Zum Inhalt der Seite

Raupe im Neonlicht

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 36

Was zuletzt geschah:

Eriks und Jonas‘ Beziehung wächst und gedeiht, aber wie bei jedem zarten Pflänzchen besteht ihr Leben nicht nur aus Sonnenschein. Manchmal stürmt und regnet es. Jonas lässt sich davon aber nicht – okay kaum – verunsichern und schafft es, einen gemeinsamen Tag zu einem wesentlich besseren Ende zu bringen, als der Anfang versprochen hatte.

 

Kapitel 36

Panisch schreckte Jonas hoch. „Ich hab meine Zahnbürste vergessen!“

„Kaufen wir, wenn wir in Stuttgart angekommen sind.“

Eriks ruhige Stimme und das rhythmische Tuckern des Zugs lullten Jonas ein und verlockten ihn, den Kopf an die Schulter seines Freunds zu lehnen. Nur die Anwesenheit der anderen Fahrgäste hielt ihn davon ab. Und eine jähe Erkenntnis. „Scheiße, mein Ladekabel liegt auch noch daheim!“

„Du kannst meins mitbenutzen.“

„Sorry, ich bin echt ‘n Chaot.“

„Du bist süß“, flüsterte Erik unhörbar für ihre nächsten Sitznachbarn.

„Wie lang hab ich überhaupt gepennt?“

Erik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Nicht lange. Vielleicht eine Stunde. Du hast also noch gute vier vor dir.“

„Bist du nich‘ müde? Du warst doch arbeiten.“

„Mhm. So langsam merk ich das auch.“

Erik war natürlich nicht pünktlich aus dem Tix gekommen und selbstverständlich hatte sich dann auch noch die Suche nach einem Taxi beeindruckend schwierig gestaltet, insbesondere, wenn man bedachte, dass der nächtliche Berliner Straßenverkehr üblicherweise aus nichts anderem zu bestehen schien. Bis sie endlich erschöpft in ihre Sitze hatten sinken können, war einiges an Rennerei, Gefluche und Koffergezerre vorangegangen. Jonas konnte nur hoffen, der restliche Kurzurlaub würde nicht dem Bespiel dieses hektischen Anfangs folgen.

Nach seinem kurzen Nickerchen fühlte er sich deutlich fitter – im Gegensatz zu Erik hatte er sich allerdings schon vor ihrem Aufbruch eine Mütze Schlaf gegönnt – und war bereit, in den Tag zu starten. Neugierig spähte er aus dem Fenster. Sonnenstrahlen krochen über das flache Land, spielten die Vorboten eines heißen Sommertags. „Was is‘ denn jetzt eigentlich unser Plan für die nächsten Tage?“

„Jetzt sehen wir erst mal zu, dass wir heil in Stuttgart ankommen“, antwortete Erik. „Zum Glück müssen wir nicht umsteigen, also sollten wir, wenn es keine Verspätung gibt gegen Mittag im Hotel einchecken können. Dann haben wir den restlichen Freitag für uns, morgen holt uns Marco irgendwann am frühen Nachmittag ab, am Sonntag ist das Abendessen mit meiner Tante und der restlichen Familie geplant und am Montag geht es so pünktlich zurück, dass du noch rechtzeitig in dein Seminar kommst und ich in meine Vorlesung.“ Erik hatte die einzelnen Tage an seinen Fingern abgezählt und Jonas seufzte bei dem vollen Programm.

„Ich glaub, danach brauch ich erstmal Urlaub.“

„Ich auch.“ Tatsächlich hatte Erik alles andere als glücklich gewirkt, als er nach einem kurzen Telefonat von den Essensplänen seiner Tante berichtet hatte und auch jetzt sah er aus, als würde er sich gerne vor diesem speziellen Termin drücken. Jonas musste allerdings zugeben, dass er mehr als gespannt war, Eriks Familie kennenzulernen.

Dieser gähnte herzhaft und schloss die Augen. „Ich werde mal versuchen, ein wenig zu schlafen.“

Jonas entschied, die Fahrtzeit mit einem Buch zu überbrücken, bedauerte aber noch einmal, nicht den Mut aufzubringen, sich dabei an Erik zu kuscheln.

 

Eine frische Brise bauschte die babyblauen Vorhänge, fegte über das mit geblümter Wäsche bezogene Doppelbett hinweg und zerzauste Jonas‘ Haar. An der Wand gegenüber hing ein Flachbildfernseher, eine schlichte Tür neben dem Eingang führte in ein weißgefliestes Badezimmer mit Toilette und Duschkabine.

All das nahm Jonas nur am Rande wahr, bevor er sich Gesicht voraus in die Laken fallen ließ. Die Matratze war überraschend bequem, der Rahmen knarzte allerdings hörbar unter jeder Bewegung.

Liebevoll strich Erik über Jonas‘ verspannten Rücken. „Müde?“

„‘N bissl.“ Er drehte den Kopf, um Erik anzusehen. „Aber das Hotel is‘ echt nett. Bist du immer hier?“

„Mhm. Es liegt zentral, der Preis stimmt und das Frühstücksbuffet ist himmlisch.“

„Weil du grad vom Preis sprichst“, murmelte Jonas. „Wie viel …“

„Das klären wir, wenn wir wieder zurück sind, ja? Dann rechnen wir alles zusammen und sehen mal, wie wir es aufteilen.“

Zähneknirschend gab Jonas nach. „Okay. Dann aber wirklich!“ Weder wollte er sich von Erik aushalten lassen, noch den Urlaub mit ellenlangen Diskussionen über Geld vermiesen. „Was treiben wir denn heute noch?“

„Ah, was du willst. Stuttgart ist nicht Berlin, aber es gibt trotzdem genug Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Davor würde ich mich allerdings gerne noch ein bisschen hinlegen.“

„Ich mich schon auch. So lang im Zug sitzen is‘ echt scheißanstrengend. Freu mich schon wieder auf die Fahrt zu meinen Eltern.“

„Hast du dir inzwischen überlegt, wann du fahren willst?“ Erik schlüpfte aus Schuhen, Hemd und Hose und gesellte sich zu Jonas aufs Bett.

Dieser rutschte etwa so widerwillig zur Seite, wie er über den Besuch bei seinen Eltern nachdachte. „Bisher sieht der Plan vor, dass Christine und Maria Mitte August nach Berlin kommen und etwa ‘ne Woche bleiben. Wir feiern unseren Geburtstag und dann fahr ich zusammen mit den beiden zurück und bleib ‘n paar Tage. Maximal zwei Wochen, denk ich, dann reicht’s mir wieder. Ich will in den Semesterferien ja auch ‘n bissl Zeit mit dir verbringen. Ach ja und irgendwo dazwischen muss ich auch arbeiten und meine Urlaubskasse wieder auffüllen. Hab eh Glück, dass meine Chefs mich meine Schichten so flexibel einteilen lassen.“

Zur Antwort brummte Erik etwas Unverständliches. Er hatte die Augen bereits geschlossen und Jonas war sich nicht sicher, wie viel er von seinen Ausführungen überhaupt mitbekommen hatte.

 

Ein schrilles Summen riss Jonas aus seinen Träumen. „Du hast nich‘ wirklich deinen Scheißwecker gestellt?“ Missmutig kickte er seinem Freund gegen das Schienbein, allerdings so schwach, dass der Tritt eher einem sanften Streicheln gleichkam.

„Ich wollte nicht den ganzen Tag verschlafen“, nuschelte Erik und quälte sich aus dem Bett, um den Alarm seines auf dem Fensterbrett platzierten Handys abzustellen. „Für den Kurzurlaub hätte ich ganz gerne so etwas Ähnliches wie einen alltagstauglichen Schlafrhythmus.“

Grummelnd erhob sich auch Jonas. Nachdem sich der Schleier des Schlafs ein wenig gelüftet hatte, informierte sein Körper ihn über zwei konträre, aber recht dringende Bedürfnisse. Er musste zur Toilette – und er stand kurz vorm Verhungern.

„Wie spät isses eigentlich?“, fragte er, als er aus dem Bad zurückkehrte.

„Kurz nach zwei. Schon eine Idee, was du machen willst?“

„Japp.“ Die hatte Jonas bereits, seit ihr Kurztrip zum ersten Mal konkrete Züge angenommen hatte. „Ich will ‘ne Stadtführung. Aber nich‘ son Touristenscheiß, sondern Plätze, die für dich irgend ‘ne Bedeutung haben. Deine Grundschule, dein Lieblingsspielplatz, son Kram halt.“

„Ah, lass mich mal überlegen, was sich da anbietet …“

„Idealerweise fangen wir mit irgendwas an, wo du gern gegessen hast. Ich bin echt scheißhungrig.“

„Mhm, dann hätte ich eine Idee.“

Nach einer – dank Erik nicht ganz so kurzen – Dusche und zwei Busfahrten, fand sich Jonas in einer ihm völlig fremden Straße, innerhalb einer ihm völlig fremden Stadt wieder. Glücklicherweise hatte er einen kompetenten und ausgesprochen gut gelaunten Reiseführer an seiner Seite.

Interessiert musterte Jonas die unauffällig gestrichenen Mehrfamilienhäuser, deren Erdgeschosse von schnuckeligen Geschäften besetzt waren und die mit Bäumen bepflanzten Grünstreifen am Straßenrand, die davon zeugten, dass es sich hier um eine beliebte Gassirunde handelte. „Hast du hier gewohnt?“

„Nein, nein, das nicht. Aber ich war früher oft in der Gegend. Genaugenommen dort.“ Erik deutete auf ein Café mit breiter Fensterfront auf der anderen Straßenseite. „Im Nebenraum findet ein Jugendtreff statt, in dem ich mich oft mit Marco getroffen habe. Außerdem gibt es dort die wohl besten Sandwiches in ganz Stuttgart.“

Jonas betrachtete die farbenfrohen Buchstaben auf dem schneeweißen Schild, die den Laden als ‚Buntes Tässchen‘ auswiesen. Neben der Eingangstür flatterte eine Regenbogenfahne. „Wann warst du das letzte Mal hier?“

„Ah, erst im Mai“, antwortete Erik. „Ich schaue eigentlich jedes Jahr vorbei. Marco ist mit den Besitzern befreundet, also habe ich sie natürlich auch kennengelernt. Die beiden waren irgendwie immer Vorbilder für mich.“

„Gehen wir rein?“

„Wenn du willst.“

„Klar!“ Misstrauisch beäugte Jonas den Verkehr, bevor er die Straße überquerte. Nicht einfach auf Ampeln zu vertrauen war eine Lektion, die ihm sein Unfall ausgesprochen gründlich eingetrichtert hatte.

Drei Glöckchen bimmelten, sobald er durch die mit einem Keil offengehaltene Tür schritt und noch einmal, als Erik kurz nach ihm folgte. Der Raum war im Vergleich zur Sommerhitze angenehm kühl und die Theke direkt gegenüber dem Eingang zog sofort Jonas‘ Aufmerksamkeit auf sich. Sie war bestückt mit Kuchen, Kleingebäck, belegten Brötchen, Bagels, Panini und einer ganzen Menge mehr. Wenn das Essen so schmeckte, wie es aussah, hatte Erik nicht übertrieben.

Auf hellem Laminatboden verteilten sich in Pastelltönen gehaltene Stühle und Sitzsäcke, anstelle von Blumen standen Kräuterbouquets, die ihren würzigen Duft verbreiteten auf den Tischen. Eine geschlossene Holztür mit Sichtfenster führte in einen Nebenraum, aus dem lautes Gelächter schallte. Darüber prangte in knallbunten, handgemalten Lettern ‚JUGENDTREFF – Jeder ist willkommen!‘.

Sanft schob Erik Jonas zur Theke, hinter der ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters Stellung bezogen hatte. Ein goldener Ring funkelte in seinem rechten Ohrläppchen und sein rosafarbenes Hemd spannte ein wenig über seinem Wohlstandsbauch. Als sich Jonas näherte, blickte er auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Na, was darf es denn–“ Sein Blick traf Erik und sein Lächeln wurde noch breiter. „Das ist ja eine Überraschung! Dich hatte ich so schnell nicht mehr hier erwartet.“ Er zog Erik in eine Umarmung, so weit es die Theke zwischen ihnen zuließ. „Du hast uns jemanden mitgebracht?“

„Mhm, das ist Jonas. Jonas, das ist Hugo, einer der Besitzer des Tässchens.“

„Freut mich.“ Ein Ehering presste sich kühl gegen Jonas‘ Haut, als er Hugos Hand schüttelte. „Ich find eure Einrichtung übrigens super! So fröhlich.“

Obwohl er abwinkte, wirkte Hugo sichtlich geschmeichelt. „Und? Was bringt uns diese überraschende Ehre?“

„Marco und Drago haben zur Hausbesichtigung geladen“, erklärte Erik. „Also dachten wir, wir machen einfach einen Wochenendurlaub daraus und ich zeige Jonas mal die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Da gehört das Tässchen natürlich dazu.“

„Wann seid ihr angekommen?“

„Vor ein paar Stunden. Wir wollten einen möglichst frühen Zug nehmen, damit wir noch ein wenig was vom Tag haben.“ Während seiner Antwort hatte Erik das Tagesangebot gemustert. Das war auch Hugo nicht entgangen.

„Ach herrje, ihr müsst ja fast verhungert sein, wenn ihr den halben Tag im Zug gesessen habt. Was darf ich euch denn bringen?“

„Ich … kann mich nich‘ entscheiden“, murmelte Jonas. „Das sieht alles so super aus.“

„Soll ich euch einfach ein paar Kleinigkeiten zusammenstellen?“, bot Hugo an.

„Au ja!“ Verlegen rieb Jonas über seine Wangen und gab sich große Mühe, Eriks Kichern über seinen kleinen Freudenschrei zu überhören. In Zimmerlautstärke fügte er hinzu: „Das, äh, klingt klasse.“

Hugo lächelte breit. „Na, dann sucht euch mal ein schönes Plätzchen und ich bringe euch alles an den Tisch. Eine Tasse Earl Grey für dich, Erik?“

„Mhm, danke.“

„Und du?“, wandte sich Hugo an Jonas.

„Ähm … Cola?“

„Isst du Fleisch?“

Jonas nickte.

„Irgendwas, das du dafür nicht magst?“

„Nee, ich bin unkompliziert.“

„Alles klar, Jungs, setzt euch, ich bring euch gleich was rüber.“

Hugos Aufforderung folgend, suchten sich Erik und Jonas einen Fensterplatz ein Stück entfernt von den anderen Gästen. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen wärmten ihre Haut.

„Wie lange kennt ihr euch schon?“, fragte Jonas.

„Hugo und ich? Fast zehn Jahre.“

Der Lärm aus dem Nebenzimmer wurde lauter. Als Jonas den Grund dafür suchte, bemerkte er einen großen, sportlichen Mann in Hugos Alter, der soeben die Tür zum Jugendtreff mit der Hacke zuschlug. Der Mann schlenderte zur Theke, lehnte sich dagegen und drückte Hugo einen Kuss auf die Lippen. Dieser machte ihn wiederum mit einem Fingerzeig auf die beiden Neuankömmlinge aufmerksam und begleitete ihn – mitsamt Getränken und einer Etagere – zu ihrem Tisch.

„Zwei Besuche in einem Jahr. Jetzt übertreibst du aber“, begrüßte der Mann Erik mit einem verschmitzten Zwinkern. Auch an seiner Hand glänzte ein Ehering.

Erik schmunzelte. „Bedank dich bei Marco und Drago.“

„Oh, das werde ich.“

„Spätestens, wenn wir uns dann bald zum dritten Mal sehen“, warf Hugo ein.

„Zum dritten Mal?“

„Du, äh, weiß das noch nicht?“ Plötzlich wirkte Hugo unangenehm berührt. Sein Mann rollte unverhohlen mit den Augen.

„Ich weiß was noch nicht?“, hakte Erik nach und zog eine Braue hoch, wie er es auch bei Jonas tat, wenn sich dieser erdreistete, eine unbefriedigende Antwort zu geben.

„Och, schon gut. Das, äh, erfährst du noch früh genug.“

Offensichtlich hatte Hugos Mann entschieden, genug von der Diskussion gehört zu haben und wandte sich an Jonas. „Hi. Ich bin übrigens Manni, Hugos Mann. Was ich gelegentlich bereue, wenn er seine große Klappe mal wieder nicht halten kann.“ Dafür erntete er einen Stoß in die Rippen und ein missgelauntes ‚Pah!‘, das sich rasch in Gelächter wandelte.

„Ach, ich bin immer ganz froh, wenn ich nich‘ der einzige bin, der nich‘ weiß, wann er besser den Mund halten sollte“, sagte Jonas.

„Siehst du?“ Anklagend deutete Hugo auf seinen Mann. „Er versteht mich!“ Mit einem überraschend charmanten Lächeln richtete er seine Aufmerksamkeit auf Jonas. „Jetzt, da wir festgestellt haben, wie ähnlich wir uns sind, sollten wir ernsthaft überlegen, ob es nicht einfach das Beste für alle Beteiligten wäre, wenn wir zusammen durchbrennen und diese beiden Miesepeter hier zurücklassen. Falls du Eriks Gefühle schonen willst, kann ich auch einfach vorgeben, dich entführt zu haben.“

„Oh, ähm …“ Fieberhaft suchte Jonas nach einer witzigen Erwiderung, sah sich ob Hugos Direktheit aber ziemlich überfordert.

Am Ende war es Erik, der ihm eine Antwort ersparte, indem er leise aber deutlich sagte: „Trau dich, und sieh zu, wie weit du kommst, Hugo.“

Jonas hoffte inständig, Eriks angefressenen Gesichtsausdruck nur falsch zu interpretieren, aber es war Hugos zufriedenes Grinsen, das ihn wirklich irritierte. Bis er begriff, dass sie ihm offensichtlich gerade eine Antwort auf die ungestellte Frage nach ihrem Beziehungsstatus geliefert hatten. Jetzt bemerkte er auch das amüsierte Zucken um Eriks Mundwinkel.

Also entschied er, das Spiel mitzuspielen. „Erik, Schatz, du kannst mir leider nicht das aufregende Leben eines Café-Besitzers bieten.“

„Ich kann mich ändern!“, versicherte Erik eindringlich.

„Tut mir leid, mein Lieber …“ Hugo schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, diese Runde geht an mich.“

Verletzt verzog Erik den Mund. „Seit wann bin eigentlich ich nicht mehr deine Nummer eins?“

„Oh, Erik!“, rief Hugo, laut genug, damit auch die restlichen Gäste auf sie aufmerksam wurden. „Natürlich bist du meine Nummer eins! Aber ich muss mich doch bei dem Neuling ins Zeug legen. Du gehörst mir ja schon lange!“

Erik presste seine Hände an die Brust. „Deine poetischen Worte schaffen es immer wieder, mein Herz zu gewinnen.“

Jonas begnügte sich damit, die für sie bereitgestellten Köstlichkeiten zu inspizieren – Scones mit Clotted Cream, Marmelade, Honig, je ein Croissant, Fingersandwiches mit verschiedenen Belägen sowie frisches Obst stapelten sich vor ihm – und schnappte sich das Gurkensandwich, das viel zu köstlich aussah, um es noch länger liegen zu lassen. Kauend verfolgte er diese Karikatur eines Flirts, die Erik und Hugo gerade auf ihren komödiantischen Höhepunkt trieben. Es war schön, Erik mal so ausgelassen zu erleben.  

„Ich fürchte, wir verschrecken gerade den armen Jonas“, sagte Manni unvermittelt.

Offenbar war er nicht so unbeobachtet geblieben, wie er angenommen hatte, aber er schüttelte nur lachend den Kopf. „Nee, ich weiß doch, dass niemand mir das Wasser reichen kann.“

„Da hast du allerdings recht.“ Unter dem Tisch fand Eriks Fuß Jonas‘ Unterschenkel und strich zart darüber.

„Naja, ich sollte wohl ohnehin mal wieder nach nebenan schauen, bevor die Kids auf dumme Ideen kommen. Wir sehen uns später.“ Manni winkte noch einmal und verschwand in den Nebenraum. Hugo blieb dagegen noch bei ihnen stehen.

„Wie lange gibt‘s das Café eigentlich schon?“, fragte Jonas ihn, nachdem er einen etwas zu gut gemeinten Bissen heruntergewürgt hatte.

„Über ein Vierteljahrhundert.“ Stolz lag in Hugos Stimme und seine Brust schien anzuschwellen.

„Oh, das is‘ echt schei–schon ziemlich lang. Habt ihr es gemeinsam aufgemacht? Du und Manni, meine ich.“

Hugo schüttelte den Kopf. „Das kann man so eigentlich nicht sagen. Wir haben uns während unserer Kochausbildung kennengelernt, aber anders als ich, war Manni nie wirklich glücklich damit. Also hat er sein Abi nachgeholt, Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in der Betreuung suchtkranker Jugendlicher gearbeitet. War ein knochenharter Job und hat ihn ganz schön mitgenommen. Währenddessen habe ich irgendwann entschieden, mich an einem eigenen Café zu versuchen und als das gut genug lief, hat er gekündigt und ist miteingestiegen.“

„Dann war der Jugendtreff gar nicht von Anfang an geplant?“, fragte Jonas weiter. Irgendetwas an Manni und Hugo faszinierte ihn. Sie hatten es geschafft, ihre offene, humorvolle Art auf ihr Café zu übertragen. „Ähm, sorry, wenn ich dir grad ‘n Loch in den Bauch frag.“

„Nonsens.“ Hugo winkte ab. „Ich bin ja richtig geschmeichelt, dass sich mal jemand gebührend für mein Leben interessiert.“ Ein wenig ernsthafter fuhr er fort: „Der Jugendtreff ist, sagen wir mal, historisch gewachsen. Im Nachhinein bin ich mir selbst nicht so ganz sicher, wie das passiert ist. Wie gesagt, Manni ist in erster Linie Sozialpädagoge und erst danach Koch, aber auch, wenn das Café ursprünglich meine Idee war, hat er mich unterstützt und mitgeholfen wann immer er konnte. Himmel, ich erinnerte mich an Monate, in denen wir jeden Tag zwölf Stunden hier standen und am Ende trotzdem rote Zahlen geschrieben haben. Heute könnte ich das nicht mehr, aber damals …“ Hugo schüttelte den Kopf, ein nostalgisches Lächeln auf den Lippen. „Jedenfalls ist Manni irgendwann eine Gruppe Kinder aufgefallen, die dort“, er deutete auf die gegenüberliegende Ecke des Raums, „ihre Hausaufgaben gemacht haben und nicht weitergekommen sind. Er hat angeboten zu helfen. Sie kamen wieder. Irgendwann sind es mehr geworden und am Ende hatten wir hier sowas wie eine inoffizielle Nachmittagsbetreuung. Das war die eine Seite. Die andere war wohl, dass Manni und ich immer offen zu unserer Beziehung gestanden sind. Das war zwar in den Neunzigern nicht mehr wirklich verpönt, aber zumindest hier in der Gegend eher ungewöhnlich. Irgendwann kurz vor Ladenschluss fragte uns ein Junge, der sicher schon seit einem halben Jahr regelmäßig ins Tässchen kam, ob er mit uns sprechen könnte. Kaum waren die anderen Gäste weg, hat er uns sein Herz ausgeschüttet.“

Auch bei dieser Erinnerung lächelte Hugo, doch Schwermut lag darin. „Uns war das damals gar nicht so bewusst, aber für dieses Kind und viele, die danach kamen, waren wir die ersten offen lebenden Homosexuellen, mit denen sie in Kontakt gekommen sind. Ohne es irgendwie geplant zu haben, sind wir damit zu einem Anlaufpunkt für jeden geworden, der sich nicht als eindeutig heterosexuell identifizieren konnte. Manchmal für Fragen und Ratschläge, oft auch nur, um ihnen einen sicheren Raum zu bieten. Mit den Jahren hat sich das ausgeweitet, inzwischen arbeiten wir auch mit der Stadt und anderen Verbänden zusammen, realisieren Projekte, beschäftigen noch mindestens einen weiteren Sozialarbeiter … Aber angefangen hat alles mit einer Gruppe Kids und einer Dreisatzaufgabe.“

„Es is‘ echt der Wahnsinn, was ihr daraus gemacht habt.“ Noch immer rang das Lachen aus dem Nebenraum in Jonas‘ Ohren, sah er die Gruppe Jungen und Mädchen vor sich, die das Café betreten und sich sofort nach nebenan verzogen hatte. Keiner von ihnen dürfte älter als dreizehn gewesen sein.

„Na, wir hatten ja auch ein paar Jahre Zeit“, erwiderte Hugo bescheiden.

Jonas rechnete nach. „Wenn es das Café schon so lange gibt und Manni und du euch sogar davor schon kanntet, dann … Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Sechsunddreißig Jahre“, antwortete Hugo breit lächelnd. „Zwei Drittel meines Lebens. Himmel, ich bin sowas von alt.“

Allmählich begriff Jonas, warum Erik die beiden als Vorbilder betrachtete.

„Was ist mit euch?“, fragte nun seinerseits Hugo. „Seit wann geht das schon?“

„Ah, seit Ende Februar“, antwortete Erik.

„Also war das im Mai schon aktuell?“ Hugo betrachtete ihn mit gespieltem Entsetzen. „Und sowas erzählst du uns nicht?“

„Das war meine Schuld“, warf Jonas leise ein. „Ich wollte damals nich‘, dass irgendwer … Ich mein … ich bin nich‘ …“ Eriks Fuß, der erneut sanft über sein Bein strich, ließ ihn von seinen Händen aufblicken, das liebevolle Lächeln nahm ihm eine unsichtbare Last von den Schultern.

„Ach so“, erwiderte Hugo schlicht. Er deutete auf Jonas leeres Glas. „Willst du noch was?“

Jonas nickte, froh, keine Nachfragen beantworten zu müssen. „Danke.“

Erik beugte sich näher zu ihm. „Niemand verurteilt dich.“

„Doch. Ich selbst zum Beispiel.“

„Zu Unrecht. Du bist gerade mal zwanzig, das ist noch verflucht jung, um von sich zu erwarten, sich selbst zu kennen, zu akzeptieren und das auch noch in die Welt zu tragen.“

„Du konntest es“, widersprach Jonas.

„Ich hatte ganz andere Startbedingungen.“

„Marco–“

„Ist ein Fall für sich“, würgte Erik ihn ab. „Du bist nicht Marco und das musst du auch nicht sein. Dein Weg ist genauso gut.“

Jonas seufzte. „Ich stand mal vor einer ähnlichen Einrichtung wie hier. Bin extra allein mit dem Zug nach München gefahren, weil ich“, er suchte nach den richtigen Worten, „Anschluss gesucht habe, schätze ich. Oder Verständnis. Keine Ahnung, den ganzen Scheiß halt. Am Ende stand ich davor und hab mich nich‘ reingetraut. Hab mich … ich weiß auch nich‘ … nich‘ zugehörig gefühlt. Wie ein Betrüger, der gar nich‘ wirklich … Nich‘ wirklich … Ach, was weiß ich. Ich kann’s dir nich‘ mal jetzt wirklich erklären. Bin dann jedenfalls wieder gefahren, ohne einen Fuß reingesetzt zu haben. Hat nich’ grad geholfen, mein Selbstbewusstsein zu heben.“ Er lächelte schief. „Wenn es da auch nur ansatzweise so war wie hier, hab ich echt scheißviel verpasst.“

„Oder einfach scheißviel nachzuholen.“ Zwinkernd stellte Hugo das volle Colaglas vor Jonas ab, verschwand aber, bevor dieser etwas darauf erwidern konnte.

Nach einem üppigen Essen und dem Versprechen, vor ihrer Abreise noch einmal wiederzukommen – ein Versprechen, das Jonas sehr gerne gab – fanden er und Erik sich in der milden Abendsonne wieder.

„Also?“, fragte Jonas. „Was steht als nächstes an?“

„Ich könnte dir das Haus zeigen, in dem ich aufwachsen bin“, schlug Erik vor. „In der Nähe gibt es auch einen schönen Park.“ Er strich über seinen Bauch. „Ich glaube, mir täte ein Spaziergang ganz gut.“

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sechsunddreißig Kapitel hat es gedauert, um euch Manni und Hugo vorzustellen :0
Zugegeben, hier nehmen sie eine ziemlich kleine Rolle ein, aber sie waren ein wichtiger Teil von Eriks (und ganz besonders Marcos) Jugend. Auf welche geheimnisvollen Neuigkeiten könnte Hugo angespielt haben? Das erfahrt ihr dann nächste Woche ;)
Ich habe heute spontan einen erheblichen Teil des Dialogs umgeschrieben. Sagt mir also bitte Bescheid, falls euch hier Fehler auffallen sollten.

Wie immer vielen Dank für all die lieben Rückmeldungen, Klicks und Favs. Habt ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2018-07-30T20:19:05+00:00 30.07.2018 22:19
Echt Klasse, Hugo und Manni! Mir gefällt es sowieso sehr gut, wie viel Raum du Nebenfiguren gewährst,das hilft beim Aufbau eines kleinen Universums und macht die Geschichte viel realistischer ;) und hoffentlich wird Jonas' Selbstbewusstsein durch solche Bekanntschaften ermutigt. Er wird durch Erik noch nette Bekanntschaften schließen, hoffe ich - eine neue 'Familie', in der er offen seine Beziehung und Sexualität leben kann. Wäre zumindest schön ;)
Antwort von:  Noxxyde
30.07.2018 22:45
Das freut mich sehr :)
Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob ich nicht zu viele Nebenfiguren einbaue und die Leser damit verwirre, bzw. die Geschichte unnötig in die Länge ziehe, aber sie lässt sich ohne einfach nicht erzählen. Außerdem habe ich alle zu gerne gewonnen, um sie rauszukürzen ^^;
Von:  Usaria
2018-05-05T12:09:21+00:00 05.05.2018 14:09
Schönes Kapitel. Na da bin ich mal gespannt was die beiden noch so in Stuttgart erleben. Hmm! Steht da etwa eine Hochzeit bei Marko und Drago an? Dies wäre der einzige Grund weshalb Erik zum 3x nach Stuttgart kommen sollte. Freue mich schon auf das nächste Kapitel

Noch ein schönes WE, Usaria
Antwort von:  Noxxyde
06.05.2018 00:26
Hey :)

Hmm, das wäre vielleicht eine Möglichkeit, aber wer weiß das schon so genau? :D
Die Antwort darauf gibt es im, äh, ich bin mir gar nicht sicher, ob es nicht erst das übernächste Kapitel ist ...

Danke, dir auch!
LG Noxxy
Von:  Kerstin-san
2018-05-05T08:19:23+00:00 05.05.2018 10:19
Hallo,
 
also die Idee mit dieser ganz persönlichen Stadtführung von Erik zu seinen Lieblingsorten find ich echt cool. Das Café wirkt richtig familiär und urig. Hmm, jetzt bin ich natürlich sehr gespannt, zu welchem Anlass es Erik demnächst nochmal nach Stuttgart verschlagen sollte (hab da schon so eine Idee im Hinterkopf^^).
 
Mal schauen, welche besonderen Plätze Erik sonst noch so in petto hat, aber am meisten bin ich jetzt schon auf das Abendessen mit Eriks Tante gespannt. Ob die Dame wirklich so schrecklich ist, wie Erik immer tut und wie Eriks Familie wohl auf Jonas reagieren wird?
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  Noxxyde
06.05.2018 00:25
Hey :)

Ich bin gespannt, ob sich deine Idee als richtig rausstellt ;)

Erik wird Jonas auch im nächsten Kapitel einen Teil seiner Vergangenheit zeigen (unter anderem auch einen, den er so vermutlich nicht geplant hatte). Das Essen mit seiner Familie wird wohl auch nochmal interessant, Jonas selbst ist ja auch schon sehr gespannt darauf. Und ein wenig nervös :D

Danke für das Review!

LG Noxxy


Zurück