Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 50 ---------- Was zuletzt geschah: Die Hochzeit ist im vollen Gange, als ein unerwarteter Gast alte Erinnerungen und neue Hoffnung bringt. Während Marco einen Teil seiner lange verloren geglaubten Familie zurückerhält, entfernt sich Jonas immer weiter von seiner eigenen. Nicht nur von seinen Eltern, sondern auch der Graben zwischen ihm und Erik wächst. Spätnächtliche Worte prasseln wie lange überfälliger Sommerregen auf ihre Beziehung und klären die Luft – wenigstens zeitweise. Doch das reicht Jonas nicht. Er will auch seine Eltern erneut in seinem Leben haben. Dieses Verlangen wird so stark, dass er sein Herz über die Telefonleitung ausschüttet.   Kapitel 50 Auf der Wohnzimmercouch lümmelnd, erfreute sich Jonas an Edith, die Mary wegen einer banalen Kleinigkeit zerfleischte. Wer hätte ahnen können, dass ihm Downton Abby so ans Herz wachsen würde? Noch etwas Gutes, das Erik in sein Leben gebracht hatte. Jonas fügte den Punkt seiner mentalen Liste hinzu, die er immer dann aufrief, wenn die Stimme in seinem Inneren drohte, seine Beziehung zu torpedieren. Nichtsahnend von dem stillen Kampf, den sein Freund ausfocht, hatte Erik den Kopf auf Jonas‘ Schoß gebettet und brummte selig, als dieser mit den Fingern durch seine langen Strähnen fuhr. Das Schellen der Türglocke zerriss die Idylle. „Erwartest du jemanden?“ „Nee.“ „Also muss ich aufmachen?“ „Japp.“ Theatralisch seufzend erhob sich Erik. Bevor er zur Tür schlurfen konnte hielt Jonas ihn zurück, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken. „Wie lange willst du das noch durchziehen?“, fragte Erik amüsiert. „Bis du mir sagst, dass ich nerv.“ „Ah. Also nie.“ Zur Antwort krallte Jonas die Finger fester in Eriks Hemdkragen, weigerte sich, ihn schon ziehen zu lassen. Anfänglich war er sich dumm vorgekommen, Eriks Nähe auf diese Weise zu erzwingen. Ihn zu küssen, wann immer einer von ihnen den Raum verließ, egal, ob ihm gerade danach war oder nicht, in Erik Arme zu kriechen, wenn dessen späte Heimkehr ihn weckte und stets ehrlich zu sein, ganz besonders dann, wenn er eigentlich das Gegenteil wollte. Vermutlich hatte Erik genau gespürt, wie viel Überwindung Jonas diese Maßnahmen kosteten und dennoch mitgespielt. Am Ende waren sie für ihre Hartnäckigkeit belohnt worden. Stück für Stück eroberten sie sich die alte Vertrautheit zurück, die immer ein Stützpfeiler ihrer Beziehung gewesen war. Weniger selbstverständlich als früher, dafür stabiler. Ein zweites Klingeln versetzte Erik in Bewegung, um dem unerwarteten Gast zu öffnen. Es dauerte einen Moment, dann hörte Jonas gedämpfte Stimmen. Ungewohnt lange dafür, dass Erik den Gast weder hereinbat, noch auf seinen Weg schickte, aber vermutlich hatten sie sich einfach einen besonders hartnäckigen Staubsaugervertreter eingefangen. Der Jonas nun davon abhielt Downton Abby weiterzugucken. Der Arsch. Endlich schloss sich die Tür und Erik kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Wurd ja auch mal Zeit“, motzte Jonas ihn an. „Los, lass endlich die Folge weiterlaufen.“ Als sich Erik weder setzte noch auf Play drückte, blickte er misstrauisch auf. „Was is‘ los?“ „Dein Vater ist hier.“ „Was?“ „Er sagt, er möchte mit dir sprechen. Ich habe ihn gebeten, vor der Tür zu warten, bis ich dich gefragt habe, ob du das auch willst.“ „Wie … Warum …“ Ächzend barg Jonas das Gesicht in den Händen. Er fürchtete den Auslöser für den Besuch zu kennen. „Ich hab zuhause angerufen. Neulich. Nachdem wir von der Hochzeit zurück waren.“ „Ihr habt miteinander gesprochen? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ „Nee, wir …“ Panik stieg in Jonas hoch. „Da war bloß der Anrufbeantworter, dran und … Fuck! Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck, fuck! Was kann er nur wollen?“ „Was auch immer es sein mag“, da schwang ein Ton in Eriks Stimme mit, den Jonas in dieser Härte bisher nur selten gehört hatte, „wenn du nicht ihm sprechen willst, dann werde ich ihn bitten zu gehen. Und wenn du mit ihm sprechen möchtest, bin ich die ganze Zeit über da, bis du mir sagst, dass ich verschwinden soll.“ Mit diesem Versprechen im Ohr, straffte Jonas seine Schultern. „Ich sollt mir wohl wenigstens mal anhören, was er zu sagen hat.“ Er folgte Erik in den Gang, musste jedoch noch einmal tief Luft holen, bevor er ausreichend Mut aufbrachte, die Klinke nach unten zu drücken. „Hallo, Papa.“ Jonas‘ Vater sah aus, wie man nach einer mehr als siebenstündigen Fahrt eben aussah. Tödlich erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Er lächelte gezwungen. „Es ist schön dich zu sehen. Können wir miteinander reden?“ Jonas spürte Eriks Präsenz in seinem Rücken und tastete hinter sich, bis er die kühle Hand streifte, die ihm schon so oft Halt geschenkt hatte. Erst danach trat einen Schritt zur Seite, um seinen Vater in die Wohnung zu lassen. Dieser fühlte sich sichtlich unwohl, verlagerte im Sekundentakt sein Gewicht von einem Bein auf das andere, doch Jonas war noch nicht bereit, ihm einen Sitzplatz anzubieten. Stattdessen ließ er von Erik ab, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, hinter die erschöpfte Maske zu blicken. „Was machst du hier?“ „Ich wollte dich sehen. Mit dir reden.“ „Warum?“ „Ich habe deine Nachricht abgehört und …“ Die Lippen seines Vaters bewegten sich, als übte er eine Rede ein. Nach mehreren Durchläufen stieß er seinen angehaltenen Atem aus, beließ es jedoch bei einem schlichten „Du fehlst mir“. „Is‘ das alles, was du mir zu sagen hast?“ „Es ist dein gutes Recht, wütend auf mich zu sein. Wir haben einen Fehler gemacht und es tut mir leid, dass es so lange gebraucht hat, bis ich das verstanden habe.“ Jonas zertrampelte die in ihm aufkeimende Hoffnung. Nochmal würde ihm das nicht passieren. „Ich werd nich‘ mit nach München kommen“, stellte er klar. „Ich bleibe in Berlin. Bei Erik. Und ich bin auch weiterhin schwul. Daran wird sich nichts ändern. Und wenn du ‘n Problem damit hast, kannst du gleich wieder verschwinden.“ „Nein! Nein, das ist nicht, was ich … Jonas, ich …In den letzten Wochen, da habe ich … Ich habe ein bisschen was über, ähm, über … Ich habe ein bisschen was über diese Sache gelesen und, ähm, dann war da noch … Erinnerst du dich, als wir mit dir zu Pfarrer Steinkirch wollten und du stattdessen diese … diese Organisation vorgeschlagen hast, die, ähm, also, für Menschen in deiner Situation?" „Ja, scheiße, was habt ihr denn erwartet, wie ich auf so ‘nen beschi–bescheuerten Vorschlag reagier? Ich wollt einfach, dass ihr auch mal jemandem zuhört, der auf meiner Seite is‘, anstatt bloß davon zu labern, wie schlimm ich im Fegefeuer braten werd. Du kannst mir ja wohl kaum vorwerfen, dass ihr dazu nich‘ bereit wart.“ „Ich bin hin. Zu dieser Beratungsstelle, meine ich.“ Jonas war versucht, den Schmalz aus seinen Ohren zu pulen, denn sicherlich hatte er sich eben verhört. „Was?“ „Ich habe den Namen gegoogelt – ja, ich weiß, wie das geht – und einen Termin vereinbart. Die haben sich Zeit genommen und mir viel erklärt und … Ich will dich nicht anlügen und sagen, dass ich es wirklich verstehe, aber … Aber mir ist klar geworden, dass ich das auch gar nicht muss, weil ich dich so oder so liebe. Du bist doch mein Sohn.“ Wütend blinzele Jonas. Er wollte nicht weinen, nicht zeigen, wie sehr er sich nach diesen Worten gesehnt hatte. Überfordert von der Flut an Gefühlen, die über ihn hereinbrach, reagierte er nicht, als ihn sein Vater umarmte, stand nur stocksteif da und kämpfte gegen die Tränen, die in ihm aufstiegen. Kämpfte gegen das Schluchzen, gegen das unbändige Verlangen, sich in die Geborgenheit seiner Kindheit zu stürzen. Bis er nicht länger kämpfen konnte. Das letzte Mal so kläglich ich den Armen seines Vaters geweint hatte er, nachdem ihre Katze Minnie überfahren worden war. Da musste er etwa zehn gewesen sein und das Wissen, nie wieder neben diesem warmen Fellknäuel einzuschlafen lange Zeit der schlimmste Verlust, den er kennenlernte. Bis zum Tag seines Comingouts vor seinen Eltern. Aber anders als Minnie war sein Vater zurückgekehrt und das nicht einmal auf eine mörderische Friedhof der Kuscheltiere Art. Das war kaum die richtige Zeit zum Heulen. Resolut wischte Jonas über seine feuchten Wangen und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, bevor er sich aus der Umarmung löste. „Willst du was essen?“ Auch sein Vater lächelte. „Dazu würde ich nicht Nein sagen. War eine lange Fahrt.“ Jonas drehte sich zu Erik, um zu fragen, was sie noch im Haus hatten, doch der Gang war leer, die Tür zum Büro geschlossen. Offensichtlich hatte Erik entschieden, den beiden so viel Privatsphäre wie möglich zu bieten, ohne sich zu weit zu entfernen. Also lag es an Jonas, seinen Vater angemessen zu bewirten. Er führte ihn in die Küche. „Setz dich. Kaffee?“ Irgendwo mussten noch Überreste von Sophias Besuch stecken. „Gerne.“ Jonas‘ Vater verschränkte die Finger vor seiner Brust und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Reißverschluss der Jacke, die er noch nicht abgelegt hatte. „Ich soll dich von Oma grüßen. Sie wäre gerne mitgekommen, schafft aber die lange Fahrt einfach nicht mehr.“ Jonas schmiss den Wasserkocher an und kramte nach der Dose mit dem Kaffeepulver. Wenn das Zeug doch nur so gut schmecken würde, wie es roch. „Schade. Sie fehlt mir.“ „Du fehlst ihr auch. Sie hat uns gehörig den Kopf gewaschen, nachdem sie deine Nachricht abgehört hatte.“ Mitten in der Bewegung erstarrte Jonas, feingemahlene Kaffeebohnen rieselten von dem Teelöffel in seiner Hand. Wusste seine Oma, weshalb seine Eltern den Kontakt zu ihm abgebrochen hatten? Er warf einen Blick über seine Schulter, suchte im Gesicht seines Vaters nach einer Antwort, fand sie jedoch nicht. Letztlich murmelte er nur: „Tut mir leid, ich wollt wirklich nich‘, dass ihr euch streitet.“ Sein Vater schüttelte den Kopf. „Es war gut, dass du angerufen hast. Der Weckruf war schlicht nötig.“ Jonas hatte sich eine Weile darum gedrückt, aber letztlich musste er die Frage stellen, die ihn drängte, seit er seinem Vater die Tür geöffnet hatte. „Was … Was is‘ mit Mama?“ Das Zögern seines Vaters sagte im Grunde alles. „Mama braucht noch etwas mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass du–“ „–schwul bist–“ „–dein eigenes Leben lebst.“ „Verstehe.“ Unwillig, das Thema zu vertiefen, stellte Jonas seinem Vater den frisch aufgebrühten Kaffee und ein Glas Wasser vor die Nase und machte sich daran, aufzudecken, was vom Frühstück übriggeblieben war. „Bedien dich. Wurst haben wir leider nich‘ im Haus.“ „Bist du jetzt auch unter die Vegetarier gegangen?“ Der frotzelnde, aber liebevolle Ton seines Vaters tat gut. Beinahe, als wäre nie etwas zwischen ihnen passiert. „Nee, ich nich‘, aber Erik.“ Jonas wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. „Isses dir unangenehm, wenn ich über ihn sprech?“ „Nein, nein! Ist schon gut!“ Zu schnell, um glaubwürdig zu sein. „Papa, ich bin echt scheißfroh, dass du hier bist, aber anlügen brauchst du mich auch nich‘.“ „Ich lüge dich nicht an! Es ist nur …“ Sein Vater drehte die Handflächen nach oben. „Es ist nicht so, dass ich … dass ich …“ Er suchte nach den richtigen Worten, schien sie aber nicht zu finden. Jonas trank einen Schluck Saft, schnitt eines der Brötchen auf, weil es so verführerisch vor seiner Nase lag und verteilte dick Nutella darauf. „Schon gut. Ich darf wohl nich‘ vergessen, dass ich selbst Jahre gebraucht hab, diesen Teil von mir zu akzeptieren. Da kann ich kaum von euch erwarten, dass ihr’s quasi über Nacht schafft.“ „Bist … bist du glücklich hier?“ Überrascht von der unerwarteten Frage hob Jonas den Kopf und bemerkte die ehrliche Sorge in den Zügen seines Vaters, die ihm ein ebenso ehrliches Lächeln entlockte. „Japp, bin ich. Mama und du fehlt mir, genauso wie Oma und Vroni und Christine. Ich weiß auch nich‘, ob ich ewig hier in Berlin bleiben will, aber … Das Studium is‘ cool, ich versteh mich mit den Leuten, hab neue Freunde gefunden und–“ „–du hast deinen … Freund“, vervollständigte Jonas‘ Vater den Satz mit einem gewissen Zögern. „Das auch.“ Jonas entschied, offen mit ihm zu sprechen. „Weißt du, hier konnte ich zum ersten Mal wirklich ich selbst sein. Aber das hat nich‘ plötzlich alles superleicht gemacht, oder so. Ich hab versucht, es vor euch zu überspielen, aber ich hatte nach meinem Umzug hierher teilweise ganz schön zu kämpfen. Hatte Heimweh und hab mich nich‘ wirklich zuhause gefühlt. Hier nich‘, aber in Bayern auch nich‘. Manchmal war ich mir nich‘ sicher, ob ich’s pack. Erik war da im letzten Jahr echt ‘ne wichtige Stütze für mich. Auch schon vor unserer Beziehung.“ Als wir bloß so miteinander gefickt haben. „Als wir bloß Freunde waren. Ohne ihn hätte ich vielleicht alles hingeschmissen.“ Sein Vater musterte seine Hände, die frischen Brötchen vor ihm blieben unangetastet. „Kann ich dich noch etwas fragen?“ „Klar!“, antworte Jonas, froh, sowas Ähnliches wie einen Dialog zustande gebracht zu haben. „Frag so viel du willst!“ „Wie lange weißt du schon, dass du …“ Hilflos wedelte sein Vater mit der Hand, als könnte er so das richtige Wort aufdecken, ohne es laut aussprechen zu müssen. „Wie lange ich schon weiß, dass ich nich‘ auf Frauen stehe?“, half Jonas. Sein Vater nickte. „Das … is‘ gar nich‘ so leicht zu beantworten.“ Jonas überlegte, wie er es formulieren sollte. „Befürchtet hab ich’s schon recht früh, sicher bin ich mir so seit … drei Jahren? Und wirklich akzeptiert hab ich’s vielleicht seit ‘n paar Monaten.“ Schwer zu sagen, wie diese Antwort bei seinem Vater ankam. Dieser rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Und die ganze Geschichte mit Maria …?“ „War eine einzige Lüge, damit ihr und ihre Eltern uns nich‘ mehr aufn Sack geht. Sorry. Wir waren immer bloß gute Freunde. Sie war ‘n gutes Alibi, weißt du? Mit ihr an meiner Seite kam gar nich‘ erst der Verdacht auf, ich könnte … Jungs bevorzugen.“ Nachdenklich richtete Jonas‘ Vater den Blick erneut auf seine Hände. „Sie hat mit uns gesprochen. Kurz … Kurz nachdem wir aus Berlin zurück waren.“ „Das wusste ich nich‘“, murmelte Jonas. „Ich hab sie nich‘ auf euch angesetzt oder so.“ „Ich weiß. Oder ich habe es mir zumindest gedacht. Wir sind uns zufällig beim Einkaufen begegnet und sie hat uns erzählt, dass du ihr schon vor Jahren erzählt hast, dass … Ähm, und, dass das nichts mit Berlin zu tun hat. Oder eine Phase ist. Und … Sie hat uns auch gesagt, wie sehr du … Wie weh dir unsere Reaktion getan hat.“ „Oh. Naja … da hatte sie nich‘ ganz unrecht.“ „Also stimmt es?“, hakte sein Vater nach. „Dass eure Reaktion mich verletzt hat? Das sollte offensichtlich sein, oder?“ „Ich meinte …“ Sein Vater ließ den Kopf hängen. „Ich weiß, dass wir dich verletzt haben. Ich wollte aber eigentlich fragen, ob Maria wirklich schon so lange davon weiß.“ „Japp, tut sie“, antwortete Jonas wahrheitsgemäß. Er goss seinem Vater Kaffee nach. Nicht, weil die Tasse leer war, sondern weil ihr Inhalt allmählich erkaltete. „Sie war die Erste, der ich‘s erzählt hab und sie … Maria hat mir geholfen, ein wenig klarer zu sehen. Nich‘ mehr so viel Angst zu haben. Mich weniger zu hassen.“ Stumm wiederholten die Lippen seines Vaters dieses letzte Wort, schienen Mühe zu haben, sich davon zu lösen. Sein Löffel klickte dumpf gegen den Tassenrand, als er Milch und Zucker in seinen Kaffee rührte. „Wer wusste es noch? Christine, nehme ich an …?“ „Christine weiß es seit Weihnachten. Clemens seit Februar.“ „Clemens weiß es auch?“ Jonas war sich nicht sicher, ob ihn die Überraschung seines Vaters amüsierte oder verletzte. „Wie hat er reagiert? Ich meine, ist er nicht … Ihr wart so dick befreundet und …“ „Fragst du mich gerade, ob er sich geekelt hat, jahrelang eine Umkleidekabine mit mir geteilt zu haben?“ „Nein!“, beteuerte sein Vater wenig überzeugend. „Schon gut. Ich war mir auch unsicher. Deswegen hab ich’s ja so lang für mich behalten. Aber … Er hat’s echt gelassen aufgenommen.“ Jonas lächelte bei der Erinnerung. „Ich dacht … Ich hatte immer Angst, das könnt uns endgültig entzweien, aber eigentlich war’s das Geheimnis, das ich so lang vor ihm gehütet hab, das uns so auseinandergetrieben hat. Is‘ gut, dass das nich‘ mehr zwischen uns steht. „Wer weiß es noch?“ Allmählich verlor Jonas die Geduld, aber er rief sich ins Gedächtnis, dass es das Beste war, sämtliche Fragen seines Vaters ruhig und ehrlich zu beantworten. „Christines Freund Nick. Spätestens, seit er im Sommer hier war, aber ich glaub, sie hat’s ihm schon davor gesteckt. Ich hab ihr gesagt, dass sie’s ihm erzählen darf. War schlimm genug, dass sie’s die ganze Zeit vor euch verheimlichen musste. Damit hab ich ihr ganz schön was aufgebürdet.“ Er dachte nach. „Meine Freunde hier in Berlin wissen’s auch. Die engeren, jedenfalls. Erik, natürlich. Ein paar seiner Freunde und seine Familie.“ Jonas konnte sehen, dass diese Information etwas in seinem Vater auslöste und auch er selbst realisierte langsam, wie tief der Graben zwischen ihm und seinen Eltern im letzten Jahr geworden war. „Das sind eine Menge Leute.“ „Ja.“ „Nur uns hast du es nicht erzählt.“ „Papa, ich hatte Angst!“, versuchte Jonas seine Entscheidung zu begründen. „Bei den anderen, denen ich’s erzählt hab, konnt ich ungefähr abschätzen, wie sie reagieren. Und selbst, wenn ihre Reaktion beschissen gewesen wär, wär ich irgendwann drüber hinweggekommen. Aber ihr … Ihr seid mir wichtig! Ich liebe euch und die Vorstellung, dass ihr … dass ihr mich nich‘ mehr liebt …“ „Wir lieben dich!“, beteuerte sein Vater eindringlich. „Ich liebe dich! Ganz egal, was du tust und wer du bist!“ Erneut standen Tränen in Jonas‘ Augen. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu verstecken. „Und ...“ Sein Vater atmete durch. „Ich bin nicht wütend, weil du es uns so spät erzählst hast. Ich bin traurig, weil du es nicht früher konntest.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Es tut mir so leid. Ich würde dir jetzt gerne sagen, dass ab jetzt alles gut wird, aber … Ich kann nur für mich selbst sprechen … Und auch für mich ist das alles noch sehr neu und seltsam. Wahrscheinlich werde ich noch jede Menge dumme Sachen sagen, bis ich das alles wirklich verstanden habe.“ „Das is‘ schon okay. Ich mein, das Gute is‘ ja, dass wir mehr als genug Zeit haben, daran zu arbeiten.“ Jetzt schaffte es sogar ein schmales Lächeln auf Jonas‘ Gesicht. „Ähm … ich hab Fotos von der Hochzeit geschossen, auf der wir neulich waren und bin grad dabei, ein Album aus den schönsten zusammenzustellen. Willst du sie sehen?“ Seinem Vater die Bilder von Marcos und Dragos Hochzeit zu zeigen stellte ein gewisses Risiko dar. Vielleicht würden sie ihn abschrecken. Vielleicht würden sie ihm aber auch verdeutlichen, dass es im Leben gar keinen so großen Unterschied machte, welches Geschlecht man nun liebte. „Ähm … Ja. Sicher. Warum nicht.“ Zwar machte Jonas‘ Vater kaum einen Hehl daraus, dass er nur ihm zuliebe einwilligte, aber auch das war ein erster Schritt. „Jetzt müsst ich mich bloß noch erinnern, wo ich mein Scheißnotebook hingepackt hab.“ Jonas stand auf. „Wart, ich frag mal Erik.“ Sein Vater erhob sich ebenfalls. „Wahrscheinlich sollte ich mich ohnehin bei ihm entschuldigen. Unsere erste Begegnung war nicht unbedingt ideal.“ Wenn Jonas noch einen Beweis gebraucht hätte, dass sich sein Vater wirklich bemühte, spätestens jetzt hätte er ihn gehabt. Hoffentlich sah Erik das ähnlich. Seinen Vater im Schlepptau, stürmte er das Büro. Über die vergangenen Monate hatte es sich als Rückzugsort etabliert, um möglichst ablenkungsfrei ungeliebte Arbeiten zu erledigen. So, wie im Augenblick Erik, der am Schreibtisch saß und in dem Buch über Handelstheorie las, das schon seit Wochen auf seinem Nachttisch lag, ohne dass sich das Lesezeichen darin einen Millimeter weiterbewegt hätte. Er blickte auf, als er die Tür hörte. „Weißt du, wo mein Notebook steckt?“, fragte Jonas. Erik tippte gegen die bunte Schutzhülle neben einem Bücherstapel. „Hier.“ Sein Blick wanderte von Jonas zu dessen Vater. Eine unangenehme Stille entstand. „Ich, ähm, wollt meinem Dad die Fotos von Marcos Hochzeit zeigen.“ „Ah, dann seid ihr eine Weile beschäftigt. Sind ja nur ungefähr fünftausend.“ „Und jedes einzelne davon zeigt mein herausragendes Talent.“ Jonas streckte Erik die Zunge raus. „Herr Kolb …“ Vorsichtig trat Jonas‘ Vater an den Schreibtisch heran, die Hände zur Brust gezogen, als fürchtete er, einen Schlag abwehren zu müssen. „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Wir müssen einen fürchterlichen ersten Eindruck hinterlassen haben.“ „Durchaus, ja.“ Alles in Jonas verkrampfte sich. Still sandte er Gebete an einen Gott, an den er schon lange nicht mehr glauben konnte und an Erik, der nicht gewillt schien, die Sache für Jonas‘ Vater einfach zu gestalten. Genauso wenig wie dieser gewillt schien, bereits aufzugeben. „Ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir einen Neuanfang starten. Jonas zuliebe.“ Erik stand auf, um die Hand zu schütteln, die ihm gereicht wurde. „Solange Sie Ihren Sohn anständig behandeln, soll es an mir nicht scheitern.“ Jonas‘ Vater nickte. „Das werde ich. Versprochen.“ Eine lange Sekunde verstrich und Jonas hätte beinahe einen Luftsprung gemacht, als Erik lächelte. Nicht gequält, nicht gezwungen, sondern ehrlich. „Dann freut es mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ „Okay, Fotozeit!“, entschied Jonas. Die Stimmung war ihm gerade ein wenig zu heikel. Er schnappte sich den Ärmel seines Vaters und zog daran. „Komm, wir gehen ins Wohnzimmer, unsere Couch is‘ echt scheißgemütlich, das muss jeder Arsch mal erlebt haben.“ „Ich habe aber nur eine Stunde oder so.“ Offenbar war Jonas‘ Vater so durch den Wind, dass er seinen Sohn nicht einmal für das Wort ‚Arsch‘ rüffelte. „Dann muss ich zurück nach Hause.“ „Du willst gleich heute wieder zurück? Das sind fünfzehn Stunden Fahrt an einem Tag!“ „Ich kann deine Mutter nicht so lange im Apfelbäumchen allein lassen.“ „Sie werden sie noch viel länger alleine lassen, wenn irgendetwas passiert“, wandte Erik ein. „Bleiben Sie wenigstens eine Nacht. Wir können die Couch ausziehen oder ich buche Ihnen ein Hotelzimmer.“ „Ich weiß nicht …“ „Papa, bitte. Erik hat recht, das is‘ viel zu gefährlich.“ Jonas‘ Vater schien sich für keine der Optionen besonders begeistern zu können. Glücklicherweise kannte und akzeptierte er dennoch seine Grenzen. „Ich muss zuhause anrufen und deiner Mutter Bescheid geben.“ „Das Telefon steht auf dem Schränkchen hinter Ihnen.“ Erik deutete darauf, augenscheinlich fest entschlossen, Jonas‘ Vater einen Tag länger in Berlin zu behalten. Dieser schielte wiederholt in die entsprechende Richtung, bewegte sich aber nicht. Schließlich sanken seine Schultern nach unten und Jonas wusste, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. „In Ordnung. Danke.“ Er griff sich das Telefon, jedoch erneut. „Hast du echt deine eigene Nummer vergessen?“, neckte Jonas, doch sein Vater lachte nicht. Nach einem langen Blick zu Jonas zog er sich in die Küche zurück und schloss die Tür hinter sich. Die Erkenntnis goss Blei in Jonas‘ Magen. „Mama wird nich‘ begeistert sein, dass er noch ‘nen Tag hierbleibt. Bei mir.“ Er presste das Notebook gegen seine Brust. Die Küchentür war zu dünn, um die Stimme seines Vaters vollständig abzuschirmen. „Es ist nur noch ein Tag länger … Ich weiß, dass viel zu tun ist … Nein, ich erwarte nicht, dass … Ja, das ist mir klar … Monika, du … Ja … Ja, ich weiß … Nein, das … Jetzt hör doch mal … Jonas ist immer noch … Schon, aber … Monika! Du redest über unseren Sohn! … Das gibt dir nicht das Re–“ Das Gespräch verkam zu undeutlichem Gemurmel. Unfähig, den Dialog weiter zu belauschen, blickte Jonas zu Erik, der an der Tür lehnte, die er eben geschlossen hatte. „Was auch immer da gerade zwischen deinen Eltern läuft, ist nicht deine Schuld.“  „Irgendwie ja doch.“ Erik ersparte sich weitere Erwiderungen und lief einfach zu Jonas, um ihn in die Arme zu schließen. Zärtlich küsste er Jonas‘ Schläfen, seine Lippen, seine Stirn; versuchte, mit Berührungen zu erreichen, was Worte nicht schafften. Sie hörten ein Räuspern. Jonas‘ Vater stand hinter ihnen, die Türklinke in der einen, das Telefon in der anderen Hand, seine Wangen ein wenig gerötet. „Gibt es hier günstige Hotels, die noch Zimmer frei haben?“ Rasch brachte Jonas etwas Abstand zwischen sich und Erik. „Denk schon.“ „Ich kümmere mich gleich darum“, versprach Erik. „Seht ihr euch solange die Fotos an, ich sage Bescheid, sobald ich etwas habe.“ Mit einem dankbaren Blick zu seinem Freund, schleppte Jonas seinen Vater ins Wohnzimmer. Es dauerte ein wenig – Fotos von der Hochzeit zweier Männer zu sehen, war definitiv seltsam für seinen Vater – doch mit jeder Aufnahme, die über den Bildschirm huschte, wurde er lockerer, stellte Fragen, wollte Details wissen. Bevor sie sich versahen, war es dunkel und er gähnte im Sekundentakt. „Ich sollte wohl langsam ins Hotel.“ Am nächsten Morgen, nach einem gemeinsamen Frühstück, für das sogar Erik ungewohnt früh aus den Federn geklettert war, winkte Jonas dem Auto, das ihn jahrelang durch Bayerns Hinterland kutschiert hatte hinterher. Er selbst blieb mit einer Mischung aus Hoffnung und Trauer in Berlin zurück.   Novemberwind fegte durch die Straßen, trieb frierende Menschen in ihre Wohnungen und brachte den Geruch nach Schnee in die Stadt. Jonas hatte seit dem Besuch seines Vaters noch einige Male mit diesem telefoniert. Viel zu kurz, viel zu heimlich, zu Zeiten, an denen es unwahrscheinlich war, dass seine Mutter davon erfuhr. Umso überraschter war er, als ihre Festnetznummer Sonntagmorgen auf seinem Handydisplay blinkte. Kirchenzeit, eigentlich. „Willst du nicht rangehen?“, nuschelte Erik verschlafen neben ihm. Das Klingeln musste ihn ebenfalls geweckt haben. „Sorry, gleich.“ Unbeholfen kletterte Jonas aus dem Bett und drückte auf ‚Annehmen‘. „Morgen.“ „Guten Morgen“, begrüßte ihn die Stimme seines Vaters. „Hast du noch geschlafen?“ „Ähm, ja. Freu mich aber, dass du anrufst.“ Er wanderte in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Wenn Erik seinetwegen schon wach war, konnte er ihm wenigstens Tee kochen. „Wie geht’s euch?“ „Ganz gut, ganz gut. Wir überlegen, nächstes Jahr jemanden einzustellen, der im Apfelbäumchen hilft und dafür in die Wohnung darüber ziehen könnte. Als Ferienwohnung läuft sie sowieso nicht so gut und für uns wäre es eine echte Erleichterung, jetzt, wo Christine auch nicht mehr da ist.“ „Klingt doch nach ‘ner ganz guten Idee.“ Jonas kramte nach den Teebeuteln. Eigentlich konnte er auch gleich das Frühstück vorbereiten. Die Sucherei lenkte ihn wenigstens von der Frage ab, weshalb sein Vater um diese Zeit bei ihm anrief. Sicher nicht, um ihm von seinen Personalplänen zu erzählen. „Und wie geht’s dir?“, erkundigte sich dieser. „… Euch?“ Wärme durchflutete Jonas‘ Körper, wie immer, wenn sich sein Vater bemühte Erik in Jonas‘ Leben anzuerkennen. „Auch gut. Gibt nich‘ viel Neues zu erzählen. Kaum zu glauben, aber zum ersten Mal seit Monaten scheint bei uns sowas Ähnliches wie Routine einzukehren.“ Er seufzte. „Fuck, jetzt hab ich’s laut ausgesprochen, jetzt muss irgend ’n Scheiß passieren.“ „Kommst du über Weihnachten zu uns?“ Und schon war es so weit. Nicht, dass Jonas sich diese Frage in den letzten Wochen nicht auch gestellt hätte, nur bisher war er nicht gezwungen gewesen eine Antwort darauf zu finden. „Ähm …“ „Ich weiß, dass ich schon früher hätte fragen sollen, aber …“ „Mama is‘ nich‘ begeistert, was?“ Warum um den heißen Brei reden? „Sie … braucht Zeit.“ „Ich glaub, das hast du schon mal gesagt.“ Unmöglich, die Bitterkeit aus seiner Stimme herauszuhalten, so sehr es Jonas auch versuchte. „Sie hätte dich an Weihnachten aber gerne hier!“, versicherte sein Vater eilig. „Wirklich?“ Jonas hatte da so seine Zweifel. „Weil … wenn nich‘, is‘ das okay. Ich werd's überleben, über Weihnachten mal in Berlin zu bleiben.“ Das Wasser kochte und beinahe hätte er sich beim Umgießen in die Kanne verbrüht. „Ich will kein Weihnachten ohne meine Kinder verbringen“, sagte sein Vater bestimmt. „Und deine Mutter will das auch nicht. Glaub mir, wir haben darüber gesprochen und wir hoffen beide, dass du kommst.“ Ein Teebeutel knisterte zwischen Jonas‘ Fingern. Entgegen seiner Worte, war die Vorstellung Weihnachten ohne seine Familie zu verbringen furchtbar, aber immer noch besser als ein unliebsamer Gast zu sein. „Bist du sicher, dass es okay für Mama is‘?“ „Völlig sicher!“ „Okay, dann …“, ein zartes Lächeln brach sich Bahn, „dann sehen wir uns an Weihnachten. Ich meld mich bei euch, wenn ich weiß, wann genau ich komm, ja?“ „Mach das.“ Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, öffnete Jonas den Kühlschrank. Dabei streifte sein Blick die mit einem bunten Magneten daran festgeheftete Karte. „Wusstest du, dass Vroni mir geschrieben hat?“ „Davon hat sie nichts erzählt. Wahrscheinlich hat Oma ihr geholfen.“ „Wahrscheinlich.“ Sogar mit Sicherheit. Auf dem Umschlag prangte ein mit Buntstiften gemaltes Haus, vor dem die ganze Familie versammelt stand. Vroni und Jonas in der Mitte, lachend, sie in seinen Armen. Im Inneren zog sich kindliche Schrift (Schreibschrift, seine kleine Schwester beherrschte wirklich schon Schreibschrift) über stabilen Karton: Oma meinte du bist traurichg und füllst dich allein und wir solen dir sagen das wir dich lieb haben. Jonas ICH HAB DICH GANS DOLL LIEB!!!! Nachdem Jonas die Karte gelesen hatte, hatte er erst einmal heulend am Küchentisch gesessen, bis Erik nach Hause gekommen war und ihn entsetzt gefragt hatte, ob etwas passiert sei. Seither hing sie am Kühlschrank und erinnerte ihn jeden Tag daran, wie viele tolle Menschen sein Leben für ihn bereithielt. „Jonas? Bist du noch dran?“ „Oh, ähm, ja. Ja, natürlich. Ähm, Papa? Wissen Oma und Vroni … Wissen sie, warum ihr … Warum wir uns gefetzt haben?“ Dieses Mal herrschte am anderen Ende der Leitung Stille, die erst nach einigen Sekunden von einem Räuspern unterbrochen wurde. „Vroni ziemlich sicher nicht. Wir … Wir hatten keine Ahnung, wie wir ihr das erklären sollten. Und Oma …“ Jonas‘ Vater zögerte wieder. „Ich weiß es nicht genau. Wir haben ihr nichts gesagt, aber sie hat deine Nachricht an uns abgehört, also ist es schon möglich …“ „Verstehe.“ Was sie wohl darüber dachte? Und wie sollte Jonas seiner kleinen Schwester erklären, weshalb er und seine Eltern sich plötzlich so anders verhielten? „Also kommst du Weihnachten?“, fragte sein Vater noch einmal, als könnte er es selbst nicht ganz glauben. „Ja, Papa. Versprochen.“ Jonas hörte die Badtür, kurz darauf gluckerte Wasser durch die Rohre. „Ich sollt Schluss machen, muss noch das Frühstück vorbereiten. Ich meld mich. Grüß alle anderen von mir.“ „Natürlich. Und, ähm, richte deinem Erik auch schöne Grüße von mir aus, ja?“ „Wird erledigt! Bis bald!“ „Warte!“ Misstrauisch runzelte Jonas die Stirn. „Was is‘?“ „Ich … Wir haben uns noch gar nicht dafür bedankt, dass du dich bei Christine gemeldet hast. Sie hat vor ein paar Tagen angerufen. Das war das erste Mal seit ihrem Abflug, dass wir was von ihr gehört haben. Nur kurz und es wird wohl noch dauern, bis sie nicht mehr sauer auf uns ist, du kennst ja deine Schwester, aber … Danke.“ „Das freut mich, Papa. Ganz ehrlich. Ich wollte nie für Zwist bei euch sorgen.“ Nachdem sein Vater zurück nach Bayern gefahren war, hatte Jonas seiner Schwester eine lange Mail geschrieben, ihr von dem unerwarteten Besuch erzählt und sie gebeten, ihren Eltern wenigstens ein kurzes Lebenszeichen zukommen zu lassen. Anscheinend war sie seinem Wunsch nachgekommen. Vielleicht würde Weihnachten weniger schlimm werden, als er noch vor ein paar Minuten befürchtet hatte. „Also dann, Papa … macht’s gut.“ „Du auch.“ Jonas legte auf, bevor sich diese Verabschiedung noch länger ziehen konnte. Er streckte den Kopf zur Küchentür raus. „Erik?“ „Ja?“ Durch geschlossene Türen und plätscherndes Wasser konnte Jonas ihn gerade noch so verstehen. „Willst du Zimtschnecken zum Frühstück?“ „Was?“ „Willst d–“ Das Wasser im Bad wurde abgedreht, die Tür öffnete sich. Schaum glänzte auf Eriks Haut, verklebte sein Haar. „Wenn du mit mir sprechen willst, warte noch fünf Minuten oder komm mit unter die Dusche.“ Jonas entschied sich für Option zwei.   Der Duft nach frisch aufgebackenen Zimtschnecken mischte sich mit dem des Tees, der Eriks Gesichtsausdruck nach zu urteilen eindeutig zu lange gezogen hatte. „Das vorhin war mein Vater“, erzählte Jonas. „Hat gefragt, ob ich an Weihnachten zu ihnen komm.“ „Wirst du?“ „Japp. Denk, das könnt ganz gut sein. Ich mein, vielleicht geht’s auch richtig schief, alles is‘ beschissen und wir sprechen nie wieder miteinander, aber“, Jonas zuckte mit den Schultern, „das Risiko gehe ich ein. Ähm, was machst du denn zu Weihnachten?“ Im vergangenen Jahr hatte Erik gearbeitet, aber das war ja wohl kaum jedes Jahr der Fall. „Arbeiten.“ „Echt jetzt?“ „Wenn ich an der Bar einspringe, kann jemand anderes mit seiner Familie feiern. Die meisten sind froh, diese Schicht nicht übernehmen zu müssen.“ „Machst du das echt jedes Jahr?“ Erik hob nur eine Braue und widmete sich anschließend seinem Frühstück. Eigentlich ein deutliches Signal, dass er das Thema nicht vertiefen wollte, aber so schnell gab sich Jonas nicht zufrieden. „Also bist du ganz allein?“ „Sieht wohl so aus.“ „Aber–“ „Du musst mich nicht daran erinnern, dass ich keine Familie habe, zu der ich fahren könnte.“ Eriks Stimme war trocken, bitter und schrecklich traurig. „Das weiß ich auch so.“ Jonas verfluchte sich dafür, die Sache nicht auf sich beruhen gelassen zu haben. „Sorry, ich wollt nich‘ …“ Erik schüttelte nur den Kopf. „Schon gut. Vergiss es einfach.“ Aber Jonas war schon einen Schritt zu weit gegangen, jetzt konnte er auch noch einen zweiten machen. Entschlossen umrundete er den Tisch, zog Erik zu sich und wartete geduldig, bis dieser aufhörte, sich gegen die Umarmung zu stemmen. Die Gegenwehr erlosch bereits nach wenigen Sekunden und bald darauf wurde der Griff um Jonas‘ Taille fast schon schmerzhaft fest. Erste Regentropfen benetzten die Fensterscheiben, wurden größer, rannen hinab, bildeten Pfützen auf dem Rahmen. „Ich wollt nix aufwirbeln.“ Zärtlich strich Jonas über Eriks feuchtes Haar. Dieser seufzte. „Ist in Ordnung. Weihnachten ist einfach generell keine leichte Zeit für mich.“ Er löste sich aus der Umarmung. „Arbeiten ist eine gute Ablenkung. Ich mache mich nützlich und wenn viel zu tun ist, verfliegt die Zeit und das Jahr ist vorbei, bevor ich wirklich darüber nachdenken konnte. Alternativ könnte ich vermutlich zu meiner Tante und ihrer Familie, aber ich denke nicht, dass sich irgendjemand wirklich wohl mit dieser Lösung fühlt.“ Jonas setzte sich zurück auf seinen Platz. „Ganz ehrlich? Ich glaub, die fühlen sich auch nich‘ wohl, wenn sie unter sich sin‘.“ Immerhin erntete er dafür ein schmales Lächeln. „Da hast du vermutlich nicht ganz unrecht.“ Geistesabwesend starrte Jonas aus dem Fenster. „Wir könnten … Nee, das is‘ ‘ne Scheißidee. Obwohl … Wenn … Nee, das is‘ irgendwie … Andererseits …“ „Lässt du mich an deinen Gedanken teilhaben, oder muss ich raten?“ Eriks amüsierte Stimme brauchte Jonas zurück in die Gegenwart. „Sorry. Ich dacht bloß grad … Was, wenn wir zusammen nach Bayern fahren? Als Urlaub?“ „Wann?“ „Na, über Weihnachten natürlich!“ Erik brauchte ein paar Sekunden, um eine adäquate Antwort auf diesen Vorschlag zu finden. „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Selbst, wenn ich so kurzfristig Urlaub über die Weihnachtszeit bekommen würde, was ziemlich unwahrscheinlich ist, bezweifle ich, dass deine Eltern mich bei sich haben wollen. Schon gar nicht über Weihnachten.“ „Nee, hör mir erst mal zu“, bat Jonas. „Ähm, ich … Ich hab ja ziemlich lang überlegt, ob ich überhaupt hinfahren soll, weil … Naja … Scheiße, ich mein, mein Dad kann noch so oft beteuern, dass Mama mich sehen will, es is‘ klar, dass das einfach nich‘ stimmt. Sonst hätte sie schon längst selbst mal angerufen und … und ich weiß einfach nich‘, ob ich‘s schaff, mit ihr im selben Haus zu wohnen, während wir so tun, als ob nix passiert wär. Und wenn wir nich‘ so tun, dann heißt das, dass wir wohl streiten … Und damit die restliche Familie reinziehen … Was zu noch mehr Streit führt und … Das is‘ irgendwie alles richtig beschissen.“ Erik musterte Jonas eingehend, sagte jedoch nichts, sondern wartete geduldig, bis dieser einmal tief durchgeatmet hatte und fortfuhr: „Also … Ich will die Feiertage schon gern bei meiner Familie verbringen, aber da wohnen? Mehrere Tage, vielleicht zwei Wochen? Nee, das …“ Jonas merkte, dass er erneut abschweifte und Erik noch immer keine Ahnung hatte, worauf er eigentlich hinauswollte. „Ähm, jedenfalls … Ich dacht, vielleicht könnten wir ein Hotelzimmer in der Nähe nehmen. Urlaub machen. Nix zu teures, das kann ich mir nich‘ leisten, aber … so ‘ne kleine Pension halt. Aber ich merk grad, dass das ‘ne Scheißidee is‘, weil–“ „–ich vermutlich keinen Urlaub bekomme–“ „–jaah und weil–“ „–es schwer werden könnte, so kurzfristig noch freie Hotelzimmer zu finden.“ „Das auch, aber hauptsächlich …“ Jonas wartete darauf, dass Erik seinen Satz ein weiteres Mal vervollständigte, aber nichts geschah. Er musste die Arbeit wohl selbst erledigen. „Ähm … Ich wär dann ja über die Weihnachtsfeiertage trotzdem zuhause. Wenigstens ein paar Stunden und … Ich hätte dich da echt gern dabei, aber ich weiß nich‘, ob meine Eltern … Ob ihnen das nich‘ zu schnell geht … Zu viel is‘, weißt du? Und wenn das so is‘, dann is‘ das doch auch kacke für alle Beteiligten.“ „Natürlich“, entgegnete Erik. „Ich fände es schön, wenn deine Eltern mir die Chance geben würden, mich nochmal ordentlich vorzustellen, aber ich vermute, dafür ist es einfach noch viel zu früh. Zumindest für deine Mutter und ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen. Also sind die Weihnachtsfeiertage wohl die etwa ungünstigste Lösung.“ „Jaah… schon.“ Jonas biss sich auf die Lippe. Sein Plan wollte ihn einfach nicht loslassen, also zwang er sich, auch die anderen Schwächen laut auszusprechen. „Falls du trotzdem mitkommst, würde das auch bedeuten, dass du an Weihnachten allein in ‘nem Hotelzimmer in ‘ner fremden Gegend hockst. Was … vermutlich das Beschissenste is‘, was du tun kannst.“ „Mhm.“ Jonas konzentrierte sich auf den klebrig-süßen Geschmack der Zimtschnecke, in der Hoffnung, die Bitterkeit auf seiner Zunge zu vertreiben. Er wollte Erik bei sich haben. Besonders an Weihnachten, aber natürlich war das unvernünftig und dumm. Zwei Adjektive, die so gar nicht zu Erik passten. „Wir könnten mit dem Auto fahren …“, überlegte dieser plötzlich laut, nachdem Jonas das Gespräch bereits für beendet gehalten hatte. „Ähm, ja … könnten wir wohl. Aber warum sollten wir?“ „Weil ich dann, wenn du bei deinen Eltern bist, nach Stuttgart fahren könnte. Ist ein Stück hin, aber an einem Tag gut zu machen, wenn das Wetter halbwegs mitspielt.“ „Zu deiner Tante?“ Erik zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Alternativ schau ich mal im Tässchen vorbei. Hugo und Manni richten jedes Jahr eine kleine Feier für alle aus, die über die Festtage nicht wissen, wohin sie gehen können. Damit entspreche ich wohl ihrer Zielgruppe.“ Misstrauisch musterte Jonas seinen Freund. „Würdest du das echt machen? Es is‘ nämlich total okay, wenn du lieber hierbleibst. Ich dacht bloß … es könnt mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und meinen Eltern die Chance geben, dich nochmal besser kennenzulernen. Wenn du das auch willst, natürlich! Wir hocken sonst in Berlin und sie in Bayern und da gibt’s nich‘ so viele Möglichkeiten. Aber ich will nich‘, dass das am Ende in noch mehr Stress für alle Beteiligten ausartet.“ Sanft lächelnd nahm Erik Jonas‘ Hand in seine. „Sei ehrlich. Selbst, wenn es in Stress ausartest, willst du alle dir wichtigen Menschen um dich haben. Und idealerweise verstehen sie sich untereinander auch noch prima. Ein hehres Ziel.“ „Ein erreichbares?“, fragte Jonas vorsichtig. „Ich kann nur wiederholen, was ich deinem Vater schon gesagt habe. An mir soll es nicht scheitern.“ Erik stand auf, um seinen Teller in die Spülmaschine zu räumen. „Überleg dir, ob du das wirklich willst und wie wir es im Detail machen sollen. Dann frage ich, ob ich wenigstens ein paar Tage frei bekomme und wir versuchen, noch ein Hotelzimmer zu ergattern, das nicht völlig überteuert ist.“ Jonas umarmte seinen Freund von hinten, inhalierte den erdigen Duft, den er inzwischen mit Heimat verband. „Danke.“ „Nicht dafür.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)