Daemon 2 von yazumi-chan (Akte Holland) ================================================================================ Kapitel 5 --------- Ohne ein Wort zu sagen, rappelte ich mich auf. Mein rechtes Bein zitterte und der Rückweg über den Beton war weniger ein Humpeln als einbeiniges Hopsen. Isaac schwebte hinter mir her. »Sie haben bestanden. Er klang nicht gerade glücklich darüber, andererseits hatte ich Isaac noch nie irgendwelche Emotionen zeigen sehen, daher konzentrierte ich mich auf das Wesentliche. Der Dae hatte versprochen, im Notfall einzugreifen. Ich konnte mir keinen größeren Notfall vorstellen, als dass ein Daemon mir beinahe das Gesicht abbiss. Vertrauen in meine Fähigkeiten war gut und schön, aber im Zweifelsfall bevorzugte ich es, am Leben zu bleiben. Wenn ich auch nur einen Sekundenbruchteil später reagiert hätte, wäre ich jetzt tot. Und Ida … ich wollte nicht daran denken. „Klasse“, sagte ich trocken und hievte mich die kleine Treppe empor, indem ich mich an dem Geländer hochzog und Stufe um Stufe emporsprang. Oben angekommen lehnte ich mich erschöpft an das Pult. Einige Minuten warteten wir schweigend, während sich mein Herzschlag langsam beruhigte und das Adrenalin aus meinem Blutkreislauf wich. Mein Blick ruhte auf der Tür, die sich schließlich öffnete. Eugenie trat ein, dicht gefolgt von einer sehr euphorischen Ida, die schneeweiß auf mich zu flog und in ihrem Versuch einer Umarmung halb durch mich hindurch fiel. >COON! Ich habe bestanden! Ich rang mir ein müdes Lächeln ab. „Ich auch.“ Idas Augen leuchteten und sie vergrub glücklich ihren Kopf in meiner Schulter. Ich schielte an ihr vorbei zu der Butlerin. „Wäre das alles? Ich würde gerne nach Hause und mich erholen. Meine Verletzung ist noch nicht richtig verheilt.“ „Wie Sie wünschen, Ms. Thynlee.“ Sie warf Isaac einen kurzen Blick zu. „Sir Isaac, wenn ich Sie darum bitten dürfte, Ihrem Vater die Testergebnisse mitzuteilen? Er befindet sich mit Ihrem Bruder in seinem Büro.“ Isaac nickte und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. „Ich geleite Sie zum Ausgang“, sagte Eugenie und winkte uns hinter sich her. Nachdem Idas Aufregung verklungen war, bemerkte sie schnell, dass etwas nicht stimmte. Sie warf mir einen unsicheren Blick zu und wurde dunkler, als ich mit zusammengebissenen Zähnen den Kellergang entlang humpelte. >Tut es sehr weh? „Mach dir keine Sorgen.“ Ich holte bebend Luft und fokussierte mich auf die Treppe nach oben. „Andrew kann mich nach Hause tragen, wenn es sein muss.“ Es war nicht meine Absicht, aber die Distanz zwischen Eugenie und mir weitete sich. Ob die Butlerin mir keine Hilfe anbot, weil sie mich weiterhin testete oder einfach nicht bemerkte, dass ich vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, wusste ich nicht, aber ich nutzte den Moment, um außerhalb ihrer Hörweite mit Ida zu sprechen. „Du hattest Recht“, murmelte ich. „Irgendetwas ist hier faul.“ Ida warf mir einen triumphierenden Blick zu. >Was sollen wir tun? Ich sagte nichts, nickte nur in Richtung Eugenie und schwenkte dann meinen Kopf zu der zweiten Treppe, die tiefer in den Keller führte. Ida folgte meinem Blick. Ein entschlossener Ausdruck trat auf ihr Gesicht und sie flog los. Ihr Körper färbte sich tiefschwarz, als sie hinter der Butlerin zu Boden sank. Ihre Augen traten aus ihren Höhlen hervor und färbten sich gelb. Ihr Rückgrat bog sich vor, bis sie auf allen Vieren vorwärts krabbelte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Dann, blitzschnell, sprang sie empor und krallte sich in Eugenies Schultern. Die Butlerin erstarrte für einen Sekundenbruchteil, doch ihre Überraschung hielt nicht lange an. Mit einer Agilität, die ich einer Frau in engem Anzug und Krawatte niemals zugetraut hätte, warf sie sich zu Boden und rollte über Ida hinweg, die knurrend an ihrem Opfer festhielt. Eugenie riss den Mund auf, wohl um nach Hilfe zu rufen, während ihre Hände sich in typischer Hunterform übereinanderlegten, doch Ida war schneller. Wie ein Schatten floss ihre Form durch Eugenies geöffneten Mund hinein. Die Augen der Butlerin glommen kurz gelb auf. Wankend erhob sie sich. „Mission erfüllt“, verkündete Eugenie-Ida gut gelaunt und reckte mir einen ausgestreckten Daumen hin. Ich grinste sie an— —und sackte an der Wand zu Boden. „Coon!“ Ida nutzte ihren neugewonnenen Körper, um zu mir zu laufen, während ich mit Schnappatmung beide Hände gegen die Bisswunde an meinem Knöchel presste, die Augen fest zusammengekniffen. Die Giftlinie in meinem Bein pulsierte wie Lava. Ich presste die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzte. Wir mussten abhauen, aber ich konnte nicht einfach unverrichteter Dinge fliehen. Ida half mir auf die Füße, schlang meinen Arm um ihre Schultern und schleppte mich Richtung Treppe. Die Stufen erforderten etwas Koordination, aber Ida und ich hatten lange genug zusammengearbeitet, um ohne viele Worte einen Rhythmus zu finden, mit dem wir zügig vorankamen. Die Treppe wand sich in schmalen Bahnen um eine zentrale Säule aus dunklem Stein. Je tiefer wir gingen, desto dunkler wurde es, bis Ida am Fuß der Treppe einen Lichtschalter an der Wand ertastete und Neonröhren surrend zum Leben erwachten. Wir befanden uns vor einer Tür aus schwerem Metall ohne Schlüsselloch. Stattdessen hing an der Wand daneben ein kleiner Kasten mit Touch-Pad. Ida legte den Kopf schief und zog mich enger zu sich, damit sie eine Hand ausstrecken und auf das Pad legen konnte. Ein lauter Piepton füllte meine Ohren, im nächsten Moment leuchtete das Display grün auf und ein Klicken verriet, dass die Tür sich geöffnet hatte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Ida zurückzulassen, bis ich herausgefunden hatte, was sich in dem verschlossenen Raum befand. Aber wann immer ich Ida schützen wollte, dachte ich daran, dass sie tot war. Sie hatte Menschen getötet und mich vor einer Vergewaltigung gerettet. Es gab nicht mehr viel, das sie noch schockte. Mal abgesehen davon, dass ich alleine keinen Schritt mehr tun konnte. Meinen Gehstock hatte ich selbstverständlich Andrew überlassen, weil er mich im Kampf nur behindern hätte. Gute Idee, Coon. Blendende Idee. Gemeinsam durchquerten wir die Tür und fanden uns in einem rechteckigen Raum mit niedriger Decke wieder. Als die Bewegungsmelder uns wahrnahmen, erwachten zwei Deckenlampen zum Leben und füllten den Raum mit rötlichem Licht. Eugenie-Ida öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Ich schon. „Was zur Hölle ist das denn?“, fragte ich. Der geheime Raum im Keller von Arnold Holland war ein Schrein. Anders konnte ich es nicht beschreiben. Roter Plüschteppich bedeckte den Boden, doch die Farbe der Wände konnte ich nicht ausmachen. Sie waren zugestellt mit Regalen, Bildern und Portraits, alle von einer Frau mittleren Alters mit kirschrot gefärbtem Haar, hellem Teint und ebenfalls kirschrotem Lippenstift. Mit Idas Hilfe trat ich weiter in den Raum. Hinter uns fiel die Tür zu. Wohin ich auch sah, starrte mir das Gesicht der Frau entgegen. Hollands verstorbener Frau, wie mir jäh klar wurde. Regina Holland. Auf einem der Regale ruhte eine Sammlung aus verschiedenen Puppen, Porzellanpuppen, Stoffpuppen, sogar eine lebensgroße Hartgummipuppe, die alle im Gleichnis von Regina gestaltet waren. Zur linken Seite des Schreins, neben einem roten Ohrensessel, stapelten sich schwarze Lederjournale, Fotoalben, handschriftliche Dokumente. Ein heller Schminktisch war vor ein überlebensgroßes Leinwandgemälde geschoben worden. Der rote Lippenstift lag unberührt und offen darauf. Trotzdem zeigte der Raum kein Körnchen Staub auf. Jemand putzte hier regelmäßig, und von der Art, wie abgegriffen die Gemälde, Notizbücher und Puppen waren, stattete Holland diesen Räumlichkeiten regelmäßig einen Besuch ab. Mir wurde schlecht. „Das ist gruselig“, flüsterte Ida. Es hätte mir schwerfallen sollen, sie mit Eugenies Stimme in Verbindung zu bringen, die so viel tiefer war als ihre, aber die Stimmlage, mit der Ida sprach, hätte ich überall wiedererkannt. Ich antwortete nicht, sondern steuerte die Journaltürme auf der linken Seite des Raumes an. Ich wollte nicht länger hier unten verbringen als unbedingt nötig. „Hilf mir“, sagte ich. Ida hievte mich auf den mit Leder gepolsterten Ohrensessel und ging neben mir in die Hocke. Sie reichte mir das oberste der Bücher. Ich blätterte mich durch das Tagebuch. Das Papier war dick unter meinen Fingerkuppen, die blaue Tinte mit der Zeit verblasst, aber noch gut lesbar. Reginas Handschrift füllte die Seiten mit schräger Schrift, die zum Ende hin immer hektischer wurde. Der letzte Eintrag war auf einen Tag im Winter vor neun Jahren datiert. Er bestand aus einem einzigen Satz.   Ich kann nicht mehr.   Die Einträge davor waren sporadisch. Manchmal hatte Regina wochenlang nicht geschrieben, an anderen Tagen mehrere Seiten für einen einzigen Eintrag gefüllt. Stumm bewegte ich die Lippen mit, während ich mich durch ihr Leben wühlte.   Arnold hört mir nicht mehr zu. Stur war er immer, selbstsicher, das habe ich an ihm geliebt. Aber jetzt hat er sich festgebissen. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, um ihn umzustimmen.   Ich bin nicht mehr mit ihm in den Keller gegangen. Ich kann nicht mit ansehen, was dort unten vor sich geht. Es zerreißt mir das Herz, Isaac so zu sehen. Ich muss mit Arnold sprechen. So geht es nicht weiter. Wenn ich früher gewusst hätte, was er tut, aber ich wusste nichts, ich könnte mich ohrfeigen …   Er hatte heute einen schlechten Tag. Eugenie hat mir eine Heilsalbe gebracht. Ich wünschte, Arnold würde diese Frau feuern. Ich kann ihre ausdruckslosen Blicke nicht mehr ertragen.   Daniel ahnt nichts. Ich glaube nicht, dass er Arnold unterstützen würde. Die Situation ist nicht so aussichtslos, wie er denkt. Ich muss ihm sagen, was im Keller geschieht. Er hat wieder einen Hunter eingeladen. Vermutlich kommt er in zwei Wochen. Ich muss etwas tun.   Meine Augen brannten von dem roten Licht. Eugenie-Ida lehnte sich über mich. „Was schreibt sie?“ „Sie hat herausgefunden, was Holland und Isaac tun, aber sie schreibt nicht, was genau das ist“, murmelte ich frustriert. Ich hatte den gesamten letzten Band durchblättert. „Gib mir das nächste auf dem Stapel. Wir gehen nicht, bevor wir wissen, was Holland für ein Spiel treibt.“ Eugenie-Ida griff nach dem nächsten Buch, doch plötzlich schnellte ihre Hand zur Seite und schloss sich um meine Kehle. Die Fingernägel gruben sich in meinen Hals, drückten mit unglaublicher Stärke zu, pressten mich in die Sessellehne. Ich schlug nach Luft ringend gegen Eugenies Arm, bis sie abließ. Ein erschrockener Ausdruck kam über ihr Gesicht. „Tut mir leid, Coon! Sie hat einfach die Kontrolle übernommen.“ Mit konzentriertem Ausdruck ließ Ida beide Arme sinken. „Ich passe ab jetzt besser auf, versprochen.“ Ich rieb mir den Hals, hustete. „Vielleicht ist sie trainiert darin, Daemonen abzuschütteln“, mutmaßte ich. „Immerhin lebt sie mit den Mistviechern unter einem Dach.“ Eugenie-Ida nickte. Sie reichte mir das Buch, von dem Eugenie uns hatte fernhalten wollen. Dieses war gefüllt mit vollgeschriebenen Seiten, die Einträge dicht hintereinander. Ich blätterte zurück, überflog die Sätze. Sie beschrieb Isaacs Veränderung, dass sie langsam verstand, warum er so geworden war, wie Holland sich weiter von ihr entfernte, wie sehr sie Eugenie hasste. Endlich fand ich den Eintrag, den ich gesucht hatte. Er stammte von fast einem ganzen Jahr vor ihrem Tod datiert. Ich las laut vor.   Meine Hände zittern. Ich weiß nicht, wie ich diesen Eintrag schreiben soll, aber ich muss, während die Erinnerung noch frisch ist. Morgen könnte ich nicht mehr den Mut haben, es aufzuschreiben. Tief durchatmen, Regina. Fang vorne an. Arnold hat endlich erlaubt, dass ich ihn in den Keller begleite. Jahrelang wollte er mich nicht hinunterlassen, weil ich zu zart besaitet bin. Ich habe ihm gesagt: Wer Zwillinge auf die Welt bringt und sie großzieht, ist alles andere als zart besaitet. Er hat gelacht. Dan hat diesen jungen Mann eingeladen, Tobias. Ein junger Mann mit kurzgeschorenem Haar und unschönem Gesicht. Sein Dae schwebte stumm an seiner Seite, aber er merkte davon nichts. Er hat keine Sicht, keine Sichtlinsen, hat sie nie gebraucht. Isaac sagte ihm, dass Eugenie später alleine mit ihm über etwas reden will. Er hat nur mit den Schultern gezuckt. Er war so emotionslos wie … wie Isaac in letzter Zeit. Ich kann meinen Jungen nicht mehr in ihm erkennen. Was hat Arnold nur aus ihm gemacht?! Sie haben ihn in den Trainingsraum gebracht. Isaac ist mit hineingegangen. Arnold hat die Türen geöffnet. Tobias hat sich umgesehen, war sichtlich verwirrt. Isaac hat ihn nur angestarrt, als ein Daemon durch die Tür kam. Ich habe Arnolds Hand gepackt. Ich wollte Tobias warnen, aber ich bekam kein Wort heraus. Sieh genau hin, hat er gesagt. Sie genau hin, meine Liebe. Mir ist immer noch schlecht, wenn ich daran denke. Der Daemon sprang ihn an, biss ihm in die Schulter, in den Hals. Tobias war fast sofort tot. Eben noch hatte er mir ein Kompliment für die Suppe gemacht und dann lag er plötzlich leblos auf dem Beton … Isaac schwebte näher. Dann sank er auf alle Viere. Er verschlang den Daemon. Als der Dae zurückkam, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Geh nicht hinunter, schrie ich. Sieh nicht hin! Er schwebte an mir vorbei, blieb ruckartig stehen, als er den Leichnam sah. Er verwandelte sich vor meinen Augen, wurde zu einem Monster. Und Isaac hat sich ebenfalls verwandelt, hat ihn gefressen wie ein herkömmlicher Daemon. Der Gedanke tut so weh. Wie oft sind er und sein Vater schon hierhergekommen? Wie viele Menschen sind unter meinem Dach kaltblütig ermordet worden? Was soll ich tun? WAS SOLL ICH TUN?   Ich wusste nicht, wie lange Ida und ich reglos dasaßen. All die Masse, die Isaac besaß. Seine Apathie. Seine düstere Stimmung. Alles machte plötzlich Sinn. Er war vielleicht kein Daemon, aber er war definitiv ein Monster. Und Arnold Holland war sein Schöpfer. „Sie bringen Menschen um, Coon.“ Eugenie-Idas Stimme zitterte. Sie schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich öffnete die Arme und ließ sie hineinfallen, sich an meinem Rücken festkrallen. „Das haben sie nicht verdient. Das hat niemand verdient!“ „Du hast Recht“, flüsterte ich, die Wut in meiner Stimme mühsam unterdrückend. Ich tätschelte ihren Kopf, bis sie sich beruhigte. Dass es sich dabei um Eugenies Kopf handelte, nahm ich nur am Rande wahr. Ich konnte Ida anfassen, umarmen, trösten. Das war jetzt das wichtigste. „Wir sollten all diese Tagebücher durchsehen, aber dazu fehlt uns die Zeit“, sagte ich nach einer Weile. „Und ich glaube nicht, dass Regina viel wusste. Sie hat von den Machenschaften ihres Mannes erst ein Jahr vor ihrem Tod erfahren.“ „Was denkst du, wie sie gestorben ist?“, fragte Ida leise. „Meinst du, Holland hat sie umgebracht?“ „Nicht auszuschließen“, sagte ich, dachte jedoch an die vielen fehlenden Einträge in ihrem letzten Journal. „Aber ich glaube eher, dass sie Selbstmord begangen hat.“ Eugenie-Ida krümmte sich plötzlich nach vorne, Hände gegen die Schläfen gepresst. „Urgh!“ „Ida? Ida, was ist los?“ „Sie ist … stark. Ich weiß nicht, ob … ich sie noch lange halten kann. Sie will mich loswerden. Da ist etwas, dass ich … nicht sehen soll.“ „Sehen? Kannst du ihre Gedanken lesen?“ „Hier schweben ein paar rum. Aber die meisten sind weiter unten.“ „Such weiter.“ Ich nahm sie bei den Schultern. „Was siehst du?“ „Sie hatte … da sind Kinder“, sagte Ida stockend. „Aber dann waren sie weg. Daemonen haben sie getötet. Und dann war sie hier. Da ist eine andere Frau. Regina, glaube ich. Sie hat ganz viele blaue Flecken. Holland zielt mit einer Pistole auf sie. Da ist Dan, er zieht ihn weg, schreit. Regina schreit auch. Sie deutet auf Holland, aber ihre Hand zittert. Isaac schwebt vor ihn. Regina weint. Eugenie kümmert sich um sie, aber sie wird weggestoßen. Die Frau ist … jetzt ist sie in der Badewanne. Alles ist rot.“ Ida gab einen erstickten Laut von sich. „Da sind noch mehr Erinnerungen mit ihr, aber sie lässt mich nicht ran. Mehr … mehr kann ich nicht finden“, stöhnte Ida und presste nun beide Hände gegen ihre Augen. „Sie ist wütend, Coon! Ich kann sie nicht mehr lange —“ Eugenies Augen rollten in ihren Höhlen nach hinten, bis nur noch das Weiße zu sehen war und sie sackte in sich zusammen wie eine Marionette ohne Fäden. „Ida! IDA!“ Ihr Mund öffnete sich, schwarzer Rauch explodierte aus der Öffnung und Ida wurde ans andere Ende des Raumes geschleudert, wo sie pechschwarz liegen blieb. Eugenie riss die Augen auf, rang nach Luft, sah hasserfüllt zu mir. „Du wagst es!“, krächzte sich und bevor ich auch nur die Hände heben, geschweige denn ausweichen konnte, stürzte sie sich schon auf mich. Ihre langen Finger fanden wie zuvor meinen Hals und drückten zu, fester, fester, bis silberne Funken vor meinen Augen tanzten. Ihr perfekter Pagenschnitt hing halb in ihr Gesicht, ihre Lippen waren zu einer Grimasse verzerrt. Meine Hände fanden ihre Unterarme, krallten sich ebenfalls hinein, drückten, zogen. Ich strampelte mit meinem gesunden Bein, ignorierte die höllischen Schmerzen, die Eugenie mir dadurch verursachte, dass sie sich auf dem anderen mit ihrem Knie abstützte. Statt mich loszulassen, begann sie, meinen Kopf wieder und wieder gegen die Sessellehne zu schlagen. „Mr. Holland tut—mehr für uns—als du dir—jemals—vorstellen kannst!“ „Lass … mich … los“, presste ich hervor, bevor ich Schwung holte und Eugenie mein Knie in die Seite rammte. Ich konnte sie nicht abschütteln, aber ihr Griff lockerte sich für einen Sekundenbruchteil, und ich nutzte den Freiraum, um einzuatmen, Eugenie an ihren Armen in meine Richtung zu ziehen und meine Stirn gegen ihre Nase zu rammen. Stöhnend fiel Eugenie zurück und stützte sich bei ihrem Fall mit den Ellenbogen auf dem Plüschteppich ab. In dem Moment trat Ida zu ihr heran und sah von oben auf sie herab. >Niemand fasst Coon an. Eugenie hielt eine Hand gegen ihre blutende Nase gepresst, doch sie wirkte benommen. Ida ging neben ihrem Kopf in die Hocke und wurde heller. Streckte eine Hand nach ihrer Stirn aus. Ließ ihre Hand hineinsinken. >Schon gar nicht du. Die Butlerin stöhnte, ihre Haut färbte sich weiß, Schweiß brach auf ihrem Gesicht aus. Ida drückte ihre Hand tiefer, tiefer … Eugenie wimmerte. Wurde still. „Ida“, sagte ich sanft. „Sie ist bewusstlos. Es reicht.“ Ida zog ihre Hand zurück. Wie ich gesagt hatte, kippte Eugenies Kopf zur Seite, Augen geschlossen. Blut tropfte von ihrer Lippe. >Geht es dir gut? Ich rieb meinen wunden Hals. Eugenies Würgeversuche hatten mich heiser und mit Schmerzen in der Kehle zurückgelassen, aber davon abgesehen war ich gut weggekommen. „Nichts passiert“, krächzte ich schließlich. „Denkst du, du kannst noch ein paar Informationen aus ihr herausquetschen?“ Ida nickte und floss als Schatten durch Eugenies halbgeöffneten Mund. Obwohl die Butlerin bewusstlos war, öffnete sie die Augen. „Sie ist wehrlos“, informierte Ida mich. „Ich kann alles sehen. Was willst du wissen?“ „Wie suchen sie Opfer aus?“, fragte ich. „Wie entscheiden sie, wer lebt und wer stirbt? Isaac hat mir während meines Kampfes nicht geholfen, aber er hat auch nicht eingegriffen, um mich zu töten. Was ist ihr Ziel?“ Eugenie-Ida schloss die Augen. Minutenlang lag sie reglos da, ließ die Hülle des Körpers unangetastet, während sie sich durch Eugenies Erinnerungen wühlte. Ich wartete geduldig, bis sie zu sprechen begann, ihre Stimme emotionslos. „Dan lädt sie ein. Isaac lockt Menschen mit einer tiefen Bindung zu ihrem Dae in den Trainingsraum, wo er sie gegen Daemonen kämpfen ließ. Wenn sie gewinnen, passiert nichts. Wenn sie sterben, verlieren die Dae ihren Ankerpunkt und werden von Isaac gefressen.“ „Und in seine Masse integriert, bis er quasi unbesiegbar wird.“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. „Wenn Isaac jemals die Kontrolle verliert, wird er zu einem Daemonenkönig. Wie kann Holland glauben, ihn kontrollieren zu können?“ Außerhalb der Grenzen war ich noch nie einem echten Daemonenkönig über den Weg gelaufen. Die letzten Überlebenden einer eskalierten Rotte waren die einzige Art von Daemonen, die Hunter nur in Gruppen exzidieren konnten. „Es geht schon ewig so“, fuhr Ida nach einer Weile fort. „Alle sehen so jung aus.“ „Wie viele Jahre?“, fragte ich. „Ich weiß nicht.“ Sie biss sich auf die Lippen und öffnete die Augen. „Mindestens fünfzehn.“ „Fünfzehn“, sagte ich ungläubig. Seit über fünfzehn Jahren ließ Holland Menschen sterben, damit Isaac ihre Dae fressen konnte und stärker wurde. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, oder warum er so weit ging. Ich wusste nur eins. Wir mussten hier sofort weg. „Lass uns gehen“, sagte ich grimmig. Eugenie-Ida nickte entschlossen, erhob sich und hievte mich vom Sessel. Ich hing halb über ihrer Schulter, während wir uns die Treppen hinaufschleppten. Wir brauchten nur wenige Minuten, um den Ausgang des Kellers zu erreichen, wo ich ein leises Relictus murmelte. Eugenies Augen glommen gelb auf, bevor Ida ihren Körper als eine Wolke schwarzen Rauchs verließ.  Ich schob Eugenies bewusstlosen Körper zur Seite und hüpfte einbeinig durch die Tür und hinaus in den Flur. Gemeinsam mit Ida und unter höllischen Schmerzen humpelte ich vorwärts, bis ich das Dienstmädchen entdeckte, das uns einige Stunden zuvor in den Salon geführt hatte. Als sie mich humpeln sah, eilte sie zu mir. „Ms. Thynlee, geht es Ihnen nicht gut?“ „Nur eine alte Verletzung“, sagte ich und ließ mich von ihr ins Foyer bringen. „Mr. Holland erwartet Sie bereits in seinem Arbeitszimmer“, begann sie, doch ich schüttelte den Kopf. Mir stand kalter Schweiß auf der Stirn. „Meine Medizin“, sagte ich und deutete auf mein Bein, „Ich habe sie zuhause vergessen. In diesem Zustand werde ich keine Unterhaltung mehr führen können. Richten Sie Mr. Holland bitte meinen Dank für sein unschätzbares Angebot und das wundervolle Essen aus, ich werde mich morgen wegen weiterer Details mit ihm in Kontakt setzen.“ Das Dienstmädchen hatte die Augen ängstlich geweitet, aber meine Verletzung war nicht gespielt und sie spürte das Zittern meines ganzen Körpers. Sie nickte und setzte mich auf einem Stuhl neben dem Eingang ab. „Ich hole Ihren Begleiter“, sagte sie und verschwand die Treppen hinauf. Während wir auf Andrew warteten, sog ich alle Details des Anwesens in mich ein. Jetzt machte es Sinn, warum das Haus in die Mauer zum Ödland integriert war. Sicher gab es Fallen, die Daemonen in den Keller führten, wo Holland sie entweder als Gegner in seinen sogenannten Tests verwendete oder als Snack für Isaac, wenn er lange keinen frischen Dae mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Mein Blick fiel auf Ida, die nicht mehr schwebte, weil sie im Laufe des Nachmittags so dunkel geworden war. Isaacs Leben hatte ihm übel mitgespielt und ich verstand, dass seine Bindung zu Holland und Daniel sehr stark war. Aber was sie hier taten, war unverzeihlich. Plötzlich fielen mir die Worte von Isaac wieder ein, als er Ida und mich kennengelernt hatte. Nehmen wir sie mit? „Dieser kleine Bastard“, murmelte ich halblaut. Ida warf mir einen Blick zu, fragte aber nicht nach. Sie wusste, wer gemeint war. Einige Minuten später tauchte das Dienstmädchen wieder auf, einen breit grinsenden Andrew im Schlepptau, dessen Gesichtsausdruck sich bei meinem Anblick jedoch sofort änderte. „Coon, ist alles okay?“ „Nicht wirklich“, gestand ich und tätschelte mein rechtes Bein. „Ich kann nicht mehr laufen.“ Andrew nickte und ging vor mir in die Hocke. „Ich trage dich.“ Mir entging nicht, dass er ausgerechnet jetzt meinen Vorschlag annahm und mich duzte, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn deswegen zu necken. Mit der Hilfe des Dienstmädchens kletterte ich auf Andrews Rücken und schlang meine Arme um seine Schultern. Seine Arme hakten sich unter meine Kniekehlen. Ich sog scharf die Luft ein, als mein Bein so zusammengepresst wurde. „Okay?“, fragte er. Ich nickte. „Gehen wir.“ Der Kies unter Andrews Schuhen knirschte mit jedem seiner Schritte. Er bewegte sich langsam, sparte seine Kräfte für den gesamten Heimweg. Andrew war größer als ich, aber nicht besonders muskulös, auch wenn Hunter ein Grundmaß an Fitness für ihren Job mitbringen mussten. Es würde ein langer Heimweg werden. Ida lief an unserer Seite. Sie war schwarz wie Tinte. Ich musste Andrew von unserem Fund im Keller des Holland-Anwesens erzählen, aber solange wir uns noch auf dem Grundstück befanden, wollte ich es nicht riskieren. Mein Schweigen und Idas schlechte Laune entgingen Andrew jedoch nicht. Er brach die Stille, als wir fast die Straße erreicht hatten. „Bist du durchgefallen?“ „Nein, ich habe bestanden“, sagte ich und sah mich zum dritten Mal in genauso vielen Minuten um. Die Villa stand dunkel und verlassen da. Niemand folgte uns. Ich atmete tief durch. „Ich musste alleine einen Daemon exzidieren, das ist alles. Eine meiner leichtesten Übungen. Ich erzähle dir die Details, wenn wir zu Hause sind.“ „Ist dein Bein deshalb so kaputt?“ Seufzend nickte ich. „Es war ein anstrengender Tag“, murmelte ich, zu nah an Andrews Ohr, denn er zuckte zusammen, als ich ihm so nah kam. Rasch zog ich den Kopf zurück. Verdammt, ich hatte vergessen, dass er einen Crush für mich entwickelt hatte. Noch ein Thema, das ich ansprechen musste. Müde rieb ich mir über die Augen. In meiner unbequemen Position auf Andrews Rücken fühlte sich der Heimweg länger an als ohnehin schon. Der Himmel verlor seine Farbe wie eine Leiche, die langsam ausblutete und außer den gelben Straßenlaternen stapften wir schon bald durch erdrückende Dunkelheit. „Was hast du mit Mr. Holland besprochen?“, fragte ich, als ich das Schweigen nicht mehr ertrug. Die Schatten schienen von allen Seiten näher zu kommen. Ich brauchte dringend eine Ablenkung. Andrew zögerte. „Du sagtest, dass das Geld knapp ist. Wenn du jetzt für ihn arbeitest, dachte ich, dass ich … na ja, dass ich helfen könnte. Ich habe ihn gefragt, ob er mich auch anstellen kann. Für ein geringeres Gehalt natürlich. Ich musste auch einen kleinen Test machen, aber —.“ „Nein“, sagte ich. Andrew schrumpfte bei meinem Ton zusammen. „Warum nicht?“, fragte er. „Weil …“ Ich sah mich erneut um. Wir waren alleine. Weit und breit keine Spur von Isaac oder Eugenie oder Holland oder irgendjemandem. „Andrew, Ida und ich haben im Keller Aufzeichnungen von Hollands verstorbener Frau gefunden“, begann ich. „Er und Isaac bringen seit gut fünfzehn Jahren Anker und ihre Dae in ihre Villa und lassen die Wehrlosen von ihnen in sogenannten Tests sterben, damit Isaac die eskalierten Dae fressen und stärker werden kann. Wir können ihm nicht trauen. Morgen früh packen wir unsere Sachen und verschwinden aus dem Distrikt.“ „Das ist doch lächerlich“, sagte Andrew mit belegter Stimme. „Bist du sicher, dass ihr euch nicht vertan habt?“ „Ida hat Eugenies Erinnerungen gesehen“, entgegnete ich. „Glaub mir, wir sind uns sicher.“ „Aber … wir haben kein Geld“, sagte Andrew hilflos. „Was ist mit der ausstehenden Miete, die du noch schuldig bist? Was ist mit den Zugtickets?“ „Ich muss Sam bitten, mir etwas vorzustrecken“, sagte ich. „Ich bin auch nicht scharf darauf, bei Rock angekrochen zu kommen, aber ich bleibe keinen Tag länger hier. Und du auch nicht.“ „Du willst also wieder für seine Organisation arbeiten?“, fragte Andrew rasch. „Wir könnten auch unsere eigene aufmachen. Zusammen.“ Seine Ohren färbten sich knallrot. „Andrew“, sagte ich schmerzlich und schielte zu Ida, die einige Schritte vorauslief und halb mit der Nacht verschmolz. Egal. Wenn ich es schon ansprechen musste, dann jetzt, wo ich sein Gesicht nicht sehen konnte. „Ich bin nicht blind. Ich sehe, wie du mich anschaust. Du denkst vielleicht, dass wir zusammenarbeiten und dadurch zusammenwachsen und ich irgendwann deine Gefühle erwidere. Aber uns trennen zehn Jahre.“ Andrew blieb abrupt stehen. „So viel sind zehn Jahre nicht“, murmelte er. „Zehn Jahre sind eine Menge“, entgegnete ich. „Für mich bist du immer noch ein Kind. Schau mich nicht so entrüstet an, ich sage dir nur die Wahrheit. Für deine Hilfe bin ich dir dankbar, aber unsere Beziehung endet bei Arbeitskollegen und Freunden. Mach dir bitte keine Hoffnungen, dass daraus jemals mehr wird.“ Andrews Griff um meine Beine wurde fester, als er sich wortlos wieder in Bewegung setzte. Es fühlte sich an, als stecke mein Herz in meiner Kehle fest, aber ich nahm meine Worte nicht zurück. Am liebsten hätte ich ihm niemals eine Abfuhr erteilt, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, dass ein klarer Bruch besser war, als sich jahrelang Hoffnungen zu machen, die schließlich doch zu einem Scherbenhaufen aus Bitterkeit zerbrachen.     Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal auf der Couch gesessen hatte. Ich saß in Unterhose auf dem Sofa, mein rechtes Bein auf die Polster neben mir gebettet und ging mit Messer und dem Rest der Essigessenz an meiner Verletzung zu Gange. Zwei Schmerztabletten hatte ich schon intus. Ich sah flüchtig zu Andrew auf, der noch immer kein Wort gesagt hatte. Er stand vor der Kaffeemaschine, die bereits seit einigen Minuten betriebsbereit war. Noch heute Morgen hätte ich eine neckende Bemerkung gemacht, aber jetzt blieb ich still. Ida saß auf der anderen Couch und starrte auf das Bild, das Tom von uns beiden gemalt hatte. Ich war nicht sicher, was sie von dem heutigen Tag am meisten mitgenommen hatte, aber ich war sicher, dass sie reden würde, sobald sie bereit war. Meine Gedanken kreisten bereits mit den nächsten Schritten. Ich wollte meine Selbstständigkeit nicht aufgeben, nur weil es gerade nicht gut lief, aber es war wichtiger, heil aus der Sache mit Holland rauszukommen. Sobald ich in sicherer Entfernung war, konnte ich versuchen, die Autoritäten zu einer Untersuchung von Hollands Anwesen zu überreden. Vielleicht wurde etwas daraus, auch wenn ich nicht daran glaubte. Holland war reich und mit dem Chief befreundet—es würde mich nicht wundern, wenn die höchsten Posten des Distrikts von seinen Machenschaften wussten und sie sogar duldeten. Vielleicht konnte Henny etwas reißen. Sie kannte sich mit solchen Dingen aus. Ich schrieb Sam eine schnelle SMS, in der ich sie bat, gleich morgen früh vorbeizukommen. Ich war so in Gedanken, dass ich Andrew erst bemerkte, als er schon auf der gegenüberliegenden Couch lag, Rücken zu mir gewandt. Kurz drehte er sich zu mir um. Seine Augen waren rot gerändert und plötzlich fragte ich mich, ob er den gesamten Rückweg über geweint hatte. „Gute Nacht, Ms. Thynlee.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)