Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 49 ---------- Was zuletzt geschah: Marco und Drago laden zur Hochzeit und auch, wenn das rauschende Fest aus finanziellen Gründen eine Nummer kleiner ausfällt, als sie (okay, Marco) sich vielleicht gewünscht hätten, sind ihre Freunde festentschlossen, den Frischvermählten einen traumhaften Abend zu bescheren. Auch Jonas und Erik sind mit von der Partie, doch obwohl sie von allen Seiten von Ausgelassenheit und Liebe umgeben sind, bröckelt ihre harmonische Zweisamkeit sichtlich.   Kapitel 49 Im Haus herrschte Grabesstille, selbst die Musik verkam zum Hintergrundrauschen. Wie am Boden festgenagelt starrte Marco zu der jungen Frau, die halb verdeckt von Dragos hochgewachsenem Körper im Türrahmen verharrte. „Francesca, was machst du hier?“ „Ich habe sie gebeten, zu kommen.“ Giulia war neben ihren Bruder getreten, die Arme in die Hüften gestemmt, als erwartete sie eine Diskussion, die sie zu gewinnen plante. „Ich wollte dir vorab nichts davon erzählen, weil ich mir nicht sicher war, ob sie auftaucht.“ Die Sekunden zogen sich. Drago blickte zwischen Francesca und Marco hin und her, ohne Anstalten zu machen, sie ins Haus zu bitten. Bevor jemand eine Entscheidung treffen konnte, ergriff Francesca das Wort. „Sorry, dass ich unangemeldet reinplatze. Und auch noch zu spät.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, blinzelte jedoch auffallend oft. „Etwa zehn Jahre …“ „Francesca …“ Marco schob seinen Mann aus dem Weg und schlang die Arme um die junge Frau. In seinem Eifer hob er sie beinahe von den Füßen, erntete aber keinen Protest dafür, sondern ein ersticktes Lachen. Unauffällig stellte sich Jonas neben Erik, wisperte: „Wer is‘ das?“ „Marcos kleine Schwester“, antwortete Erik ebenso leise. „Die beiden hatten noch eine Weile Kontakt, nachdem er schon zuhause rausgeflogen war, aber der Einfluss ihrer Eltern wohl doch zu groß. Soweit ich weiß, haben sie seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.“ Inzwischen hatte sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft um die Geschwister versammelt und versuchte, dem Drama auffallend unauffällig beizuwohnen. Irgendwann ließ Marco von seiner Schwester ab, behielt jedoch eine Hand auf ihrer Schulter, als hätte er Angst, sie könnte so unvermittelt wieder aus seinem Leben verschwinden, wie sie gekommen war. Die andere legte er auf Dragos Unterarm. „Francesca, das ist Drago. Mein Mann.“ „Äh, ciao.“ Francesca schüttelte Dragos Hand, allerdings recht zurückhaltend. Vielleicht, weil sie trotz allem Berührungsängste hatte, vielleicht aber auch, weil Drago noch immer aussah, als könne er sich nicht entscheiden, ob ihr spontaner Besuch ihn ausreichend rührte, um ihr zu vergeben, wie sehr sie seinen Mann verletzt hatte, oder er sie doch lieber vor die Tür setzen sollte. Nach einem ziemlich eindeutigen Seitenstoß von Marco, rang er sich ein Lächeln ab. „Schön, dass du hier bist.“ „Oh, und das hier sind Manni und Hugo.“ Marco manövrierte Francesca um Drago herum und deutete auf die beiden Männer, die ihr aufmunternd zulächelten. „Sie haben mich nach meinem Rausschmiss bei sich aufgenommen, bis ich mir eine eigene Wohnung leisten konnte.“ Das war auch für Jonas neu. Er hatte gewusst, dass der von Manni geleitete Jugendtreff eine wichtige Anlaufstelle für Marco gewesen war, aber nicht, wie nahe sie sich tatsächlich standen. Kein Wunder, dass Marco ihn als Trauzeugen ausgewählt hatte. „Es tut mir so leid, was damals passiert ist!“, platzte es aus Francesca heraus. „Und, dass ich ni–“ „Mach dich nicht lächerlich!“, fuhr Marco dazwischen. „Du warst zwölf. Ein Baby! Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht. Und jetzt komm.“ Resolut zog er Francesca hinter sich her. „Wir versorgen dich erstmal mit was zu Trinken und dann stelle ich dir alle anderen vor.“ Ein dumpfer Aufschlag, gefolgt vom ohrenbetäubenden Brüllen eines Kinds lenkte die Aufmerksamkeit auf einen anderen Teil von Marcos Familie. Seine jüngste Nichte, Arianna, war beim Spielen von der Treppe gestürzt und hatte sich das linke Knie aufgeschlagen. Weinend saß sie auf der untersten Stufe, ihre besorgten Eltern neben sich. Winzige Bluttropfen rannen ihr Schienbein herab. „Ich hole mal den Verbandskasten.“ Drago sprintete ins Bad und kehrte kurz darauf mit einem grünen Kästchen zurück. Unterdessen hielt Ariannas Vater seine Tochter fest, während ihre Mutter die Wunde mit Wasser reinigte. Dem Gebrüll nach zu urteilen, ein grauenvoll schmerzhafter Prozess. „Gleich hast du es geschafft, Principessa“, säuselte Giulia. „Nur noch desinfizieren." Jonas hätte es nicht für möglich gehalten, doch in der Sekunde, in der das Mädchen die Sprühdose mit dem Desinfektionsmittel sah, wurde ihr Weinen noch herzerweichender. Verzweifelt versuchte sie, sich aus den Armen ihres Vaters zu winden, was ihr Jonas kaum verdenken konnte. Seine Eltern hatten auch immer behauptet, das Zeug würde nicht brennen, aber das war eine dreiste Lüge. Wahrscheinlich reagierte der Körper unschuldiger Kinder einfach anders als der Erwachsener. Ariannas Panik ging sogar so weit, dass sie nach ihrer Mutter trat, bis diese die Geduld verlor. „Wir könnten schon längst fertig sein, wenn du nur mal stillhalten würdest!“ „Hey.“ Alle Augen, inklusive Ariannas, richteten sich auf Erik. „Ich hab hier was für dich.“ Er wartete, bis Giulia Platz gemacht hatte, bevor er sich vor Arianna kniete und ihr ein Glas mit knallrotem Inhalt reichte. „Schmeckt‘s?“ Arianna leckte über ihre verfärbten Lippen und nickte schüchtern. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ Dieses Mal war das Nicken enthusiastischer. Verschwörerisch beugte sich Erik nach vorne. „Eltern sind oft viiieeel zu besorgt. Mal sehen, ob wir das“, er deutete in Richtung des Sprays, „überhaupt brauchen. … Mach mal so!“ Er streckte die Zunge raus. Kichernd folgte Arianna seinem Beispiel, nachdem sie sich mit einem Blick zu ihrer Mutter versichert hatte, dass es in Ordnung war. „Sehr gut!“, lobte Erik. „Jetzt so.“ Er zog eine Grimasse und wieder lachte Arianna, bevor sie ihn nachmachte. Der Schmerz schien vergessen. „Das sieht doch schon richtig gut aus. Jetzt wackle mit den Fingern.“ Sie wackelte. „Super! Mit den Zehen. Perfekt! Mit den Ohren.“ „Das kann ich nicht!“, protestierte das Mädchen lachend. „Nein?“ Erik wandte sich an Giulia. „Aber du kannst das doch, oder?“ „Ich fürchte, nein“, erwiderte Giulia schmunzelnd. „Und du?“, fragte Erik Giovanni, Ariannas Vater, der nur den Kopf schüttelte. Mit gerunzelter Stirn musterte Erik das Mädchen. „Dann ist das wohl okay so. Du siehst jedenfalls ganz gesund aus.“ „Nicht sprühen?“ Hoffnungsvoll blickte Arianna zu Erik. „Ich sag dir was. Du und ich“, vertrauensvoll deutete er zwischen ihnen hin und her, „wissen, dass du das nicht brauchst. Aber deine Eltern machen sich doll Sorgen und das ist doch auch doof. Wollen wir einmal sprühen? Ganz kurz?“ Arianna verzog das Gesicht. „Ich weiß, du magst das nicht, aber weil du es gar nicht brauchst, spürst du auch nix. Versprochen. Dafür hören deine Eltern auf zu meckern. Machen wir das so?“ Arianna überlegte – angestrengt – fällte aber recht schnell eine Entscheidung. Erneut wurde Erik für seine Mühen mit einem Nicken belohnt. Schmunzelnd nahm er das Spray aus Dragos Hand und sprühte einmal kurz. Das Mädchen kicherte. „Das ist das falsche Bein, du Dummie.“ „Ist es?“, fragte Erik verblüfft. „Die Wunde ist so winzig, ich sehe sie gar nicht richtig.“ „Daha!“ Arianna deutete auf die Schürfwunde an ihrem Knie. „Hier?“ Erik richtete das das Spray auf ihr Schienbein. „Neihein! Da!“ „Da?“ Dieses Mal deutete er auf den Oberschenkel und während Arianna sich noch über seine scheinbare Dummheit amüsierte, gab Erik rasch einen Stoß Desinfektionsmittel auf die Wunde. Das Mädchen schien es noch nicht einmal zu bemerken. „In Ordnung, ich gebe auf! Aber du bekommst trotzdem eine Tapferkeitsmedaille.“ Er stellte das Spray ab und zog dafür seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, aus dem er wiederum eine lederne Schutzhülle hervorholte. Jonas wusste, dass Erik darin Kondome aufbewahrte, die bunten Pflaster, die er nun daraus zauberte sah er allerdings zum ersten Mal. Erik hielt drei Stück in die Höhe. „Piraten, Enten, oder Hello Kitty?“ Arianna deutete auf die Piraten. „Gute Wahl. Die mag ich auch am liebsten. So …“ Erik klebte das Pflaster auf das gesunde Knie; für die eigentliche Wunde war es zu klein, aber die würde auch so heilen. „Fertig!“ Ihre ‚Medaille‘ bewundernd zog Arianna davon und Erik kehrte zu seinem Platz an der Bar zurück. Allmählich verstreuten sich auch die restlichen Beobachter wieder im Raum, während Marco die Gelegenheit nutzte, die zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Francesca in ein etwas abgelegeneres Eck zu bugsieren. Nicht einmal Drago folgte ihnen, unterhielt sich stattdessen mit seinen Gästen. Genaugenommen immer mit jenen, die Anstalten machten Marco und Francesca zu folgen. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, schlenderte Jonas zur Bar und stellte sein leeres Glas ab. „Noch einen?“ Erik war sichtlich bemüht, sich jenes triumphierende Grinsen zu verkneifen, das Jonas bereits erwartet hatte. „Ja, ja. Du mich auch …“ Er beobachtete Arianna, die mit ihren älteren Schwestern über Möbel kletterte, als ob nie etwas passiert wäre. „Dir is‘ schon klar, dass an dir ‘n richtig guter Kinderarzt verlorengegangen is‘, oder?“ Erik zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein. Wenn sich der Job darauf beschränken würde, aufgeschlagene Knie zu verarzten. Aber hilflos bei Fieberkrämpfen zusehen? Bei Krebs? Bei schweren Verletzungen, oder Infektionskrankheiten, die leicht hätten verhindert werden können, wenn das Kind geimpft worden wäre?“ Er schüttelte den Kopf. „Dafür bin ich nicht stark genug.“ Betreten musterte Jonas seine Finger. Er hatte Erik nur ein Kompliment machen wollen, keine alten Wunden aufreißen. „Guck nicht so.“ Erik stellte ihm einen neuen Cocktail vor die Nase. Dieses Mal war er blau und roch nach Melone. „Ich habe mich damit abgefunden. Außerdem sind meine Talente vielseitig.“ Er tippte gegen das Glas. Pflichtschuldig führte Jonas das Getränk an seine Lippen und stellte zähneknirschend fest, dass auch dieser schrecklich unmännliche Cocktail verflucht nochmal besser schmeckte als jedes Bier, das er in seinem Leben je getrunken hatte. „Du musst mir aber schon noch erklären, warum zum Teufel du bunte Pflaster mit dir rumschleppst.“ „Die Erfahrung zeigt, dass sich ach so erwachsene Barkeeper, die sich beim Limettenzerteilen geschnitten haben bereitwilliger verarzten lassen, wenn süße Tiere auf die Pflaster gedruckt sind.“ „Oh.“ Jonas lachte. „Du bist da schon so ‘ne Art Kindergärtner, oder?“ Jetzt lächelte auch Erik. „Vielleicht ein bisschen.“ Schweigend sah Jonas dabei zu, wie Eriks Lächeln nach und nach verblasste. Sie mussten reden. Nicht jetzt, nicht hier und eigentlich wollte er auch gar nicht, aber … „Willst du dich nich‘ mal ablösen lassen? Du stehst schon den ganzen Abend hier. Wir, ähm, wir könnten ‘n bissl tanzen oder so.“ Erik sah sich um, doch augenblicklich schienen alle Gäste mit Getränken versorgt zu sein und Jonas‘ Meinung nach konnten sie sich ohnehin selbst bedienen. Er wollte Zeit mit Erik verbringen, um die Wogen zu glätten. Ein paar Minuten, die sie nur für sich hatten. Keine Fotos, keine dreckigen Teller, oder durstigen Freunde. Nur tanzen, bis ihre Lungen brannten und ihre Gedanken fortflogen. Entschlossen zerrte er Erik mit sich. Der DJ war durch einen Laptop nebst Spotify ersetzt worden, so dass die Gäste ihre Lieblingstitel auswählen und in die Warteschlange packen konnten. Irgendeine romantische Seele musste unter ihnen weilen, denn kurz nachdem Erik und Jonas die Tanzfläche betreten hatten, hörten sie die ersten Takte von Elvis‘ ‚Can’t Help Falling In Love‘. Jonas wollte bereits auf dem Absatz kehrt machen – Kitsch war gerade wirklich das Letzte, das er brauchte – doch Erik hielt ihn zurück. „Einen Tanz.“ Das gedimmte Licht brach sich in Erik Augen und gab ihnen einen Glanz, der Jonas ein wenig zu sehr an Tränen erinnerte. „Bitte.“ Unfähig ‚Nein‘ zu sagen, ließ sich Jonas von Erik in die Arme schließen, darum bemüht, das Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein zu ignorieren. Aber es ging nicht weg. Als würde er von tausend Augen beobachtet und kein einziges davon war wohlwollend. Ausgestoßen von der einen Hälfte der Welt, weil er einen Mann liebte und von der anderen, weil diese Liebe nicht tief genug ging, um Erik den Bruch mit seinen Eltern zu vergeben. Steif drehten sie sich auf der Tanzfläche, der Song unverändert schnulzig und viel zu lang. Bis vor kurzen hatte sich Jonas nichts sehnlicher gewünscht, als sich einfach an Erik schmiegen zu können, frei von der Angst vor Blicken und Getuschel. Nun engte ihn die Nähe ein, schnürte ihm die Luft ab, schlimmer noch, als die Distanz, die sie in den vergangenen Wochen aufgebaut hatten. Wie sagte man so schön? Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht. Zu Jonas‘ Erleichterung wählte Hugo diesen Moment, um auf den Anschnitt der Hochzeitstorte aufmerksam zu machen. Selbstverständlich selbstgemacht, war sie ein Traum aus weißem Fondant, fluffigem Red Velvet Cake und dekadenter Schokoladenganache zwischen den Schichten. Zudem auch noch ausreichend groß, damit sich Jonas ohne schlechtes Gewissen ein zweites Stück sichern konnte.   Der Abend nahm seinen Lauf. Nach und nach flauten die Gespräche ab und ein erster Schwung Gäste brach in Richtung Heimat auf. Marcos Nichten gehörten ins Bett; Arianna schlief in Giovannis Armen, der wiederum müde an Giulia lehnte und aussah, als sehnte auch er sich nach einem ruhigen Hotelzimmer. Francesca nutzte die Gelegenheit, sich ebenfalls zu verabschieden, allerdings nicht, ohne Marco fest zu versprechen, dass keine weiteren zehn Jahre bis zu ihrem Wiedersehen vergehen würden. Jonas fühlte sich wie nach einem Marathon. Er und Erik kuschelten – sofern man mit zehn Zentimeter Abstand nebeneinander sitzen ‚Kuscheln‘ nennen wollte – seit einer halben Stunde auf der Couch, unfähig, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Sie hatten keine weiteren Abstecher auf die Tanzfläche gewagt, wahrten aber den Anschein glücklicher Zweisamkeit. Jedenfalls hoffte Jonas das. Hugo und Manni gesellten sich zu ihnen. „Wir werden‘s auch langsam packen. Morgen früh sind wir zurück, zum Aufräumen und Frühstück vorbereiten.“ Hugo sah sich um. „Wo stecken denn die beiden Frischvermählten?“ Erik nickte Richtung Garten, wo, von Schatten umwoben, zwei engumschlungene Gestalten an der Hauswand lehnten. „Ah. Dann warten wir wohl lieber noch ein paar Minuten.“ Mitleidig blickte Hugo zu Jonas und Erik. „Euer Zimmer liegt genau gegenüber, oder? Irgendetwas sagt mir, dass keiner von euch heute Nacht viel Schlaf bekommen wird.“ „Jetzt gerade bin ich so erledigt, dass eine Blaskapelle neben mir spielen könnte, ohne mich wecken.“ Erik verdrehte die Augen über das infantile Kichern der drei anderen beim Wort ‚Blaskapelle‘, doch das Geräusch der sich öffnenden Terrassentür lenkte ihre Aufmerksamkeit ohnehin auf Wichtigeres. Wenig schuldbewusst marschierten Marco und Drago zurück ins Haus. Vermutlich war es nicht so sehr die Verantwortung ihren Gästen gegenüber, die sie zurück ins Innere getrieben hatte, sondern die inzwischen doch empfindlich kühlen Temperaturen. Gleich darauf zeigte sich, dass Hugo und Manni offensichtlich nicht die einzigen waren, die auf die Rückkehr der beiden warteten. Binnen Sekunden waren sie von einer Menschengruppe umringt, die sich artig für die tolle Feier bedankte. Ein letztes Mal wurden Umarmungen und Glückwünsche ausgetauscht. Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, verfrachtete Jonas noch eine Ladung Geschirr in die Spülmaschine und schoss ein paar Bilder von den Überresten der Party, aber so sehr er es versuchte, er konnte das Unausweichliche nicht ewig hinauszögern. Am Ende fand er sich eben doch zusammen mit Erik auf ihrem Zimmer wider, wo sich das Spiel der vergangenen Wochen wiederholte. Ohne sich anzusehen, schlüpften sie aus ihren Klamotten und legten sich, denselben Abstand wie auf der Couch wahrend, nebeneinander. Danach dauerte es nicht lange, bis Erik Jonas den Rücken zuwandte und sein Nachtlicht löschte. „Schlaf gut.“ „Du auch.“ Doch Jonas schlief nicht. Stattdessen klickte er sich von einem sozialen Netzwerk ins nächste. Twitter, Instagram, Snapchat. WhatsApp, Reddit, selbst Pinterest stattete er einen Besuch ab. Nichts lenkte ihn ab, nur seine volle Blase schaffte es nach einer gefühlten Ewigkeit, die Gedankenspirale kurzfristig zu durchbrechen. Auf leisen Sohlen schlich er aus dem Schlafzimmer und ins Bad. Um geschätzte zwei Liter Cocktail erleichtert, kehrte er zurück, die Klinke zum Schlafzimmer noch in der Hand, als ihn das Gelächter aus dem gegenüberliegenden Raum stoppte. Marco, ganz klar. Laut und ausgelassen. Darunter, gedämpfter, doch losgelöst auf eine Art, die Jonas bisher nicht an ihm wahrgenommen hatte, hörte er Drago. Eilig schloss er die Tür. In seiner Abwesenheit musste er eine Nachricht empfangen haben, denn das Leuchten seines Displays hob Eriks schlafende Gestalt von der Dunkelheit ab. Noch immer mit dem Rücken zu Jonas‘ Bettseite, lag er zusammengerollt unter seiner Decke. Ohne lange darüber nachzudenken, ging Jonas vor Erik in die Hocke, betrachtete die feinen, vom Schlaf entspannten Züge. Er hatte seinen eigenen Schwur gebrochen. Alles, was er wollte, war, Erik glücklich zu machen. Ihn so zum Lachen zu bringen, wie Marco das gerade bei Drago geschafft hatte, zum Ausgleich, weil Jonas‘ Schultern derzeit nicht stark genug waren, viel Halt zu bieten. Aber nicht einmal das schaffte er noch. Wenn überhaupt, machte er Erik das Leben schwerer. Instinktiv streckte er die Hand aus, um eine verirrte Haarsträhne aus dessen Stirn zu streichen, zog sich aber zurück, ohne ihn zu berühren. Er wollte und er sollte und er musste und er konnte nicht. Erste Tränen brannten in seinen Augen, gegen die er erfolglos ankämpfte. Seine Wangen wurden nass, seine Stimme rau, aber endlich funktionierte sie. „Erik. Erik, wach auf!“ Bitte, bitte, wach auf. Nochmal schaffe ich das nicht. Jonas hätte vor Erleichterung jubeln können, als sich der Körper vor ihm bewegte. „Was’s los?“ „Wir müssen reden.“ Eriks Erwiderung kam so spät, dass Jonas fürchtete, er sei in der Zwischenzeit wieder eingeschlafen, doch als er sprach, klang er hellwach. „Musstest du mich dafür echt wecken? Kann das nicht warten, bis wir wieder in Berlin sind?“ Jonas schluckte. „Doch, klar. Sorry.“ Bemüht, so wenig Krach wie möglich zu veranstalten, kletterte er auf seine Seite des Betts. Jetzt nur nicht laut Schluchzen. Einfach gar nicht zu heulen schien leider keine Option zu sein. Neben ihm bewegte sich das Bett. Erik setzte sich auf, rieb mit den Handballen über seine Augen und war eine Weile still. Irgendwann – es fühlte sich an wie Jahre – fragte er: „In Ordnung, was ist los mit dir?“ „Ich …“ Aber die richtigen Worte hatten Jonas bereits verlassen, sein Kopf war leer. Stattdessen starrte er auf Eriks Lippen, sehnte sich nach ihrer liebevollen Berührung. Bevor er auch darüber zu lange nachdenken konnte, schoss er nach vorne, packte Erik und küsste ihn. Einen Sekundenbruchteil leistete Erik Widerstand. Dann schlossen sich seine Finger um Jonas‘ Handgelenke und drückten ihn in die Matratze. Jonas bäumte sich unter Erik auf, kämpfte um die Oberhand, kämpfte darum, mehr von ihm zu spüren. Wild schnappten sie nacheinander. Bissen und kratzten, rissen an ihren Schlafanzughosen, bis kein Stoff, keine Luft, keine ungesagten Worte ihre nackten Körper voneinander trennen konnten. Mit aller Kraft, die er aufbrachte, rollte sich Jonas auf Erik, fixierte ihn mit seinem Gewicht. Die Lippen an Eriks Ohr, eine Hand an seinem Glied, keuchte er: „Es ist zu spät und wir haben kein Gleitgel da. Außerdem hab ich zu viel Kuchen gefressen. Aber wenn wir wieder zuhause sind, will ich dich in mir. So tief wie du kannst. So hart wie du kannst. Hast du mich verstanden?“ Erik verstand. Vielleicht. Jedenfalls folgte Schauder auf Schauder und heiße Flüssigkeit ergoss sich über Jonas‘ Finger. Er wusste nicht einmal, ob Eriks oder seine eigene. Wusste nur, dass der kochende Schmerz in seiner Brust der Knoten war, den er soeben gesprengt hatte. Erschöpft sank er auf Erik und blieb liegen. Sanfte Hände fanden seinen Nacken, strichen über das stoppelige Haar darauf. „Ich liebe dich.“ Auch Eriks Stimme war rau. Als hätte er stundenlang geschrien. Vielleicht hatte er das. „Daran hat sich nichts geändert. Aber im Moment weiß ich nicht, wie ich mit dir umgehen soll. Bin ich bei dir, stößt du mich weg. Gebe ich dir mehr Raum, lasse ich dich im Stich. Ich habe das Gefühl, nichts richtig machen zu können.“ „Dann sind wir schon zu zweit.“ Jonas versuchte, sich aufzurichten, aber Eriks Finger gruben sich in seinen Rücken und hielten ihn an Ort und Stelle. Nicht schmerzhaft, aber deutlich. „Ich weiß einfach nich‘ mehr, wie ich mit der ganzen Scheiße umgehen soll.“ „Willst du … eine Pause?“ Jetzt richtete sich Jonas doch auf. „Wovon?“ „Von mir. Uns.“ Erik sah ihm nicht in die Augen. „Ich könnte eine Weile in ein Hotel ziehen, oder … wie es dir eben am liebsten ist. Und dann–“ „Bist du jetzt völlig bescheuert?“ Falls Marco und Drago in der Zwischenzeit eingeschlafen sein sollten, waren sie jetzt mit Sicherheit wieder wach. Es konnte Jonas gerade nicht weniger interessieren. „Wie kommst du darauf, dass ich … dass wir … dass … Willst du eine Pause von mir?“ „Natürlich nicht!“ „Wie kommst du dann darauf, dass ich …“ Wie kann er nicht darauf kommen? Jonas hatte Erik in den vergangenen Wochen mehr als deutlich gemacht, dass er seine Ruhe wollte. Wenn überhaupt, konnte er sich glücklich schätzen, dass Erik dieses Thema nicht schon früher und sehr viel entschiedener auf den Tisch gebracht hatte. Er schluckte gegen den Klumpen an Emotionen in seinem Hals an. „Ich brauch dich doch. Ich will dich doch. Erik, ich … ich liebe dich. Ich weiß nich‘, wie ich ohne dich … Wie ich … Wie …“ Starke Arme pressten Jonas gegen Eriks Brust. „Ich wollte dich nicht aufregen“, flüsterte Erik. „Oder andeuten, dass ich mich trennen will. Ich wollte dir nur Raum geben, wenn es das ist, was du gerade brauchst.“ „Isses nich‘“, nuschelte Jonas trotzig gegen Eriks kühle Haut. „Das is‘ das Letzte, was ich grad will.“ „Dann bleibe ich bei dir.“ „Obwohl ich so eklig zu dir war?“ „Ah, Himmel. Natürlich auch dann! Denkst du, ich verstehe nicht, dass du gerade eine furchtbare Zeit durchmachst? Ich fühle mich hilflos, weil ich nicht weiß, wie ich sie dir leichter machen kann, aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass ich es nicht versuchen möchte.“ Eriks Worte waren fast zu schön, um wahr zu sein. Wie ein sanfter Sommerwind umhüllten sie Jonas und trockneten seine Tränen. Und doch … „Ich will aber nich‘, dass du da so mit reingezogen wirst. Is‘ doch kacke, dass du immer meinen Scheiß mitausbaden musst.“ „Die Alternative wäre, dich zu verlassen und ich dachte, wir hätten gerade geklärt, dass das keiner von uns beiden möchte. Oder nicht?“ „Doch, schon.“ „Aber?“ Jonas überlegte. Angestrengt. Schließlich gab er sich geschlagen. „Kein ‚Aber‘. Ich weiß nur nich‘, was wir tun könnten, um‘s besser zu machen.“ „Bist du im Meer schonmal von Wellen überrollt worden, bis du die Orientierung verloren hast?“ „Was?“ Eriks Lachen vibrierte in seiner Brust. „Du hast mich schon verstanden.“ „Wir haben fast nie Urlaub am Meer gemacht. Eher in den Bergen. Wenn überhaupt.“ „Ah. Der Trick ist, die Luft anzuhalten und abzuwarten, bis man wieder Überblick über die Situation hat. Es nutzt nichts, in Panik zu verfallen und ein zu frühes Auftauchen erzwingen zu wollen. Das kostet nur unnötig Kraft. Mit etwas Glück treibt man durch die Luft in den Lungen sogar von selbst nach oben.“ „Is‘ das wieder eine deiner Analogien, aus der ich irgendwas zu unserer aktuellen Situation ziehen soll?“ „Nein, ich erzähle einfach nur gern von meinen liebsten Strandurlauben. Au!“ Erik schmiss Jonas von sich und rieb über den Arm, gegen den dieser gerade geboxt hatte, doch ihre Trennung hielt gerade lange genug, um ihre Haut von den Überresten ihrer Orgasmen zu befreien. Zum ersten Mal seit Wochen schliefen sie im Arm des anderen ein.   Eng umschlungen waren Erik und Jonas in einen Schlaf gesunken, aus dem sie nur Marcos hartnäckiges Klopfen und der Duft nach frischen Croissants hatten reißen können. Davon abgesehen verlief der Morgen angenehm ruhig. Wie versprochen brachten Hugo und Manni Frühstück vorbei und der Teil von Marcos Familie, der noch mit ihm sprach – augenscheinlich zählte auch Francesca wieder fest dazu – saß friedlich kauend um den Küchentisch versammelt. Erst, als Jonas und Erik ihren Abschied verkündeten, entwickelte sich ein kleines Drama. Spätestens seit der heldenhaften Rettung vor dem bösen Desinfektionsspray, hatte Marcos Nichte Arianna einen Narren an Erik gefressen. Nicht einmal Jonas war auf dreißig Zentimeter an ihn herangekommen, so sehr hatte sie ihn den Morgen über in Beschlag genommen. Nicht, dass sich Erik daran gestört hätte, im Gegenteil, er schien mehr als glücklich darüber, noch etwas länger den Babysitter spielen zu dürfen, doch die bevorstehende Trennung entlockte Arianna so lange ohrenbetäubendes Dauergeheule, bis sich ihre Eltern geschlagen gaben und sie mit zum Bahnhof fahren ließen, wo sie – sicher in Marcos Armen verstaut – von ihrem neugewonnen Freund Abschied nahm. Mit tränenverschmierten Wangen, aber einem zahnlückigen Grinsen, winkte sie dem davonfahrenden Zug hinterher. An ihren Sitzplätzen angekommen und die Koffer ordentlich verräumt, überflog Jonas noch einmal den Eintrag mit Marcos Handynummer, die ihm dieser kurz vor ihrem Aufbruch anvertraut hatte. Nachdem er sicher gegangen war, dass der Name stimmte und er die Nummer wiederfinden würde, sollte er jemanden zum Reden brauchen, steckte er das Handy weg. „Das war ’ne schöne Feier. Trotz allem, meine ich.“ „Mhm.“ Erik lehnte mit geschlossenen Augen am Fenster. Die Nacht war für ihn eindeutig zu kurz ausgefallen. „Marco und Drago sahen total glücklich aus.“ „Mhm.“ „War auch echt schön, sie mal wiederzusehen.“ „Mhm.“ „Schade, dass sie so weit wegwohnen.“ „Mhm.“ Eriks letztes ‚Mhm‘ hatte anders geklungen als die vorhergehenden. Jonas musterte ihn. „Denkst du wirklich nie drüber nach, nach dem Studium doch wieder nach Stuttgart zu ziehen?“ Erik zögerte. „Manchmal.“ „Willst du?“ „Keine Ahnung. Dort zu leben ist etwas anderes als zu Besuch zu kommen. Ich habe viele gute Erinnerungen an die Stadt, aber auch einige weniger schöne.“ „Falls … Falls du doch wieder hinziehen solltest … Würdest du dann … Würdest du gleich nach deinem Master umziehen, oder warten bis … Würdest du auf mich warten?“ Perplex blickte Erik zu Jonas. „Natürlich würde ich damit auf dich warten. In erster Linie will ich mit dir zusammenleben. Egal wo.“ „Oh. Okay. Ich glaub, das musst ich einfach nochmal hören.“ „Und ich werde es dir so oft sagen, wie du willst.“ Jonas nahm Eriks Hand in seine, wärmte die kühlen Finger. In diesem Moment war ihm egal, ob andere Fahrgäste sie beobachteten.   Die Hochzeit lag eine gute Woche zurück und Stück für Stück zerfaserte sich der Knoten aus Emotionen in Jonas. Jeden einzelnen Faden begutachtete und verstaute er, bis nur noch der Kern übrig war. Zu hart, um ihn zu zerlegen, zu schwer zum Ignorieren.   Jonas war schon den ganzen Tag ruhelos in der Wohnung auf und ab getigert und nachdem ihn Erik alleingelassen hatte, um eine Runde Schwimmen zu gehen, hielt er es nicht länger aus. Mit nervösen Fingern wählte er die Nummer, die seine Eltern ihm als Kind eingebläut hatten, noch bevor er wirklich wusste, was Zahlen waren. Das Freizeichen erklang. Es tutete. Und tutete. Und tutete. Natürlich war niemand zuhause. Seine Eltern schufteten im Apfelbäumchen, Christine lebte nicht mehr bei ihnen, Vroni verbrachte den Großteil ihrer Herbstferien vermutlich bei Freunden und seine Oma hörte das Klingeln nur noch selten. Der Anrufbeantworter sprang an. Die automatische Ansage endete. Jonas atmete in die Stille. Er schluckte. „Ich bin’s.“ Ohne es wirklich wahrzunehmen, knibbelte er einen Faden aus dem Couchbezug. „Ich … Ich wollt mich nur mal wieder melden. Euch sagen, dass es mir gutgeht.“ Der Faden zwischen seinen Fingern wurde länger. „Was is‘ mit euch? Alles okay zuhause? Gibt‘s viel zu tun? Christine kann euch jetzt ja auch nich‘ mehr helfen und … ich … Ich fänd’s einfach schön, wenn ihr euch mal wieder meldet. Mir sagt, ob ihr was braucht.“ Pause. Jonas zwang sich, fortzufahren. „Ich war letzte Woche auf ‘ner Hochzeit. War schön. Wirklich schön. Aber irgendwie auch traurig, weil … Weil ihre Eltern nich‘ da waren. Bei keinem der beiden. Und wisst ihr warum? Einfach nur, weil der Mensch, den ihr Kind über alles liebt in ihren Augen das falsche Geschlecht hat. Is‘ das nich‘ lächerlich? Wegen sowas zu streiten? So sehr, dass man nich‘ zur Hochzeit des eigenen Kindes kommt? Zehn Jahre lang keinen Kontakt hat?“ Plötzlich war Jonas‘ Kehle zu eng. Er starrte auf den klaren Tropfen auf seinem Handrücken. Wann hatte er angefangen zu weinen? „Bitte …“ Er kämpfte gegen das Schluchzen, das seinen Körper schüttelte und verlor. „Bitte lasst es bei uns nich‘ so weit kommen. Ihr fehlt mir. Bitte.“ Unfähig, ein weiteres Wort zu sagen, legte er auf.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)