Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 51 ---------- Was zuletzt geschah: Nicht nur Marco empfängt unerwartete Gäste. Jonas hätte mit vielem gerechnet, aber sicher nicht mit einem spontanen Besuch seines Vaters in Berlin. Und noch weniger mit dessen Entschuldigung, die so aufrichtig klingt, dass sogar Erik die gereichte Hand schüttelt. In dieser neu gefundenen Harmonie ist das Fehlen von Jonas‘ Mutter jedoch allzu auffällig – und schmerzhaft. Vielleicht stellt ein gemeinsames Weihnachtsfest die beste Möglichkeit dar eingerissene Brücken neu aufzubauen. Vielleicht aber auch nicht.   Kapitel 51 Die Straßen waren glatt, das Schneegestöber mit jeder Minute dichter und zu allem Übel brach allmählich die Nacht herein. Erik hatte das Steuer schon vor einer Weile Jonas überlassen, der die Gegend bedeutend besser kannte und dennoch keine Sekunde unaufmerksam werden durfte, um den Wagen mitsamt Insassen sicher an seinen Zielort zu lenken. Beim Anblick des schneebedeckten Dachs des Apfelbäumchens atmete er erleichtert auf. „Es ist nett von deinen Eltern, uns die Wohnung zu überlassen.“ „Wart ab, bis du sie gesehen hast. Hat schon seine Gründe, warum’s die einzige Ferienwohnung in der Gegend is‘, die noch unvermietet war.“ Mit der Erfahrung vieler vorangegangener Versuche parkte Jonas den Wagen in die ausgesprochen schmale Lücke, die als inoffizieller Personalparkplatz galt. Da das Personal im Apfelbäumchen aus Jonas‘ Eltern und deren Nachwuchs bestand, hatte Jonas sich seine Sporen beim Thema Einparken recht früh verdienen müssen (über die Entstehung des Kratzers im Kotflügel seines Vaters bewahrte er bis heute Stillschweigen). Erik streckte sich in seinem Sitz, bevor er ausstieg. „Solange ich mich irgendwo hinlegen und schlafen kann, bin ich zufrieden.“ „Das sollte drin sein.“ Nach kurzer Suche fand Jonas die Schlüssel zur Hintertür in dem Plastikstein, den seine Eltern aus irgendeinem Grund für überzeugend hielten. Obwohl er wusste, dass das Apfelbäumchen wie üblich über die Weihnachtsferien geschlossen hatte, fühlte sich der Anblick der dunklen Fenster wie ein Omen an. Hastig schüttelte er den Gedanken ab und stieß die Tür auf. „So, hereinspaziert ins Warme!“ Ein eisiger Hauch umwehte ihn. „Äh, ins bald Warme … Hoffentlich haben wir Holz für den Ofen.“ Er nahm Erik an die Hand. „Willst du die Wirtschaft sehen, bevor ich dir die Wohnung zeig?“ „Sicher.“ Fügsam ließ sich Erik von Jonas durchs Erdgeschoss führen. Durch die Küche, den größeren Gastraum und den kleineren, der hauptsächlich für diverse Stammtische reserviert war. „Richtet ihr auch Feiern aus?“ „Manchmal. Beerdigungen und Geburtstage, hauptsächlich. Aber nich‘ so oft, jedenfalls nich‘, als ich noch hier gewohnt hab und das is ja nich‘ allzu lang her. In dem Kaff passiert ja nich‘ grad viel und Touristen bleiben selten lang genug, um ‘ne Hochzeit zu planen.“ „Es ist schön hier.“ Erik ließ die Hand über den Eichentisch gleiten, an dem Jonas oft nach der Schule gesessen und seine Hausaufgaben erledigt hatte. „Gemütlich. Wenn die Wohnung auch so aussieht, bin ich absolut zufrieden.“ „Najaaa … Als ‚gemütlich‘ geht sie vielleicht durch. Komm, wir gucken einfach mal.“ Die Treppenstufen zum ersten Stock knarzten und die Wohnungstür schwang nur unter missmutigem Quietschen der Scharniere auf. „TADAA!“ Jonas enthüllte den Blick auf eine Wohnung mit geräumiger Küche samt Sofaecke und separatem Schlafzimmer. Die Einrichtung war altmodisch, nein, eigentlich war sie einfach nur alt. Prilblumen, ein wuchtiger Gasherd und fadenscheinige Möbel dominierten das Bild. Selbstverständlich alles hübsch in Ocker und Oliv gehalten. „Meine Eltern haben hier nach ihrer Hochzeit gewohnt“, erzählte er. „Ich wohl auch, aber da war ich noch so jung, dass ich mich nich‘ wirklich dran erinnern kann. Erst als Christine sich angekündigt hat, hat mein Opa eingesehen, dass es irgendwie scheiße is‘, wenn er und Oma das große Haus besetzen, während ‘ne bald vierköpfige Familie in ‘ner winzigen Wohnung hockt. Sie haben dann getauscht, aber ich glaub, so ganz hat er das nie verkraftet. War ja doch immer sein Haus und ständig lag er meinen Eltern in den Ohren, was sie alles dran machen müssen. Dass das Gras im Garten drei Millimeter zu hoch steht, die Heizungsanlage endlich gewartet werden muss und sowas. Gleichzeitig hat er in der Wohnung hier keinen Finger gerührt. Die wurde wahrscheinlich das letzte Mal in den Siebzigern renoviert. Als Opa dann vor ein paar Jahren gestorben is‘, is‘ Oma wieder zurück zu uns ins Haus gezogen und seitdem wird die Wohnung an Gäste vermietet. Läuft aber nich‘ besonders gut.“ Jonas streckte die Hand nach Erik aus. „Komm.“ Gemeinsam inspizierten sie jede Ecke. Die Fenster waren alt und undicht, es war eiskalt und die einzige Heizquelle stellte der Ofen neben der Sitzecke dar. Glücklicherweise hatten Jonas‘ Eltern daran gedacht einen ordentlichen Holzvorrat bereitzustellen. „Mach schon mal ‘n Feuer“, wies Jonas Erik an. „Ich guck kurz, ob im Bad alles passt. Der Warmwasserboiler spinnt ganz gern mal.“ „Ah, Jonas …“ Dieser drehte sich auf halbem Weg zu seinem Freund um, bemerkte dessen überforderten Blick und versuchte verzweifelt, nicht zu lachen. „Wirklich? Du bedauerliches Stadtkind weißt nich‘, wie man ‘nen Ofen anheizt? Hast du überhaupt was gelernt, das–“ Er stockte. Ein Schatten war über Eriks Gesicht gefallen. „Meine Eltern wollten mir sowas immer mal beibringen, aber davor sind sie … Sind sie …“ „Oh, fuck, Erik. Es tut mir so leid! Ich wusst nich‘ … Ich wollt nich …!“ Sich selbst für seine Taktlosigkeit verfluchend, schlang Jonas die Arme um Eriks bebenden Körper. Da hatte er ihn nur ein wenig aufziehen wollen und stattdessen alte Wunden aufgerissen. Sogar leises Schluchzen drang an sein Ohr, auch, wenn es eigenartig klang. Irgendwie falsch. Eher als … Moment. Lachte Erik etwa? Ja, er lachte eindeutig! Erbost schob Jonas ihn von sich. „Erik Kolb! Hast du grad echt deine toten Eltern benutzt, um mich zu verarschen?“ Dieser zeigte seine beste Unschuldsmiene. Jonas hätte sie ihm fast abgenommen, wäre da nicht dieses Kichern gewesen, das sich immer wieder Bahn brach. „Guck nicht so böse“, bat Erik schmunzelnd. „Ich wette, sie hätten das auch witzig gefunden.“ Er klopfte Jonas auf die Schulter. „Na los, zeig mir ahnungslosem Städter mal, wie man mit so einem Ofen umgeht.“ Bald darauf verbreitete ein zart flackerndes Feuer angenehme Wärme, das heiße Wasser funktionierte ebenfalls und Jonas‘ Eltern hatten nicht nur Handtücher sowie Bettzeug bereitgelegt, sondern sogar die Küchenschränke mit Vorräten bestückt. „Deine Eltern haben sich wirklich Mühe gegeben.“ „Japp.“ Jonas wünschte sich, er wäre weniger überrascht über den netten Empfang. „Ich sollt wohl mal anrufen und ihnen Bescheid geben, dass wir heil angekommen sin‘.“ Während er sein Handy aus der Hosentasche kramte, verschwand Erik im Schlafzimmer, um ihre Koffer auszupacken. Das Handy am Ohr, tigerte Jonas durch die Küche. Es dauerte, bis jemand abhob. „Bei Staginsky.“ „Hallo … Mama.“ Das war das erste Mal seit dem verhängnisvollen Besuch in Berlin, dass sie miteinander sprachen. „Ich bin’s.“ „Oh. Jonas.“ „Ich, ähm … Ich wollt nur sagen, dass wir angekommen sind.“ „Gut, gut. Brauchst du noch etwas?“ „Ähm, nee, is‘ alles gut.” Dass seine Mutter tat, als hätte keine monatelange Funkstille zwischen ihnen geherrscht irritierte Jonas, aber er war bereit, vorerst mitzuspielen. „Habt ihr super vorbereitet. Danke.“ Am anderen Ende der Leitung entstand Schweigen. Hätte Jonas nicht die regelmäßigen Atemzüge gehört, er wäre überzeugt gewesen, seine Mutter hätte aufgelegt. „Ja, ähm, also dann …“ „Hast du schon gegessen?“ „Noch nich‘. Erik und ich wollten grad–“ „Willst du bei uns Essen? Christine ist auch schon da. Es wäre nett, die ganze Familie am Tisch zu haben.“ Jonas‘ Herz machte einen Satz. „Das wäre klasse! Ich durfte mir schon die halbe Fahrt über Eriks Gejammer anhören, wie hungrig er is‘ und wenn wir jetzt erst mit Kochen anfangen, dann–“ „Eigentlich dachte ich, dass nur du rüberkommst. Die Familie eben.“ „Oh. Verstehe.“ Die Lippen zusammengepresst, damit ihm kein falsches Wort entschlüpfte, warf Jonas einen Blick ins Schlafzimmer, in dem Erik noch immer damit beschäftigt war, ihre Sachen in den alten Holzschränken zu verstauen. Leise schloss er die Küchentür. „Wir sin‘ grad erst angekommen, ich werd Erik nich‘ schon jetzt alleinlassen. Er hat extra zwei Vorlesungen sausen lassen, damit wir einen Tag früher loskönnen.“ „Ein erwachsener Mann wird ja wohl in der Lage sein, sich ein paar Stunden alleine zu beschäftigen.“ „Japp. Ändert aber nix dran, dass ich ihn nich‘ hier in der Wohnung versauern lasse, bloß, weil du ihn nich‘ mit am Esstisch haben willst. So war das nich‘ abgemacht und ich denke, das hat Papa dir auch gesagt.“ Seine Mutter schwieg und als sie das nächste Mal sprach, klang ihre Stimme gepresst. „Er kann mitkommen.“ Jonas atmete tief durch. „Bist du sicher? Ich fänd’s nämlich echt schön, wenn ihr ihn wirklich kennenlernen wollt, aber … Wenn du das jetzt bloß sagst, damit ich zum Essen komm und ihn dann den ganzen Abend ignorierst, oder sonst irgendwie scheiße zu ihm bist“, er würgte den Protest seiner Mutter ab, indem er einfach fortfuhr, „dann warten wir lieber bis Weihnachten. Da bin ich gern bei euch. Auch allein, wenn ihr euch damit wohler fühlt. So, wie ich es mit Papa und Erik abgesprochen habe. Aber für den Rest der Zeit gehört Erik zu mir, das muss dir klar sein. Er hat’s nämlich nich‘ verdient, als ungeliebtes Beiwerk behandelt zu werden, das ihr notgedrungen akzeptiert. Wenn ihr uns also beide bei euch haben wollt, kommen wir gerne, andernfalls sehen wir uns an Weihnachten.“ Wieder Stille. „Ich leg jetzt auf, Mama. Danke fürs Vorbereiten der Wohnung. Wir sehen uns–“ „Kommt vorbei. Beide. Um acht. Seid pünktlich.“ „Oh. Ähm, okay, ich frag m–“ Aber seine Mutter hatte schon aufgelegt. Unschlüssig, was er von ihrer Einladung halten sollte, öffnete Jonas die Küchentür. Die Stille aus dem Schlafzimmer sprach dafür, dass Erik bereits fertig ausgepackt und danach brav das Ende des Telefonats abgewartet hatte. Vorsichtig steckte Jonas den Kopf in den Raum. „Hi.“ „Hey.“ „Ähm, also … Meine Eltern haben uns bei sich zum Essen eingeladen.“ „Uns beide?“ Wenigstens war Erik genauso verblüfft wie Jonas. „Jaah … Ich … Ich bin mir ehrlich gesagt nich‘ ganz sicher, was sie, genaugenommen meine Mum, damit bezwecken, aber … Naja, die Einladung steht.“ Eilig fügte er hinzu: „Aber wenn du lieber nich‘ hinwillst, kann ich das verstehen! Dann kochen wir hier und machen uns ‘nen schönen Abend zu zweit.“ „Willst du hin?“ „Ich ... weiß nich‘ …“, antwortete Jonas ehrlich. „Das Gespräch mit meiner Mum war irgendwie komisch … Aber … Christine ist auch da. Und Vroni und meine Oma. Und Papa, natürlich. Ich … Es wär irgendwie schräg, so nah bei ihnen zu sein und bis Weihnachten nich‘ mal ‚Hallo‘ zu sagen.“ „Dann gehen wir.“ „Aber ich kann dir nich‘ versprechen, dass sie sich dir gegenüber nich‘ beschissen aufführen“, warnte Jonas. „Das … könnt schon passieren. Ich mein, wenn’s passiert, dann hauen wir natürlich gleich wieder ab, aber …“ „Jonas, es ist in Ordnung“, versprach Erik. „Ich weiß, dass die Situation für euch schwierig ist. Für deine Eltern genauso wie für dich. Wir schaffen das schon.“ Er zeigte dieses unwiderstehliche Schuljungengrinsen. „Außerdem freue ich mich darauf, Christine wiederzusehen.“   Mit steifen Beinen und rasendem Herz kletterte Jonas aus dem Auto. Er blickte zu Erik, der trotz seiner Beteuerungen, sich auf den Abend zu freuen ebenfalls reichlich nervös wirkte. Hand in Hand durchquerten sie den Vorgarten, die Eingangstür war wie immer unverschlossen. Jonas atmete tief durch, drückte die Klinke nach unten und lauschte. In der Küche klapperte Geschirr, gedämpfte Stimmen drangen an seine gespitzten Ohren. Das Knarzen der untersten Treppenstufe und ein beherztes „JONAS!“ waren seine einzige Warnung, bevor sechzig Kilo Schwester gegen seine Brust prallten und die Luft aus seinen Lungen pressten. „Da bist du ja endlich!“ „Ich kann’s selbst kaum glauben, aber ich find’s auch schön, dich zu sehen.“ Kurz bevor Jonas an Sauerstoffmangel einging, schob er Christine von sich. „Scheiße, bist du braun geworden.“ „Die gute australische Sonne.“ Grinsend wandte sich Christine Erik zu und auch er kam in den Genuss ihrer knochenbrechenden Umarmung. „Hallo, viel zu attraktiver Freund meines Bruders“, nuschelte sie gegen seine Schulter. „Bereit, dich in die Höhle der Löwen zu begeben?“ „So bereit, wie ich eben sein kann.“ „Ha! Mutig!“ Ihr Lächeln schwand. „Aber im Ernst, ihr solltet darauf vorbereitet sein, dass es ein wenig“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „holprig wird. Die Stimmung zwischen Mama und Papa war schon nicht die beste, als ich gestern angekommen bin und ich kann nicht behaupten, dass sie seither gestiegen wäre. Erwartet also lieber keinen allzu herzlichen Empfang.“ Jonas seufzte, sagte aber nichts dazu. „Wo is‘ Vroni?“, erkundigte er sich stattdessen. „Noch in ihrem Zimmer. Ihr seid ein bisschen früh dran und sie hat euch wohl nicht gehört. Der Rest ist in der Küche.“ Christine hakte sich bei Erik und Jonas unter. „Was sagt ihr? Bringen wir es gleich hinter uns?“ Jonas‘ Familie war zu beschäftigt, um die Neuankömmlinge sofort zu bemerken. Seine Oma saß auf ihrem Stuhl am Küchentisch und pellte Kartoffeln, während seine Eltern über das Salatdressing diskutierten. Über fünfundzwanzig Jahre Ehe, dazu eine erfolgreiche Gaststätte und sie hatten sich noch immer nicht darauf geeinigt, ob ein paar Tropfen Honig hineingehörten. Nach einigen Sekunden räusperte sich Jonas. „Wir sin‘ … da.“ Er hatte befürchtet seine Stimme wäre zu kläglich ausgefallen, um Gehör zu finden, doch da breitete sich bereits ein Strahlen auf dem Gesicht seiner Oma aus. „Bua!“ Sie rutschte von ihrem Stuhl, humpelte auf ihn zu und zog ihn an sich. Für eine Frau ihres Alters hatte sie noch erschreckend viel Kraft in den Armen. „Mei, is‘ des schee, dass’d do bisd!“ „Ich freu mich auch, Oma.“ Jonas genoss die Umarmung, die Nähe, den Duft nach Kölnisch Wasser, der seine Großmutter umgab, solange er denken konnte. Noch einmal drückte er sie an sich, bevor er sich sanft löste und einen Schritt zurücktrat. Er legte eine Hand auf Eriks Schulter. „Darf ich dir Erik vorstellen?“ Sollte er genauer werden? Betonen, in welchem Verhältnis sie standen? Jonas zögerte, der Moment kam und ging. Erik reichte Jonas‘ Großmutter die Hand. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Schwanberger.“ Himmel, der Mann hatte sich sogar den Mädchennamen seiner Schwiegermutter wider Willen gemerkt. Innerlich glühte Jonas vor Stolz und auch seine Oma schien beeindruckt. „Mei, fesch ozong und höflich dazua. I soiad a noch Berlin ziang, wenn's do no soiche Mannsbuida gibt!“ „Ah …“ Etwas ratlos blickte Erik zu den beiden Geschwistern, die gar nicht erst versuchten, sich das Lachen zu verkneifen. „Sie mag dich“, übersetzte Christine kichernd. „Ah. Das … ist gut zu wissen.“ „Okay, genug fremdgeflirtet.“ Spielerisch knuffte Jonas Erik in die Seite. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Eltern ihnen nicht länger den Rücken zuwandten. Noch vor wenigen Monaten wäre Jonas seiner Mutter um den Hals gefallen und hätte sie an sich gepresst, bis ihre Füße den Boden verließen und sie sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, während sie lautstark gegen diese rüde Behandlung protestierte. Doch heute war nichts von der üblichen Wiedersehensfreude zu spüren. Im Gegenteil, seine Mutter schien fest entschlossen keine noch so kleine Regung über ihr Gesicht huschen zu lassen. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und verharrte reglos im Raum, nicht bereit, mehr zu geben, als er zurückbekam. Am Ende war es sein Vater, der den ersten Schritt machte und ihn in eine herzliche Umarmung zog. „Schön, dass ihr hier seid.“ Dass dieses ‚ihr‘ Erik miteinschloss, war unerwartet rührend und schon kämpfte Jonas erneut mit Tränen. „Find ich auch“, schniefte er leise. Gleich nachdem er von seinem Sohn abgelassen hatte, griff Jonas‘ Vater beherzt Eriks Hand und schüttelte sie. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, Herr Kolb." Sein Lächeln mochte ein wenig erzwungen wirken, doch Jonas wusste die Geste zu schätzen, denn im Gegensatz dazu, kostete es seine Mutter sichtlich Überwindung, Erik die Hand zu reichen. Dieser nahm ihre Reaktion mit seinem gewohnt freundlichen Lächeln hin. „Guten Abend, Frau Staginsky. Vielen Dank für die Einladung.“ Als er keine Antwort erhielt, fügte er nach kurzem Zögern hinzu: „Mir ist bewusst, dass diese Situation schwierig für Sie ist und i–“ „Ich muss mich um das Abendessen kümmern.“ Abrupt wandte sich Jonas‘ Mutter ab, schob ziellos Töpfe über den Herd und polierte bereits trockenes Geschirr. Nicht ein einziges Wort hatte sie an ihren Sohn gerichtet, kein Lächeln, kein noch so dezenter Hinweis darauf, dass sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Verloren stand Jonas an seinem Platz, ratlos, wie er vorgehen sollte. Auch seinem Vater schienen die Worte zu fehlen. Seine Oma runzelte lediglich die Stirn, schenkte ihrem Enkel ein hilfloses Lächeln und fuhr fort, die Kartoffeln für das Abendessen zu schälen, als suchte sie mit ihren Händen nach einer Ablenkung, die ihr Kopf nicht fand. Jonas hatte schwarze Wolken über seine Familie gebracht und fürchtete, das Gewitter bereits riechen zu können. Blut rauschte in seinen Ohren, plötzlich war die Küche zu hell und seine Beine zu schwach, um ihn noch länger zu tragen. Zwei starke Arme legten um seine Schultern. Erik und Christine stützten ihn, gaben ihm genug Halt, noch ein paar Sekunden durchzuhalten. „Lass uns zu mir hoch, bis das Essen fertig ist“, flüsterte Christine. Zu ihrem Vater sagte sie: „Wir führen Erik mal durchs Haus.“ Ihr Vater nickte nur, sah so unglücklich aus, wie Jonas sich fühlte. Seine Oma pellte weiterhin Kartoffeln, seine Mutter hatte allen anderen den Rücken gekehrt, doch sobald die Kinder die Küche verlassen hatten, setzte Stimmengewirr ein. Zu leise, um die Worte zu verstehen, aber dass der Ton alles andere als freundlich ausfiel, wurde dennoch deutlich. „So geht das die ganze Zeit“, erzählte Christine, während sie Jonas und Erik nach oben führte. „Ich verstehe einfach nicht, was mit Mama los ist. Ehrlich, wenn dann hätte ich erwartet, dass Papa irgendwas zwischen verständnislos und unsensibel reagiert, aber Mama übertrifft gerade echt alles.“ Als sie das Gesicht ihres Bruders bemerkte, nahm sie ihn in die Arme. „Ach, du Depp du! Das ist nicht deine Schuld! Sprich mir nach: ‚Es ist nicht meine Schuld!‘“ Sie wartete einen Augenblick, Jonas gab jedoch keinen Ton von sich. „Ja, nee, ich lasse dich erst los, wenn du es gesagt hast. Noch mal ganz langsam für dich: ‚Es. Ist. Nicht. Meine. Schuld!‘ Na los, ich warte!“ „Nich‘ meine Schuld“, murmelte Jonas nach ein paar Sekunden. „Erik?“ Christine neigte den Kopf. „Nimmst du ihm das ab?“ „Nicht wirklich.“ „Ich auch nicht. Also, noch mal: ‚Es ist nicht meine Schuld!‘“ „Es is‘ nich‘ meine Schuld“, wiederholte Jonas etwas lauter. „Schiedsrichter?“ „Besser“, sagte Erik. „Nicht perfekt, aber besser. Ah, entdecke ich da sogar ein kleines Lächeln?“ Jonas rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. „Ihr seid echt bescheuert.“ „Ja, ja, wir lieben dich auch.“ Christine öffnete die Luke zum Speicher. „Der Gast zuerst. Keine Angst, um die gigantische Spinne habe ich mich gestern Abend schon gekümmert. Nach Australien kann mich echt nichts mehr schocken.“ Unschlüssig blieb Jonas stehen. „Ähm, ich würd ganz gern kurz allein mit Vroni sprechen. Mal versuchen, ihr zu erklären, dass Erik und ich … nich‘ bloß Freunde sin‘. Bevor sie’s auf blöd aufschnappt und in den falschen Hals bekommt.“ Er sah zu Christine. „Oder denkst du, dass das ‘ne Scheißidee is‘?“ „Ich denke, dass das eine ziemlich gute Idee ist. Wetten, Vroni kann damit wesentlich besser umgehen als unsere werten Eltern? Wir warten solange oben.“ Christine schob Erik so resolut zur Leiter, dass er sich gerade noch an einer Sprosse festklammern und einen filmreifen Bauchklatscher verhindern konnte. Trotz Christines zustimmender Worte zögerte Jonas. Still stand er vor der Tür seines ehemaligen Zimmers, das inzwischen zu dem seiner kleinen Schwester geworden war. Nach einer guten Minute fasste er sich endlich ein Herz und klopfte. Keine Antwort. Er lauschte, glaubte, das Klackern von Tasten zu hören, klopfte lauter. „WAS IST?“ „Vroni, ich bin’s. Lässt du mich rein?“ Das Klackern stoppte, gleich darauf flog die Tür auf und Vroni in Jonas‘ Arme. Dieser hob seine Schwester lachend von den Füßen und trug sie zurück in ihr Zimmer. Mit der Hacke stieß er die Tür zu. „Was spielst du?“ Kaum hatte er Vroni abgesetzt, krabbelte sie zurück aufs Bett und schnappte sich den Controller. „Super Smäsch Bross!“ Natürlich hatte er diese Antwort erwartet, schließlich war er es gewesen, der ihr das Spiel mitsamt Konsole bei seinem Auszug vermacht hatte, aber Vronis begeistertes Gesicht zeigte, dass die Frage ein ganz guter Einstieg gewesen war. „Macht’s Spaß?“ Sie nickte, mehr darauf konzentriert, welche Spielfigur sie wählen sollte als darauf, ihrem Bruder zuzuhören. Ihre pinke Zungenspitze lugte zwischen ihren Lippen hervor. „Lässt du mich nach dem Essen eine Runde mitspielen?“ „Aber nur, wenn du nicht so stark bist!“ „Also soll ich absichtlich verlieren?“ Jonas setzte eine strenge Miene auf. „Neeeiiin! Nur mich gewinnen lassen!“ „Das … Okay. Mit dieser Logik kann ich nich‘ mithalten.“ Er setzte sich zu seiner Schwester aufs Bett. „Vroni, weißt du, dass heute noch jemand zum Essen da is‘? Jemand, den du bisher nich‘ kennengelernt hast?“ Sie schüttelte den Kopf, bereits völlig in ihr Spiel vertieft. „Sein Name is‘ Erik und er is‘ ‘n richtig guter Freund von mir. ‘N richtig, richtig guter Freund. Ich … Ich hab ihn echt lieb.“ Jonas zögerte und seine Schwester ließ weiterhin auf eine Reaktion warten. „Erde am Vroni! Hörst du mir zu?“ „Ja, ja.“ „Okay, spiel die Runde mal zu Ende und dann mach kurz Pause, ja?“ Das gab auch ihm noch ein wenig Zeit, sich die passenden Worte zurechtzulegen. Als seine Schwester kurz darauf den letzten Gegner von der Ebene gekickt hatte, applaudierte er. Vielleicht musste er gar nicht absichtlich schlecht spielen, um gegen sie zu verlieren. Wie abgemacht legte Vroni den Controller zur Seite und starrte ihrem großen Bruder mit erwartungsvoll geweiteten Augen entgegen. Aus alter Gewohnheit strich Jonas eine Strähne aus ihrer Stirn, doch offenbar war sie inzwischen zu erwachsen für solche Dinge, denn sie wischte sich protestierend übers Gesicht, zog eine Schnute und rückte ein Stück ab. „Bäääh!“ „Sorry.“ Das lief ja super. „Ähm, also … Ich wollt dir noch was erzählen. Dieser Freund, der heute bei uns is‘ …“ „Den du so lieb hast?“ „Ähm, ja … Genau der.“ Immerhin schienen seine Worte nicht völlig an ihr abgeprallt zu sein. „Weißt du … Ich mag ihn nich‘ nur als Freund-Freund. Nich‘ so, wie ich zum Beispiel Clemens mag, sondern … So, wie Christine Nick mag. Oder wie Papa Mama mag.“ Zu spät fiel Jonas ein, dass das keine besonders guten Beispiele gewesen waren. Nick und Christine hatten sich vor ihrer Abreise getrennt. Im Guten und mit der Absicht Freunde zu bleiben, aber Trennung war Trennung. Tja, und bei seinen Eltern hing der Haussegen derzeit gehörig schief. Verunsichert fragte er: „Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“ „Küsst ihr euch?“ Da war pure Neugierde in Vronis Augen. „Nick und Christine haben sich immer geküsst, wenn Mama und Papa nicht da waren.“ „Ja, wir küssen uns“, antwortete Jonas ein wenig verlegen. „IIHHH!“ „Findest du das wirklich so eklig?“ Er bemühte sich, neutral zu klingen, aber Vronis Reaktion hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt. „Küssen IST eklig! Voll so … So!“ Vroni ließ ihre Zunge wie die Rotorblätter eines Helikopters kreisen und bei den Schmatzgeräuschen, die sie dabei von sich gab, drehte sich sogar Jonas‘ Magen um. „Okay, ja, manchmal isses wohl echt eklig“, gab er zu. „Aber manchmal is‘ Küssen auch sehr schön. Deshalb tun es so viele Paare.“ Er hielt einen Augenblick inne, überlegte. Dann ergänzte er: „Oft sind das Mann und Frau, aber manchmal auch Frau und Frau oder Mann und Mann.“ „Das weiß ich doch schon!“, trötete Vroni. „Das hat Frau Müller uns schon erzählt!“ Jonas brauchte einen Moment, um auf diese unerwartete Antwort zu reagieren. „Is‘ Frau Müller deine Lehrerin?“ Vroni nickte. „Und Franziska hat erzählt, dass sie zwei Mamas aber keinen Papa hat.“ Jonas hatte keine Ahnung, wer Franziska war, aber gerade dankte er ihr auf Knien dafür, dass sie ihr Familienleben vor seiner kleinen Schwester breittrat. Offenbar drehte sich die Welt sogar in ihrem kleinen Kaff schneller als er gedacht hatte. „Willst du Erik kennenlernen?“ „Weiß nicht …“ „Warum nich‘? Er is‘ wirklich lieb.“ „Vielleicht mag ich ihn aber nicht.“ Jonas neigte den Kopf, unsicher, was er von dieser Antwort halten sollte. „Warum nich‘?“ „Weil du ganz viel Zeit mit ihm verbringst und ganz wenig mit mir!“ „Für meine Lieblingsschwester hab ich immer Zeit!“ „Gar nicht wahr.“ „Glaubst du mir etwa nich‘?“ „Nö.“ Ohne Vorwarnung schnellte Jonas nach vorne, schnappte sich Vroni, die viel zu spät, dafür aber laut kreischend zu flüchten versuchte und kitzelte sie durch, bis sie japsend auf dem Bett lag. Gezähmt wie sie nun war, packte er sie, warf sie wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und spazierte aus dem Raum. „Lass mich runter!“ Alles an Vronis Ton sagte, dass das das Letzte war, was sie wollte. „Nope. Du kommst jetzt mit.“ Vorsichtig erklomm Jonas die Stufen zum Speicher. „Paketlieferung!“ Erik und Christine hatten es sich auf den übergroßen Sitzsäcken bequem gemacht, ein Fotoalbum zwischen ihnen. Jonas deutete darauf. „Is‘ das …?“ „Ist es“, antwortete Christine. „Frisch aus Australien eingetroffen. Okay, fast frisch. Gestern. Mit mir. Und was hast du uns da schönes mitgebracht?“ „Das?“ Jonas zuckte mit der Schulter, über der eine inzwischen immer lauter protestierende Vroni hing. „Och, nur son kleines Monster, das ich unten gefunden hab.“ „Hey! Du bist das Monster!“ „Pff. Grad wollt ich dich runterlassen, aber jetzt muss ich mir das nochmal überlegen.“ Allerdings wurde Vroni inzwischen doch ziemlich schwer. Wie konnte ein Kind in ein paar Monaten so wachsen? Jonas ging in die Knie und ließ sie behutsam auf den Boden rutschen. Er deutete nach vorne. „Das is‘ Erik.“ Dieser zeigte sein warmherzigstes Lächeln. „Hallo, Vroni.“ Schüchtern und mit einem prüfenden Blick zu Jonas, schüttelte sie die hingehaltene Hand. „Hallo.“ „Soll ich dir was verraten?“ Erik wartete, bis Vroni nickte. „Ich weiß, dass eigentlich du die Künstlerin in der Familie bist. Dein Bild hängt bei uns am Kühlschrank und es ist besser als alles, was ich bisher von deinem Bruder gesehen habe.“ „Hey!“ Trotz Jonas‘ Protest – nun, vermutlich gerade deswegen – zeigte Eriks schamlose Schmeichelei Wirkung, Vroni taute ihm gegenüber merklich auf. „Ich hab noch mehr! Einen ganzen Block voll!“ „Den musst du mir später unbedingt zeigen.“ „Davor sollten wir allerdings essen“, unterbrach Christine. Sie hielt ihre Uhr hoch; es war fünf vor acht. Mit mulmigem Gefühl machten sich die drei Erwachsenen auf den Weg ins Esszimmer. Lediglich Vroni hüpfte ausgelassen zwischen ihren Beinen herum, glücklich, ihre Familie wieder vereint zu sehen. Jonas musste zugeben, dass das Essen himmlisch duftete. Er konnte nicht genau ausmachen wonach, nur, dass es Zuhause war. Im Gegensatz zum Rest, wirkte Erik deutlich entspannter als bei ihrer Ankunft. Er witzelte mit Christine, veranstaltete einen Grimassenwettbewerb mit Vroni und füßelte unter dem Tisch mit Jonas, der allerdings zu nervös war, um das wirklich zu genießen. Einmal trat er Erik sogar versehentlich gegens Schienbein und brachte das Spiel damit zu einem abrupten Ende. In der Küche klapperte Geschirr und jemand fluchte. „Kann man euch helfen?“, rief Jonas über seine Schulter. „Nein, bleibt sitzen!“, rief sein Vater hörbar genervt zurück. Kurz darauf kamen er, seine Frau und seine Schwiegermutter aus der Küche, beladen mit Schalen voll Kartoffelbrei, Rinderbraten und Gurkensalat, die sie auf dem Esstisch arrangierten. „Sie essen kein Fleisch, oder?“, wandte sich Jonas‘ Vater an Erik. „Wir hatten leider nicht damit gerechnet, Sie heute schon mit am Tisch sitzen zu haben.“ Dabei warf er seiner Frau einen Blick zu, der einen eindeutigen Schuldspruch in sich trug. „Deshalb fallen die Alternativen etwas spärlich aus. Entschuldigung.“ „Das ist wirklich kein Problem. Ich halte mich gerne an Beilagen.“ „Nein, nein. Die Rahmpilze, die wir für Christine gemacht haben sollten für zwei reichen. Sofern Sie Pilze mögen?“ „Sehr gerne.“ Jonas wusste, dass das ein wenig übertrieben war. Erik aß Pilze, sie waren allerdings weit davon entfernt sein Leibgericht zu sein. Die Tatsache, dass sein Vater überhaupt daran gedacht hatte, dass Erik Vegetarier war und dieser vermutlich alles essen würde, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, machte ihn jedoch glücklicher, als für so eine triviale Kleinigkeit angemessen schien. „Froh, dass ich diesen Kampf vor dir ausgefochten habe?“, raunte Christine Erik zu, der ihr zur Antwort verschmitzt zuzwinkerte. „‘s gibt dann a a Nachspeis.“ Bei diesen Worten von Jonas‘ Oma verwandelte sich Eriks höfliches Lächeln in ein vorfreudiges. „Ich kann das nicht.“ Unvermittelt schob Jonas‘ Mutter ihren Stuhl zurück und flüchtete in die Küche. Betretenes Schweigen breitete sich im Esszimmer aus. „Ich sollte wohl …“, murmelte Jonas‘ Vater wenig begeistert, doch Jonas schüttelte den Kopf. „Lass mich mal versuchen.“ Er warf einen entschuldigenden Blick auf Erik, „bin gleich wieder da“, und folgte seiner Mutter. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, die Hände auf die Küchenablage gestützt. Ihre Schultern bebten. „Mama.“ Sie reagierte nicht, aber er war sich sicher, Schluchzer zu hören. Stumm reichte er ihr ein Taschentuch. Das kurze Zögern, bis sie es annahm, schmerzte. „Mama, sieh mich an. Bitte.“ Als sie ihren tränenverschleierten Blick auf ihn richtete, wünschte sich Jonas, nicht darum gebeten zu haben. Er biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. Sie mussten miteinander sprechen, so konnte das einfach nicht weitergehen. „Ich weiß, dass das schwer für dich is‘.“ „So habe ich mir dein Leben nicht vorgestellt!“ Da war so viel Wut und Verzweiflung in ihrer Stimme, dass Jonas instinktiv einen Schritt zurücktrat. „Du solltest mal eine Familie haben! Kinder!“ Jonas wollte ihr sagen, dass das immer noch sein Leben war, nicht ihres. Dass sie nicht das Recht hatte, ihm vorzuschreiben, wie er es führte. Doch als er den Mund öffnete, kamen völlig andere Worte heraus. „Das will ich auch.“ Es war seltsam, diesen Traum laut auszusprechen, ganz besonders, weil er ihn sich damit zum ersten Mal vor sich selbst eingestand. „Genauso wie Erik. Und das is‘ der Punkt, Mama. Ich will eine Familie mit Erik. Nich‘ mit irgendeiner Frau, die ich nie auf die Weise lieben könnte, die sie verdient hat. Vielleicht bedeutet das, dass ich dann auf eigene Kinder verzichten muss, aber … Auch ohne Kinder, kann ich eine Familie haben. Ich hab Erik und Christine und Vroni und die Nichten und Neffen, die vielleicht mal kommen werden. Ich hab Oma. Maria und Clemens. Und ich hab Papa und dich. Ich find, das is‘ scheißviel Familie.“ „Das ist nicht die Art Familie, die ich für dich im Sinn hatte.“ „Wahrscheinlich nich‘, aber das macht sie nich‘ schlechter.“ Zurückhaltend legte Jonas eine Hand auf die Schulter seiner Mutter und atmete innerlich auf, als sie nicht zurückzuckte. „Mama, ich weiß, dass das ‘ne scheißschwierige Situation für dich is‘. Für mich auch. Und … Es is‘ bestimmt auch unfair von mir, zu erwarten, dass ihr euch so schnell an den Gedanken gewöhnt, wenn ich selbst Jahre dafür gebraucht hab, aber grad deshalb kann ich dir sagen, dass sich nix ändern wird, bloß weil man‘s leugnet oder dagegen ankämpft. Ich bin schwul. Ich hab‘s mir nich‘ ausgesucht, aber ich muss damit leben. Und inzwischen kann ich das auch richtig gut. Vielleicht kann ich was tun, um‘s dir auch einfacher zu machen?“ Seine Mutter öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne einen Ton von sich gegeben zu haben. Ihre Kiefer mahlten. Schließlich sagte sie kühl: „Ich wüsste nicht was.“ Jonas seufzte. „Dann denk drüber nach. Ich geh solang wieder zurück zu den anderen. Hab euer Essen zu sehr vermisst, um‘s jetzt kaltwerden zu lassen.“ Er zögerte. „Aber ich fänd’s schöner, wenn du mitkommen würdest.“ Als seine Mutter keine Anstalten machte, ihn zu begleiten, wandte er sich ab und kehrte ins Esszimmer zurück. Grabesstille empfing ihn, wurde noch tiefer, als er resigniert den Kopf schüttelte. „Sorry.“ Es war Vronis verständnisloser Blick, der ihm endgültig das Herz brach. „Lasst uns einfach anfangen“, entschied sein Vater. „‘n guten.“ Das Klappern des Geschirrs war über weite Strecken das einzige Geräusch an diesem Abend. Immer mal wieder versuchte jemand ein Gespräch in Gang zu bringen, doch meist erstarb es nach nur wenigen Sätzen. Wenigstens schien die gedrückte Stimmung keinen Einfluss auf den Appetit der Esser genommen zu haben. Am Ende standen nur noch klägliche Reste auf dem Tisch. „Können wir Ihnen noch beim Abwasch helfen?“, bot Erik an. „Ach, das ist nicht nötig.“ Jonas‘ Vater hob abwehrend die Hand, warf dann jedoch auf einen Blick auf seine Schwiegermutter, die sichtlich müde in ihrem Stuhl hing. „Andererseits …“ „Wir machen das schon, Papa“, sagte Jonas. „Ihr habt gekocht, wir kümmern uns um den Rest.“ Zu dritt räumten sie das Geschirr ab, stapelten Gläser, Teller und Besteck in der Spülmaschine und ließen Wasser für die Töpfe einlaufen. Vroni hatte sich heimlich in ihr Zimmer zurückgeschlichen, aber angesichts der vorangegangenen Ereignisse hätte ohnehin niemand darauf bestanden, dass sie noch länger bei den Erwachsenen blieb. Automatisch nahm Jonas das Trockentuch in die Hand, während Erik die Ärmel hochkrempelte und sich vor die Spüle stellte. Das war die Aufteilung, die sich auch bei ihnen zuhause ergeben hatte. „Was sind das für Narben?“ Jonas‘ Mutter stand im Türrahmen, den Blick auf Eriks Unterarme gerichtet. „Ah, das–“ „–geht dich überhaupt nix an“, entschied Jonas knapp. „Tut es nicht?“, fragte seine Mutter spitz. „Hast du nicht vorhin noch groß getönt, mir helfen zu wollen, zu akzeptieren, dass du …“ Sie schnaubte. „Und dann hast du Geheimnisse vor mir?“ „Bloß, weil ich versprochen hab, völlig offen zu dir zu sein, heißt das noch lange nich‘, dass Erik–“ Eine Hand an Jonas‘ Schulter ließ ihn verstummen. „Ist in Ordnung.“ Erik erwiderte den Blick von Jonas‘ Mutter freundlich, aber mit einer gewissen Entschlossenheit. „Die Narben stammen von Rasierklingen, Nagelscheren, Büroklammern. Im Grunde allem, was mir damals zum richtigen Zeitpunkt zwischen die Finger kam.“ Das war ganz sicher nicht die Antwort, die Jonas‘ Mutter hatte hören wollen und sogar Christine vergaß, so zu tun als sei sie beschäftigt. Als hätte er die Reaktionen nicht bemerkt, streckte Erik seine Unterarme aus und präsentierte sie für eine gründliche Inspektion. Zig Linien, die meisten fein und hell, manche zart gerötet, ein paar breit und wulstig, zogen sich über winterblasse Haut. Jonas kannte den Anblick und dennoch starrte auch er. „Vielleicht sehen Sie, dass es sich um alte Narben handelt“, erklärte Erik mit einer Abgeklärtheit, für die Jonas ihn nur bewundern konnte. „Die Jüngste ist vor etwa neun Jahren entstanden.“ „Warum …?“ Christine biss sich auf die Lippen, offensichtlich beschämt über ihre eigene Taktlosigkeit. Erik schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln, signalisierte, dass er Nachfragen nicht übelnahm. „Als ich fünfzehn war sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen und ich … Sagen wir, ich habe nicht den besten Weg gewählt, um mit meiner Trauer umzugehen.“ „Drogen?“ Jonas wusste nicht, wann er das letzte Mal so wütend auf seine Mutter gewesen war. Er öffnete den Mund, um das Gespräch für beendet erklären, doch Erik kam ihm mit seiner Antwort zuvor. „Unter anderem“, gab er zu. „Alkohol, vor allem. Glücklicherweise habe ich Hilfe bekommen, bevor ich ein ernstzunehmendes Suchtproblem entwickeln konnte. Die Selbstverletzung war problematischer, dank einer mehrjährigen Therapie habe ich aber auch das inzwischen im Griff.“ „Was ist mit Aids?“ „MAMA!“, protestierten Jonas und Christine unisono. Erik schüttelte nur den Kopf. „Ich will nicht leugnen, dass Männer, die mit Männern schlafen noch immer eine Risikogruppe darstellen, aber–“ „Wir sin‘ beide gesund!“, unterbrach Jonas. Allmählich hatte er die Schnauze gehörig voll. „Haben uns am Anfang der Beziehung testen lassen. Und vor ein paar Wochen nochmal. Auf Eriks Wunsch. Weil er so viel scheißverantwortungsvoller is‘ als ich!“ Der Zorn, der lange vom Flehen nach Akzeptanz überdeckt worden war kehrte mit Wucht zurück. „Davor haben wir Gummis benutzt. Was ebenfalls Eriks Verdienst war. Nich‘ eurer. Scheiße, Mama, guck nich‘ so entsetzt! Habt ihr das Wort ‚Kondome‘ oder ‚Verhütung‘ mir gegenüber überhaupt mal in den Mund genommen? Nee, oder? Nich‘ mal als ihr dachtet, dass Maria und ich ‘n Ding sind. Ihr habt einfach drauf gehofft, dass die Schule euch dieses Thema abnimmt und ich sie schon nich‘ schwängern werd.“ Wütend pfefferte er das Spültuch auf den Küchentisch. „Dir war‘s scheißegal, wie ich’s treib! Erst jetzt, weil dir nich‘ passt, mit wem ich ficke, denkst du plötzlich über diese ganze Scheiße nach!“ Die Augen seiner Mutter weiteten sich, aber sie knickte nicht ein. „Bin jetzt etwa ich die Böse, weil ich mir Sorgen um meinen einzigen Sohn mache?“ Eine scharfe Antwort auf der Zunge, machte Jonas einen Schritt auf seine Mutter zu, doch vier Hände, zwei groß und kräftig, zwei klein aber kein bisschen schwächer hielten ihn zurück. Aufgebracht wirbelte er herum und starrte in zwei warnende Augenpaare. Stumm formte Erik das Wort ‚Durchatmen‘. Es dauerte, aber nach und nach ebbte Jonas‘ Wut ab, schaffte Raum für ein wenig Vernunft. Erik und Christine hatten recht, wenn er jetzt die Nerven verlor, machte er alles nur noch schlimmer als es ohnehin schon war. „Wir sollten gehen.“ Ohne das Adrenalin, das durch seine Adern jagte fühlte sich Jonas einfach nur erschöpft. Er rieb über seine juckenden Augen, bevor er sich zu seiner Mutter umdrehte. „Sorry, Mama. Lass uns wann anders noch mal darüber reden.“ Seine Mutter antwortete nicht. „Vielleicht morgen?“ Schweigen.“ „Wir könnten uns revanchieren und für euch kochen.“ Hilflos blickte Jonas zu Erik. „Das … das wär doch okay, oder?“ „Natürlich. Ich würde mich freuen.“ Schweigen. Dieses Mal konnte Jonas die Tränen in seinen Augen nicht wegblinzeln, kühl rollten sie über seine Wangen. „Mama, bitte!“ „Übermorgen“, entschied sie, ohne ihren Sohn anzusehen. „Und kein Abendessen. Kaffee reicht. Nur wir drei, bei euch in der Wohnung. Ich rufe an, bevor ich losfahre.“ Jonas wusste nicht mehr, was er fühlen sollte. Erleichterung? Hoffnung? Gerechtfertigte Wut, über die Art, wie seine Mutter ihn und Erik behandelte? Am Ende brachte er nur ein klägliches Nicken zustande und seine Mutter verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Küche. „Dann machen wir mal den Abwasch fertig“, murmelte er erschlagen, doch Christine nahm ihm das Trockentuch aus der Hand. „Nope, das mache ich. Du gehst hoch zu Vroni und hältst dein Versprechen, ein paar Runden Smash Bros mit ihr zu spielen.“ „Aber …“ „Kein ‚Aber‘“, entschied sie resolut. „Geh. Versuch, dem Abend wenigstens irgendwas Positives abzugewinnen.“ Eriks Hand in Jonas‘ Kreuz schob ihn Richtung Tür. „Christine hat recht. Verbring ein bisschen Zeit mit deiner Schwester, sie sieht dich selten genug.“ „Und was is‘ mit dir?“ „Ich helfe Christine mit dem Abwasch und dann kommen wir hoch zu euch.“ „Aber ich kann dich doch nich‘ allein lassen!“, protestierte Jonas. „Ich bin ja nicht allein“, erwiderte Erik ungerührt. „Jetzt geh. Hab Spaß. Und sag Vroni, sie soll schon mal den Block mit ihren ganzen Zeichnungen raussuchen. Ich will jede davon sehen.“ Widerwillig ließ sich Jonas aus der Tür bugsieren und schlich die Treppe nach oben. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er bereits nach der zweiten Runde Super Smash Bros vergessen, was zuvor in der Küche abgelaufen war.   In der Sekunde, in der sie im Auto saßen, stießen sowohl Erik als auch Jonas ein tiefes Seufzen aus. „Das hätte schlechter laufen können.“ Ungläubig musterte Jonas Erik. „Waren wir heut im selben Haus?“ „Das hoffe ich doch ganz stark.“ „Also hast du schon diese Frau mitbekommen, die dich wie ‘nen Aussätzigen behandelt hat, wenn sie nich‘ grad zu sehr damit beschäftigt war, so zu tun, als würden wir gar nich‘ erst existieren?“ „Ich sage ja nicht, dass es gut gelaufen ist“, verteidigte Erik seine Einschätzung. „Nur, dass es hätte schlimmer laufen können. Es gab zum Beispiel keine einzige Messerstecherei.“ „Scheiße, verlierst du eigentlich irgendwann auch mal die Geduld? Ich hab das Gefühl, seit ich mit dir zusammen bin versucht jeder dir ans Bein zu pissen und mal zu gucken, wie lang’s dauert, bis du ausflippst.“ Kraftlos barg Jonas das Gesicht in den Händen, zog die Knie an seine Brust, machte sich so klein wie er sich fühlte. „Was tu ich eigentlich hier? Das bringt doch alles nichts. Meine Mum wird nie … Wird nie …“ Ein Arm legte sich um seine Schultern. „Ich denke, wir sind uns einig, dass der Abend heute ziemlich–“ „–beschissen, katastrophal, absolut abgefuckt–“, schlug Jonas vor. „–unangenehm war. Vermutlich für alle Beteiligten.“ „Ich hätte uns den ganzen Scheiß einfach ersparen soll.“ „Aber“, Erik rückte noch näher an Jonas, spendete willkommene Wärme, „du hast zum ersten Mal seit Monaten mit deiner Mutter gesprochen. Und sie hat versprochen, sich übermorgen mit uns zu treffen. Mit uns beiden, nicht nur dir allein. Das sind kleine Schritte–“ „–winzige–“ „–von mir aus auch das. Aber es sind Schritte in die richtige Richtung.“ „Irgendwann werde ich den Kampf trotzdem aufgeben müssen.“ „Vielleicht, und wenn es so weit ist, ist das auch in Ordnung. Aber – und sag mir, falls ich mich täusche – noch ist dieser Zeitpunkt nicht gekommen, oder?“ Jonas antwortete nicht, hing nur in seinem Sitz, starrte aus dem Fenster und ließ die Autoschlüssel zwischen seinen Fingern klimpern. „Soll ich fahren?“, bot Erik an. „… Okay.“ Die Fahrt zum Apfelbäumchen nahm keine zehn Minuten in Anspruch, aber Jonas fürchtete, nicht einmal dafür genug Konzentration aufbringen zu können. Tatsächlich war er an diesem Abend zu nichts mehr fähig, außer, sich gründlich von Erik durchvögeln zu lassen und anschließend erschöpft in seinen Armen einzuschlafen.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)