Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 47 ---------- Was zuletzt geschah: Das erste Kennenlernen zwischen Erik und Jonas‘ Eltern verläuft denkbar schlecht. Während Jonas daran scheitert, Mut und die richtigen Worte zu finden, treibt die Enttäuschung über die fortgesetzte Heimlichtuerei Erik aus der Wohnung. Am Ende verabschieden sich Jonas‘ Eltern so ahnungslos wie zuvor und lassen ihren Sohn mit der Erkenntnis zurück, dass er unmöglich so weitermachen kann.   Kapitel 47 „Bloß noch eine Folge!“ „Nein.“ Hastig brachte Erik die Fernbedienung außerhalb der Reichweite von Jonas‘ gierigen Fingern. Dieser weigerte sich allerdings, so schnell kleinbeizugeben. „Eine einzige!“ „Morgen wieder.“ „Aber du hast versprochen, dass wir Downton Abby zusammen bingen!“ „Was wir auch tun werden. Nur nicht jetzt. Wenn du willst, dass deine Eltern etwas zu Essen haben, wenn sie ankommen, sollten wir jetzt anfangen zu kochen.“ „Quatsch, wir haben noch mehr als genug–“ Jonas blinzelte, als Erik ihm seine Armbanduhr unter die Nase hielt. Dann sprang er von der Couch. „FUCK! So spät schon?“ „Mhm.“ „Die sin‘ in ‘ner Stunde da!“ „Mhm.“ „Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck!“ Fluchend stürmte Jonas in die Küche und durchwühlte sämtliche Schränke nach den passenden Zutaten. „Fuck!“ Er wirbelte zu Erik herum. „Jetzt hilf mir doch mal!“ Ohne weitere Diskussionen nahm Erik Zwiebeln und Knoblauch entgegen, um sie in kleine Würfel zu verwandeln, während Jonas Mehl, Eier und Milch für zu einem Pfannkuchenteig zusammenrührte, der unter seinen nervösen Fingern immer wieder über den Schüsselrand schwappte. Diese Nervosität speiste sich aus derselben Quelle wie sein Gequengel nach noch einer Folge Downton Abby und die kaum gezügelte Reizbarkeit: Nackte Panik bei der Aussicht, in weniger als einer Stunde erneut seinen Eltern gegenüberzustehen. Die vergangene Woche hatte sich wie Kaugummi gezogen und war dennoch viel zu schnell vergangen. Wieder und wieder waren Jonas‘ Gedanken zu dem anstehenden Gespräch gewandert, hatten Kreise darum gezogen, bis er nicht mehr Schlafen, Essen oder Lachen konnte. Er versuchte sich einzureden, dass er sich unmöglich noch schlechter fühlen konnte, völlig egal, wie dieser Tag endete, aber auch das brachte keine Erleichterung. „Ich hab ihnen ‘nen Brief geschrieben.“ Erik sah von seiner Arbeit auf. „Einen Brief?“ Heißes Fett schlug Blasen um den Teigklecks, den Jonas probeweise in die Pfanne gegeben hatte. Rasch fügte er mehr hinzu, verteilte eine dünne Schicht über den Pfannenboden. „Hab alles reingeschrieben, was ich bisher nich‘ sagen konnte. Als Übung für mich. Und … Und als Absicherung. Falls ich’s heute nich‘ schaff, ihnen die Wahrheit zu sagen, dann … dann geb ich ihnen den Brief mit. Aber ich brauch vielleicht ‘nen Stups in die richtige Richtung.“ Knoblauch und Zwiebeln verströmten ihren würzigen Duft in einem weiteren Topf. Erik machte sich daran, Spinat zu verlesen. „Wo ist der Brief?“ „In meiner rechten Hosentasche.“ Jonas konzentrierte sich etwas zu sehr auf die Tomaten, die unter seiner Messerklinge zerfielen, doch Erik sorgte gewohnt zuverlässig dafür, dass der unbeachtete Pfannkuchen nicht anbrannte. „Notfalls greife ich dir also einfach vor den Augen deiner Eltern in die Hose?“ „Japp und wenn sie bis dahin noch nich‘ begriffen haben, dass wir nich‘ nur Mitbewohner sind, kann ich ihnen auch nich‘ mehr helfen. Oder doch, weil dann haben sie ja immer noch den Brief.“ In Teamarbeit verteilten sie Frischkäse, Spinat, Tomaten und Feta auf die fertigen Pfannkuchen, rollten sie ein und verfrachteten sie in den Ofen. Erik warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich denke, wir liegen gut in der Zeit.“ Jonas schnaubte. „Ja. Ja, das denk ich auch.“ Er zog Erik zu sich, küsste sich von den Schläfen, über die Lippen bis zum Schlüsselbein. Die Stirn gegen Eriks Halsbeuge gepresst, rief er sich all die guten Dinge ins Gedächtnis, die das Leben für ihn bereithielt – egal, wie seine Eltern gleich reagieren würden. Es brauchte ein nachdrückliches Läuten der Türglocke, um ihn aus seiner Starre zu reißen und bevor er sich gänzlich aus der Umarmung befreien konnte, hielt Erik ihn zurück. Liebevoll strich er über Jonas‘ Wange. „Egal, was heute passiert: Ich bin hier, an deiner Seite. Dieses Mal laufe ich nicht weg. Versprochen.“ Jonas nickte. Dann öffnete er seinen Eltern die Tür.   „Seid ihr gut durchgekommen?“ Mit ausgestrecktem Arm lotste Jonas seine Eltern in die Küche. „Ziemlich gut, Spatz.“ Der erstickte Laut hinter Jonas kam von Erik, der sich redliche Mühe gab, ob dieses Spitznamens nicht laut zu lachen. Schmunzelnd reichte er Jonas‘ Eltern die Hand. „Freut mich, Sie wiederzusehen.“ „Essen ist gleich fertig.“ Jonas spähte in den Ofen. „Ähm, so fünf Minuten noch. Setzt euch doch schon.“ Erik rückte Jonas‘ Mutter den Stuhl zurecht. „Wie hat Ihnen die Ostsee gefallen?“ „Oh, die Gegend ist wirklich ganz zauberhaft.“ „Bayern ist schöner“, antwortete Jonas‘ Vater trotzig. „Ich vermisse die Alpen. Hier ist alles so flach.“ Jonas musste ihm lassen, dass es einen gewissen Ehrgeiz benötigte, nach einem Strandurlaub noch schlechtere Laune als zuvor zu haben. „Hat wenigstens das Wetter einigermaßen mitgespielt?“ Unwillig, sich von dieser Abfuhr aus der Ruhe bringen und das Gespräch abreißen zu lassen, mimte Erik ganz den braven Schwiegersohn, den sich Jonas schon eine Woche zuvor erhofft hatte. „Ich war lange nicht mehr da, aber in der Ostsee zu schwimmen war immer etwas ganz Besonderes für mich. Dafür habe ich sogar das Mittelmeer links liegen lassen.“ „Wir haben nur mal die Zehenspitzen reingehalten. Ist ja auch wirklich sehr kalt, sogar jetzt im Sommer.“ Jonas versuchte zu ergründen, ob das verlegene Lachen seiner Mutter echt war, oder sie sich einfach krampfhaft bemühte, das verpatzte erste Kennenlernen auszugleichen. Ihrem guten Willen zum Trotz, verlief die Unterhaltung schleppend und auch das Essen, das er auf den Tisch brachte änderte daran nichts. Sie und Erik tauschten ein paar Höflichkeiten aus, beide offensichtlich darauf bedacht, ihrem Gegenüber nicht auf die Zehen zu steigen, sein Vater und er selbst hüllten sich weitestgehend in Schweigen. „Jonas, Spatz, du isst ja schon wieder nichts“, merkte seine Mutter nach einer Weile an. „Dabei hast du so gut gekocht. Geht’s dir nicht gut?“ „Doch, doch. Alles okay.“ Jonas fühlte Eriks Blick auf sich. „Aber, ähm … Es is‘ nur …“ „Was ist los?“ „Nix Schlimmes!“, versicherte er eilig. Schuldgefühle wallten unter dem sorgenvollen Ton seiner Mutter auf. „Es gibt nur Etwas, das ihr wohl wissen solltet und ich … Scheiße, ich zerbreche mir seit Monaten den Kopf, wie ich’s euch sagen soll.“ „Seit Monaten?“ Die Augen seiner Mutter wurden groß. „Du schleppst irgendetwas seit Monaten mit dir rum, weil du nicht weißt, wie du es uns sagen sollst? Jonas, du machst mir Angst!“ Jonas‘ Vater legte eine Hand auf den Arm seiner Frau. „Jetzt lass den Jungen doch mal ausreden.“ Dankbar nickte Jonas seinem Vater zu. „Eigentlich sin‘ es sogar schon ein paar Jahre … Aber das is‘ jetzt auch egal. Wichtig is‘ bloß, dass ich endlich den Mut find, euch zu sagen, dass ich … Ich … Ich …“ Jonas starrte auf die Gabel in seiner Hand, deren Zinken immer wieder sacht gegen den Teller schlugen. Nicht einmal bei seiner mündlichen Abschlussprüfung hatte er so gezittert. Unerwartet strich Eriks Fuß über sein Bein, spendete unter dem Tisch verborgene Stärke. Jonas nahm sich einen Moment Zeit, um zur Ruhe zu kommen, zählte langsam bis fünf und atmete einmal tief durch, bevor er sagte: „Ich bin schwul.“ Als seine Eltern nicht reagierten, blickte er auf. Hätte er ihnen gesagt, sein Name sei König Bambelboo aus dem schönen Planetensystem Gliese 581 und er würde ab sofort nur noch pinke Schlüpfer als Kopfbedeckung tragen, sie hätten ihn kaum verständnisloser ansehen können. Das war eine der Reaktionen, die er am meisten gefürchtet hatte. Aber es half nichts, er hatte diesen Weg eingeschlagen, jetzt musste er ihn auch zu Ende gehen. „Und, ähm, ihr hattet auch recht, dass ich nich‘ ganz zufällig zu Erik gezogen bin. Wir … leben zusammen. Also, nich‘ so WG-mäßig, sondern …“ Sein Piercing klickte gegen seine Zähne, als er sich auf die Lippe biss. „Erik is‘ mein Freund. Mein … fester Freund.“ Ganz allmählich schwenkten die Augen seines Vaters von ihm zu Erik. „Was soll das heißen?“ „Genau das, was Ihr Sohn Ihnen gerade zu erklären versucht“, antwortete Erik ruhig. „Ich weiß, dass das für Sie überraschend kommt, aber bitte geben Sie ihm die Chance, sich auszusprechen.“ Jonas hatte Eriks Worte nur am Rande mitbekommen. Seine Aufmerksamkeit galt seiner Mutter, die starr auf ihrem Platz hockte, die Lippen schmal und den Blick auf alles gerichtet, nur nicht ihren Sohn. Er sprang auf, lief zur Tür gegenüber der Küche und stieß sie auf. „Das is‘ das zweite Schlafzimmer“, rief er lauter als nötig. „Wäre das zweite Schlafzimmer. Es is‘ aber keins, weil wir nur ein Bett brauchen.“ Abrupt stand seine Mutter auf. „Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“ Ihre Stimme war zu hoch und zu dünn. Ohne eine Antwort ihres Manns abzuwarten stürmte sie aus der Küche. „Es war schön, dich wiederzusehen, Jonas.“ Noch immer ging ihr Blick an ihm vorbei. „Sag uns Bescheid, ob du über Weihnachten nach Hause kommst.“ Jonas war zu überrumpelt, um zu reagieren, blickte nur hilfesuchend zunächst zu Erik, der ebenso am Ende seiner Weisheit angekommen zu sein schien und anschließend zu seinem Vater, doch von dieser Front brauchte er wohl keine Hilfe erwarten. Mit hängendem Kopf schlich dieser an ihm vorbei. Binnen weniger Sekunden waren Jonas‘ Eltern aus der Wohnung verschwunden. Das Zuschlagen der Tür hallte wie ein Gewehrschuss in seinem Kopf. Betäubt starrte er auf das lackierte Holz, glaubte, seinen eigenen Herzschlag zu hören. Was war gerade passiert? Eine Hand legte sich auf seine Schulter; er schüttelte sie ab. „Ich geh eine Runde laufen.“ Er machte sich nicht die Mühe, seine Sportklamotten anzuziehen, eilte nur die Treppe herunter, floh beinahe, doch die Haustür stoppte ihn. Wann waren seine Eltern gegangen? Vor dreißig Sekunden? Drei Stunden? Er wusste es nicht, hatte jedes Zeitgefühl verloren. Alles war surreal, die Minuten falteten sich ineinander, rannen wie Honig über seine Finger. Wie hoch war das Risiko, seinen Eltern in die Arme zu laufen, wenn er jetzt das Haus verließ? Die Hand auf der Klinke, zählte Jonas dreimal bis hundert, bevor er sie herunterdrückte und gegen den Schmerz in seiner Brust anrannte. Häuser, Bäume und unbekannte Gesichter zogen an ihm vorbei. Immer schneller, immer weiter. Gassen, die er nicht kannte, Orte, an denen er noch nie gewesen war. Jonas rannte. Und rannte. Und rannte. Bis nichts mehr ging.   Keuchend stützte sich Jonas auf seinen Knien ab. Seine Lungen brannten, Schweiß tropfte von seinen Haaren auf den Boden, schwarze Flecke tanzten vor seinen Augen. Er wusste nicht, wohin ihn seine Füße getragen hatten und es war ihm auch egal. Die Hand, mit der er sein Handy aus der Reißverschlusstasche seiner Shorts holte zitterte. Keine Nachricht von seinen Eltern. Dafür hatte Erik ihm geschrieben.   Erik, 13:43 Uhr Hey, ich verstehe, dass du Zeit für dich brauchst, aber gib mir bitte ein kurzes Lebenszeichen, ja?   Ein kurzes Lebenszeichen, wollte Erik. Einen kurzen Moment vorgeben alles wäre gut. Normal. Das konnte Jonas, hatte es jahrelang getan. Er tippte.   Du, 14:32 Uhr alles gut   Du, 14:33 Uhr werd noch mal ne runde laufen, dann komm ich heim   Du, 14:33 Uhr sobald ich rausfinde, wo zum fick ich eigentlich bin     Seine eigenen Nachrichten bereits vergessen, steckte Jonas das Handy weg und setzte seinen Weg fort.   Jonas wusste nicht, wie lange er unterwegs gewesen war, doch als er endlich in die Wohnung zurückkehrte, war sein Körper taub. Nur sein Innerstes stand noch immer in Flammen. Er hinkte ins Bad, warf seine völlig verschwitzten Klamotten in den Wäschekorb und versuchte, den Brand in ihm mit eisigem Wasser zu löschen. Als auch das nicht half, drehte er den Hahn ab. Das Handtuch, das Erik vorausschauend bereitgelegt hatte war weich und flauschig; umhüllte ihn, wie die Arme einer Mutter. Rasch wischte Jonas die Metapher aus seinem Kopf, flüchtete tropfend aus dem Bad. Erik saß auf der Wohnzimmercouch, die Nase in ein Buch gesteckt, von dem er erst aufblickte, als er die Bewegung neben sich wahrnahm. Jonas griff nach der Fernbedienung, hielt dann aber inne. „Sorry, stört’s dich?“ „Nein, gar nicht.“ Erik klappte das Buch zu und legte es auf den Couchtisch vor sich. „Ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren.“ „Okay.“ Jonas hatte keine Ahnung, was er sich eigentlich ansah. Blind starrte er auf den Bildschirm, die Worte flogen durch seinen Kopf hindurch, aber das war egal, solange sie nur seine eigenen Gedanken im Zaum hielten. Irgendwann wechselte das Programm und eine sinnlose Sendung löste die andere ab. „Sie haben nich‘ zufällig hier aufm Festnetz angerufen, oder?“ Hatte er ihnen überhaupt die Nummer gegeben? „Nein.“ „Okay. Hatte ich auch nich‘ erwartet.“ Der Bildschirm vor Jonas verschwamm und wollte einfach nicht mehr aufklaren, völlig egal, wie oft er blinzelte. Sein notdürftig hochgezogener Schutzwall bröckelte. Zunächst nur ein paar Kiesel, aber bald splitterten Stein und Fels und Eis. Schlamm umspülte Jonas Füße, riss ihn mit sich, nahm ihm die Kontrolle. Das Schluchzen, das seit Stunden in seinem Inneren tobte kämpfte sich hervor, zwängte sich durch seine zugeschnürte Kehle. Jonas war machtlos gegen die Tränen, die über sein Gesicht rannen, also gab er den Kampf gegen sie auf und akzeptierte den Schmerz, den sie mit sich brachten. Ein vertrauter Duft umhüllte ihn, Eriks Arme boten Schutz und Wärme, machten alles ein wenig erträglicher. Es dauerte Stunden, jedenfalls fühlte es sich so an, doch irgendwann versiegte der Tränenstrom. Verbissen rieb Jonas die letzten Tränen aus seinen verquollenen Augen, löste seine verkrampften Finger aus Eriks Hemd. „Scheiße, zum Glück bist du hier. Keine Ahnung, was ich anstellen würd, wenn nich‘.“ Nur widerwillig ließ Erik von ihm ab. „So schnell wirst du mich sicher nicht los.“ Jonas nickte, wartete darauf, dass sich der Knoten in seiner Brust lockerte, aber das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, blieb. Schließlich griff er nach der Fernbedienung, wollte sich ablenken, einfach nicht mehr nachdenken. „Jetzt haben wir aber Zeit für ‘ne Folge Downton Abby, oder?“ „Wir haben die ganze Nacht.“   Schwerfällig rollte sich Jonas zur Seite. Er hatte einen scheußlichen Traum gehabt, in dem er vor seinen Eltern endlich mit der Sprache rausgerückt und prompt von ihnen verlassen worden war. Und dann? Dann hatte er geweint und geweint und geweint. Wann immer die Tränen für kurze Zeit trockneten, waren sie kurz darauf umso schmerzhafter zurückgekehrt. Ein zentnerschweres Gewicht sank auf seine Brust. Kein Traum. Seine Eltern wussten Bescheid und hatten ihm den Rücken gekehrt. Das aggressive Blinken seines Handys schien die Erinnerung in seinen Kopf hämmern zu wollen. Er griff danach, um es auszuschalten, doch ein Blick aufs Display ließ ihn in die Höhe schnellen. In seiner Eile brauchte er drei Versuche, um den Anruf entgegenzunehmen. „Ha–“ Jonas räusperte sich, versuchte etwas weniger zu klingen, als hätte er die ganze Nacht geheult. „Hallo.“ „Na endlich!“ „Papa?“ Die Überraschung brachte das Krächzen zurück in seine Stimme. Er hatte fest mit seiner Mutter gerechnet. „Habt ihr’s schon öfter versucht?“ „Den ganzen Morgen.“ „Tut mir leid. Ich hab’s nich‘ mitgekriegt. Wir sin‘ spät ins Bett gegangen.“ „V-Verstehe.“ Ein paar Atemzüge Schweigen. „Jonas, es tut mir leid, wie das gestern gelaufen ist. Wir hätten nicht einfach so verschwinden sollen.“ Da hast du verflucht nochmal recht! Das war die größte Scheiße, die ihr hättet bringen können! „Ich … Ich kann schon verstehen, dass das unerwartet kam.“ „Das kam es in der Tat.“ Als die anscheinend erwartete Antwort ausblieb, räusperte sich Jonas‘ Vater. „Jedenfalls haben deine Mutter und ich darüber gesprochen und“, wieder eine kurze Pause, „wir wollen, dass du nach Hause kommst.“ „Was? Wann?“ „So bald wie möglich. Wie gesagt, wir haben uns gestern lange unterhalten und sind uns einig, dass dir das guttäte. Weg aus dieser Stadt. Weg von … von diesem Mann.“ Zusammen mit dem letzten bisschen Müdigkeit, das aus Jonas‘ Knochen verschwand, erlosch auch der Hoffnungsfunken, der sich klammheimlich entzündet hatte. „Papa, das hat nix mit … Wie könnt ihr denken, dass …“ „Glaub nicht, dass uns nicht aufgefallen wäre, wie sehr du dich seit deinem Umzug verändert hast. Das bist einfach nicht mehr du.“ „So ein verfickter Scheißunsinn!“ War Jonas‘ Stimme bisher schwach und zerbrechlich gewesen, überschlug sie sich nun. „Versteht ihr das wirklich nich‘? Genau das bin ich! Ich hab mich bisher bloß nich‘ getraut, es euch zu zeigen! Ich hatte Angst! Hab versucht, für euch jemand zu sein, der ich nich‘ bin. Hab versucht, diesen Teil in mir zu leugnen und gehofft, dass er irgendwann verschwindet. Aber das wird er nich‘! Und wisst ihr was? Inzwischen is‘ das okay für mich. Ich bin richtig so wie ich bin.“ Am andern Ende der Leitung herrschte Schweigen. Der kurzfristig aufgeflammte Zorn ließ Jonas ausgebrannt zurück. „Tut mir leid, Papa. Ich will nich‘ schon wieder streiten.“ „Das will ich doch auch nicht. Aber wir können nicht einfach zulassen, dass du in dein Unglück rennst.“ „Das tue ich nich‘.“ „Vielleicht siehst du das noch nicht“, sagte sein Vater sanft. „Weil das alles neu und aufregend für dich ist und dieser Typ dir schöne Versprechungen macht.“ „Papa, jetzt hör mir mal gut zu. Das hat nichts, wirklich nicht das Geringste mit Erik zu tun! Er hat mich nich‘ mit seinem pinken Zauberstab angestupst und – puff! – war ich ‘n Homo. Er hat mir nur dabei geholfen, den Mut zu finden, dazu zu stehen.“ „Ich kann dir nur noch einmal anbieten nach Hause zu kommen“, erwiderte Jonas‘ Vater steif, als arbeitete er ein Skript ab, das keinen Platz für die Argumente seines Sohns ließ. „Komm zu uns, gönn dir ein wenig Ruhe und Abstand von Berlin und …und diesem Mann.“ Er sprach Eriks Namen nicht aus. „Dann überlegen wir uns, wie es weitergeht. Vielleicht kannst du in München studieren, oder du jobbst erstmal im Apfelbäumchen. Das wird sich schon alles irgendwie ergeben.“ „Danke, Papa, aber ‚Nein, danke‘.“ „Dein letztes Wort?“ „Ja.“ „Das müssen wir so hinnehmen.“ Die Enttäuschung seines Vaters zog den Knoten in Jonas‘ Brust unerträglich eng. „Ob wir weiterhin bereit sind, diesen Lebensstil zu finanzieren, müssen wir uns allerdings noch einmal gründlich überlegen.“ „Tut das. Es wird nichts ändern. Ich bin froh, dass ihr heil zuhause angekommen seid. Grüß Oma und Vroni von mir.“ Jonas legte auf. Gerade so konnte er sich davon abhalten, sein Handy gegen die nächste Wand zu schmettern. Seine Beine schmerzten noch vom vergangenen Abend und der Muskelkater würde höllisch werden, dennoch joggte er eine ausführliche Runde über den harten Asphalt Berlins. Alles war besser als schon wieder zu flennen.   Verschwitzt und nur geringfügig ruhiger kehrte Jonas in die Wohnung zurück. Ein vertrauter Duft stieg in seine Nase. Wie schon am Abend zuvor, hatte es sich Erik auf der Couch bequem gemacht und las sein Buch, eine Tasse dampfenden Earl Grey vor sich auf dem Couchtisch. Doch dieses Mal sprang er auf, sobald Jonas den Raum betrat. „Da bist du ja! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“ „Du warst nich‘ da, als ich aufgewacht bin.“ Jonas wünschte sich, er würde weniger vorwurfsvoll klingen. „Ich weiß.“ Schulbewusst ließ Erik den Kopf hängen. „Ich konnte nicht mehr schlafen, wollte dich aber auch nicht wecken. Also dachte ich, ich hole uns Frühstück. Das hatte ich dir auch auf die Tafel geschrieben.“ „Oh.“ Jonas hatte noch nicht einmal einen Blick auf die Schiefertafel in ihrer Küche geworfen. „Okay. Ich, ähm, ich geh mal kurz duschen. Bin völlig verschwitzt.“ „Willst du danach frühstücken?“ Jonas hatte keinen Appetit nickte aber trotzdem, bevor er ins Bad verschwand. Die Dusche fiel kürzer als gewollt aus, weil sein Körper ihm unmissverständlich klar machte, dass sich seine Kraftreserven allmählich dem Ende entgegenneigten. Mit pochenden Schläfen und einem dumpfen Schwindelgefühl, das sich nicht abschütteln ließ, stolperte er in die Küche. Erik hatte die Zeit genutzt, um Obst zu pürieren und zusammen mit Honig, Nüssen und ein paar Kokosraspeln in zwei Schüssel zu verfrachten. Eine Tüte vom Bäcker, deren Inhalt vermutlich aus frisch gebackenen Croissants bestand lag daneben. Der Anblick sollte Jonas das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, aber der Hunger wollte sich einfach nicht einstellen. Obwohl der Tisch auf dem Balkon schon gedeckt war, blieb er in der Küche stehen. „Ähm, Erik?“ Dieser drehte sich zu ihm um, leckte einen Klecks Fruchtpüree von seinem Daumen. „Hm?“ „Vorhin, als du weg warst, da … Ich hatte einen Anruf, von, ähm … Von meinen Eltern. Also, meinem Vater, eigentlich, aber … Is‘ ja auch egal, jedenfalls … ähm … Es … Es könnte sein, dass sie mir den Unterhalt streichen.“ Eilig fügte er hinzu: „Aber das geht schon klar! Ich hab ja ‘n bisschen was gespart … und … und ich kann mehr Schichten im Café übernehmen. Oder in ‘nem Club oder ‘ner Bar anfangen, da verdient man meistens besser. Vielleicht kannst du dich mal umhören, ob wer jemanden sucht oder so … und eigentlich sin‘ meine Eltern ja auch verpflichtet, mir die erste Ausbildung zu finanzieren, aber bis das durch is‘ kann das dauern und eigentlich will ich auch nich‘ … Ich will sie nich‘ zwingen mir ‘n Leben zu finanzieren, das sie ablehnen.“ „Jonas–“ „Nee, stimmt, das is‘ Quatsch. Aber sie sollen sehen, dass ich selbst für mich sorgen kann und nich‘ auf ihre Zustimmung angewiesen bin.“ „Jonas–“ „Aber der Unterhalt wär ‘ne Notlösung, falls es trotz mehr Arbeit finanziell nich‘ aufgeht und–“ „Jonas!“, unterbrach Erik ihn. „Jetzt hol erstmal tief Luft.“ Jonas schluckte seine Erwiderung und befolgte Eriks Anweisung. Nicht, dass er sich dadurch ruhiger fühlte, aber er erinnerte sich auch nicht länger, was er eigentlich hatte sagen wollen. Erik schien so oder so zufrieden mit dem Ergebnis. „So. Und jetzt hörst du auf, dir so viele Gedanken zu machen. Wir kriegen das hin. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich die Miete problemlos alleine tragen, das habe ich bisher auch. Damit dürfte schon ein wesentlicher Teil deiner Fixkosten abgedeckt sein und den Rest besprechen wir, wenn es nötig wird.“ Jonas nickte, dennoch sickerten erste Tränen durch seine dichten Wimpern. „Alles wird gut“, versprach Erik, als er ihn in die Arme schloss. „Schlimmstenfalls erhöhe ich den obligatorischen Oralsex von einmal pro Monat auf einmal pro Woche.“ Unwillkürlich musste Jonas lachen. Eriks Worte reichten nicht, ihm alle Sorgen von den Schultern zu nehmen, aber sie waren ein Anfang. „Jetzt komm. Zeit fürs Frühstück.“ Widerspruchslos ließ sich Jonas auf den sonnigen Balkon schieben, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es nie wieder gut werden würde.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)