsere Richtung. Henny kümmert sich gerade um die Evakuierung.“ Zufrieden nahm ich Stellung auf, ließ meinen Gehstock zu Boden fallen und streckte meine Arme aus. Meine überlappten Finger formten ein Dreieck in ihrer Mitte, das ich auf Isaac fokussierte und kleiner zog, bis ich sicher war, dass meine Schwächungsschlüssel ihn mit maximaler Kraft treffen würden. Tom stellte sich etwa zwei Meter rechts von mir auf, Sam weitere zwei Meter rechts von ihm, so dass er in der Mitte stand. Andrew nahm seine eigene Position einige Meter links von mir auf. Zusammen formten wir einen losen Halbkreis, der Isaac von dem Rest von Distrikt 18 abgrenzte. Ida flog an meine Seite. Wie sie es schaffen sollte, wieder weiß zu werden, war mir ein Rätsel, aber in ihrem jetzigen Zustand war sie zu unflexibel, um gegen Isaac anzukommen. Neben mir begann Tom seinen Countdown. „Z-zehn. Neun.“ Mein Herz klopfte heftig gegen meine Rippen. „Acht. S-sieben. Sechs.“ Ich hatte noch nie gegen einen Daemonenkönig gekämpft. Wenn wir so ein Szenario in der Basis besprochen hatten, war es immer mit einem Dutzend Huntern gewesen. „Fünf. Vier.“ Isaacs Grollen ließ uns alle erzittern und ein Tinitus füllte mein rechtes Ohr mit einem durchdringenden Piepen. „Drei. Z-zwei. Eins —“ Wir holten tief Luft. „Abire!“ „Decedere!“ „Mori!“ Links von mir begann Andrews einsames Mantra. „Sidere, Sidere, Sidere, Sidere …“ Toms Fuß stampfte auf. „Deficere.“ „Decedere.“ „Occidere.“ Ein weiterer Fußtritt. Unsere Stimmen überlagerten sich. „DECEDERE!“ Der erste Knotenpunkt rollte als spürbare Schockwelle in Isaacs Richtung. Er gab ein heiseres Grollen von sich, als schwarzer Rauch von seinem gebogenen und gehörnten Rückgrat aufstieg. Seine Pranke schwang vor, Andrew sprang zur Seite, bevor er von der Kralle aufgeschlitzt werden konnte, rollte sich ungelenk ab, und kam mit erhobenen Händen wieder auf die Füße. Obwohl er zwischen seinen Fixierungsschlüsseln kaum Luft holte, kam Isaac ungerührt näher. Toms Fußsignal riss mich zurück ins Geschehen. Ich hatte keine Zeit, Andrew über die Schulter zu schauen! „Occidere.“ „Decedere.“ „Deficere.“ „Mori.“ „Decedere.“ „Abire.“ Meine Kehle vibrierte mit der Kraft der Schlüssel, die wir synchron auf Isaac warfen. Schwarzer Nebel umhüllte seinen gewaltigen Schädel wie eine formlose Krone, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass er schrumpfte. Bei diesem Tempo würde es ewig dauern, bis wir seine Masse auf eine exzisierbare Größe reduziert hatten. Isaac bewegte sich unaufhaltsam in unsere Richtung. Der Boden erzitterte unter seinem Gewicht. Als hätten wir uns abgesprochen, trat unsere gesamte Gruppe einige Schritte zurück. „Occidere.“ „Decedere.“ „Deficere.“ „DECEDERE!“ Der zweite Knotenpunkt pulsierte durch die Luft. Die Magie überlagerte sich, wurde immer stärker, bis ich zum ersten Mal in meinem Leben die Schwächungsschlüssel sehen konnte. Rotschwarzes Knistern in dem Hohlraum meiner Hände, das sich fokussierte und als dreieckiger Lichtstrahl auf Isaac zuschoss. Wo mein Schwächungsschlüssel die nachtschwarze Haut des Daemons traf, zerplatzte er in ein Netz aus wirr verlaufenden Lichtfäden, das sich mit denen von Sam und Tom verband. Wo immer die roten Linien sich kreuzten, entsprang ein neues Muster aus zerstiebenden Lichtfäden. Ich schielte zu Tom, um herauszufinden, ob er die Schlüssel ebenfalls sehen konnte, ob es eine Folge unserer Cross-Hatch-Exzision war, die die Kraft unserer Worte so verstärkte, dass sie sichtbar wurden, oder ob es eine weitere Nebenwirkung meiner Fähigkeit war, die gelbe Energie von Daemonen sehen zu können. Oder beides. „Deficere.“ „Decedere.“ „Occidere.“ „Sidere. Sidere. Sidere. Sidere. Sidere.“ „Abire.“ „Decedere.“ „Mori.“ Die roten Linien pulsierten, als seien sie Adern und Venen, die Blut transportierten, unsere Rufe der Herzmuskel, der die Bewegung hervorrief. Wir hatten die erste trigonale Leiter abgeschlossen und Isaac brüllte, als die roten Fäden seinen gesamten Körper umspannten und er an allen Knotenpunkten schwarze Masse verlor, die als dunkle Schlieren emporstieg und die Luft mit dem Geruch fauler Eier füllte. Ein Schweißtropfen lief meine Wange entlang. Neben mir murmelte Ida tonlos vor sich hin. Ich wagte nicht, zu lange in ihre Richtung zu schauen; ich war zu beschäftigt damit, auf Toms Signale zu lauschen. Wir begannen das Exzisionsmuster erneut, die Wiederholung eine zusätzliche Verstärkung der Schlüssel, die aus unseren Händen schossen. Andrews Fixierungsschlüssel füllten die Luft wie eine Lawine aus Magie. Während ich das Muster fortsetzte, bemerkte ich die grünen Lichtfäden, die wie Ranken aus dem Boden sprossen und Isaacs Beine umwickelten. Ich konnte mir vorstellen, wie sie einen anderen Daemon in Sekunden gefesselt und abrupt zu Boden gerissen hätten, aber Isaac war zu stark, zu groß, zu schwer, und sie hielten ihn nicht mehr zurück als Spinnenweben. Wenn ich nicht so auf Isaacs Beine fokussiert gewesen wäre, hätte ich vermutlich nicht bemerkt, wie er blitzschnell vorsprang und auf uns zuraste. „ZURÜCK!“, schrie ich, bevor Tom das Zeichen für den nächsten Schlüssel geben konnte. Er folgte meinem Beispiel und stolperte rückwärts, während Andrew zur Seite sprang, die Augen zusammengekniffen, als könnte er dem Geschehen dadurch entgehen. Sam reagierte als letzte. Ich sah mit Horror, wie Isaacs Klaue vorschnellte und seine messerlangen Krallen auf ihr Gesicht zuflogen. Wenn er sie traf, würde er ihren Kopf abreißen. Ich konnte noch Sams atemloses Protectio hören, sah den weißen Schutzschild, der sich wie Wasser über ihrer Haut ausbreitete—bevor Isaacs Pranke traf und meine beste Freundin in die Luft schleuderte, wo sie sich mehrmals um die eigene Achse drehte und mit einem dumpfen Laut einige Meter hinter uns im Kies landete. „SAM!“, schrie ich, wurde jedoch im nächsten Moment von Tom von den Füßen gerissen. Eine schwarze Hand raste über unsere Köpfe hinweg und schlug knirschend auf dem steinigen Untergrund auf. Tom drückte mich zu Boden, doch ich riss mich los und krabbelte auf Sam zu, die wimmernd auf dem Rücken lag und eine Hand fest gegen ihren Bauch gedrückt, offensichtlich gebrochen. Die andere war gegen ihr rechtes Auge gepresst. Blut lief zwischen ihren Fingern hindurch. „Sam, Sammy, ich bin hier, schau mich an.“ Sie stieß einen Fluch aus und biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Schwerfällig öffnete sie das gesunde Auge. Tränen liefen in den Haaransatz hinter ihren Ohren. „Gib … gib mir eine Sekunde …“, flüsterte sie. „Ich kann weitermachen.“ „Du brauchst einen Arzt!“, entgegnete ich wütend. „Du kannst so nicht weiterkämpfen!“ „Und wer soll es dann tun?“, fauchte Sam zurück und setzte sich stöhnend auf. Sie hielt ihre gebrochene Hand weiter stur gegen ihren Bauch. „C-coon!“, schrie Tom. „Ich b-brauche deine Hilfe, wir verlieren das M-m-muster!“ „Gleich!“, rief ich zurück. Sam spießte mich mit ihrem Blick auf. „Geh sofort zurück an deinen Posten, verdammt.“ Sie ließ die gesunde Hand sinken und ich holte erschrocken Luft. Wo einst ihr grünes Auge gewesen war, klaffte nur noch eine blutige Wunde. „Sam …“ „COON!“ Ich riss mich von dem Anblick los und stand auf. Mit leicht nachziehenden Schritten schleppte ich mich zu Tom zurück, der mit Andrew allein die Stellung hielt. Ida saß am Boden und schlug sich wieder und wieder gegen den Kopf. Ihre schwarze Farbe war etwas zurückgegangen, aber sie war immer noch sehr dunkel. Isaac näherte sich langsam, als genieße er die Angst, die seine Bewegungen in uns schürte. Mir kam der Gedanke, dass er nur mit uns spielte. „Ich übernehme Sams Abschnitt“, sagte ich und hob meine Hände. Die roten Lichter auf Isaacs Körper waren während der Unterbrechung verblasst. Tom schielte von Sam zu mir. „Bist du sicher?“, fragte er mit seiner Zeichensprache. „Wir können die Basis aufgeben.“ „Zu schwach“, entgegnete ich. „Ich mache die Basis.“ Überrascht sah ich zu Andrew hinüber, der die Hände sinken ließ. „Meine Fixierung bringt nichts. Ich kann genauso gut die ganze Zeit Decedere sagen.“ Tom nickte. „Wo er Recht hat …“ „Also gut“, sagte ich und atmete tief durch. „Stampf mit dem Fuß auf, wenn du —“ „Ich weiß, was ich tun muss.“ Er sah mich vielsagend an. „Ich habe euch die ganze Zeit beobachtet.“ Klar. Ich schüttelte mich. Sams Verletzung hatte sich in mein Gehirn gebrannt und ließ mich nicht los. Ich musste mich auf den Kampf konzentrieren, das Hier und Jetzt. „Auf drei“, sagte Andrew und wir hoben in Tandem unsere Arme. „Eins, Zwei, Drei!“ Sobald unsere Schwächungsschlüssel wieder ein Muster bildeten, erwachten die roten Lichtranken pulsierend zum Leben, umso stärker, wenn wir einen Knotenpunkt oder das Ende der trigonalen Leiter erreichten. Alle paar Rufe traten wir einige Schritte zurück, hielten Isaac auf maximalem Abstand. Ida lief neben mir her, so tief in sich selbst versunken, dass ich Angst bekam, sie könnte auf Grund des Stresses selbst zum Daemon werden. Hinter uns robbte Sam weg und riss Streifen ihres Tops ab, die sie verwendete, um ihre Augenhöhle auszustopfen und zu verbinden. Ihr Wimmern klang in meinen Ohren nach. Meine Finger zitterten. Ich sah zu Isaac zurück. Der schwarze Rauch, den er absonderte, verdeckte einen Streifen des grauen Himmels und ließ es wie Nacht erscheinen, zumindest im Schatten des gewaltigen Daemons. Er war seit Beginn unserer Exzision geschrumpft, aber er war immer noch so groß wie ein hochkant stehender Bus. Plötzlich veränderte sich sein Bewegungsmuster. Er presste sich flach gegen den steinigen Untergrund und krabbelte wie eine vierbeinige Spinne auf uns zu. Die Folgen für mein Bein in den Wind schlagend, rollte ich mich zur Seite ab und kam mit erhobenen Armen wieder aus, gerade rechtzeitig, um mich nach hinten fallen zu lassen, bevor seine langen Fangzähne mich in Stücke reißen konnten. Der gewaltige Schädel zog sich über mir zurück. Gelbes Licht strahlte stoßweise von ihm ab, während er den Kopf senkte und auf mich herabsah. Geifer tropfte in schleimigen Fäden auf meinen Bauch und meine Oberschenkel. Isaac fletschte die Zähne. >NEIN! Ida schoss an mir vorbei und geradewegs in Isaacs Gesicht, wo sie im Bruchteil einer Sekunde pechschwarz wurde, sich mit allen vieren in seiner Masse festkrallte und einen großen Fetzen aus Isaacs Wange biss. Der Daemon taumelte zurück, bäumte sich auf die Hinterbeine auf und schlug nach Ida, die sich von ihm abstieß, im Fall schneeweiß wurde und unter seinen Armen hindurchtauchte. Ich sah wie betäubt bei ihrem blitzschnellen Hin- und Herwechseln zu, bis Andrews lautes Fußstampfen mich zurückholte. Mit zitternden Gliedmaßen rief ich meinen Schwächungsschlüssel und sah zufrieden dabei zu, wie Ida in Isaacs Nacken landete und ein weiteres großes Stück aus ihm herausriss, während sein gesamtes Rückgrat sich in Rauch auflöste. Als ich wieder auf den Füßen war, warf Andrew mir einen kurzen Blick zu. Ich konnte Erleichterung und Unglauben darin lesen; er musste wie ich geglaubt haben, dass mein letzter Moment auf Erden gekommen war. Stattdessen gab Ida uns einige Sekunden Zeit, Abstand zu nehmen und den Rhythmus unserer Exzision wieder aufzunehmen. Andrew gab ein schnelleres Tempo vor als Tom, aber ich konnte es ihm nicht verübeln. Mein Herz raste und ich wollte Isaac so schnell wie möglich schwächen, damit niemand mehr verletzt wurde. Sam … nein, ich durfte jetzt nicht an sie denken. Sie war okay. Sie musste okay sein. Für einige Minuten gelang es Ida, Isaac mit ihren Flugkünsten abzulenken. Sie war bereits mehrmals mit zusätzlicher Masse angeschwollen, hatte diese jedoch stets in ihren kleinen Mädchenkörper konzentriert. Aber nachdem wir den Daemon mit unserer Cross-Hatch und ihren Angriffen um etwa zwei Meter geschrumpft hatten, wurde sie langsamer. Statt milchigem Weiß war ihre hellste Färbung nun ein dunkles Mausgrau, und das Fliegen fiel ihr zunehmend schwerer. Neben mir wurden Andrews Signale langsamer. Er hatte von Anfang an mehr Schlüssel benutzt als wir, und seine Stimme war inzwischen heiser und brüchig. Mehrmals musste er das Muster wegen eines Hustenanfalls unterbrechen. Tom und mir stand der Schweiß auf der Stirn und unsere Arme zitterten. Lange hielten wir nicht mehr durch. Wo war die verdammte Verstärkung? Isaacs Pranke schlug nach Ida, die in seinem Nacken saß und ihr Gesicht in seiner Masse vergraben hatte. Sie wurde hell, aber nicht schnell genug und seine Krallen fuhren durch ihren halbdurchlässigen Körper und rissen sie zu Boden. Ida stöhnte, als sie in Zeitlupe von seinen Klauen rutschte. „DECEDERE!“ Unser Knotenpunkt lenkte Isaacs Aufmerksamkeit wieder auf uns. Mein Rachen pochte und meine Zunge fühlte sich schwer und taub in meinem Mund an, aber ich ließ nicht locker. Je mehr sich die Muster überlagerten, umso stärker der Effekt. Isaacs schwarzer, bulliger Körper war gehüllt in ein Meer aus roten Lichtern, die ihn von Kopf bis Fuß bedeckten. Ida rappelte sich auf. Ich nutzte die kurze Pause zwischen zwei Schlüsseln, um zu ihr zu sehen. „Alles okay?“ >Mir … mir ist schwindelig. Und schlecht. Sie verzog das Gesicht und rieb sich über den Bauch. Die Löcher, die Isaacs Krallen hinterlassen hatten, flossen zusammen wie zähflüssiges Gelee. „Mori. Du machst das super, Ida, gib nicht auf!“ Ihre Augen nahmen einen feurigen Ausdruck an. >Niemals. Ihre Zuversicht gab mir neue Kraft. Ich straffte die Schultern und machte einen Schritt zurück, dicht gefolgt von Tom und Andrew. Ida wurde einige Schattierungen heller und warf sich zurück in den Kampf. Hinter mir knirschte Kies und ich sah mich rasch um. Sam hatte sich aufgerappelt. Ihr Auge war notdürftig verbunden, die Stoffstreifen blutgetränkt. Sie bezog neben mir Stellung und hob ihre Arme. Ihr rechter nahm die richtige Position ein, doch ihre gebrochene Hand hing nur lasch herab. „Geh zurück“, sagte ich, bevor Andrews Signal mich zu einem neuen Schlüssel zwang. „Bitte, Sam.“ „Ich kann nicht einfach … danebenstehen und nichts tun.“ Ihre Stimme klang fest, aber die kleine Atempause verriet die Schmerzen, in denen sie sich noch immer befand. Mein Gehirn ratterte alle Varianten ab, mit denen Sam sich in unser Muster einklinken konnte, ohne es zu unterbrechen. „Ich werde nur fixieren“, sagte Sam, bevor ich etwas sagen konnte. „Im Vergleich zu vorher ist Isaac ja jetzt ein Winzling.“ Schnaubend widmete ich mich wieder meiner Exzision. „Kaum die Arbeit wert.“ „So ist es.“ Tom unterbrach uns. „K-konzentriert euch.“ Ich warf ihm einen neckenden Blick zu und sah gerade noch, wie Ida von Isaac davongeschleudert wurde—geradewegs durch Toms Brust. Sein Gesicht wurde aschfahl, seine Knie knickten ein und sein Mund öffnete sich in einem überraschten Oh. Dann schlug Isaac nach ihm. „P-protectio!“ Zu spät. Zu spät, zu spät— Hilflos sah ich dabei zu, wie Ida aus seinem Oberkörper herausfiel, wie Tom schützend einen Arm vor sich austreckte, wie der weiße Schutzschild auf seiner Brust begann und sich über seinen Körper ausbreitete. Wie Isaacs Klaue in seinem Arm versank und die Gliedmaße unterhalb des Schultergelenks abriss. Blut spritzte auf den Kies und in sein blasses Gesicht. Tom starrte ungläubig auf die Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch sein Arm gehangen hatte. Ich musste bei dem Anblick würgen. Der erste Schock verebbte und Tom schrie. „Coon, das Muster!“ Mit zugeschnürter Brust sah ich von Tom weg zu Andrew, der hilflos Richtung Isaac nickte. Als spürten die Schlüssel, dass ein Teil von ihnen nicht erneuert werden konnte, verblassten die roten Lichtfäden einer nach dem anderen. Ich sah zurück zu Tom. Wenn wir Isaac nicht aufhielten, hatte Sam ihr Auge und Tom seinen Arm umsonst verloren. Sie waren hier, weil sie wussten, dass es das richtige war. Obwohl die Chancen nie gut gestanden hatten. Ich würde sie nicht enttäuschen. „Andrew, bleib bei der Basis! Benutz einen Drei-Sekunden-Rhythmus.“ Ich holte tief Luft. Bisher hatte ich von dem Manöver, das ich benutzen wollte, nur in Büchern gelesen. Und es war alles andere als gesund. Wenn ich es zu lange benutzte, konnte ich anhaltende Schäden davontragen. Wie Sam. Wie Tom. Meine Entscheidung war getroffen. Andrews Decedere hallte durch die Luft. Ich wartete eine Sekunde, dann rief ich in tiefer Stimmlage Toms Schlüssel, „Occidere!“. Und eine weitere Sekunde später in hoher Stimmlage, „Deficere!“. Ich spürte die Konsequenzen auf der Stelle. Meine Kehle brannte wie Feuer und meine Zunge fühlte sich an wie ein Brocken Blei in meinem Mund. Aber Andrew machte weiter und ich ließ das Muster nicht zerfallen. Nicht so kurz vor dem Ende. Dadurch, dass wir die Schlüssel nicht mehr überlagerten, sondern staffelten, verlor das Muster an Stärke, aber es war besser als nichts. Mir blieb zwischen den Rufen, die immer anstrengender wurden, kaum Zeit, auf etwas anderes zu achten, als Isaac auszuweichen und ihn trotzdem mit meinen Schlüsseln zu treffen, aber ich sah lange genug zu Tom, um Sam zu erkennen, die seinen Armstumpf mit ihrem Gürtel und mehr Stoffstreifen abschnürte. Erleichtert widmete ich mich wieder dem Geschehen vor mir. Ida hatte sich aufgerappelt, aber Isaac nicht erneut angegriffen. Jetzt, wo sie nicht mehr fliegen konnte, war ihr größter Vorteil verloren gegangen, und ich vermutete, dass sie nicht gegen uns eingesetzt werden wollte. Toms Verletzung musste ihr einen heftigen Schlag versetzt haben. Ich konnte es ihr nicht verübeln, aber wir brauchten trotzdem ihre Hilfe. Statt auf Andrews Schwächungsschlüssel zu warten, klatschte ich zweimal schnell hintereinander, das universale Hunterzeichen für Pause. Andrew hielt mit geöffnetem Mund inne und sah panisch zu mir. Seine Rufe waren immer leiser geworden. Wahrscheinlich glaubte er, ich wolle ihn schonen. Er traute mir zu viel Fürsorglichkeit zu. „Ida, wenn du nicht fliegen kannst, besieg ihn mit seinen eigenen Waffen“, sagte ich, ohne die Augen von Isaac zu nehmen. Ich klatschte einmal mehr und Andrew begann das Muster erneut. Kurz fragte ich mich, ob Ida verstanden hatte, worauf ich hinauswollte. Ich wusste nicht mal, ob es möglich war. Es war nur eine Theorie, aber wenn sie es schaffte … Ich hätte mir keine Sorgen machen sollen. Ida trat vor. Ihre graue Farbe wich tiefem Schwarz. Sie rollte die schmalen Schultern, dehnte ihre Finger. Und begann zu wachsen. Staunend sah ich dabei zu, wie sie auf alle Viere ging, wie ihre Masse anschwoll, sich ausdehnte, bis Ida die Größe eines ausgewachsenen Bären hatte. Gegen den Isaac zu Beginn unseres Kampfes hätte sie winzig gewirkt, aber unsere lange Exzision hatte ihre Spuren hinterlassen und der Daemon war nur noch so groß wie ein Truck. Er hätte mein Büro komplett ausgefüllt, aber neben Ida war er nur etwa dreimal so groß. Es musste reichen. Es musste. Was folgte war ein Kampf zwischen Monstern. Andrew und ich versuchten nur für einige Sekunden, unser Muster aufrecht zu erhalten, bis Andrew versehentlich Ida traf und wir rasch abbrachen. Insgeheim war ich erleichtert. Meine Stimme fühlte sich an wie ein Reibeisen und neben mir ging Andrew erschöpft auf die Knie, Arme schlaff herabhängend. Er war am Ende seiner Kräfte. Ida hievte sich auf die Hinterbeine und rammte Isaacs Flanke, aus der sie ein gigantisches Stück herausbiss. Isaacs Körper füllte die Lücke auf, doch dadurch schrumpfte er um einige Zentimeter, während Ida wuchs. Sie wollte erneut zubeißen, wurde jedoch von seinem Arm weggehebelt und wich nur knapp seinen Fangzähnen aus, die auf ihre Schulter zielten. Mit einem Brüllen riss sie sich aus seiner Umklammerung und preschte auf allen Vieren vorwärts, geradewegs in seine Vorderbeine. Isaac taumelte, ging zu Boden. Ida fixierte seinen gewaltigen Schädel mit ihrem linken Hinterbein, vergrub die Krallen beider Hände in Isaacs Schulter und zog, zog, bis der Arm abriss und in einer übelriechenden, schwarzen Wolke implodierte. Ida war zu weit in ihrem Daemonenzustand, um zu sprechen, aber ich hörte ihre Stimme trotzdem in meinem Kopf. >Das war für Tom. Isaac gab ein mitleiderregendes Kreischen von sich, unterlegt mit dem Quietschen von Kreide auf einer Tafel. Ich hielt mir die Ohren zu, um seine Schreie auszublenden, während Ida überraschend schnell auf seinen Rücken kletterte und mit beiden Klauen riesige Stücke aus Isaac herausriss, bis ich sie nicht mehr in der schwarzen Wolke erkennen konnte. In einem Anflug von Verzweiflung krabbelte Isaac in meine Richtung, die gelben Glubschaugen unproportional groß in seinem stetig schrumpfenden Schädel. Ida fraß sich durch seinen übergebliebenen Arm, schwoll an. Ich ließ meine Arme sinken. Der schrille Ton von Sirenen drang an meine Ohren und vorsichtig drehte ich den Kopf. Eine Kolonne aus Rettungswägen, Polizeiautos und diversen anderen Fahrzeugen fuhr durch das Metalltor und parkte in einem weiten Halbkreis um unsere Gruppe. Isaac kreischte erneut, als Ida ihn tief in den Kies presste. Sie war so groß wie einer der Rettungswägen und ihre gelben Augen blitzten. Sanitäter in leuchtend roten Uniformen trabten vor, in den Händen rote Koffer mit ihren Geräten und einer rollbaren Trage. Sie erreichten Tom und Sam im selben Moment, da Henny aus einem der anderen Autos ausstieg. Sie brauchte nur einen Blick, um ihre Verlobte zu entdecken. Sie sprintete los. „Ich bin beeindruckt.“ Mein Blick hob sich. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen Mann, der sich zurücklehnen musste, um die beträchtliche Fülle seines Bauches auszubalancieren. Vermutlich der Chief von Distrikt 18, mit dem Henny verhandelt hatte. Er und etwa zwanzig Hunter kamen näher, wobei die letzteren alle die Arme erhoben hatten und auf Isaac richteten. „Sidere!“ Der Fixierungsschlüssel kam von allen Richtungen und Ida sprang gerade rechtzeitig von Isaacs Rücken, um nicht getroffen zu werden. Grüne Ranken schossen aus dem Boden und umwickelten Isaac so vollkommen, dass er flach auf den Steinen lag und sich keinen Zentimeter rühren konnte. Einige Schwächungsschlüssel später, und der Daemonenkönig war nur noch ein kleines Häufchen schwarzer Masse. Der Chief nickte mir zu. „Sie haben die Ehre.“ Mit wackligen Beinen ging ich auf Isaacs Überreste zu. Er wand sich am Boden, die gelben Augen zu groß für den Rest seines schwarzen Körpers. Eine Welle von Mitleid rollte über mich. Er hatte das nicht verdient. Er war nur ein Kind, das in die Machenschaften von Erwachsenen geraten war und jetzt den ultimativen Preis zahlen musste. Aber für den Jungen, der er einmal gewesen war, gab es kein Zurück mehr. Ich legte eine Hand auf die dunkle Stirn, spürte den kalten Glibber, der meine Fingerspitzen berührte. „Mors.“ Isaac implodierte in einer Wolke aus dunklem Rauch. Er hatte nichts in dieser Welt zurückgelassen als bittere Erinnerungen und einen üblen Geruch. Seine gesamte Familie war ausgelöscht. Erschöpft wandte ich mich von der Rauchwolke ab und sah zu Ida. Sie stand mit dem Rücken zu mir. Ihr großer Körper bebte, als sie versuchte, die Masse zurück in ihre normale Form zu pressen. Ein Stöhnen entwich ihr, doch sie schrumpfte nach und nach, bis ein Mädchen vor mir stand, das genauso gut aus festem Pech hätte bestehen können. „Ida“, sagte ich. „Es ist vorbei. Komm her.“ Sie drehte den Kopf, sah mich aber nicht an. Stattdessen hob sie einen Fuß und ließ ihn zurück auf den Boden sinken. Ein Kichern entwich ihr. Sie wiederholte die Bewegung. Nun hysterisch lachend schlang sie ihre Arme um ihren Körper und vergrub ihre Finger in ihren Oberarmen. Es dauerte einige Sekunden, bevor ich verstand, was vor sich ging. Ida konnte zum ersten Mal seit ihrem Tod mit der Welt um sich herum interagieren. Meine Augen brannten. Ihr Traum hatte sich erfüllt. „Ms. Thynlee, richtig?“, fragte der Chief. Ich nickte, ohne den Blick von Ida zu nehmen, die sich vorbeugte und ihre Hände durch den Kies wandern ließ. Sie lachte und sprang in die Luft, kam zurück auf den Boden auf. „Das bin ich“, stimmte ich mit brüchiger Stimme zu. „Treten sie bitte zur Seite.“ Bei dem Klang seiner Stimme drehte ich mich nun doch um. Was ich sah, drehte mir den Magen, so als hätte der Chief mich vom Dach eines Hochhauses geschubst. Die Hunter standen weiterhin in Angriffshaltung, doch dieses Mal waren ihre Hände nicht auf Isaac gerichtet, sondern auf Ida. „Das ist ein Missverständnis“, sagte ich, stand mühsam auf und breitete schützend die Arme aus, um Ida vor den Schlüsseln abzuschirmen, sollte einer der Hunter auf die Idee kommen, zu anzugreifen. „Sie gehört zu mir. Sie hat uns geholfen, Isaac zu besiegen. Ohne sie wären wir alle tot und Isaac hätte einen Teil er Stadt zerstört, bevor Sie ihn abgefangen hätten.“ „Das mag richtig sein, und ich bedaure zutiefst, dass sich die Dinge so entwickelt haben“, sagte der Chief, „aber wir haben heute gesehen, welche katastrophale Kraft frei wird, wenn ein Dae seinen Bezugspunkt verliert. Sie können nicht für ihr eigenes Leben garantieren, Ms. Thynlee, und wir alle haben gesehen, wie groß Ida zum Ende des Kampfes hin war. Es ist zu gefährlich, sie frei herumlaufen zu lassen.“ „Wir werden den Distrikt verlassen“, versuchte ich es anders und machte unauffällig einen Schritt zurück, um Ida besser schützen zu können. „Sie werden keine Probleme mit uns haben, egal was vorfällt.“ Er lächelte herablassend, als wäre ich ein Novize, der keine Ahnung von der echten Welt hatte. Ich schwor mir, Andrew nie mehr so anzusehen. „Denken Sie, die Gefahr verschwindet, nur weil sie in einen anderen Distrikt gehen?“, fragte er. „Unschuldige, die ins Kreuzfeuer geraten können, gibt es überall.“ „Sie werden Ida nicht anfassen“, fauchte ich. Andrew hob bei meinem Ton den Kopf. Er musste bewusstlos geworden sein, oder zumindest so erschöpft, dass er den Anfang der Konversation nicht mitgekriegt hatte. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich Sam, die sich von ihrem Sanitäter losriss und einige Schritte in unsere Richtung kam, bevor Henny sie von hinten umarmte und festhielt. „Was will das Schwein mit Ida machen?“, schrie sie. „Sie wollen sie exzidieren!“, schrie ich zurück. Sam heulte wütend auf und kämpfte nun gegen den Griff von Henny und zwei Sanitätern an. „Lass niemanden an sie ran, Coon!“ „Das musst du mir nicht sagen“, murmelte ich und war positiv überrascht, als ich plötzlich Andrew an meiner Seite entdeckte. Er musste sich aufgerappelt haben, während ich auf Sam konzentriert gewesen war. Sein Blick fand meinen und er nickte mir stumm zu. Seine Stimme war vermutlich noch nicht zurück. „Sie müssen erst an uns vorbei, wenn sie Ida haben wollen.“ >Haben … wollen? „Ida!“ Ich drehte mich blitzschnell zu ihr um. Ihre Augen waren geweitet und gelb umrandet und sie sah verwirrt und desorientiert aus. Sie legte den Kopf schief. „Hör zu, du musst von hier verschwinden. Renn weg, so schnell du kannst!“ „Das würde ich an ihrer Stelle nicht tun, Ms. Thynlee.“ „Ach ja, und warum nicht?“, fauchte ich und fuhr herum. Der Chief hielt eine Pistole auf Andrew gerichtet, der aussah, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten. Ich erstarrte. „Sie sind wahnsinnig.“ „Treten Sie zur Seite und lassen Sie meine Hunter ihre Arbeit machen, dann wird niemandem etwas geschehen.“ „Außer Ida, aber sie ist ja entbehrlich.“ „Sie ist tot“, sagte der Chief, mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme. „Je schneller Sie das lernen, umso besser. Und jetzt gehen Sie zur Seite, oder ich erschieße Ihren Freund.“ „Sie können Ida nicht exzidieren“, versuchte ich es erneut. „Sie ist …“ Meine beste Freundin. Mein Halt. Meine Schwester. Mein Partner. Mein Alles. „Ich wiederhole mich ungern, Ms. Thynlee.“ Er entsicherte die Waffe mit einem Klicken. Meine Kehle wurde trocken. Ich sah von Andrew zu Ida, die wie angewurzelt dastand. Sie schien nicht zu begreifen, was vor sich ging. Die ganze Masse, die sie so schnell hintereinander absorbiert hatte, musste ihr schwer zugesetzt haben. Ich trat zur Seite. Direkt vor Andrew. Die Miene des Chiefs verdüsterte sich. Er ließ die Waffe sinken und winkte einige Hunter vor. Ich sah mit schlechter Vorahnung, dass es die größten und stärksten in der Gruppe waren, drei Männer mit Schultern breit wie Schränke und eine Frau, die aussah, als betreibe sie in ihrer Freizeit Bodybuilding. Ich holte tief Luft und machte mich bereit zum Kampf. Es war ein kurzer Kampf. Andrew war so gut wie nutzlos, ein Zerren an seinem Arm reichte, damit er zu Boden fiel und bewusstlos liegenblieb, während die drei übrigen Hunter ihre gesamte Aufmerksamkeit mir widmeten. Ich zerrte, trat, schrie, biss, spuckte, rief Ida zu, wegzulaufen, aber sie blinzelte nur benommen und begann dann erneut, die Steine zu ihren Füßen zu streicheln. Die Frau hielt mich schließlich im Polizeigriff fest und zwang mich, dabei zuzusehen, wie die Hunter als Einheit einen Fixierungsschlüssel riefen, der Ida mit einem lauten Schlag auf den Boden riss und dort festhielt. „NEIN!“, schrie ich heiser, hustete, schrie erneut. „LASST SIE GEHEN, BITTE!“ „Ihre Existenz ist zu gefährlich“, sagte der Chief, nun wieder die Ruhe selbst. Ich hörte schwach Sams Schreie aus einem der Krankenwägen, bevor das Auto wegfuhr. Ich sah hilflos dabei zu, wie Ida mit Schwächungsschlüsseln bombardiert wurde. Schwarzer Rauch stieg von ihrem kleinen Körper auf. Es war sonst ein zufriedenstellender Anblick, aber mir wurde übel, wenn ich daran dachte, dass sie keinen Daemon exzidierten, sondern Ida, ein siebenjähriges Mädchen, mutig und loyal und verspielt und höflich und schlagfertig, meine Ida, meine Ida … Tränen strömten mir über die Wangen. „Bitte“, flehte ich, wiederholte das Wort wie ein Mantra. „Bitte, bitte tun Sie das nicht, sie hat es nicht verdient, sie ist unschuldig, sie hilft mir im Kampf gegen Daemonen, ich werde dafür sorgen, dass sie niemals eine Gefahr wird, bitte lassen Sie sie gehen, bitte, bitte, …“ Meine Stimme brach. Ich konnte nicht mehr. Ida wimmerte. Die Schwärze war von ihr gewichen. Sie war nur noch hellgrau, aber klein und schwächlich, wie ein Kind, das lange im Koma gelegen hatte und nur noch Haut und Knochen war. Der Anblick brach mir das Herz. Und wenn sie den Kopf hob, um das letzte Mal die Welt zu sehen, bevor sie verschwand, würde sie nur Fremde sehen. Niemanden, den sie kannte oder liebte. Mein Mund öffnete sich, bevor ich wusste, was ich sagen würde. „Lassen Sie mich es tun.“ Endlich, endlich sah der Chief zu mir, Augenbrauen angehoben. „Sie gehört zu mir. Sie hat ein halbes Jahr mit mir zusammengelebt. Das ist das mindeste, was ich tun kann. Ich will nicht, dass sie umringt von Fremden stirbt.“ „Sie ist bereits tot.“ „Nicht für mich, und nicht für sie.“ Der Chief sah mich skeptisch an. „Und Sie werden keine Probleme machen?“, hakte er nach. „Denn wenn Sie das tun …“ Er wedelte mit seiner Pistole Richtung Andrew, der noch immer regungslos am Boden lag. „Ich werde sie nur exzidieren, nichts weiter.“ Er nickte der Frau in meinem Rücken zu und sie ließ mich los. Meine Arme und mein Bein schmerzten, als ich vorwärts stolperte, aber das Stechen und Ziehen verblasste, als ich Ida erreichte. Die Fixierung war abgeklungen und sie lag zusammengerollt auf dem Kies, halb darin versunken. Kurz glaubte ich, Tränen in der Kuhle ihrer Nase zu sehen, aber das konnte nur Einbildung sein. Dae konnten nicht weinen. Ich ging vor ihr auf die Knie und streckte meine Hand nach ihrem Gesicht aus. „Alles wird gut“, flüsterte ich. >Coon? Mir tut alles weh … „Vertraust du mir?“ Ida seufzte leise auf und öffnete ein Auge. Sie zwinkerte mir zu. Tränen schossen erneut in meine Augen, aber ich ließ sie nicht fallen. Stark sein. Ich musste stark sein. Für Ida. >Doofe Frage. Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Ich fixierte Ida mit meinem Blick. „Erinnerst du dich an Isaac und Andrew?“, fragte ich. Ich spürte die Blicke des Chiefs und der Hunter, wusste, dass sie in Hörweite waren. Wenn ich zu leise sprach, würde es auffallen. Ich ließ sie mithören. Ida drehte sich auf den Rücken und sah mich von unten an. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. >Das war gruselig. „So gruselig möchtest du nicht sein, oder?“ >Nein. Und du möchtest niemals so sein wie Andrew, oder? Ich schüttelte mich spielerisch in Ekel und Ida kicherte. „Beeilen Sie sich ein bisschen, Ms. Thynlee“, erschallte die Stimme des Chiefs. „Wir wollen uns nicht den ganzen Tag die Beine in den Bauch stehen.“ >Bei seinem Bauch stelle ich mir das wirklich doof vor. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Laut und schallend. Ich wischte meine Tränen weg. „Ich hab dich“, sagte ich. >Ich weiß. Ein letztes Mal an diesem Tag hob ich meine Hände und überlagerte meine Finger. „Deficere.“ Schwarzer Rauch, der Rest, den Ida hergab, füllte die Luft. Ich streckte meine Hand aus, öffnete meinen Mund. Holte tief Luft. Ein Pochen füllte meinen Kopf. „Nex.“     Meine Stirn war gegen das Glasfenster gelehnt und sah der dahinfliegenden Landschaft dabei zu, wie sich das Grau der Stadt in das Grün und Gelb von Wiesen und prallen Getreidefeldern wandelte. Henny hatte die Zugtickets nach Distrikt 16 drei Tage nach dem Kampf gegen Isaac gekauft, als klar wurde, dass Tom das Krankenhaus für eine Weile nicht verlassen würde. Seine Freundin war von Sam angerufen worden, sobald das Morphin nicht mehr ihre Sinne vernebelte und gestern in einem Hotel in der Nähe des Krankenhauses eingezogen. Ich nahm den Kopf von dem kühlen Glas und ließ meinen Blick durch das Abteil gleiten. Andrew las in einem Buch über Cross-Hatch-Exzisionen, Henny surfte auf ihrem Handy und Sam schlief mit dem Kopf in ihrem Schoß. Ein dicker Mollverband war um ihren Kopf gewickelt und bedeckte ihr ruiniertes Auge, ihre gebrochene Hand steckte in einem Gipsverband. Trotzdem schlief sie tief und fest. Lächelnd erhob ich mich und stand auf, um etwas frische Luft zu finden. Die Kopfschmerzen hielten seit Tagen an und es fiel mir schwer, mich zu unterhalten. Zu viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich folgte dem schmalen Gang entlang des Privatabteils, durchquerte eine der Schleusen, in denen der Geräuschpegel fast unerträglich zunahm und stoppte erst, als ich das Ende des Zugs erreichte, an dem eine Art kleiner Balkon im Fahrtwind ruckelte. Ein leises Rauschen füllte plötzlich meine Ohren und ich kniff die Augen zusammen, um mich besser auf meine restlichen Sinne konzentrieren zu können. Etwas regte sich in meinem Hinterkopf. Ein weißes Schemen. Das Bild eines sich langsam öffnenden Auges füllte meine Gedanken. „Na, endlich wach?“, fragte ich. Ein Impuls ergriff von mir Besitz und ich musste ausgiebig gähnen. … mach dich nicht lustig, coon … „Niemals“, lachte ich leise. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, hob sich meine rechte Hand und zwickte mich in die Nase. „Au!“ … selber schuld … „Es tut mir leid, dass du deine Masse wieder aufgeben musstest. Ich weiß, wie sehr du sie haben wolltest.“ … das ist okay. es wäre zu gefährlich. ich will niemals jemanden so viel schaden zufügen. außerdem stirbst du zu schnell … „Hey!“ Ein Bild von Idas Gesicht manifestierte sich vor meinem inneren Auge. Sie sah mich traurig an. … es tut mir leid, dass ich einfach verschwunden bin. hast du dir sorgen gemacht … „Du hast mich zu Tode erschreckt.“ Ich blies Luft durch die Zähne. „Ida, es tut mir leid. Alles. Dass du wegen mir gestorben bist, dass du jetzt in diesem Zustand bist.“ … es war nicht deine schuld. ich bin dir hinterhergelaufen, obwohl alle sagten, draußen sei es zu gefährlich … „Du warst sieben, Ida. Wir hätten damit rechnen sollen, dass du nicht auf uns hörst. … mich hat ein daemon gebissen, nicht du. du hast alles getan, um mich zu retten, aber es war zu spät. andere werfen dir das vielleicht vor, aber ich nicht. bitte hör auf, dich deswegen schlecht zu fühlen. es macht mich traurig, dich so zu sehen … Einige Minuten schwiegen wir und ich atmete die frische Luft ein, ignorierte das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf. … wie lange muss ich hierbleiben? … „Bis du genug Kraft gesammelt hast. Zumindest, bis wir bei Rock in Sicherheit sind. Wenn du bereit bist, lasse ich dich raus und du kannst einige Daemonen fressen, bis du wieder deine alte Masse erreicht hast. Ein oder zwei sollten genügen.“ … was ist mit den Erinnerungen, die hier schwimmen … „Sieh sie dir an, wenn du möchtest. Lass nur die Finger von denen, in denen ich nackt bin. Speziell, wenn ich nicht alleine bin. Und nackt.“ … wie mit chris … Ida musste gewusst haben, dass die Erwähnung des Namens die Bilder von meiner Nacht mit Chris herausfiltern und ihr auf dem Silbertablett servieren würde. … ihh … „IDA“, warnte ich sie. … okay, okay … oh, was ist damit … Als hätte sie mir die Erinnerung direkt vor meine Augen projiziert, entdeckte ich Ida, wie sie pitschnass und durchgefroren in Rocks Basis saß und halb in ihrer Tasse heißer Schokolade versank. Ich spürte ein warmes Gefühl in meiner Brust und lächelte. Ida seufzte in meinem Kopf. … das bin ich … Ich schmunzelte. „Eine meiner liebsten Erinnerungen von dir. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dir anstellen soll, aber Mary ist bei deinem Anblick dahingeschmolzen.“ An Ida zu denken, wie sie mir an diesem ersten Tag begegnet war, brachte anderen Erinnerungen hoch. Ich verdrängte die meisten, aber eine von ihnen fand Ida dennoch. … wer ist der junge … Ich betrachtete die Erinnerung. Es war dunkel unter dem Tisch. Vor mir waren meine Knie angezogen. In meinen Händen hielt ich frisch gebackene Kekse, die ich aus der Küche geklaut hatte. Neben mir saß ein Junge, mit kurzen schwarzen Locken und dunkelbrauner Haut. Er hob sich kaum gegen das Holz des Schreibtisches ab. Nur sein Lächeln war breit und strahlend weiß. Mein Herz zog sich bei dem Anblick zusammen. Wir waren kaum älter als Ida. Ich öffnete die Augen. Die gelben Felder verschwammen, als ich gegen die Tränen ankämpfte. „Das war Sunny.“ … der dir deinen Namen gegeben hat … „Genau der.“ … wo ist er jetzt … Schniefend lehnte ich mich über das Metallgeländer und konzentrierte mich auf das Gefühl der Sonne, wie sie mein Haar wärmte. „Er ist tot. Seit einer sehr langen Zeit.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)