Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 37 ---------- Was zuletzt geschah: Jonas‘ und Eriks Kurzurlaub in Stuttgart beginnt stressig. Zum Glück kennt Erik die eine oder andere zur Entspannung geeignete Ecke und so kommt Jonas nicht nur in den Genuss eines ausgesprochen lecken Nachmittagssnacks, sondern auch Hugos und Mannis Bekanntschaft zu machen. Gerührt von ihrer herzlichen Art, ihn in Eriks Leben willkommen zu heißen und von ihrer Lebensgeschichte beeindruckt, ist er noch fester entschlossen, die Tage in Stuttgart zu nutzen, so viel wie möglich über Erik zu erfahren.   Kapitel 37 Schatten zogen sich über die gepflasterte Straße, das Rascheln der Blätter im Abendwind streichelte Jonas‘ Sinne. Erik hatte ihn an den Stadtrand geführt; schnuckelige Gässchen und Einfamilienhäuser versteckten sich hinter einer zubetonierten Hauptstraße. Vor einem mit wildem Wein überwucherten Zaun blieben sie stehen. „Das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.“ Jonas versuchte abzuschätzen, ob Erik lieber nicht über das Thema sprechen wollte, doch abgesehen von einer gewissen Melancholie in seiner Stimme, schien er entspannt. „Und wer wohnt jetzt da?“ „Ah, das weiß ich auch nicht. Meine Tante und mein Onkel haben nach dem Unfall meiner Eltern entschieden, es zu verkaufen.“ Erik lächelte freudlos. „Damals habe ich mich deshalb fürchterlich verraten gefühlt. Meine Eltern waren tot und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, sollte irgendwelchen fremden Leuten überlassen werden. Aus heutiger Sicht verstehe ich sie schon. Der Kredit war noch nicht abbezahlt, zuverlässige Mieter zu finden ist stressig und es gab ja auch noch die beiden Wohnungen–“ Erik stockte, als er Jonas‘ Blick bemerkte. Verlegen strich er über sein hochgebundenes Haar und zog den Haargummi fester. „Meine Eltern waren beide beruflich ziemlich ehrgeizig und haben finanziell vorgesorgt, falls etwas mit ihnen passiert. Ich bin also–“ „Christian Grey“, vervollständigte Jonas seinen Satz und Erik lachte. „Ah, dafür reicht es dann doch nicht ganz. Nur finanziell ganz gut abgesichert.“ Seine Fingerspitzen fuhren über den rauen Putz der Grundstücksumgrenzung. „Ein paar Wochen vor ihrem Unfall bin ich mit meinen Eltern im Garten gesessen. Muss einer der ersten Abende in dem Jahr gewesen sein, an dem es halbwegs warm genug dafür war. Wir haben Kuchen gegessen, eine der alten Schallplatten meines Vaters angehört und gequatscht. Und ich dachte … Ich dachte, das sei das perfekte Leben. Dass das genau das Leben ist, das ich auch mal mit meiner Familie und meinen Kindern führen will.“ Ein Schatten huschte über Eriks Züge, aber bevor sich Jonas sicher sein konnte, was dieser bedeutete, setzte sich Erik wieder in Bewegung und lief die Straße entlang. „In diesem Moment ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass ich nie eigene Kinder haben werde. Das war“, er zögerte, strich über seine Unterarme, „überraschend schmerzhaft.“ „Du willst Kinder?“ Seine Verblüffung ließ Jonas kurzfristig jedes Taktgefühl vergessen. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Erik zu den Menschen gehörte, die neugierigen Kindern zuwinkten, wenn sich ihre Blicke trafen, im Supermarkt Grimassen schnitten und sich über das vergnügte Lachen freuten, oder auch mal zehn Minuten Verspätung in Kauf nahmen, um sich mit dem Nachbarskind zu unterhalten. Er hatte nur nie besonders viel in dieses Verhalten hineininterpretiert. „Ich wollte Kinder, so lange ich denken kann.“ Inzwischen musste sich Jonas beeilen, um mit Erik Schritt zu halten. Er stellte die erste Frage, die ihm einfiel: „Was ist mit Adoption?“ Erik hob eine Braue. „Als alleinstehender Schwuler?“ „Jaah, okay“, räumte Jonas ein. „Aber du bist ja nich‘ mehr allein. Ähm, ich mein, ich weiß noch nich‘ so ganz, wie ich dazu stehen soll. Das kommt grad etwas überraschend, aber–“ „Spielen wir es trotzdem mal durch“, unterbrach Erik ihn nicht allzu sanft. „Angenommen ich – wir“, verbesserte er sich, „heiraten und du wolltest ebenfalls ein Kind adoptieren. Wie hoch stehen die Chancen? Selbst unter der Voraussetzung, dass Vermittlungsstellen keinerlei Vorurteile gegenüber Homosexuellen haben, alleine meine Arbeitszeiten lassen sich nicht mit einem Kind vereinbaren. Und“, er seufzte, „meine Vorgeschichte auch nicht unbedingt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich belastbar genug für ein Kind bin, oder der Wunsch danach einfach nur meine Urteilsfähigkeit trübt. Am Ende ist es doch so: Selbst, wenn ich ein Kind adoptieren dürfte, müsste ich mich permanent fragen, ob ich dieses Kind um eine Zukunft mit Menschen bringe, die viel besser dafür sorgen könnten als ich.“ „Erik!“, rief Jonas. „Du machst dich schon wieder tausendmal schlechter als du bist!“ „Vielleicht. Aber das kannst du mir noch so oft sagen, diese Gedanken sind trotzdem da. In den letzten Jahren bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Adoption einfach nicht der richtige Weg für mich ist. Für andere mag sie eine wunderbare Lösung sein, aber für mich …“ Wieder dieses ergebene Seufzen. „Ich werde einfach lernen müssen, damit umzugehen, keine eigenen Kinder zu haben. Ah, und eigentlich erzähle ich das auch nur, weil ich …“ Er pausierte, suchte nach den richtigen Worten. „Weißt du, ich hatte nie wirklich Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, dass ich schwul bin. Die Menschen, die mir wichtig waren haben mich immer unterstützt und auch, wenn es mal die eine oder andere blöde Reaktion gab, habe mich deshalb nie geschämt. Aber das heißt nicht, dass ich nicht dennoch manchmal damit gehadert habe.“ „Oh.“ Mit diesem Geständnis hatte Jonas tatsächlich nicht gerechnet. „Das war mir nich‘ klar.“ „Deshalb erzähle ich es dir ja jetzt.“ Es mochte gemein sein, aber Eriks Geständnis floss wie Balsam über Jonas‘ wunde Stellen. Larissas Anschuldigungen hatten ihn damals schwer getroffen und auch, wenn sich ihre Beziehung inzwischen wieder normalisiert hatte, hallten ihre Worte noch häufig in ihm nach. Manchmal hatte er tatsächlich das Gefühl, ‚die Sache‘, was auch immer diese konkret sein mochte zu verraten, wenn er nicht zu jederzeit offen und stolz zu sich stand. Jonas griff nach Eriks Hand, drückte sie zart und genoss Eriks Lächeln, das erschien, wann immer er ihm seine Zuneigung so öffentlich zeigte. „Wollen wir weiter zum Park?“, fragte Erik. „Japp, wollen wir!“   „Siehst du den Baum da?“ Erik deutete auf einen knorrigen Stamm am Rande einer Wiese, die von kreischenden Kindern zum Fußballspielen genutzt wurde. „Japp.“ „Als ich noch jünger war, bin ich oft daran hochgeklettert. Einmal war ich höher als jemals zuvor und während ich meinem Vater gewinkt habe, damit er sich ansieht, wie toll ich das gemacht habe, bin ich abgerutscht, runtergefallen und habe mir das Bein gebrochen.“ „Aww, du Armer“, gurrte Jonas halb mitleidig, halb hämisch. „Und im selben Jahr, mein Gips war gerade ein paar Monate ab, bin ich mit ein paar Freunden den Hügel dahinter runtergerodelt, gegen just diesen Baum geknallt und habe mir das andere Bein gebrochen.“ Jonas‘ Lachanfall schreckte ein paar Eltern auf, die friedlich ihre Kinderwägen durch die letzten Sonnenstrahlen schoben. „Scheiße, und ich dacht, ich wär ‘n Tollpatsch! Was hast du dir sonst noch so gebrochen?“ „Ah, nichts mehr, meine restlichen Knochen sind zum Glück heil geblieben. Aber ich bin im Urlaub mal auf einen Seeigel getreten, zwei Tage später gegen eine Qualle geschwommen und habe mir, gleich am nächsten Tag, die Haut vom Rücken geschabt, weil mich die Strömung blöd erwischt und gegen einen Felsen getrieben hat. Hat geblutet wie verrückt. Hätte es in der Gegend Haie gegeben, ich wäre in Sekunden umzingelt gewesen.“ Jonas grinste. „Hiermit gelobe ich feierlich, dich ab jetzt in Watte zu packen. Und ich mein nich‘ das metaphorische Zeug, sondern ganz wortwörtliche Watte, die ich rund um dich pappen werde.“ Er breitete die Arme aus. „Weiße Wölkchen, rund und flauschig und mindestens so groß wie’n Fass aufm Oktoberfest.“ Erst als er keine Antwort erhielt, bemerkte er, dass er alleine weitergelaufen war. Fragend drehte er sich zu Erik, doch dieser schien durch ihn hindurch zu starren. Als Jonas seinem Blick folgte, entdeckte er eine um einen Holzkohlegrill verteilte Menschengruppe, die aß, trank und sich amüsierte. Jonas sah genauer hin, konnte jedoch nichts Auffälliges ausmachen. Zwei Frauen und drei Männer hatten es sich gemütlich gemacht, alle irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, sommerlich gekleidet, weder besonders attraktiv noch hässlich. Jonas zupfte an Eriks hochgerolltem Hemdsärmel. „Alles okay?“ Erik blinzelte, als wäre er aus einem Traum aufgewacht. „Entschuldige, ich …“ Offensichtlich wusste er nicht, was er sagen sollte und verstummte. „Das da vorn is‘ ‘n Eisstand, oder?“ Jonas deutete auf den mobilen Laden, der ein gutes Stück von dem Grüppchen entfernt stand. „Sieht so aus.“ „Isser gut?“ „Weiß ich nicht.“ „Dann testen wir das jetzt!“ Ohne Erik die Chance auf Protest zu lassen, zog Jonas ihn hinter sich her und bestellte. Zitrone und Erdbeere für ihn selbst, zweimal dunkle Schokolade für Erik, der mit jedem Milliliter Eis, der von der Waffel in seinen Magen wanderte etwas weniger weggetreten wirkte. Jonas leckte einen letzten Rest kalte Creme von seinen Fingern. Zu gerne hätte er sich bei Erik eingehakt, doch trotz der hereinbrechenden Dunkelheit war der Park noch gut frequentiert und sein Wagemut für diesen Tag aufgebraucht. „Ich bin echt scheißerledigt. Wollen wir uns noch irgendwo mit ungesundem Kram eindecken und dann ins Hotel verschwinden?“ „Können wir machen.“   Den Weg ins Hotel legten sie größtenteils schweigend zurück. Erik antwortete zwar auf Jonas‘ Fragen und lachte über seine blöden Witze, war mit den Gedanken jedoch offensichtlich nicht wirklich bei ihm. Auch die Zweisamkeit ihres Hotelzimmers brachte keine Änderung. Jonas reihte ihre Einkäufe auf dem bedruckten Bettlaken auf, um eine bessere Einschätzung treffen zu können, welchen der vielen Schokoriegel, die sie gekauft hatten er zuerst essen wollte. Schnell hatte er einen Favoriten gefunden. Auf dem Schoko-Karamell-Mix kauend, wandte er sich zu Erik, der neben ihm lag, den Kopf gegen die Rückwand des Betts gelehnt, die Augen geschlossen. „Erzählst du mir, was vorhin los war?“ „Ist es in Ordnung, wenn ich es nicht tue?“ Jonas unterdrückte ein Seufzen. „Ja. Ja, natürlich is‘ das auch okay.“ Erik griff nach der Packung M&Ms, spielte damit, ohne sie zu öffnen. „Das vorhin war mein Ex-Freund.“ „Marc–oh. Oh! Dein Ex-Ex?“ „Mhm.“ „Welcher?“ „Der im Jackett.“ Jonas fluchte innerlich. Weshalb hatte er sich die Leute nicht genauer angesehen? Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass einer von ihnen ein Jackett getragen hatte. „Die ganze Zeit habe ich gebetet, dass er nicht zu uns herübersieht“, gestand Erik. „Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre. Von ihm erkannt zu werden, oder zu merken, dass ich nach all den Jahren nur ein Fremder bin, der keine Erinnerung wert ist.“ „Kann ich dich fragen, was damals zwischen euch passiert ist? Das heißt“, fügte Jonas schnell hinzu, „du musst das natürlich nich‘ erzählen, aber … manchmal glaub ich, dass es mir helfen würd, dem einen oder anderen Fettnäpfen auszuweichen.“ „Wahrscheinlich hast du recht.“ Erik quittierte Jonas‘ überraschten Gesichtsausdruck mit einem humorlosen Lächeln. „Es bringt ja doch nichts, wenn ich so ein Geheimnis daraus mache. Ich will gar nicht wissen, was du dir inzwischen alles ausgemalt hast. „Oh, ähm eigentlich hab ich mich eher bemüht, gar nix darüber zu denken, weil ich keine voreiligen Schlüsse ziehen wollte.“ Was natürlich nur bedingt funktioniert hatte. „Das ehrt dich. Willst du es trotzdem hören?“ Erik setzte sich gerade auf. „Ich versuche, mich kurzzufassen, aber ich fürchte, wenn ich einmal damit anfange, wird das länger dauern.“ „Wir haben alle Zeit der Welt. Ich mein, irgendwann bevor unsere Klausuren losgehen sollten wir wieder nach Hause fahren, aber sonst …“ Der Hauch eines echten Lächelns huschte über Eriks Gesicht. „So lange wird es dann hoffentlich doch nicht dauern. Mal sehen … Wo fange ich an? Ah, vielleicht so. Wir haben uns über einen Chat kennengelernt. Ja, ich weiß, das ist ein ziemliches Klischee, aber ich kann es nicht ändern.“ Jonas schloss seinen Mund wieder und Erik fuhr fort. „Ich war fünfzehn, meine Hormone im Chaosmodus und es war schön, mich mit jemanden austauschen zu können, der erfahrener war als ich und mit dem ich einen unschuldigen, sicheren Flirt übers Internet genießen konnte. Damals hatte ich nicht die Intention, mich wirklich mit ihm zu treffen.“ „War das vor“, Jonas überwand sich, es laut auszusprechen, „dem Unfall deiner Eltern?“ „Kurz davor, ja. Und als sie starben …“ Erik brach ab, zupfte an der Packung M&Ms, bis eine Ecke einriss. „Ich war einsam. Sehr einsam. Es war nicht so, dass ich keine Freunde gehabt hätte, aber keine dieser Freundschaften war eng genug, damit ich mich jemandem hätte öffnen können oder wollen. Natürlich war ich in der Zeit auch nicht gerade der unterhaltsamste Begleiter und nach und nach haben meine Freunde angefangen mich von ihren Unternehmungen auszuschließen. Oder vielleicht habe ich mich auch selbst ausgeschlossen. Dazu kam die ganze Sache mit meiner Tante und ihrem Teil der Familie. Anfänglich habe ich ja in ihrer Wohnung gelebt, mich dort aber immer fremd gefühlt. Das ging eine Weile so, ein paar Wochen, glaube ich und irgendwann … Irgendwann habe ich den Chat mit meinem Ex wieder aufgenommen und in ihm jemanden gefunden, der mir zuhört hat.“ „Und dann hast du dich mit ihm getroffen?“ Erik schüttelte den Kopf. „Eigentlich wollte ich das nicht. Aber anders als Zuhause, hatte ich kein Zimmer mehr für mich selbst, sondern musste es mit meinem Cousin teilen – oder er sein Zimmer mit mir, ums genau zu nehmen – und es ist schwierig, sein Herz auszuschütten, wenn man ständig fürchtet, jemand könnte zur Tür reinplatzen.“ Jonas schnaubte. „Das kenn ich. Meine Eltern sin‘ beide nich‘ sonderlich technikaffin. Wir hatten bloß ‘nen Familien-Pc und der stand im Wohnzimmer. Anklopfen gelernt hat meine Mum auch erst nach einem peinlichen Vorfall, der glücklicherweise Christine passiert is‘ und nich‘ mir. Scheiße, meinen ersten Porno hab ich mit siebzehn auf meinem ersten Smartphone geguckt. Im Bad, weil das der einzige Raum im Haus is‘, den man absperren kann. Ich mein, es ging natürlich schon davor der eine oder andere Clip unter meinen Freunden rum, aber die waren halt alle, ähm, nich‘ so ganz mein Geschmack.“ „Zu viele Frauen?“, fragte Erik amüsiert. „Viel zu viele. Und, ähm, ich nehm mal an, dass du darauf hinauswillst, dass du dich zu ‘nem Treffen hast breitschlagen lassen.“ „Mhm. Nachdem wir eine Woche versucht hatten, in Ruhe zu chatten und es einfach nicht klappen wollte, habe ich seinem Drängen nachgegeben und mich mit ihm in einem Bistro getroffen. Es war nett. Er hat unsere Getränke gezahlt, mir jede Menge Fragen gestellt und Komplimente gemacht, das komplette Date-Paket eben. Irgendwann hat er gefragt, ob wir nicht zu ihm wollen, weg von den neugierigen Ohren um uns herum.“ „So fangen miese Horrorfilme an“, kommentierte Jonas trocken und hätte sich gleich darauf am liebsten für seine Taktlosigkeit geohrfeigt. „Sorry. Ich wollt dich nich‘ unterbrechen.“ „Unterbrich so viel du willst. Macht das Erzählen ein wenig einfacher. Und ja, ich war dumm und naiv. Geschmeichelt, dass jemand, der ein paar Jahre älter war, ein Erwachsener – zumindest für mein damaliges Empfinden – sich für mich interessierte. Also bin ich mit. Wir haben uns unterhalten. Uns geküsst.“ Er seufzte. „Das war mein erster Kuss und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es nicht schön war. Wir hatten nicht viel Zeit bis ich wegmusste und haben uns gleich für den nächsten Tag verabredet. Bei ihm. Dieses Mal wollte er es nicht bei ein paar unschuldigen Küssen lassen und … ich war neugierig. Anfangs hat es sich schön angefühlt und als es das irgendwann nicht mehr tat, wusste ich nicht, wie ich ihn stoppen sollte, ohne seine Gefühle zu verletzen.“ Erik verstummte. Er setzte sich auf und drehte den Kopf zur Tür, weg von Jonas. „Wie gesagt, ich war naiv und verflucht einsam. Ich war bereit, Dinge zu tun, die ich eigentlich nicht wollte, weil ich die Aufmerksamkeit mochte, die er mir geschenkt hat. Dass nur dann nette Worte kamen, wenn ich ihm seine Wünsche erfüllt habe, ist mir erst viel später aufgefallen. Und als er mich ganz offiziell seinen Freunden vorgestellt hat, war ich so unglaublich“, Eriks Finger verschränkten sich ineinander, seine Knöchel traten weiß hervor, „glücklich. Weil er so offen zu uns stand. Meine Eltern hatten mir immer beigebracht, dass Homosexualität normal und in Ordnung ist, aber das bedeutet nicht, dass mir nicht bewusst war, eine Minderheit zu sein. Oder, dass es genug Menschen gibt, die es – uns – mich – ekelhaft finden. Es war einfach schön zu sehen, dass ihm egal war, was andere darüber dachten. Dass er zu mir stand. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass er sich nur mit mir getroffen hat, wenn er gerade Lust darauf hatte. Er hat bestimmt, wann, wo und mit wem wir uns treffen. Was wir tun. Aber selbst, wenn es mir aufgefallen wäre, wäre es mir vermutlich egal gewesen. Ich habe die Zeit mit ihm und diesen vermeintlichen Freunden genossen. Wie streng seine Regeln waren und wie oft ich mich ihm unterworfen habe, aus Angst vor seiner Reaktion, wenn ich es nicht tue … Es hat eine Menge Gespräche mit meiner Therapeutin gebraucht, um das alles rauszuarbeiten und viele Jahre, bis ich mich anderen gegenüber wieder halbwegs öffnen konnte. Gerade auch in körperlicher Hinsicht.“ „Hat dich der Typ …“ „Vergewaltigt?“, sprach Erik aus, was Jonas nicht konnte. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, das hat er nicht. Aber er hat mich manipuliert. Bis heute kann ich nicht sagen, ob er sich darüber im Klaren war und mich bewusst als leichtes Opfer ausgesucht hat, oder ob das einfach seine Art ist.“ Ruhelos zerknüllte Erik die M&M-Packung, stoppte erst, als Jonas seine Hand nahm. Er lächelte freudlos. „Es ist übrigens nicht so, dass ich dir das verschweigen wollte. Es ist nur schwierig für mich, darüber zu reden, weil ich mir im Nachhinein so unglaublich dumm vorkomme.“ „Du warst nich‘ dumm“, widersprach Jonas. „Widerliche Ärsche sind oft gut darin, zu verbergen, wie widerlich sie sind. Also, die metaphorischen Ärsche jedenfalls, bei den physischen wird’s schwieriger. Scheiße, ich bin fünf Jahre älter als du damals und noch vor ‘nem Jahr wär ich mit Sicherheit auf genau so ‘nen Typen reingefallen, wenn ich einen getroffen hätte. Aber ich hatte Glück. Ich hab jemanden kennengelernt, der mir gezeigt hat, wie ‘ne gute Beziehung eigentlich laufen sollt, egal, ob sie nur sexuell oder mehr is‘.“ Überrascht musterte Erik Jonas. Mehrfach setzte er zum Sprechen an, brach aber immer wieder ab. Jonas schwieg, gab ihm die Zeit, die er brauchte. Es dauerte fast fünf Minuten, bis Erik das nächste Mal den Mund öffnete. „Er hatte das Talent, mir ein schlechtes Gewissen zu machen“, flüsterte er. „Hat meine Gefühle für ihn ausgenutzt, mich gefragt, wieso ich Dieses und Jenes nicht tun wolle, wenn ich gleichzeitig behaupte, dass er mir wichtig sei. Warum ich immer alles kompliziert machen würde, anstatt ihm einfach mal was Gutes zu tun. Und wenn das nicht gereicht hat, um mich spuren zu lassen, hat er mir vorgeworfen, ihn nicht zu lieben und mit anderen zu vögeln.“ Erik verzog das Gesicht. „Das Paradoxe ist, je schlimmer er mich niedergemacht hat, umso mehr habe ich versucht, seine Gunst zu gewinnen. Irgendwann ist mir dann aufgefallen, dass es einfacher wurde, mit ihm umzugehen, wenn ich davor etwas getrunken hatte. Ich war lockerer, eben ein wenig betäubt und ihm schien das zu gefallen. Also trank ich.“ Die Erkenntnis traf Jonas wie ein Schlag. „Trinkst du deshalb nichts mehr? Bist du …? Ich meine …“ „Inzwischen mag ich das Gefühl einfach nicht“, antwortete Erik geduldig. „Aber diese Erfahrungen sind tatsächlich ein Grund, warum ich vorsichtig mit Suchtmitteln umgehe. Damals ist es nicht beim Alkohol geblieben. Der hat mich zwar entspannt, aber ich musste tonnenweise Kaugummi kauen, bevor ich nach Hause konnte, damit niemand etwas bemerkt. Also habe ich nach einer Weile angefangen mit anderen Substanzen zu experimentieren.“ Jonas brauchte ein paar Sekunden, um seine Stimme wiederzufinden. „Was hast du alles … ausprobiert?“ Erik zuckte mit den Schultern. „Das gängige Partyzeugs, hauptsächlich. Letztlich hatte ich Glück im Unglück und die ganze Geschichte ist explodiert, bevor ich mir ein ernsthaftes Drogenproblem eingehandelt hatte. Ein paar Monate länger und ich wäre garantiert mit härteren Sachen in Kontakt gekommen. Dank meines Ex hatte ich die richtigen Kontakte dafür.“ Zum ersten Mal fiel Jonas auf, dass Erik noch nie den Namen seines Exfreunds erwähnt hatte, entschied aber, nicht nachzuhaken. Stattdessen stellte er eine andere Frage: „Wie lange ging das zwischen euch?“ „Ah, lass mich überlegen. Meine Eltern sind im Mai gestorben, dann müssen wir uns so im Juni das erste Mal getroffen haben und vorbei war es Ende September. Also etwa vier Monate.“ „Ziemlich viel Scheiß in ziemlich kurzer Zeit.“ „So könnte man es ausdrücken.“ „Warum habt ihr euch getrennt? Äh, abgesehen von dem Offensichtlichen, mein ich, aber … Ich schätze, so einfach war die Sache nich‘.“ Erik lächelte bitter. „Ich würde dir jetzt gerne erzählen, dass mir klargeworden ist, an was für einen Idioten ich da geraten bin und es beendet habe, aber ganz so ist es nicht gelaufen. Je mehr ich mich auf meinen Ex eingelassen habe, umso mehr Stress gab es mit meiner Tante und meinem Onkel. Ich bin zu spät nach Hause gekommen, habe mich nicht an Verabredungen gehalten, war betrunken oder high. Als die Sommerferien vorbei waren, habe ich angefangen, die Schule zu schwänzen. Anfangs war mein Umfeld nachsichtig, immerhin war ich der Junge mit den toten Eltern, aber irgendwann ist selbst meiner Tante der Geduldsfaden gerissen, zumal mein Cousin sich ständig beschwert hat, dass sie mit zweierlei Maß messen würde. Was ja auch stimmte. Das Dumme war, je mehr Stress ich zuhause hatte, umso mehr habe ich Schutz bei meinem Ex gesucht. Je mehr Zeit ich bei meinem Ex verbracht habe, umso mehr Stress gab es zuhause. Ein Teufelskreis. Eines Abends ist es dann eskaliert. Mein Cousin und ich waren in seinem Zimmer und fingen wegen irgendetwas, ich weiß noch nicht einmal mehr was, einen Streit an, der ziemlich böse hochgekocht ist. Ich schätze, wir waren beide frustriert und haben es aneinander ausgelassen.“ Erik schien zu zögern, den nächsten Teil zu erzählen. „Irgendwann schrie er …“ Wieder ein Zögern. „Sagen wir, er hat mich darauf aufmerksam gemacht, sich nicht wohl damit zu fühlen, sein Zimmer mit jemanden zu teilen, der auf Männer steht.“ Rasch schluckte Jonas den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag herunter. Die Geschichte war mehr als zehn Jahre vergangen und so, wie er Erik kannte, hatte dieser seinem Cousin schon lange verziehen. Er wollte lieber kein böses Wort über jemanden verlieren, zu dem Erik inzwischen möglicherweise ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte. „Heute kann ich verstehen, was ihn dazu getrieben hat“, erklärte Erik. „Aber damals … In erster Linie habe ich mich wohl hilflos gefühlt. Mit einem Satz hatte mein Cousin alle meine Ängste bestätigt. Ich wollte einfach nur weg. Also habe ich ein paar meiner Sachen gepackt und bin abgehauen. Ich war fest entschlossen, nie wieder in eine Wohnung zurückzukehren, in der in offensichtlich nicht willkommen war.“ Er holte Luft. „Natürlich hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wohin ich eigentlich wollte. Also bin ich zu meinem Ex, obwohl der davor oft genug klargemacht hatte, dass er derjenige ist, der sich meldet und ich mich an den Tagen, an denen er keine Zeit für mich hat mit mir selbst beschäftigen sollte. Aber ich dachte … Ich dachte, das wäre eine Ausnahme. Also habe ich einfach sturmgeklingelt, bis er entnervt die Tür aufgerissen hat.“ Wieder machte Erik eine Pause. „Mit einer halbnackten Frau an seiner Seite.“ „Arschloch.“ Dieses Mal konnte Jonas sagen, was er dachte. „Ich bin nicht stolz darauf, aber ich denke, wenn er es darauf angelegt hätte alles zu leugnen, hätte ich es ihm sogar abgekauft. Oder wenigstens versucht, mir selbst vorzumachen, es zu glauben. Hat er aber nicht. Wir stritten. Er hat mich angeblafft, was ich bei ihm wolle und ich habe ihn gefragt, was die Frau in seiner Wohnung zu suchen hat . Seine Antwort war … nicht übermäßig freundlich.“ Bei Jonas‘ fragendem Blick seufzte Erik. „Im Prinzip hat er mir erklärt, dass es meine eigene Schuld ist, wenn er sich woanders umsieht, weil ich mich im Bett wie ein toter Fisch aufführe.“ „Arschloch“, wiederholte Jonas tonlos, aber es reichte, um Erik ein schwaches Lächeln zu entlocken. „Danach bin ich stundenlang ziellos durch die Stadt geirrt, bis mich irgendwann die Polizei aufgesammelt und zurück zu meiner Tante gebracht hat.“ „Konntest du nich‘ irgendwo anders hin?“, fragte Jonas, aber Erik schüttelte den Kopf. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich einfach nicht mehr die Kraft für solche Diskussionen. Dieser ganze Vorfall war …“ Er stockte, seine Lippen bewegten sich stumm auf der Suche nach den richtigen Worten. „Damals hat es sich angefühlt, als hätte der Tod meiner Eltern einen tiefen Krater aufgerissen und ich bin so lange wie möglich an seinem Rand entlangbalanciert. Meine Strategie, einen Sturz zu verhindern war nicht besonders gesund und vermutlich habe ich den Krater in Wahrheit einfach noch tiefer gegraben, aber für eine Weile hat sie funktioniert. Der Abend, an dem ich weggelaufen bin war dann allerdings wie ein letzter Stoß. Ich fiel und fiel und kam alleine nicht mehr raus. Im Grunde weißt du schon, wie es danach weiterging.“ Eriks Finger zeichneten die weißen Narben auf seiner goldenen Haut nach. „Ich nehme mal eben meine Kontaktlinsen raus.“ Bevor Jonas etwas erwidern konnte, war Erik im Bad verschwunden. Als er zurückkam, waren sein Gesicht und seine Hände mit Wasser benetzt und seine Augen wirkten gerötet. Bereitwillig sank er in Jonas‘ ausgestreckte Arme. „Das war ganz schön viel auf einmal, hm?“ „‘N bissl“, ab Jonas zu. „Aber es is‘ gut, dass du’s erzählt hast, find ich.“ Tatsächlich glaubte er, Erik jetzt besser verstehen zu können. Seine Art, Grenzen früh zu kommunizieren und jeden Versuch, sie zu übertreten rigoros zu bestrafen. Zum ersten Mal verstand er auch wirklich, woher die Reaktion bei ihrem verpatzten One-Night-Stand gekommen war. Jonas hatte sich ihm so angeboten, wie Erik sich damals seinem Ex-Freund. Ängstlich, im Grunde unwillig, aber in der Hoffnung, es irgendwie zu überstehen und dafür ein wenig Anerkennung und Zuneigung von seinem Gegenüber zu erhalten. Hatte Erik das nicht sogar wortwörtlich gesagt? Dass Jonas ihn in diesem Moment an jemand anderen erinnert hatte? Bisher war ihm nur nicht klar gewesen, dass er dabei von sich selbst gesprochen hatte. Laut sagte Jonas: „Is‘ ja doch ein ziemlich wichtiger Teil deiner Vergangenheit.“ „Glücklicherweise der düsterste. Ab da ging es bergauf. Naja, jedenfalls im Großen und Ganzen. Natürlich war danach nicht plötzlich alles wieder gut, aber wenigstens war ich nach diesem Abend meinen Ex los. Jedenfalls fast.“ „Warum nur fast?“, hakte Jonas nach. „Hat er dir nachgestellt?“ Kein Wunder, dass Erik bei seinem Anblick so empfindlich reagiert hatte. „Nein, nicht wirklich. Eine Weile dachte ich das, aber …“ Erik zuckte mit den Schultern. „Er hat mich eher indirekt verfolgt.“ „Inwiefern?“ „Ah, dass die Frau, die ich an diesem Abend bei ihm gesehen habe, vermutlich nicht die Einzige war, mit der er mich in unserer Zeit betrogen hat, muss ich, denke ich, kaum extra erwähnen?“ „Ähm, nee. Das würd mich doch wundern.“ „Dann brauche ich jetzt nur noch zu gestehen, dumm genug gewesen zu sein, auf Kondome verzichtet zu haben.“ „Und?“ Der Groschen fiel. „Oh! Du dachtest …“ „Kurz nach unserer Trennung bin ich krank geworden“, erzählte Erik. „Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gewichtsverlust, klassische Grippesymptome. Im Nachhinein nicht verwunderlich. Ich war depressiv, habe zu wenig gegessen und mich zuhause eingegraben, aber damals war das für mich nicht so offensichtlich. Als es einfach nicht besser werden wollte, hat meine Tante mich zum Arzt geschleift. Mir wurde Blut abgenommen und … Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie verängstigt ich war, wenn ich bereit war, vor Ärztin und Helferin zuzugeben, mich auf HIV testen zu müssen, weil ich wiederholt ungeschützten Sex mit einem Typen hatte, der fröhlich fremdvögelte.“ Jonas dachte daran, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, einen Test bei seinem Arzt anzusprechen, und das, obwohl sein Risiko mehr als überschaubar gewesen war. „Ich glaub, ich hab ‘ne Ahnung.“ „Zum Glück bin ich nochmal mit dem Schrecken davongekommen, aber die Zeit, bis die Ergebnisse feststanden möchte ich nie wieder durchleben.“ Was wiederum Eriks strikte Kondomregeln erklärte. Nach und nach fügten sich die Puzzleteile zusammen. „Ich dachte wirklich, ich hätte damit abgeschlossen“, sagte er bitter. „Aber ihn heute zu sehen … Dass dieser Mensch offenbar immer noch solche Macht über mich hat, ist ziemlich unangenehm.“ „Ich glaub, du bist da schon wieder viel zu streng mit dir. Is‘ doch völlig normal, dass einen sowas aufwühlen kann, aber das gibt dem Arsch doch noch lang keine Macht über dich.“ Als Erik nicht antwortete, presste Jonas ihn enger an sich. „Vor ein paar Monaten, als ich bei meinen Eltern und richtig beschissen drauf war, hast du gesagt, ich soll meine Augen schließen und an alles denken, was ich seit meinem Umzug nach Berlin erreicht hab.“ Seine Lippen strichen über Eriks Schläfen. „Und du machst jetzt genau das gleiche. Schließ die Augen und erinnere dich mal daran, was du seit der Trennung von deinem Ex alles geleistet hat.“ Nach einer Weile fragte er: „Und? Ich wette, das is‘ gar nich‘ so übel.“ Erik sah zu Jonas auf. Die schmale Falte zwischen seinen Brauen zeigte sich, aber da war auch der Hauch eines Lächelns. „Mhm, stimmt.“ „Na, siehst du?“ Jonas löste Eriks Haargummi und kämmte mit den Fingern durch die langen Strähnen, bis Eriks Atemzüge gleichmäßig geworden waren und sein Körper schwer halb auf dem Bett und halb auf Jonas lag. Darauf bedacht, Erik nicht zu wecken, streckte er sich zur Seite und löschte das Licht.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)