Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 48 ---------- Was zuletzt geschah: Jonas hat es getan. Nach unzähligen durchwachten Nächten, Selbstzweifeln und Rückziehern in letzter Minute, gesteht er seinen Eltern, sich in einen Mann verliebt zu haben. Sich überhaupt nur in Männer zu verlieben. Doch alles, was er für seinen Mut erntet ist Unverständnis und die Drohung, jede finanzielle Unterstützung zu verlieren, sollte er sich nicht von Erik lossagen.   Kapitel 48 Jonas blinzelte in die Oktobersonne. Unter ihm ruckelte er Zug, draußen zogen Bäume vorbei und seine Uhr verriet, dass sie ihr Ziel in nicht einmal zwei Stunden erreichen würden. Er hatte einen wesentlichen Teil der Fahrt nach Stuttgart verschlafen, war nun allerdings hellwach. Was man von Erik nicht gerade behaupten konnte, dessen Gewicht Jonas gegen das Zugfenster quetschte. Früher war er überzeugt gewesen, außergewöhnlich tief zu schlafen, doch Erik hatte ihn eines Besseren belehrt. Weder das Holpern des Zugs, noch die Sonne, nicht einmal der lautstark hinter ihnen telefonierende Kerl schafften es, Erik aus seinen Träumen zu reißen. Genauso wenig wie die Aussicht, in wenigen Stunden Zeuge der Hochzeit seines Exfreunds zu werden. Der Zug verlangsamte sich, als er in den Bahnhof einfuhr und kam schließlich vollständig zum Stehen. Die ersten Fahrgäste strömten vom Waggon auf den Bahnsteig. Jonas betrachtete hingegen seufzend Erik, der noch immer keine Anstalten machte aufzuwachen. Bis er ihm in die Wange kniff. „Au!“ „Sorry, aber anders kriegt man dich ja nich‘ wach. Los komm, ich hab nämlich keine Ahnung, wo wir langmüssen.“ Noch verschlafen, aber immerhin auf dem Bahnsteig angekommen, drehte sich Erik einmal um die eigene Achse und musterte die Beschilderung. „Ah, so ganz sicher bin ich mir da auch nicht. Bisher musste ich nie zum Parkhaus.“ „Dann lasst mich euch führen.“ Überrascht von der vertrauten Stimme wirbelten Erik und Jonas herum. Hugo, ein alter Freund von Erik und einer der beiden Besitzer des Cafés, das Jonas bei seinem letzten Stuttgartbesuch zu schätzen gelernt hatte stand keine zwei Meter entfernt. Breit grinsend winkte er ihnen zu. „Drago und Marco stecken noch bis zum Hals in den Vorbereitungen, deshalb hat mein reizender Ehemann mich dazu verdonnert, ähm, ich meine, mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen, euch abzuholen.“ „Wir hätten uns auch ein Taxi nehmen können“, wandte Erik ein, aber Hugo schüttelte resolut den Kopf. „Macht euch nicht lächerlich! Bis da raus kostet das ein Vermögen. Jetzt kommt aber erstmal her!“ Mit kräftigen Armen zog Hugo die beiden an seine Brust. Der feine Duft nach frischer Butter und Gurken, der von ihm ausging, weckte Jonas‘ Appetit. „Ihr übernehmt das Catering, oder?“ „Genau. Und ich wäre euch beiden echt dankbar, wenn wir einen kurzen Umweg zum Tässchen machen könnten, um noch ein paar Sachen einzuladen. Wir stecken mitten im Aufbau und allmählich wird die Zeit knapp, jedenfalls sofern ich auch bei der Trauung anwesend sein soll.“ „Kein Problem“, versicherte Erik. Eifrig nickend ergänzte Jonas: „Sag uns einfach, wie wir helfen können.“ „Ich würde dieses Angebot gerne großzügig ausschlagen, aber wenn bis heute Nachmittag alles stehen soll, muss ich wohl oder übel darauf zurückgreifen.“ Hugo führte sie zu dem Transporter mit Marcos Firmenlogo, der ihm augenscheinlich für den Tag überlassen worden war. Die Tiefgaragenschranke hatte sich noch nicht hinter ihnen gesenkt, da war Erik bereits erneut eingeschlafen. Amüsiert betrachtete Hugo ihn im Rückspiegel. „Lange Fahrt für euch, was?“ „Für mich ging’s“, antwortete Jonas, „aber Erik is‘ praktisch von der Arbeit aus in den Zug gesprungen und ich glaub nich‘, dass er davor viel gepennt hat. Der muss dringend ein paar Stunden nachholen.“ Hugo hob die Brauen. „Er hat heute Nacht noch gearbeitet? Ich dachte, ihr hättet euch Urlaub genommen.“ Jonas rollte mit den Augen. „Im Leben nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn er einen Tag mehr als unbedingt nötig freinimmt? Kann ja den Club nich‘ im Stich lassen. Schon gar nich‘ an ‘nem Wochenende.“   Sollte Jonas‘ Frust zu deutlich durchgekommen sein, ließ sich Hugo davon nichts anmerken. „Wann fahrt ihr zurück?“ „Morgen. Wir haben beide am Montag Uni und ich hab nachmittags noch ‘ne Schicht im Café.“ „Straffer Zeitplan.“ „Schon“, gab Jonas zu. „Aber Erik würd die Hochzeit im Leben nich‘ versäumen.“ Den Blick auf die Straße vor ihnen gerichtet, fügte er hinzu: „Ich glaub, es gibt generell sehr wenig, das er für Marco nich‘ tun würd.“ Auch Hugo beobachtete den Verkehr, als er fragte: „Ist das manchmal schwierig für dich?“ Jonas nahm sich einen Moment, um zu kontrollieren, ob Erik tatsächlich schlief und zu überlegen, wie er die Frage beantworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nee, nich‘ wirklich. Irgendwie denkt jeder, dass das so sein müsst, selbst mit Erik hatte ich dieses Gespräch schon mehr als einmal, aber … Ich vertrau ihm. Und ich hab gesehen, wie die beiden miteinander umgehen. Klar is‘ da jede Menge Sympathie und Nähe, aber … ich weiß auch nich‘, wie ich’s in Worte fassen soll … Da is‘ einfach nix, was mich nervös macht, schätze ich. Und Drago scheint das ja genauso zu sehen.“ Zum Glück gab sich Hugo mit dieser Antwort zufrieden. Es war nicht so, dass Jonas log. Nicht wirklich. Bis vor ein paar Wochen war das tatsächlich seine feste Überzeugung gewesen, doch seit dem Bruch mit seinen Eltern, hatte auch seine Beziehung zu Erik Risse erlitten. Schmal, von außen praktisch unsichtbar und selbst für ihn oft kaum zu spüren, ließen sie doch gerade genug Platz für Zweifel. Allerdings keine, über die er sprechen wollte. Nicht mit Hugo und ganz sicher nicht mit Erik. In beeindruckender Teamarbeit gelang es Jonas und Hugo vor dem Café zu parken und sämtliches Geschirr, Besteck und andere Kleinigkeiten, die sie für die an die Trauung anschließende Feier brauchen würden, in den Wagen zu laden, ohne Erik zu wecken. Erst, als das Auto schon in Marcos Garage stand, brachte es Jonas über sich, seinen Freund aus dem Schlaf zu reißen. Desorientiert blinzelte Erik aus dem Fenster. Kondenswasser perlte von der Scheibe, dort, wo sein warmer Atem das Glas berührt hatte. „Sind wir schon da?“ „Japp, und wir brauchen deine Hilfe.“ „Ah. Wobei?“ Hugo deutete auf die Kisten hinter Erik, die dieser anstarrte als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Was er auch tat. „Ganz eventuell haben Manni und ich uns überlegt, dass dieses ‚einfache Essen‘, das Marco und Drago im Sinn hatten nicht unseren Ansprüchen an ihre Hochzeit genügt. Kalte Sandwiches und billiger Wein. Also bitte! Die beiden sollen nicht auf eine ordentliche Bewirtung verzichten, nur, weil ihr Budget so knapp ausfällt. Also haben wir hier und da ein bisschen was hinzugefügt.“ Ein schelmisches Lächeln ersetzte Eriks schlafgetrübtes Stirnrunzeln. „Ah. Jetzt ergibt Mannis Nachricht allmählich Sinn.“ „Welche Nachricht?“ Hugo hob die Hand. „Nein, dumme Frage. Er hat euch eingespannt, oder?“ „Nur so halb“, gab Erik zu. „Ehrlich gesagt hatte ich denselben Gedanken wie ihr. Ich verstehe, dass Marco und Drago ihr Haus finanzieren und deshalb an anderer Stelle Abstriche machen müssen, aber ich fand es schade, dass das ausgerechnet ihre Hochzeit trifft. Ich kann nicht für Drago sprechen, aber ich weiß, wie viel sie Marco bedeutet. Manni musste also nicht besonders viel Überzeugungsarbeit leisten, um uns zum Mithelfen zu bewegen.“ Jonas dachte an seine Kamera, die darauf wartete, die Hochzeit festzuhalten und hoffte inständig, wenigstens halbwegs einen professionellen Fotografen ersetzen zu können. Neben ihm reckte Erik die Arme zur Decke, bis seine Wirbelsäule vernehmlich knackte. „Bringen wir die Sachen rein?“ „Nicht ‚wir‘, sondern nur ich“, erwiderte Hugo. „Soll ja eine Überraschung werden und ich will die beiden mit dem ganzen Zeug nicht misstrauisch machen. Also geht schon mal vor und lenkt sie ab. Idealerweise bekommt ihr sie ins obere Stockwerk, während ich das hier irgendwo sicher verstaue.“ Gehorsam nahmen Erik und Jonas ihre Reisetaschen, schlüpften aus der Garage und klingelten an der Haustür. Ein Rumpeln erklang und eine bekannte Stimme fauchte etwas in einer unbekannten Sprache. Jonas musste die Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass sie nicht für Kinderohren geeignet waren. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Dragos kühle Augen bohrten sich in die seiner Besucher. Gleich darauf wurden sie weicher, für ein Lächeln reichte es allerdings nicht. „Kommt rein.“ Jonas hatte Mühe, Schritt zu halten, denn die Verlockung, an jeder Ecke gaffend stehenzubleiben war groß. Marco und Drago hatten die vergangenen drei Monate seit seinem letztem Besuch genutzt, um das untere Stockwerk komplett einzurichten. Was wiederum erklärte, wohin das Geld für die Hochzeitsfeier geflossen war. Die eleganten Möbel, deren Design die Mischung aus Klassik und Moderne fortsetze, die sich durch das gesamte Haus zog sahen nicht gerade günstig aus, zeigten jedoch auch deutlich, dass die beiden lieber die kommenden Jahre ihres gemeinsamen Lebens gestalteten, als den Tag, der ihren Beginn markierte. Über das Treppengeländer gebeugt rief Drago: „Marco! Komm runter! Erik und Jonas sind hier!“ „Kann nicht!“, brüllte Marco zurück. „Manni versucht gerade, mich in diesen verflixten Anzug zu bekommen!“ Da war wieder dieses Wort, dessen Bedeutung Jonas erahnen konnte, ohne Serbisch zu sprechen. Drago winkte ihnen, ihm zu folgen. „Dann zeige eben ich euch das Gästezimmer.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, fluchte erneut. „Wir kommen zu spät zu unserer eigenen Hochzeit.“ „Können wir irgendwie helfen?“, fragte Jonas. „Versucht einfach, in dreißig Minuten startklar zu sein. Ich versuche solange, Marco nicht zu erschlagen.“ „Was versuchst du?“ Marco hüpfte aus dem noch recht karg eingerichteten Schlafzimmer heraus, ein Bein in einer dunklen Anzughose, das andere außerhalb. Manni folgte ihm kopfschüttelnd. „Komm wieder her. Du zerreißt noch was.“ Aber Marco ignorierte ihn und richtete stattdessen einen vorwurfsvollen Blick auf seinen Verlobten. „Warum zwingst du mich noch mal, diesen unbequemen Mist anzuziehen?“ „Weil ich nicht will, dass der erste Anlass, zu dem ich dich in einem Anzug sehe, deine Beerdigung ist“, erwiderte Drago kühl. „Aber das ist so spießig!“ „Wir heiraten. Das ist per Definition spießig. Die Hochzeit war übrigens deine Idee.“ „Weil ich weiß, dass das deinem konservativen Herzchen gefällt. Auch, wenn du mich lange genug auf eine Antwort hast warten lassen.“ „Dann mach mein konservatives Herz noch glücklicher und zieh endlich diesen“, schon wieder dieses Wort, bald beherrschte Jonas es ebenfalls, „Anzug an.“ Marco zog eine Schnute, wurde aber von Manni zurück ins Schlafzimmer bugsiert, bevor er die Chance hatte, Drago endgültig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. Seinen Lippenbewegungen nach zu urteilen zählte Drago langsam bis zehn, dann deutete er auf das Zimmer gegenüber. „Das ist eures.“ Das ehemals leere Gästezimmer war nun um ein breites Doppelbett, zwei Nachtkästchen und einen Schrank reicher und damit zwar weniger luxuriös als das Untergeschoss, aber bei weitem besser ausgestattet als das Hauptschlafzimmer. „Wir teilen uns das Bad, aber im Erdgeschoss gibt es noch eine G–“ Ein dumpfes Poltern hallte aus dem unteren Stockwerk nach oben. Vielleicht räumten gerade Einbrecher das Haus aus, viel wahrscheinlicher jedoch hatte Hugo etwas fallenlassen. Drago zog die Stirn kraus. „Was ist los?“, fragte Erik mit beeindruckender Unschuldsmiene. „Habt ihr das nicht gehört?“ Drago wirkte verunsichert, vermutlich ein Anblick, den man bei ihm nicht besonders oft zu sehen bekam. „Nein“, antwortete Erik schlicht. „Was denn hören?“, fragte Jonas, ein wenig amüsiert, aber hauptsächlich mit schlechtem Gewissen, weil sie den Armen gerade noch mehr stressten. „Da war …“ Drago schüttelte den Kopf. „Schon gut, vergesst es. Ich gehe mich dann auch mal umziehen. Bis später.“ „Versprich mir, dass wir nie heiraten“, raunte Jonas seinem Freund zu, nachdem sie die Tür des Gästezimmers hinter sich geschlossen hatten. Erik hatte sich runtergebeugt, um seine Reisetasche zu öffnen, hielt mitten in der Bewegung jedoch inne. „Keine Sorge, wenn der Tag rum ist, brauche ich erstmal lange Abstinenz von dem Thema.“ Bevor sich Jonas sicher sein konnte, ob unter der oberflächlichen Leichtigkeit in Eriks Erwiderung noch etwas anderes mitschwang, befreite dieser seine Klamotten aus der Tasche und seufzte. „Ah, Mist, völlig zerknittert.“ Einen Augenblick lang zögerte er, klopfte dann aber doch an Marcos und Dragos Schlafzimmertür, um nach einem Bügeleisen zu fragen. Jonas verschwand solange unter der Dusche.   Eine halbe Stunde später waren alle Beteiligten überraschenderweise fast aufbruchbereit. Also wirklich fast. So in fünf Minuten. Vielleicht zehn. Himmel, wo hatte Marco seinen Ring hingelegt? Weinte Drago gerade leise im Bad? Wenigstens kam Manni in den Genuss eines effektiven Cardio-Trainings, während er das gesamte Haus nach dem verlorenen Schmuckstück durchkämmte. Jonas musterte derweil kritisch sein Spiegelbild. Obwohl Marco ihnen bei seinem letzten Anruf noch einmal versichert hatte, dass für die Gäste kein Dresscode herrschte und bitte jeder das tragen sollte, womit er sich wohl fühlte, hatte er sich für Hemd und Jackett entschieden. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Wahl gewesen war. Es wirkte ungewohnt, geradezu unpassend. „Schau nicht so skeptisch, du siehst sehr gut aus.“ Eriks Lippen streiften Jonas‘ Hals knapp oberhalb des Hemdkragens. „Bah, das kitzelt!“ Protestierend schob Jonas ihn von sich. Nicht spielerisch, sondern vehement. In der Sekunde, in der ihm seine heftige Reaktion bewusst wurde, tat sie ihm bereits leid, aber da war es schon zu spät. Erik war einen Schritt zurückgetreten, einen Ausdruck in den Augen, der das Lächeln auf seinen Lippen Lügen strafte. „Ich finde trotzdem, dass es dir steht.“ Eine Entschuldigung lag auf Jonas‘ Zunge, wollte sich aber nicht aussprechen lassen. Stattdessen versuchte er, die Situation mit Geplapper zu überspielen. „Ich seh aus, wie damals, als meine Mutter mich noch jeden Sonntag in die Kirche gezwungen hat. Scheiße, war das ein Kampf, da nich‘ mehr hinzumüssen.“ Er stockte. Blinzelte. Holte Luft. Kämpfte gegen die Enge in seiner Brust. Da hatte er sich ja sehr erfolgreich vom Regen in die Traufe gequasselt. Nun wollten überhaupt keine Worte mehr über seine Lippen kommen. „Du kannst dich immer noch umziehen“, sagte Erik sanft, vielleicht, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Er hob die Hand, als wollte er sie auf Jonas‘ Schulter legen, ließ sie gleich darauf jedoch wieder sinken. „Ich war gerade bei Marco, jetzt ist auch noch Dragos Ring weg. Wenn kein Wunder mehr passiert, kommen wir sowieso zu spät.“ Wieder betrachtete Jonas sein Spiegelbild. Er fühlte sich verkleidet, nicht er selbst. Oder noch weniger, als ohnehin schon. „Aber is‘ das nich‘ respektlos gegenüber den beiden? So einen besonderen Anlass sollte man doch mit besonderer Kleidung unterstreichen, oder? Marco trägt auch ‘nen Anzug, obwohl er offensichtlich nich‘ will.“ „Glaub mir, der will. Sonst würde er ihn im Leben nicht tragen. Nicht mal für Drago.“ „Sicher?“ „Ganz sicher. Jetzt zieh dich um.“ Erik blieb nicht im Raum, um herauszufinden, ob Jonas seiner Aufforderung folgte.   Schüchtern lugte Jonas aus dem Zimmer. Endlich war die ganze Entourage startklar, aber er war sich trotz Eriks Beteuerungen unsicher, ob es wirklich in Ordnung war, in Jeans und Shirt aufzutauchen. Marco erspähte ihn. „Wenigstens einer hier, der ordentliche Klamotten trägt!“ „Is‘ das echt okay?“ „Klar ist das okay!“ Aufmunternd klopfte Marco Jonas auf den Rücken. „Die einzigen, die hier im Anzug antanzen müssen, sind diejenigen, deren künftige Ehemänner darauf bestehen.“ Er wandte den Kopf zur Treppe und brüllte: „Erik?“ Dieser machte sich nicht die Mühe, die Stufen nach oben zu laufen, sondern brüllte zurück. „Was ist?“ „Bestehst du darauf, dass Jonas einen Anzug trägt?“ „Warum sollte ich?“ Marco grinste. „Na, damit hätten wir das wohl geklärt.“ Verschwörerisch zwinkerte er Jonas zu. „Jetzt komm. Ich fürchte, wenn wir Drago auch nur noch eine Minute länger warten lassen, sagt er die ganze Sache ab und verlässt mich endgültig.“ Glücklicherweise war Marcos Transporter groß genug, um darin Platz für das zu verheiratende Paar, Manni, Hugo, Erik und Jonas zu bieten und der Verkehr relativ harmlos. So schafften sie es, mit nur zehn Minuten Verspätung vor dem Standesamt anzukommen. Fünfzehn Minuten, wenn man die Parkplatzsuche miteinrechnete. „Das ist doch sicher noch total im Soll“, versuchte Marco Drago zu beruhigen, doch dieser zeigte sich unbeeindruckt. Und weil sein Schweigen mehr als tausend Worte sagte, eilten sie gemeinsam Stufen nach oben und hetzten Gänge entlang, bis sie ihr Ziel erreichten, vor dem sich bereits eine kleine Menschentraube versammelt hatte. Viele von ihnen in festlicher Kleidung, aber auch genug in normalen Straßenklamotten, um Jonas endlich sein schlechtes Gewissen zu nehmen. Eine zierliche, dunkelhaarige Frau kämpfte sich nach vorne. „Da bist du ja!“ Breit grinsend fiel sie Marco um den Hals. „Wir dachten schon, ihr hättet kalte Füße bekommen.“ „Ihr habt Glück“, wandte sich ein Mann, in dessen Jacketttasche die gleiche dezente Blume wie in Mannis stecke an Drago. „Die Standesbeamtin ist auch zu spät. Steht im Stau.“ „Dann hätten wir uns ja ruhig noch mehr Zeit lassen können“, erklärte Marco lachend, verstummte beim Blick seines Partners allerdings. Tatsächlich hätten sie sich noch länger Zeit lassen können, denn es verging noch eine ganze Weile, bevor eine gehetzt aussehende Standesbeamtin angerannt kam und sie um noch etwas mehr Geduld bat, damit sie sich und den Saal vorbereiten konnte. Das gab Erik die Möglichkeit, Jonas einige der Gäste vorzustellen. Die zierliche Frau musste er dafür nicht extra ansprechen, sie zog ihn in ihre Arme, sobald sie sich von Marco und Drago gelöst hatte. „Erik! Es ist so schön, dich mal wiederzusehen!“ „Da sagst du was. Es ist viel zu lange her.“ Nachdem seine Hände wieder frei waren, drehte sich Erik zu Jonas. „Giulia, darf ich dir meinen Freund vorstellen? Jonas, das ist Giulia, Marcos Schwester.“ „Freut mich.“ Jonas wollte ihr die Hand reichen, fand ich sich eine Sekunde später jedoch ebenfalls in einer herzlichen Umarmung wieder. „Du beweist wie immer Geschmack.“ Mit einer Verschmitztheit, die die Verwandtschaft zu Marco eindeutig machte, zwinkerte Giulia Jonas zu. „Wo hast du denn Giovanni und die Kleinen gelassen?“, erkundigte sich Erik, nachdem er den Blick durch den Vorraum hatte schweifen lassen. „Im Schwimmbad. Ich würde die Trauung gerne genießen und nicht darauf achten müssen, drei übereifrige Münder geschlossen zu halten. Zur Feier sind sie dann ja wieder dabei. Oh, da fällt mir ein, du hast unsere Jüngste noch gar nicht kennengelernt, oder?“ Erik schüttelte den Kopf. „Dann wird es Zeit!“ Giulia lächelte noch breiter als zuvor schon. „Arianna ist ein echter Wirbelwind, du wirst sie lieben. Und ich liebe jeden, der sie mir mal ein paar Minuten abnimmt.“ „Ich denke, das bekomme ich hin.“ Es war offensichtlich, dass Erik sich auf diese Aufgabe freute. „Und sei es nur, um mein schlechtes Gewissen zu tilgen, weil wir euch das Gästezimmer wegnehmen. Es wäre wirklich kein Problem für uns gewesen, ins Hotel zu gehen, damit dafür ihr bei Marco bleiben könnt.“ Giulia winkte ab. „So schön das Haus ist, für sieben Leute ist es dann doch etwas klein. Außerdem garantiere ich, dass es die Rasselbande schaffen würde, die Einrichtung, sich selbst oder beides zu zerlegen. Im Hotel habe ich dagegen Zimmerservice, jemanden, der die Betten macht und ein himmlisches Frühstück, das ich weder zubereiten, noch abräumen muss. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass das die mit Abstand entspannteste Option für alle Beteiligten ist. So und jetzt sollte ich wohl noch einmal zu meinem Bruder. So wie es aussieht, hat er langsam realisiert, dass er in weniger als einer Stunde ein verheirateter Mann sein wird.“ Jonas musterte Marco, der unter seiner gebräunten Haut tatsächlich einen gewissen Grünschimmer aufwies und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Als seine Schwester ihn ansprach, zwang er sich ein nervöses Lächeln aufs Gesicht. „Hm.“ Erik sah sich um. „Mal sehen, wen ich hier noch kenne.“ Der Mann mit der Blume in der Jackettasche, entpuppte sich erwartungsgemäß als Dragos Trauzeuge und Kindheitsfreund, Daniel. Bei ihrer kurzen Unterhaltung erfuhr Jonas, dass nicht nur ihre jahrelange Brieffreundschaft Drago für sein Studium nach Deutschland gelockt, sondern Daniel auch derjenige gewesen war, der ihn und Marco überhaupt erst miteinander bekannt gemacht hatte. Die anderen Gäste, die Erik Jonas vorstellte stammten größtenteils aus seiner Zeit im Jugendtreff, dazu einige auch für Erik unbekannte Namen, insbesondere auf Dragos Seite. So sehr sich Jonas bemühte, er kam nicht umhin, den auffallenden Mangel an Familie zu bemerken. Giulia war die einzige Blutsverwandte, die an der Trauung teilnahm.   Sie hatten ihre kleine Vorstellungsrunde eben beendet, als die Flügeltüren des Saals aufschwangen. Die Gäste verstreuten sich über die Sitzreihen, wobei sich Erik und Jonas ein wenig im Hintergrund hielten, damit Letzterer das Ereignis möglichst unauffällig mit der Kamera festhalten konnte. Für ein Amtsgebäude war der Saal wundervoll dekoriert und auch die Standesbeamtin verstand ihren Job, führte mit gut gewählten Worten durch die Zeremonie. Doch es waren Marco und Drago, die den wahren Zauber ausmachten. Jonas bannte den Moment, in dem sie sich die Ringe ansteckten auf Film und betete stumm, wenigstens einen Bruchteil der Intensität, des in dieser Geste liegenden Versprechens erhascht zu haben. Beim Kuss, so zurückhaltend dieser auch ausgefallen war, hätte er beinahe vergessen, den Auslöser zu drücken. Marco und Drago mochten ihre Meinungsverschiedenheiten haben, aber in diesem Augenblick wurde offensichtlich, wie viel sie einander bedeuteten. Hochzeitspaar und Trauzeugen setzten ihre Unterschriften unter die offiziellen Dokumente und als die Beamtin bestätigte, dass sie ab jetzt rechtmäßig verheiratet waren, brach der Saal in laute Jubelrufe aus. Drago zeigte das breiteste Lächeln, das Jonas bisher an ihm gesehen hatte, seine Finger fest mit Marcos verschlungen. In kleinen Fahrgemeinschaften machten sie sich auf den Weg zum Haus der frisch Vermählten, allerdings verzögerte Dragos Trauzeuge dessen Abfahrt nach einem Blick auf sein Handy mit organisatorischen Fragen, die problemlos später hätten geklärt werden können. Zufälligerweise versiegte der Fragenstrom schlagartig, nachdem eine weitere Nachricht einging. Marco parkte in der geräumigen Doppelgarage, dem einzigen noch freien Platz in der gesamten Straße. Was dafür sprach, dass die Gästeliste für die Feier weitaus länger ausfiel als die für die eigentliche Trauung. „Wenn das so weitergeht, wird sich niemand daran erinnern, dass wir heute geheiratet haben, sondern nur daran, wie unpünktlich wir sind“, brummte Drago, während er seine Schlüssel suchte. „Und wie kommt es, dass die Leute offenbar schon im Haus sind?“ Er stieß die Tür auf, trat aber nicht hindurch. „Hm. Deshalb.“ Marco drängte sich an ihm vorbei. „Wesh–oh!“ Dezente Blumengestecke brachten Farbe und Feierlichkeit ins Untergeschoss, ohne kitschig zu wirken, der Wohnzimmertisch bog sich beinahe unter den darauf gestapelten Geschenken und würziger Essensduft wehte aus der Küche ins Wohnzimmer. An der zum Garten grenzenden Wohnzimmerwand war die kleine, aber gut ausgestattete Bar aufgebaut worden, an der Erik einen Teil des Abends den Barkeeper mimen würde. Jonas betätigte sich hingegen weiterhin als Fotograf. Er schoss Fotos vom Essen, der Bar, der Dekoration und den überraschten Mienen der beiden Ehrengäste. „Wir dachten, wir buchen euch ein kleines Upgrade“, erklärte Manni grinsend. „Und jetzt wäre euch wohl jeder hier dankbar, wenn ihr Bar und Buffet eröffnet.“ Das taten sie dann auch.   Das Essen, das Hugo gemeinsam mit Manni vorbereitet hatte schmeckte himmlisch und Eriks Cocktailmischungen fielen gewohnt großzügig aus. Bald verteilten sich die Gäste im gesamten Untergeschoss; tranken, lachten und tanzten zwischen an die Wand geschobenen Möbeln. Jonas hatte eine Weile mit Erik an der Bar verbracht, sich dann jedoch von Marco auf die improvisierte Tanzfläche ziehen lassen. Fünf durchtanzte Songs später, kämpfte er sich verschwitzt zur Küche, schoss noch ein paar Fotos und nahm auf dem Weg einige verwaiste Teller mit, um sie in die Spülmaschine zu verfrachten. Er hatte gerade den Spülgang gestartet, als Marco hinter ihm auftauchte. „Machst du schon schlapp?“ „Quatsch! Ich hol bloß kurz Luft, bevor’s weitergeht. Will ja die anderen nich‘ mit meiner jugendlichen Energie überfordern.“ „Vorsichtig, Küken“, warnte Marco. „Fordere mich nicht heraus.“ Er drückte Jonas einen Cocktail in die Hand. „Der ist von Erik. Er wollte ihn dir eigentlich persönlich bringen, aber ich fürchte, meine Nichten haben ihn vorerst in Beschlag genommen.“ Jonas drehte den Kopf und tatsächlich war Erik von drei aufgeregt quasselnden Mädchen umringt, aus deren Haaren bunte Schirmchen und Kunstblüten ragten. Zufrieden mit ihren neuen Accessoires, diktierten sie nun ihre jeweiligen Getränkewünsche. Mit einem Lächeln, das unmöglich noch breiter werden konnte, füllte Erik geduldig Kostproben der Flaschen, auf die sie deuteten in Schnapsbecher. Nur bei alkoholischen Getränken schüttelte er den Kopf und überzeugte die Schar, doch lieber eine der zahlreichen Alternativen zu wählen. Schließlich mixte er etwas aus ihrer Auswahl, das sogar halbwegs trinkbar aussah. Misstrauisch musterte Jonas sein eigens Gesöff. Pink, mit ein paar geeisten Beeren, die träge an der Oberfläche schwammen. „Ich habe den Auftrag, erst wieder zu gehen, wenn du wenigstens probiert hast“, erklärte Marco. „Okay, okay.“ Vorsichtig nippte Jonas an seinem Getränk, fühlte das Prickeln auf seiner Zunge. Der Cocktail war gut, ausgezeichnet sogar, aber das würde Jonas nicht so schnell zugeben. Genaugenommen ärgerte er sich ein wenig darüber, wie gut Erik ihn einschätzte, ohne festlegen zu können, woher dieser Ärger stammte. Das war allerdings kaum ein neues Gefühl, sondern eines, das er nun schon seit einer Weile mit sich rumschleppte. Ein tiefer Groll gegen Erik, der sich jeder Logik entzog und dennoch so tief reichte, dass Jonas ihn seit Wochen auf Abstand hielt. Marco lehnte entspannt am Kühlschrank. „Wir sind noch gar nicht zum Quatschen gekommen.“ „Hast du denn die Erlaubnis, solange von deinem Mann wegzubleiben?“ „Na komm, ich muss mich schließlich auch um die Gäste kümmern und das schließt dich mit ein. Außerdem ist Drago bestimmt froh, mich mal fünf Minuten nicht zu sehen. Der hat mich noch den Rest seines Lebens. Also? Wie geht’s dir?“ „Ganz gut“, antwortete Jonas unverbindlich. „Die Uni hat mich wieder ziemlich im Griff.“ „Gefällt es dir noch?“ Jonas unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Endlich mal ein unverfängliches Thema. „Japp. Das erste Jahr war ganz schön hart. So viele kreative Leute auf einem Haufen und gefühlt alle besser als ich, aber ich glaub, so langsam find ich meine Nische.“ „Falls dich das tröstet, ich kenne das Gefühl, wenn man etwas liebt, aber glaubt, alle anderen seien viel besser als man selbst. Ging mir, ach, Blödsinn, geht mir heute auch noch so. Die Hälfte der Zeit habe ich das Gefühl, meine Kunden zu betrügen, weil meine Arbeit nicht so gut ist wie ich tue.“ „Echt jetzt?“, fragte Jonas ungläubig. „Echt jetzt. Und ich weiß, dass Drago ähnlich empfindet. Dabei ist er der Letzte, dem man solche Selbstzweifel zutrauen würde.“ „Stimmt.“ Gedankenverloren kratzte Jonas mit der Fußspitze über den Boden. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, hakte Marco nach. „Jaah.“ Einerseits wollte es Jonas dabei belassen, andererseits war Marco vielleicht der beste Gesprächspartner, den er bei diesem Thema finden konnte. Aber eine Hochzeitsfeier war kaum der angemessene Rahmen dafür. „Du kannst jederzeit mit mir reden, weißt du? Auch jetzt.“ Jonas warf einen Seitenblick auf Marco, der ihm ein ermutigendes Lächeln schenkte. „Ähm, hat Erik erzählt, dass ich … Die Sache mit meinen Eltern? Dass es nich‘ besonders gut lief?“ „Er hat es erwähnt. Aber nachdem Erik nicht der Typ ist, der Details über das Leben anderer weitertratscht ist das ungefähr alles, was ich weiß.“ Auf seine Fingernägel konzentriert, wartete Jonas darauf, dass sein Hirn seinem Mund die richtigen Worte lieferte. „Sie sin‘ praktisch aus der Wohnung geflüchtet. Wollten dann, dass ich zurück zu ihnen zieh‘ und haben gedroht, mir den Unterhalt zu streichen. Haben sie allerdings nich‘.“ Er lächelte freudlos. „Kann ich mich richtig glücklich schätzen, was?“ „Habt ihr danach nochmal miteinander gesprochen?“ „Sie haben etwa zwei Wochen später wieder angerufen.“ Die Erinnerung presste die Luft aus Jonas‘ Lungen. „Haben mir vorgeschlagen, ‘n klärendes Gespräch zu führen. Nur wir drei … und der Dorfpfarrer. Hab ihnen dann gesagt, dass wir das gerne tun können, wenn sie bereit sind, danach mit mir dasselbe Gespräch nochmal bei ‘ner Beratungsstelle meiner Wahl zu führen. Wollten sie nich‘. Seitdem herrscht Funkstille.“ „Hm.“ Marco verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Klingt ziemlich ätzend. Aber gut für dich, dass du eine klare Grenze gezogen hast.“ „Denkst du?“ Jonas war sich da bei weitem nicht so sicher. „Denke ich“, bestätigte Marco. „Gesprächsangebote sind gut, aber es ist auch wichtig, dabei für sich selbst einzustehen. Du hast ihnen einen Kompromiss vorgeschlagen. Ich würde sagen, jetzt liegt der Ball auf ihrer Seite des Felds.“ Er seufzte. „Das dürfte eine der härtesten Lektionen überhaupt sein. Sich nicht unendlich zu verbiegen, um es anderen rechtzumachen. Auch, wenn das vielleicht bedeutet, nicht mehr zusammenzufinden. Oh!“ Verlegen fuhr er durch sein dichtes Haar. „Damit wollte ich nicht sagen, dass das bei dir so sein wird! Überhaupt nicht! Da habe ich wohl gerade etwas zu viel von mir selbst reingebracht.“ „Is‘ okay. Tut ganz gut zu hören, dass ich’s nich‘ völlig versaut hab, weil ich einfach bloß meinen Sturkopf durchsetzen wollt.“ Abwesend strich Jonas mit der Zunge über sein Piercing. „Das Schlimmste is‘ eigentlich, dass ich meine ganze Familie in die Sache reingezogen hab. Meine Schwester Christine hat sich so mit meinen Eltern gefetzt, dass sie die letzten paar Wochen vor ihrem Flug nach Australien zu ihrem Freund gezogen is‘. Wollte sich wohl nich‘ mal von ihnen verabschieden. Mit meiner Oma und meiner kleinen Schwester hab ich seit zwei Monaten nich‘ mehr gesprochen, weil ich keine Ahnung hab, wie viel sie wissen und keine schlafenden Hunde wecken will. Ach fuck!“ Wütend blinzelte er ein paar Tränen weg. „Die ganze Situation is‘ sowas von beschissen!“ „Ich weiß.“ Marco senkte den Kopf. „Glaub mir, das weiß ich.“ Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. „Aber darüber reden hilft meistens. Oder den Mann heiraten, den man liebt.“ „Ich glaub, mit Letzterem sollt ich doch noch ‘n paar Jahre warten.“ „Vielleicht“, räumte Marco. Sein Lächeln verblasste erneut. „Ist denn zwischen euch alles in Ordnung? Der Tag heute war so hektisch, dass alles irgendwie zu kurz gekommen ist, aber – und sag mir, wenn ich mich da jetzt zu weit aus dem Fenster lehne – aber die Stimmung zwischen euch war irgendwie schräg.“ Lange sagte Jonas nichts, starrte nur auf den Cocktail in seiner Hand und das langsam schmelzende Eis darin. „Ich bin sauer auf Erik. Richtig scheißsauer.“ „Warum?“ Hilflos hob Jonas die Schultern. „Sag’s mir.“ „Kann ich nicht“, erwiderte Marco schlicht. „Ich könnte jetzt natürlich ins Blaue raten …“ „Nur zu.“ „Du gibst ihm die Schuld daran, dich vor deinen Eltern geoutet zu haben.“ „Er hat mich nie unter Druck gesetzt, das zu tun.“ Doch Jonas‘ Protest fiel schwach aus, denn im Grunde wusste er, dass Marco mit seiner Vermutung richtig lag. „Er kann nichts dafür.“ „Gefühle sind eher selten für ihre Rationalität bekannt.“ „Und was mach ich jetzt dagegen?“ Jetzt war es an Marco, mit den Schultern zu zucken. „Was du für richtig hältst, schätze ich. Aber nachdem ich Erik wesentlich besser als deine Eltern kenne, kann ich dir hier vielleicht sogar einen Tipp geben. Erik gehört zu den Menschen, mit denen man eigentlich über alles sprechen kann.“ „Und uneigentlich?“ Marco schnaubte. „Hat er wohl auch seine Grenzen. Aber ich bezweifle, dass du die mit diesem Thema schon ausgereizt hast.“ „Ich soll ihm also einfach sagen, dass ich ihm die Schuld am Bruch mit meinen Eltern geb, weil ich nich‘ weiß, wem sonst?“ „Wenn das der Fall ist, solltest du darüber nachdenken, sì. Oder anders gefragt: Was ist die Alternative?“ Mich weiter vor ihm zurückziehen. Ihn anschnauzen und auf Abstand halten. Bis er es nicht länger aushält. Ein Arm schlang sich um Jonas‘ Schultern, riss ihn aus den trüben Gedanken. „Zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf“, sagte Marco. „Erik wird nicht so schnell weglaufen. Und es wird einfacher.“ „Wird es?“ Lediglich zwei Silben und dennoch brach Jonas‘ Stimme an ihnen. „Wird es“, versprach Marco. „Vielleicht nicht … perfekt. Aber einfacher.“ „Okay.“ Bitte lass das wahr sein. „Erinnerst du dich, dass ich meinen Eltern seit meinem Comingout vor …“ Marco verstummte. Seufzte. „Ich kann kaum glauben, dass das schon elf Jahre her sein soll … Jedenfalls, dass ich ihnen seitdem einmal pro Jahr einen Brief geschrieben habe? Mit allem, was so bei mir passiert ist?“ Jonas nickte, traute seiner Stimme zu wenig, um laut zu sprechen. „Zusammen mit der Einladung zur Hochzeit, habe ich vor ein paar Wochen den letzten abgeschickt. Am Ende hatte Drago doch recht. Ich habe das nicht getan, um ihnen zu zeigen, dass es mir gut geht, sondern weil ich immer gehofft hatte, dass sie eines Tages doch antworten. Ich bin es leid, zu hoffen. Oh.“ Marco räusperte sich. „Eigentlich wollte ich dir Mut machen, auch, wenn das vielleicht gerade nicht danach klang. Meine Situation ist nicht perfekt, alles andere als das, aber ich bin trotzdem glücklich. Zusammen mit diesem Brief konnte ich irgendwie abschließen, weißt du? Jedenfalls, äh, meiner Erfahrung nach bin ich ein Extremfall. Die meisten Eltern brauchen nur etwas Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren und sich auf die Situation einzustellen. Aber falls es anders läuft, ist es gut, ein liebevolles Umfeld außerhalb der Familie zu haben. Zum Beispiel Idioten, die sich viel zu viel Mühe machen, um die Hochzeit von zwei anderen Idioten zu feiern.“ „Ich hab keine Ahnung, wen du meinen könntest.“ Jonas zeigte ein schmales Lächeln. „Aber ehrlich, das war ‘ne schöne Trauung.“ „Eigentlich wollte ich ein Zeichen setzen und Dragos Nachnamen annehmen“, erzählte Marco. „Aber nachdem meine Firma meinen Namen trägt und wir uns gerade ein wenig etabliert haben …“ Er zuckte mit den Schultern. „Eine Namensänderung wäre da unklug und mit unseren Kreditschulden können wir uns in dieser Hinsicht nicht viele Fehler leisten.“ „Was ist mit einem Doppelnamen?“ Jonas überlegte, ob er bereit wäre, Eriks Namen anzunehmen. Jonas Kolb. Naja. „War meine nächste Idee“, antwortete Marco. „Aber ich muss schon ‚Bianchi‘ oft genug buchstabieren. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Katastrophe bei ‚Bianchi-Djordjević‘ werden würde?“ Jonas lachte. „Okay, ja, das fordert‘s schon irgendwie raus.“ Die Türglocke unterbrach ihr Gespräch, Marco drehte den Kopf, bewegte sich aber nicht. „Na los, geh schon“, forderte Jonas ihn auf. „Deine anderen Gäste sollten auch ‘n bissl was von dir haben.“ Nach einem kurzen Nicken und einem letzten aufmunternden Schulterdruck eilte Marco aus der Küche, um den verspäteten Gast ins Haus zu lassen, doch Drago war ihm zuvorgekommen. Er hatte die Tür gerade weit genug geöffnet, um den Blick auf eine hübsche, dunkelhaarige Frau freizugeben, als Marco auf halbem Weg wie versteinert stehenblieb. „Francesca?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)