Daemon 2 von yazumi-chan (Akte Holland) ================================================================================ Kapitel 3 --------- Ida war aufgekratzt, als wir in unserem Büro ankamen. Andrew schlief leise schnarchend auf dem zweiten Sofa, nur in eine Decke gewickelt. Das größere hatte er frei gelassen. Dankbar ließ ich mich darauf sinken und bettete mein Bein auf die Polster. Die Kälte hatte nachgelassen, dafür pochte es höllisch und die dunkle Linie pulsierte schmerzvoll, so als hätten mich Wespen unter der Haut gestochen. >Was bedeutet das, Coon? Aufgebracht schwirrte Ida zu mir und blieb wenige Zentimeter über mir schweben. >Er ist ein Dae, so wie ich, also warum kann er dich berühren und ich nicht? „Keine Ahnung“, sagte ich müde und massierte mit zusammengebissenen Zähnen mein Bein. Inzwischen war es nach drei Uhr morgens. Ich konnte kaum die Augen offenhalten, aber so, wie Ida durch unser Büro titschte, würde ich vorerst keine Ruhe bekommen. „Vielleicht liegt es an seinem Alter. Er ist schon viel länger tot als du.“ Ida sah nicht zufrieden mit dieser Antwort aus, nickte aber und ließ sich schwarz wie ein Schatten auf das gegenüberliegende Sofa sinken, wo sie meist ihre Nächte verbrachte. Andrew riss nach Luft schnappend die Augen auf, Schweiß auf der Stirn und fasste nach seinem Herzen. Erschrocken flog Ida zur Decke, kam aber im nächsten Moment zurück. >Oh Andrew, es tut mir leid! Ich hab dich vergessen. „K-kein Problem“, stammelte er und setzte sich mit zittrigen Händen auf. Ich hatte nur das schummrige Licht über meinem Schreibtisch angemacht, daher lag eine Seite seines Gesichts im Dunkeln. Sein Blick fiel zu mir. „Willkommen zurück, Ms. Thynlee. Ich wollte eigentlich wach bleiben, aber ich war heute Morgen schon so früh unterwegs und …“ „Mach dir nichts draus“, sagte ich und fuhr mit meiner Beinmassage fort. „Die Rotte ist exzidiert. Alles lief glatt.“ Ida warf mir einen tadelnden Blick zu. >Gar nicht wahr. „Ida“, sagte ich warnend, doch sie hatte sich längst an Andrew gewandt. >Coon wurde gebissen. Dan hat sie gerettet. „WAS?!“ „Da haben wir den Schlamassel“, murmelte ich, während Andrew aufsprang und vor meinem Sofa auf die Knie fiel. „Wo wurden Sie gebissen? Was ist passiert? Wie haben Sie— oh.“ „Ja“, sagte ich, als seine Augen an meinem Knöchel hängen blieben. „Genau da.“ Die Bisswunde war angeschwollen und schwarz umrandet. Von den Ausläufern ging die dunkle Giftlinie aus, die sich durch mein Bein schlängelte. Andrew fuhr die Überreste mit zwei Fingerspitzen nach. Ich wartete geduldig darauf, dass er meinen Oberschenkel erreichte, bemerkte, was er da tat und die Hand zurückriss, so als hätte er sich verbrannt. „Tut mir leid, Ms. Thynlee“, sagte er hastig und sah zu mir auf. „Ich war nur … ich dachte—“ „Genug mit diesem Ms. Thynlee-Unsinn“, sagte ich und ließ mich gegen die Sofalehne sinken. Ida schwebte an meine Seite und rollte sich wie eine Katze an meiner Seite ein. „Wenn du in Zukunft hier wohnen und für mich arbeiten willst, kannst du meinen Vornamen benutzen.“ „Raccoon?“ Ich nickte ermutigend. Andrew schluckte, offensichtlich nervös. „Ich habe mich das schon eine Weile gefragt“, sagte er schließlich und setzte sich etwas bequemer im Schneidersitz vor mich hin. „Ihr Name ist ein Nimbus, oder?“ >Nimbus? „Ein Waisenname“, sagte ich. Andrew nickte und setzte die Erklärung fort. „Wenn Kinder als Waisen aufwachsen, wird ihnen von einer außenstehenden Person ein Name gegeben, der ihrem Aussehen oder ihrem Charakter entspricht. Es sind immer englische Begriffe, wie zum Beispiel Sky, Brave oder Daisy.“ „Oder Rock“, sagte ich. Andrew sah überrascht zu mir. Davon hatte er also nicht gewusst. „Wir lebten damals im selben Waisenhaus, allerdings ist er fünf Jahre älter als ich.“ „Also sind Sie tatsächlich …“ „Eine Waise? Ja.“ Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen. „Du musst nicht so um das Thema herumtanzen. Ich habe meine Eltern nie kennengelernt.“ „Und wer war es?“, fragte Andrew. „Wer hat Ihnen, ich meine, wer hat dir deinen Namen gegeben?“ „Sunny“, sagte ich und ließ mich seitlich in die Polster sinken, Rücken zu Andrew gedreht. „Sein Name war Sunny.“     Das Kribbeln meiner sich regenerierenden Sicht weckte mich am nächsten Morgen. Stöhnend rieb ich mir die Augen, bis sie wehtaten und setzte mich auf. Ein Sonnenstrahl fiel durch die halbschrägen Jalousien direkt in mein Gesicht. Andrew schlief noch tief und fest; sein leises Schnarchen füllte das kleine Büro. Ida, die während meiner Nachtruhe gerne durch die Straßen stromerte, um sich nicht, wie sie gerne verkündete, zu Tode zu langweilen, schwebte vor unserem leeren Kalender. Als sie mich bemerkte, schwirrte sie sofort an meine Seite. Sie sah besorgt aus. >Wie geht es dir? Ich zuckte die Schultern und stand vorsichtig auf. In Wahrheit ging es mir verdammt beschissen. Meine rechte Schulter und mein Rücken taten von dem Abrollen auf unnachgiebigen Fliesen weh, meinen Bauch durchzuckte bei jeder Streckung ein plötzliches Ziehen und mein Bein … Nun. Mein Bein pochte und juckte und schien bei jedem Schritt Richtung Kaffeemaschine einknicken zu wollen. „Ms. Thynlee?“, ertönte es schläfrig aus Andrews Sofaecke. „Sind Sie schon wach?“ „Nenn mich Coon“, seufzte ich. Ida kicherte. Sie hatte diesen Satz damals ebenfalls zu hören bekommen. „Ich habe heute ein paar Aufträge in der Stadt zu erledigen“, sagte ich. „Andrew, du kannst den Telefondienst übernehmen. Nimm alles an, was reinkommt.“ Ida umflog mich gekonnt, machte einen Salto durch die Luft und landete mit ausgebreiteten Armen auf der Sofalehne. >Warum treffen wir uns nicht mit Dan? Er hat uns doch eingeladen. Und wir könnten Andrew mitnehmen! „Wir können nicht einfach zusätzliche Gäste anschleppen“, murmelte ich. „Außerdem habe ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Am besten vergisst du die beiden wieder.“ Ida blieb unbeeindruckt. >Aber er hat dir seine Karte gegeben. Er wird traurig sein, wenn du nicht anrufst. Genervt sah ich zu meinen beiden Schützlingen. Ida schmollte und Andrew erwiderte verdattert meinen Blick. Schließlich seufzte ich geschlagen. „Fein, ich rufe die Woche mal an, damit du mit Isaac spielen kannst. Aber nicht jetzt.“ Ich überprüfte die Uhrzeit auf meinem Diensthandy. Das Display zeigte 6:43 Uhr und die grelle Bildschirmbeleuchtung entfachte das Kribbeln in meinen Augen von neuem. Vier Stunden Schlaf reichten eindeutig nicht aus, um meine Sicht vollständig wiederherzustellen, aber für Schlaftabletten fehlte mir seit Wochen das Geld. Und um ehrlich zu sein, hatte ich lange keine mehr gebraucht. Während ich meinen bitteren Kaffee trank und Ida bei Laune hielt, konnte ich mich der schleichenden Vorahnung nicht entziehen, dass sich das schon bald ändern würde.     So erniedrigend es auch war, ich brauchte Andrews Hilfe beim Umziehen. Mein Bein anzuwinkeln, tat so weh, dass ich beim ersten Versuch einen erschrockenen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. Als ich nur noch in Slip und Tank-Top vor ihm saß, wurde Andrew puterrot, was die Pickelsituation in seinem Gesicht nicht gerade verbesserte. Mit halb geschlossenen Augen half er mir in eine knielange Jeans und wandte sich dann schnell ab, damit ich ein unbedrucktes T-Shirt überziehen konnte. Humpelnd und steif machte ich mich alleine auf den kurzen Fußweg in die Stadt. Ida blieb im Büro. Alltägliche Erledigungen langweilten sie und mit Andrew, der bei ihrem Bitten und Betteln nicht wieder eingeschlafen war, hatte sie einen neuen Spielpartner. Von dem bisschen Bargeld, das ich noch hatte, kaufte ich Kaffee, Essig und einige reduzierte Mikrowellengerichte. Wenig später kam ich auf dem Weg zur Bank am Cherry Club vorbei, aus dem nach und nach Besucher tröpfelten. Mein Bein schmerzte bei jedem Schritt, aber ich biss die Zähne zusammen und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich den gesamten Mittag und Nachmittag auf dem Sofa schlafen konnte, in der Gewissheit, die Miete einmal pünktlich zahlen zu können. So spontan der Auftrag gestern auch gewesen war, so schnell hatte Oliver Correll für mein Gehalt gesorgt. Als ich die schlicht gehaltene Bank erreichte, war der Kredit bereits abgegeben worden und die kurvige Dame an der Auszahlung tauschte ihn, zusammen mit dem Check von Welmy, gegen insgesamt dreißigtausend Drat ein, was in Distrikt 18 ziemlich genau zwei Monatsmieten entsprach. Ich stopfte das Geld in mein Portemonnaie und verließ das temperierte Gebäude. Ich war kaum in die nächste Gasse gebogen, da klingelte mein Handy. Mein Diensthandy. Überrascht starrte ich auf das Display. Hier war ein Name, den ich so schnell nicht wieder erwartet hatte. Dankbar über die Ausrede, mein Bein zu entlasten, lehnte ich mich an eine Hauswand und hob ab. „Rock“, begrüßte ich meinen ehemaligen Boss. „Was gibt’s?“ „Coon!“ Seine tiefe Stimme erinnerte mich an dunkle, warme Hände, Wodka in flachen Gläsern und sein breites, weißes Lächeln. „Wie macht sich die Selbstständigkeit?“ „Oh, ich kann nicht klagen“, sagte ich gedehnt und verlagerte mein Gewicht auf das linke Bein. „Andrew ist zu Besuch gekommen. Und selbst? Wie läuft das Geschäft?“ Rock schwieg. Im Hintergrund konnte ich das Klirren von Gläsern und Marys undeutliche Rufe aus der Küche vernehmen. „Seit du weg bist, bekommen wir nur noch einen Bruchteil der früheren Aufträge“, erklärte Rock. „Ich musste die Prozente kürzen. Die Stimmung ist schlecht. Einige Hunter denken über einen Wechsel nach. Paige bekommt großen Zulauf.“ Er zögerte. „Es ist einfach nicht dasselbe ohne dich.“ Für einen Moment war ich so wütend, dass ich nicht sprechen konnte. „Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen“, presste ich hervor. Rock ignorierte meinen Kommentar. „Nachdem du aus dem Distrikt verschwunden bist, habe ich mich ausgiebig mit Harry unterhalten. Ich will dich nicht mit den Details langweilen, aber Fakt ist, dass wir es mit seiner Aussage geschafft haben, Kriguard dranzukriegen. Es war zwar sein Bodyguard, der Britta erschossen hat, aber dank der Kameras und Reagans Zeugenaussage ist er auch verhaftet worden.“ „Was ist mit Harry?“, fragte ich. „Die Sache mit Harry ist abgehakt. Wir mussten ihm einen Deal machen, aber er hat inzwischen den Distrikt verlassen. Er ist irgendwo in 9. Weit weg von uns.“ Ich runzelte die Stirn. Es gefiel mir nicht, dass unser ehemaliger Head of Security auf freiem Fuß war, andererseits hatte er sich nur bereichert und meinen Ruf ruiniert, nicht seine eigene Tochter ermorden lassen. Rock hatte die richtige Entscheidung getroffen. „Und da der Kriguard-Fall aufgelöst wurde, bin ich wieder im Reinen?“ Rock schwieg. „Du kannst es mir ruhig sagen, Rock“, murmelte ich genervt. „Ich bin nicht mehr zwölf.“ „Du wirst nicht mehr für Brittas Tod verantwortlich gemacht“, sagte er. „Allerdings ist Lorenes und Idas Ableben weiterhin ein schwarzer Fleck in deiner Akte. Es sind nicht viele Ausrutscher, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass beide vertuscht wurden. Ich weiß —“, unterbrach er meinen Einwurf, „dass beide Fälle inoffiziell waren. Aber Kriguard hatte mehrere Wochen, um dich als die Böse darzustellen, bevor er verhaftet wurde. Es gibt viele, die deine Dienste wieder in Anspruch nehmen wollen, aber genauso viele halten dich für unverantwortlich. Idas Alter hilft nicht gerade.“ „Ida hat noch das beste Schicksal erwischt“, sagte ich. „Sie kann weiterhin am Leben teilnehmen, im Gegensatz zu den anderen.“ „Denkst du das wirklich?“, fragte Rock leise. Mein Mund wurde trocken. Ida war ein Dae, aber das machte ihre Existenz nicht automatisch minderwertig. Lorene und Britta waren tot, doch Ida würde weiterhin leben, Freunde haben, spielen. Nichts alleine anfassen oder bewegen. Für die meisten unsichtbar sein. Für immer ein Kind bleiben. Stetig Kontrolle über ihre Emotionen behalten müssen, damit sie nicht zu einem Daemon wurde. „Solange ich Ida zum Lachen bringen kann, wird mich niemand davon überzeugen, dass sie tot besser dran wäre“, brachte ich mühsam hervor. „Coon, so habe ich das nicht —“ „Ist mir egal, wie du es gemeint hast“, unterbrach ich ihn. „Komm einfach zur Sache. Du erzählst mir das doch alles nicht nur, um mich auf dem Laufenden zu halten. Spuck‘s schon aus.“ „Ich möchte dir anbieten, zurückzukommen“, sagte Rock. „Mary hat dein Zimmer freigehalten, alles ist unverändert.“ „Zurückkommen?“, fragte ich. „Nachdem du mich gefeuert hast?“ „Coon, bitte.“ Er klang verlegen. „Du weißt, dass ich keine andere Wahl hatte.“ „Die hat scheinbar nie jemand“, erwiderte ich trocken. „Wenn Harry uns nicht so manipuliert hätte, wärst du weiterhin meine Top-Hunterin, und das weißt du.“ „Das ist nicht der Punkt!“, fauchte ich. „Fünfzehn Jahre habe ich für dich gearbeitet, in deiner Basis gelebt, mich abgerackert, mit dir die Organisation hochgezogen, neue Hunter ausgebildet. Du und Mary wart für mich wie meine Familie! Aber kaum war ich nicht mehr von Nutzen, hast du mich fallen lassen. Denkst du wirklich, ich habe Lust, zu dir zurückzukommen?“ „Coon —“ „Danke für den Anruf, Rock“, sagte ich über seine leere Entschuldigung hinweg. „Spar dir den nächsten, ich bleibe hier. Grüß Mary von mir.“ Mit diesen Worten legte ich auf. Ich umklammerte mein Handy so fest, dass ich glaubte, es jeden Moment zu zerquetschen. Mir war heiß und kalt gleichzeitig und ich konnte meinen Puls in meiner Kehle spüren. Sein Angebot, wieder für ihn zu arbeiten, war schlimm genug, aber meine Gedanken klebten an einem anderen Teil der Unterhaltung, wie Fliegen in einem Spinnennetz. Ida. Ich wusste es doch. Gottverdammte Scheiße, ich wusste, dass es nicht dasselbe war. Dass sie darunter litt, tot zu sein. Sie war so aktiv, so lebensfroh, und nur weil ich nicht aufgepasst hatte, weil ich einen offensichtlichen Hinweis ignoriert und von dem Daemon überrascht worden war, hatte sie sterben müssen. Britta wurde von ihrem Bodyguard getötet. Ich hatte mein Möglichstes getan, sie vor dem Daemon zu beschützen. Lorene war gebissen worden, weil ich nicht stark genug war, um den Daemon schnell zu exzidieren. Für beide hatte ich Ausreden. Nicht für Ida. Ihr Schicksal war einzig und allein meine Schuld. Ich holte zittrig Luft. So zu denken, half ihr nicht weiter. Solange sie noch lachte, solange sie ihr Dasein nicht hasste, würde ich bei ihr bleiben und alles tun, um sie glücklich zu machen. Isaac mochte verlernt haben, zu lächeln, aber nicht Ida. Niemals Ida. Dafür würde ich sorgen. Ich richtete mich auf. Am Ende der Straße konnte ich schon den Cherry Club erkennen. Fast alle nächtlichen Besucher hatten sich in den Morgen verlaufen, nur drei Typen torkelten noch in meine Richtung und betraten lachend und grölend meine Gasse. Sie schienen nicht an mir interessiert, zumindest bis einer von ihnen aufsah, seine Kumpane anstupste und zu mir nickte. Das Grüppchen wurde langsamer. Ich war nah genug, um die glasigen Augen ausmachen und die Alkoholfahne riechen zu können, bevor ich mich an die Gesichter der drei Männer erinnerte. Sie hatten gestern Nacht Henry angemacht. Ohne groß nachzudenken, wählte ich die Nummer unseres Büros und wartete angespannt, während die drei näherkamen. Nach dem dritten Klingeln hob Andrew ab. „Selbständige Hunterbasis Raccoon Thynlee, Sie sprechen mit —“ „Hi Andrew“, unterbrach ich ihn. „Hör zu, ich bin in der Gasse hinter dem Cherry Club an der Gassing Street. Schnapp dir Ida und komm her. Ich werde vermutlich gleich deine Hilfe brauchen.“ „Coon, was —“ Der Rest seiner Antwort wurde von dem Piepen abgeschnitten, als ich auflegte. Die drei Typen waren nur noch wenige Meter entfernt. Ich verlagerte mein Gewicht und humpelte unauffällig los, um nicht durch unbedachtes Einknicken meine Verletzung preiszugeben. Die drei beschleunigten ihre Schritte, leicht schwankend und aufgefächert und warfen sich gegenseitig spekulative Blicke zu. Mit steinerner Miene ging ich weiter, auch wenn mein Herzschlag sich beschleunigte und mein Gehirn auf Fluchtinstinkt umschaltete. Umzudrehen war jedoch keine Option. Selbst in Topform war ich eine miserable Sprinterin; mit meinem lahmen Bein hatte ich keine Chance, das Grüppchen abzuhängen, das aussah, als würde es regelmäßig ganze Tage im Fitnessstudio verbringen. Stattdessen bewegte ich mich mit hochgerecktem Kinn und schmerzlich langsam vorwärts. Uns trennten nur noch drei Schritte, als der linke Typ, bullig und mit Drachentattoos auf beiden Armen, zu sprechen begann. „Du bis‘ doch die Barkeeperin, oder?“, fragte er und deutete mit dem Daumen hinter sich zur pink beleuchteten Fassade des Cherry Clubs. „Nein“, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Genau genommen war es nicht mal eine Lüge. Welmy hatte mich schließlich gefeuert. „Doch, doch, ich erkenne dich“, sagte der Dunkelhäutige auf der anderen Seite. Er war schlaksiger, mit fettigen Locken und grobporiger Haut. „Du hast uns lautstark als Arschlöcher beschimpft. Oder, Johnny?“ Johnny, der in der Mitte stand, verschränkte die Arme und nickte. Der Schweiß der vergangenen Nacht klebte das T-Shirt und sein rotes Haar an seine Haut. „Kann mich nicht erinnern“, sagte ich trocken. „Sorry, Jungs. Sicher, dass ihr mich nicht verwechselt?“ Mit festen Schritten ging ich an ihm vorbei, doch seine Hand schoss zur Seite und packte mich am Arm. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich in Zeitlupe zu ihm um. Ich versuchte, mich loszureißen, doch er hielt mich unnachgiebig fest. „Lass los“, sagte ich durch zusammengebissene Zähne, „oder ich schlag dir die Fresse ein.“ Grinsend verstärkte er den Griff um mein Handgelenk. Seine Freunde lachten lautstark. „Das würde ich gerne —“ Man konnte über meine Sprintfähigkeiten sagen, was man wollte, aber wenn ich etwas hatte, dann gute Reflexe. Meine Faust schoss blitzschnell vor und traf mit einem dumpfen Knirschen genau auf seine Nase. Johnny jaulte auf und ließ mich stöhnend los, während ihm ein Schwall Blut über Mund und Kinn strömte. Zufrieden schüttelte ich meine Faust aus. Leider blieb mir nicht viel Zeit, meinen Triumph zu genießen. Johnny wich fluchend vor mir zurück, dafür packte mich der Lockenkopf von hinten und hebelte mir gekonnt den Arm auf den Rücken, bis ich auf Zehenspitzen stehen musste, um mir nicht die Schulter auszukugeln. Sein Freund kam bedrohlich auf mich zu. Das Muskelspiel unter seiner Haut erinnerte mich an Drahtseile, die übereinander schrammten und erweckte die Drachen auf seinen Armen zum Leben. „Wir hab’n gehört, was passiert ist“, lallte er und beugte sich so nah zu mir, dass ich die geplatzten Adern in seinen Augen erkennen konnte. „Wegen dir is‘ die Band nicht aufgetreten. Weißt du, wie teuer die Tickets für den Abend waren?“ Statt einer Antwort fletschte ich die Zähne und kämpfte gegen die Arme an, die mich von hinten festhielten, doch der Schmerz trieb mir augenblicklich die Tränen in die Augen. „Ey, Marco“, rief mein Fänger und legte dabei sein Kinn auf meine Schulter. Der Geruch von Alkohol und Rauch füllte meine Nase. „Schau mal nach, ob sie Geld dabeihat.“ Aus den Augenwinkeln konnte ich sein Grinsen erkennen. Weiß, umrandet von prallen Lippen und dunkler Haut. „Als Entschädigung.“ Marco lachte und begann damit, meinen Oberkörper abzutatschen. Als er meine Hosentaschen und die Geldbörse darin erreichte, gab ich einen verzweifelten Schrei von mir und stieß ihm das Knie in die Weichteile, bevor ich den Kopf nach hinten riss, um seinem Freund ebenfalls die Nase zu brechen, doch er wich schnell genug aus. Dasselbe konnte ich nicht von Marco sagen. Er griff sich in den Schritt, sackte stöhnend auf die Knie und sah wenige Sekunden hasserfüllt zu mir auf. Ich reckte das Kinn vor. Dann ertrank ich ihn Schmerz, als mir von hinten die Arme hochgerissen wurden, ich zurückstolperte, mein Bein unter mir nachgab und ich nach unten sackte. Ich schaffte es gerade noch, den Sturz zu verhindern, damit sich meine Schulter nicht völlig auskugelte, aber dann umschlang ein muskulöser Arm meinen Hals und drückte zu. Tränen füllten meine Sicht mit Schlieren, durch die ich verschwommen wahrnehmen konnte, wie Marco sich aufrappelte und nun doch meine Geldbörse schnappte, während Johnny Blut auf den Boden spuckte und sich an meiner Einkaufstüte zu schaffen machte. „Ihr werdet damit … nicht durchkommen“, presste ich zwischen den Zähnen hindurch. „Meine Freunde sind … auf dem Weg hierher. Ihr seid am Arsch, Fucker.“ „Dann beeilen wir uns wohl besser“, fauchte Johnny. Ihm strömte weiterhin Blut aus der Nase, wenn auch nicht mehr so stark, und seine Stimme klang, als schleppe er seit Wochen eine Erkältung mit sich rum. Er riss meine Einkaufstüte auf, zertrat die Mikrowellengerichte auf der Straße, bis der gesamte Asphalt mit Nudeln, Gemüse und Soße verschmiert war und machte sich dann an dem Instantkaffee zu schaffen, dessen Verpackung er öffnete und das tiefbraune Pulver überall verstreute. Marco entledigte unterdessen meine Geldbörse ihres Inhalts. Mit lauten Flüchen und Schreien musste ich mit ansehen, wie er mein Geld, die Miete für zwei Monate, meinen gesamten Besitz mit ringbesetzten Wurstfingern abzählte und in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Dreißigtausend Drat. Weg. „Hab alles“, sagte er und warf die Geldbörse zu Boden. „Lass uns abhauen, Havi.“ Mein Bein pochte unermüdlich. Ich wollte nur noch, dass die drei gingen, dass sie mich in Ruhe ließen. Andrew und Ida waren nicht rechtzeitig gekommen. Es war kein Wunder, der ganze Überfall hatte nur wenige Minuten gedauert. „Moment noch.“ Bei Johnnys Stimme lief mir ein Schauer über den Rücken. Er hielt die Essigessenz in der Hand und sah abschätzend zu mir. „Wie sieht’s aus?“, fragte er, während er den Verschluss aufdrehte und in meine Richtung ging. „Hast du Durst?“ „Scheiße, John, lass das“, sagte Marco und stellte sich ihm in den Weg, doch John stieß ihn nur zur Seite und blieb vor mir stehen. Ich starrte die Flasche in seinen Händen an. Ich kannte mich nicht besonders gut mit Chemie aus, aber ich war ziemlich sicher, dass fünfundzwanzigprozentige Essigsäure mir Mund, Hals und Magen verätzen würde. Havis Griff lockerte sich leicht, als er zu derselben Erkenntnis kam, doch das bewirkte nur, dass plötzlich mein gesamtes Gewicht auf meinem anderen Bein lastete. Ich rutschte aus seinen Armen und fiel auf den Boden. Panisch krabbelte ich rückwärts, während John mit fast manischem Blick auf mich zukam. Dann sprang er wie ein Raubtier auf mich, blieb auf mir sitzen und kippte mir den Essig ins Gesicht. Instinktiv schloss ich die Augen. Meine Lippen waren zusammengepresst, aber der scharfe Geruch brannte sich wie ein Feuer durch meine Nase. Blind schlug ich nach John, traf aber nur seine Brust und im nächsten Moment pressten zwei Finger meine Nasenflügel zusammen. Den Mund geschlossen, hielt ich die Luft an, atmete nicht, weigerte mich, ihm die Gelegenheit zu geben, mir ernsthaften Schaden zuzufügen. Stattdessen trat ich um mich, strampelte, bockte unter seinem Gewicht, dann brannte meinen Lungen, mehr, mehr … Ich öffnete den Mund in einem verzweifelten Einatmen und der Essig floss über meine Zunge. Das beißende Brennen füllte meinen Mundraum. Wutentbrannt riss ich die Augen auf und spuckte den Essig in Johns Gesicht. Im Gegensatz zu mir waren seine Augen geöffnet. Es war nicht viel, was hineinkam, aber es genügte, um ihn schreiend die Flasche fallen und zurückweichen zu lassen. Hustend und spuckend lehnte ich mich auf die Seite und versuchte, den Geschmack des Essigs loszuwerden. Nur wenige Sekunden in meinem Mund und meine Schleimhäute fühlten sich schon wund an. Auch meine Kehle brannte, obwohl ich nichts geschluckt und nur wenig eingeatmet hatte. Als ich den Kopf wieder hob, hatten Havi und Marco ihren Freund unter den Achseln gepackt und schleppten ihn davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ausgelaugt spuckte ich ein letztes Mal aus und robbte dann zurück zu meinen Habseligkeiten, oder dem, was davon übrig war. Außer der Essigflasche, die bei dem Fall auf den Boden zur Hälfte ausgelaufen war, hatte keiner meiner Einkäufe überlebt. Hoffungsvoll durchsuchte ich meine Geldbörse, doch außer etwas Münzgeld war nichts mehr übrig. „FUCK!“ Ich schlug mit der Faust auf den Asphalt neben mir. „Dreckskerle! Arschlöcher! Wichser!“ Jedes Wort begleitete einen weiteren Schlag, bis zusätzlich zu meinem Bein und meiner Schulter auch noch meine Hand wund war und schmerzhaft pochte. „Gottverdammte Scheiße …“, flüsterte ich, zog die Beine enger an meinen Körper und umklammerte meine Knie mit tauben Händen. Erschöpft schloss ich die Augen. Warum musste immer alles kaputt gehen?     Andrew fand mich wenige Minuten später hockend und mit tränenverschmiertem Gesicht in der Gasse vor, die Überreste des Kampfes noch um mich verteilt. Ida, die mausgrau an seiner Seite geflogen war, färbte sich bei meinem Anblick von einer Sekunde auf die andere pechschwarz und sank aus der Luft herab auf den Boden, als ihre Masse sich vervielfachte. Sie lief an meine Seite und nahm mich in den Arm, ohne Fragen zu stellen. >Ich lasse dich nie wieder allein. Ab jetzt werde ich dich immer beschützen. Ihre Stimme war fest und voller Entschlossenheit, sodass ich unwillkürlich lächeln musste. „Das sollte ich sagen, verdammt“, murmelte ich und umarmte sie zurück. „Wer von uns ist hier die Erwachsene?“ >Erwachsensein ist überbewertet. Andrew starrte mich noch immer wie gelähmt an. Erst, als ich seinen Blick erwiderte, riss er sich zusammen und half mir auf die Füße. „Hast du Wasser dabei?“, fragte ich. Er nickte und zog hastig eine Sprudelflasche aus seinem Rucksack. Ich spülte zuerst meinen Mund, bis das brennende Gefühl abnahm, dann wusch ich mir gründlich das Gesicht. Ich reichte ihm die leere Plastikflasche. „Ein Taschenmesser hast du nicht zufällig auch, oder?“, fragte ich mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Essigflasche. Er schüttelte den Kopf und ich seufzte. „Dann wirst du mir helfen müssen.“ Ich deutete auf mein Bein, das so heftig zitterte, dass ich es nicht einmal leicht belasten konnte. Andrew schluckte schwer, straffte jedoch die Schultern und stellte sich mit dem Rücken zu mir. Er ging in die Hocke. „Und was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte ich. „Ich trage dich.“ Ich blinzelte. Von hinten konnte ich es nicht gut erkennen, aber sein Nacken und seine Ohren färbten sich langsam rot. War es ihm peinlich, mich durch die Straßen zu tragen? Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war er seit seiner Ankunft häufiger rot geworden. Bei der Vorstellung, ich könnte Stripperin sein, als er mir beim Umziehen half, jetzt … Ich hatte mir nichts dabei gedacht, schließlich war er kaum aus der Pubertät raus. Stöhnend rieb ich mir die Nasenwurzel, hüpfte einbeinig zu Andrew und kletterte auf seinen Rücken. Seine Arme hakten sich unter meine Kniekehlen und obwohl die Position meinem Bein höllisch wehtat, biss ich die Zähne zusammen und hielt mich mit beiden Händen an seinen Schultern fest. Er stand ächzend auf, schwankte kurz und setzte sich dann langsam in Bewegung. Ida reduzierte ihre schwarze Färbung gerade so weit, dass sie bequem nebenher fliegen konnte, eine Hand durchgängig auf meinen Arm gelegt. Ich fühlte mich erniedrigt, so durch die Straßen kutschiert werden zu müssen. Ich war Raccoon Thynlee verdammt, einer der besten Daemonenhunter des Landes. Seit Welmy mich gefeuert hatte, war alles schief gegangen—und ich hasste es. Mein Blick glitt von den graffitibesprühten Hausfassaden zu Andrews blondem Haarschopf, der von der Anstrengung leicht verschwitzt war und in Strähnen auf seinem Kopf klebte. Wenn meine Vermutung sich bestätigte, würde ich ein ernsthaftes Wort mit Andrew führen müssen. Er war eindeutig zu jung, um sich in jemanden wie mich zu verknallen. Seufzend kramte ich nach meinem Handy und machte mich auf die Suche nach Daniels Visitenkarte, die ich gestern Nacht so lieblos in meine Hosentasche gestopft hatte, überzeugt, sie nie mehr brauchen zu werden. Zum Glück hatte ich sie nicht weggeschmissen. Während ich mich mit einer Hand an Andrew festhielt, tippte ich mit der anderen die angegebene Telefonnummer in das Tastenfeld ein. Dan nahm nach dem dritten Klingeln ab. „Daniel Holland, mit wem spreche ich?“ „Hi, Daniel“, sagte ich. „Hier ist Raccoon Thynlee.“ „Raccoon! So früh hatte ich nicht mit einem Anruf von dir gerechnet. Ich dachte, du wolltest dich erst erholen.“ „Planänderung. Steht dein Angebot für das Dinner noch?“, fragte ich und unterdrückte das Bedürfnis, sofort wieder aufzulegen. Ich hasste es, nach einer getroffenen Entscheidung wieder angekrochen zu kommen, aber ich durfte mich jetzt nicht von meinem Stolz beeinflussen lassen. Ohne das Geld der beiden Aufträge saßen wir Ende der Woche auf der Straße. Ich brauchte einen Job, egal wie. Obwohl er mich nicht sehen konnte, zwang ich mich zu einem selbstbewussten Lächeln. „Sagen wir, heute Abend?“     Ich zischte, als ich den Essig in die kleinen Einschnitte entlang der dunklen Giftlinie tupfte, atmete aber kurz danach erleichtert auf. Mit heftigem Kribbeln kehrte das Gefühl in meine Wade zurück. Es war meiner Sichtregeneration nicht ganz unähnlich. Ida beobachtete mich wachsam, während ich mit dem Taschenmesser an meinem Oberschenkel zu Werk ging. Andrew lief unterdessen eine Schneise in den Teppichboden. Schließlich warf er die Hände empor und ließ sich auf das gegenüberliegende Sofa fallen. „Aber … das ist nicht fair!“ „Willkommen in der echten Welt“, sagte ich. Ida verzog den Mund. >Was machen wir jetzt? Ich hatte schon eine sarkastische Antwort auf der Zunge, entschied mich im letzten Moment jedoch dagegen und bemühte mich um ein ermutigendes Lächeln. „Mir fällt schon etwas —“ Ein durchdringendes Klingeln durchbrach meine papierdünne Lüge. Verwirrt ließ ich das Messer sinken. Das Klingeln wiederholte sich, mehrfach und in nervtötendem Abstand. Ich rappelte mich auf und massierte einige Sekunden lang mein Bein, bevor ich mich erhob und zur Tür schleppte. Ich hatte sie kaum geöffnet, da nahm ein Schopf blonder Locken mir die Sicht. „Coon!“, rief Samantha glücklich und warf sich mir um den Hals. Sie war kleiner und leichter als ich, trotzdem knickte ich unter ihrem Gewicht ein. Eine Hand schnellte vor und zog Sam am Kragen zurück. „Sam“, sagte ich fassungslos, musste jedoch bei ihrem Anblick unwillkürlich grinsen. Meine beste Freundin hatte sich in den sechs Monaten, die ich nun in einem anderen Distrikt lebte, nicht verändert. Ihr Haar war etwas kürzer, aber davon abgesehen sah sie aus wie immer. Ihre grünen Augen blitzten mich vergnügt an. Hinter ihr stand, zwei Köpfe größer und langgliedrig, Henrietta. Ihr rotbrauner Hautton leuchtete in der morgendlichen Sonne wie Muskat und ihre schwarzen Locken bedeckten ihren Kopf in einem radikalen Kurzhaarschnitt. Eine gigantische Hornbrille saß auf ihrer Nase und gab ihr das Aussehen einer Eule.  „Sachte“, lachte Henny und half Sam auf die Füße. Ich fing mich wieder und stützte mich mit einer Hand an der Tür ab. Wir warfen uns über ihren Kopf hinweg einen vielsagenden Blick zu. Sam sah mich beleidigt an. „Das ist alles?“, fragte sie. „Kein Es tut gut dich zu sehen, Sam. Ich habe dich vermisst, Sam. Du siehst so frisch und jung aus, Sam.“ >SAMMY! Ida ließ sich von ihrer Verwirrung nicht beeindrucken und fiel Sam in die offenen Arme. >Du bist gekommen! „Siehst du, Coon?“, fragte Sam grinsend und tätschelte Idas Lockenkopf. „So begrüßt man eine Dame meines Kalibers richtig. Ida, du Goldstück, was habe ich dich vermisst!“ „Tut mir leid“, sagte ich und lehnte mich an den Türrahmen. „Es tut gut, dich zu sehen.“ Sams Laune steckte mich an wie ein Streichholz eine Öllache. „H-h-hallo Raccoon.“ Bei dem Klang der männlichen Stimme, leise und stockend, sah ich an Sam und Henny vorbei, die zur Seite traten, damit ich den dritten Besucher besser erkennen konnte. Tom Hines war ein stämmiger Mann mit Halbglatze, zu kleiner Brille und den weißesten Zähnen, die ich je gesehen hatte. Er reichte Sam außerdem kaum zum Kinn. Seine Hände formten einige schnelle Zeichen in Gebärdensprache, von denen ich wusste, dass sie Wie geht es dir? bedeuteten. „Wie immer triffst du gleich den wunden Punkt“, murmelte ich und trat zur Seite. „Aber kommt erstmal rein.“ „Rock lässt seine Grüße ausrichten“, verkündete Sam und ließ sich mit einem Seufzer auf das Sofa unter dem Fenster fallen. „Mary auch.“ Henny setzte sich neben sie und akzeptierte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Füße, die wenige Sekunden später in ihrem Schoß landeten. Tom schlurfte zu meiner Kaffeemaschine und begann damit, Unmengen von Kaffeepulver hineinzuschaufeln. Ich ließ ihn machen und setzte mich auf das gegenüberliegende Sofa. „Hat sie das wirklich?“ „Naja, nicht in so vielen Worten, aber seit du weg bist, schlägt sie mich noch öfter mit ihrem Handtuch als früher. Es ist nicht mehr dasselbe ohne dich.“ „Seid ihr deshalb hergekommen?“, fragte ich. „Um mich zu verschleppen?“ Sam schnaubte. „Unsinn. Wenn du mitkommen willst, ist das natürlich eine andere Sache, aber eigentlich haben wir nur alle drei Urlaub genommen und dachten, wir könnten dem legendären Auge in ihrem selbstauferlegten Exil etwas Gesellschaft leisten.“ Sie schmunzelte. „Außerdem bin ich auf der Suche nach meinem Schützling.“ „Wo ist Andrew eigentlich?“, fragte Henny. „Laut seiner Nachricht wollte er zu dir gehen.“ Ich sah mich um. Außer uns fünf war niemand in meinem Büro zu sehen. „Exzellente Frage“, sagte ich langgezogen. „Bis vor ein paar Minuten war er noch hier. Andrew?“ „Sag bloß, er versteckt sich vor mir“, kicherte Sam und tauschte belustigte Blicke mit Ida, die verschwörerisch an ihrer Seite schwebte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, was Sam lauthals zum Lachen brachte. Steifbeinig erhob ich mich, nahm im Vorbeigehen eine von Toms gefüllten Kaffeetassen an und klopfte an die Klotür. „Andrew? Bist du ertrunken?“ Keine Antwort. Mit hochgezogenen Augenbrauen öffnete ich die unverschlossene Tür. Andrew saß auf dem Toilettendeckel, blass und allem Anschein nach in Todesangst. Ich wollte spotten, mich über ihn lustig machen, so wie immer. Stattdessen schloss ich seufzend die Tür. „Was ist?“, fragte ich. „Ist sie sauer?“, fragte er kleinlaut. „Wer, Sam? Ich bitte dich.“ Ich lehnte mich an das Waschbecken. „Sie ist wahrscheinlich unheimlich stolz darauf, dass du alles hingeschmissen und deiner eigenen Nase gefolgt bist. Jetzt komm raus hier und mach die Sache nicht peinlicher, als sie schon ist.“ Andrew lief rot an, nickte jedoch und folgte mir zurück in den Hauptraum. Sam warf ihm über den Kaffeetisch hinweg ein Zwinkern zu. „Was macht mein liebster Straight-A-Student? Streckst du die Flügelchen?“ „Lass ihn, Sam“, sagte Henny und gab ihrer Freundin einen Kuss aufs Ohr. „Du warst in dem Alter nicht besser.“ Sie streckte verschämt die Zunge heraus. „Ertappt. Aber ich muss schon sagen …“, begann Sam, doch dann verstummte sie. Ich sah zu ihr. Ihr Blick war an der dunklen Linie hängengeblieben, die mein gesamtes rechtes Bein entlanglief und die sie scheinbar erst jetzt bemerkt hatte. „Coon“, fragte sie gedehnt, „was ist das?“ Tom schlich mit Kaffee an uns vorbei und nahm neben mir auf dem Sofa Platz. „Erinnere mich nicht daran“, murmelte ich und fuhr mir durchs Haar. „Bei meinem letzten Einsatz hat mir ein Daemon in den Knöchel gebissen. Ich konnte das Gift rechtzeitig aussaugen, aber seitdem habe ich Probleme mit meinem Bein.“ Ida warf mir einen bösen Blick zu. >Gar nicht wahr. Dan hat das Gift ausgesaugt, nicht du. So gelenkig bist du nicht. Sam sah mich entgeistert an, Henny hatte die Stirn gerunzelt. Tom ließ seinen Kaffee sinken und machte mit der freien Hand ein einziges Zeichen. Unglaube. „Wann ist das passiert?“, fragte Henny. „Gestern Nacht.“ „Warst du schon bei einem Arzt?“, fragte Henny. „Noch nicht, aber Dan hat die Wunde mit Essig behandelt, das zieht den Schmerz für einige Stunden raus. Hätte nie gedacht, dass das Teufelszeug auch für etwas gut sein kann.“ Henny nickte, schob Sams Füße zur Seite und erhob sich. „Ich gehe einkaufen“, sagte sie und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Büro. Andrew war die Situation sichtlich unangenehm. Ida schien das zu spüren, denn als Tom einen Zeichenblock und Kohlestifte aus seinem kleinen Aktenkoffer holte und zu skizzieren begann, zerrte sie Andrew mit sich. >Was malst du da? Tom sah zu mir, dann zu ihr. Er öffnete den Mund. „D-dich. W-enn du w-willst.“ >Oh ja, bitte! Während sie über dem Sofa posierte, schnappte Sam sich mein Handgelenk und zog mich sanft durch die Eingangstür hinaus auf die drei Stufen, die hinunter zur Straße führten. Wir setzten uns dicht nebeneinander. „Seid ihr wirklich nur zum Spaß hier?“, fragte ich. Sam sah mich herablassend an. „Von dir kriegt man Lebenszeichen nur per Flaschenpost, ist dir das klar? Ich weiß ja, dass du wahnsinnig beschäftigt bist und all das, aber das treue Fußvolk wünscht sich doch Updates von seiner großen Legende. Als Andrew dann abgehauen ist, dachte ich, dich zu überraschen ist gebührende Rache.“ „Sollte Rache nicht etwas Unangenehmes sein?“, fragte ich grinsend. „Ja, ja, jetzt kommen die Komplimente. Ein bisschen spät, Ms. Thynlee, ein bisschen spät.“ „Ich bin wahnsinnig beschäftigt, schon vergessen?“ Mein Grinsen wurde immer breiter. Gottverdammte Scheiße, ich hatte ihre Stimme vermisst. „Und was tut sich Aufregendes in Distrikt 16? Du hast mich doch nicht alleine rausgeschleppt, um Smalltalk zu halten.“ „Ich halte niemals Smalltalk, Coon, das solltest du wissen.“ Sams Stimme klang plötzlich furchtbar aufgeregt. „Aber wo du mich schon auf frischer Tat ertappt hast, rate, was du verpasst hast!“ Seufzend massierte ich mein Bein. „Tom hat endlich eine Freundin?“ „Was? Jaaa, das auch, aber das ist schon alter Hut! Coon, um wessen Beziehung geht es hier wohl?“ „Deine?“ Ich hielt einen Moment inne, bevor der Groschen fiel. „Sag bloß, Henny hat dir einen Antrag gemacht.“ „HENNY HAT MIR EINEN ANTRAG GEMACHT!“ „Wow, Sam, das ist großartig!“ Ein blubberndes Glücksgefühl stieg in meiner Brust auf. Sam und Henrietta waren seit fünf Jahren zusammen und ein chaotisches Powerpärchen. Ich war froh, dass zumindest einer von uns beiden eine funktionale Beziehung führte. „Ich freue mich so sehr für euch. Ihr seid füreinander gemacht. Wie hat sie es organisiert?“ „Es war furchtbar romantisch, furchtbar kitschig, aber gut-furchtbar, weißt du, nicht schlimm-furchtbar.“ Sam schielte zu mir. Ihre Augen glitzerten. „Wir sind in die Bibliothek gegangen. Auf unserem Tisch von damals war ein Riesenstapel mit fetten Wälzern aufgetürmt und als wir näher kamen, ist alles zu Boden gefallen, genau wie damals, als ihre Bücherburg über ihr zusammengebrochen ist. Dahinter stand die exakte Kaffeesorte, die ich damals getrunken hatte und die mir beim Lachen aus der Nase geschossen ist. Und um den Strohhalm war der Ring. Ich habe Rotz und Wasser geheult, Coon, sowas ist mir noch nie passiert. Es war richtig peinlich.“ „Ach was“, neckte ich sie und legte einen Arm um ihre Schultern. „Sie wäre sicher enttäuscht gewesen, wenn du nicht geheult hättest.“ Eine Weile schwiegen wir. „Und du? Wie geht es dir nach der Sache mit Chris?“ „Ich bin drüber hinweg, schätze ich“, sagte ich ohne große Überzeugung. „Aber du liebst ihn immer noch?“ „NEIN!“ Meine Reaktion war heftiger als erwartet, Sam zuckte jedoch nicht mal. Stattdessen schlussfolgerte sie messerscharf. „Was hast du mir noch nicht erzählt?“ Ich schloss die Augen. Versuchte, die Erinnerung an die Nacht im Hotel nicht zu wirklich werden zu lassen. „Er kam am nächsten Tag vorbei, wollte sich entschuldigen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich seine Entschuldigung sonst wohin stecken kann. Er hat mich ins Zimmer gedrängt und wollte … keine Ahnung, was er wollte, Sam. Ich glaube nicht, dass er es durchgezogen hätte, aber in dem Moment …“ „Es“, sagte Sam emotionslos. Sie nahm meine Hände. „Coon, hat er versucht … wollte er dich vergewaltigen?“ „Ich weiß es nicht!“, sagte ich, frustriert. „Ja, wahrscheinlich. Er war total neben der Spur, bestimmt auch betrunken. Ida war zum Glück da und hat ihn von mir runter gekriegt. Ich habe ihn rausgeschmissen.“ „Warum hast du nicht die Polizei gerufen?“, fragte Sam wütend. Dann, leiser, „Warum hast du mir nichts gesagt?“ Ich schwieg. Warum hatte ich niemandem davon erzählt? „Es tat weh“, sagte ich nach einer sehr langen Pause. „Ich habe ihn jahrelang geliebt, Sam. Dass er mich nur als Lorenes Ersatz gesehen hat, dass meine Gefühle ihm scheißegal waren, war schlimm genug, aber dass ich mich so in ihm getäuscht hatte … Direkt danach war die Sache mit Idas Vater und Harry und danach … ich habe es einfach verdrängt. Ich wollte nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber reden.“ „Oh, Coon.“ Sam schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mich fest. Ich schluckte die Tränen hinunter. „Er wird dich nie wieder anfassen, du wirst ihn nie mehr sehen müssen. Alles wird gut.“ Einige Minuten saßen wir einfach so da und ignorierten die Blicke einiger vorbeigehender Passanten. Schließlich jedoch entdeckten wir Henny, die sich bewaffnet mit einem Gehstock mit robust gefertigtem Metallgriff und einigen Plastiktüten auf uns zu schleppte. Sam drückte mich ein letztes Mal, dann sprang sie auf und half ihrer Verlobten auf den letzten Metern. Ich folgte den beiden ins Haus. „Coon, komm her“, sagte Henny und bugsierte mich auf das Sofa, wo sie mir half, mein verletztes Bein aus der Hose zu befreien. Sie trug Sam auf, die Bandagen, die sie gekauft hatte, mit Essig zu tränken und eng um meine Wade und meinen Oberschenkel zu binden. Sie drückte mir ein Glas Wasser und zwei Schmerztabletten in die Hand. „Ich habe uns Hotelzimmer im KIRA besorgt“, erklärte sie Sam und Tom, dessen Kohlestift geradezu über das Papier flog. „Es sind nur etwa fünfzehn Minuten zu Fuß und Frühstück ist inklusive.“ „Danke Henny“, sagte ich und nickte zu dem Gehstock. „Ich war heute ohne unterwegs. Nicht empfehlenswert.“ „F-fertig“, verkündete Tom und ließ den Kohlestift sinken. Ida schwirrte zu ihm herum und sah auf die Zeichnung. >So sehe ich aus? Mein Herz sank tief in meine Magengrube. Ida war ein Dae, sie war nicht in Spiegeln sichtbar. Es musste das erste Mal seit ihrem Tod sein, dass sie sich selbst sah. Ich rutschte in ihre Richtung, streckte eine Hand aus, um sie in eine Umarmung zu ziehen, wenn der Schock für sie zu groß war. Doch Ida betrachtete das Bild nur einige Momente. Dann, mit breitem Grinsen, berührte sie flüchtig meine Hand. >Kannst du mich nochmal malen? Sie sah hoffnungsvoll in meine Richtung. >Aber diesmal mit Coon. 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