Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 32 ---------- Was zuletzt geschah: Ein einziger Augenblick kann alles verändern. Sei es die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, ein zufälliges Treffen, oder auch ein Autounfall. Erik hat alles davon schon am eigenen Leib erfahren und Jonas nach bangen Stunden nicht heil, aber wenigstens lebendig vor sich zu sehen, lässt seinen Beschützerinstinkt Überstunden machen. Seine erste Maßnahme liegt darin, Jonas ein Dach über dem Kopf anzubieten, dass er sich nicht mit seinen aggressiven Nachbarn teilen muss.   Kapitel 32 Die Eingangstür klickte und gleich darauf die zur Küche. Schwerfällig, mit vielen Pausen und leisen Flüchen, wälzte sich Jonas aus dem Bett und folgte dem Blubbern des Wasserkochers. „Morgen“, nuschelte er verschlafen. Erschrocken wirbelte Erik herum, beinahe wäre ihm die Packung mit losem Tee aus den Händen gerutscht. „Habe ich dich geweckt?“ Jonas schüttelte den Kopf. Etwas zu heftig. Er verzog das Gesicht. „Kann eh nich‘ richtig schlafen. Tut weh.“ „Immer noch so schlimm?“ Jonas nickte. Erst in der Nacht zuvor hatte er Erik gebeten, ihn einfach gleich nach der Schließung des Clubs abzuholen, da er ohnehin kein Auge zubekam. Wozu also bis zum Nachmittag warten? „Hast du deine Schmerztabletten genommen?“ Wieder nickte Jonas. „Sitzen geht. Liegen und bewegen nich‘ wirklich. Und ich tu beides, wenn ich versuch zu schlafen.“ „Willst du dich ein bisschen zu mir auf die Couch setzen?“, bot Erik an. „Erfahre ich jetzt, was du so nach der Arbeit treibst, bevor du ins Bett verschwindest?“ „Mhm. Und ich verspreche dir, du wirst enttäuscht sein.“ Erik goss heißes Wasser in seine Tasse. „Teebeutel“, murmelte Jonas. „Hm?“ „Du hast den Teebeutel vergessen.“ „Oh.“ Rasch befüllte Erik ein butterblumengelbes Tee-Ei. Der Duft nach Earl Grey breitete sich in der Küche aus. „Komm, ab ins Wohnzimmer mit dir.“   „WILLST DU MICH VERARSCHEN?“ Abwechselnd deutete Jonas zwischen dem Fernseher und Erik hin und her. Dass sich sein Brustkorb dabei anfühlte, als zöge jemand glühenden Draht mittendurch, nahm er in diesem Fall in Kauf. „Nein“, erwiderte Erik schlicht. Entsetzt starrte Jonas ihn an. „Du … du hast immer noch nich‘ alle Folgen von Lost gesehen?“ „Nein“, wiederholte Erik. „Und jetzt … Jetzt guckst du dir jeden Scheißmorgen genau eine Folge an, bevor du ins Bett gehst?“ „Das hast du gut erkannt.“ „Niemals mehr?“ „Niemals mehr.“ „Egal wie spannend?“ „Egal wie spannend.“ Ungläubig blinzelte Jonas. „Bist du überhaupt ein Mensch? Wer hat denn bitte so ‘ne Selbstdisziplin?“ Erik zuckte mit den Achseln. „Ich mag es eben, wenn ich mich nach der Arbeit noch auf etwas freuen kann.“ Geschickt half er Jonas, das Kissen in dessen Rücken zurechtzurücken und drapierte anschließend die kuschelige Wolldecke um seine Schultern. So eingemummelt war die Couch derzeit deutlich bequemer als das Bett und Jonas seufzte erleichtert auf, weigerte sich aber, das Thema schon fallen zu lassen. „Eine Folge pro Tag … Den Scheiß kann ich immer noch nich‘ glauben.“ „Glaub es ruhig. Aber wehe, du verrätst mir auch nur eine Szene. Dann schmeiße ich dich hochkant aus meiner Wohnung und meinem Leben.“ „Du meinst, wenn ich dir jetzt erzähl, dass Sayid–“ Unter Eriks warnenden Blick verstummte Jonas, aber das Grinsen blieb auf seinem Gesicht. Er lehnte sich gegen seinen Freund und war eingeschlafen, noch bevor die großen, weißen Lettern den Titel der Serie verkündeten.   „Larissa könnte mir ein altes Handy leihen, bis meins aus der Reparatur kommt.“ Jonas blickte vom Küchentisch auf und zu Erik, der damit beschäftigt war, seine Einkäufe einzuräumen. Es störte ihn, dass die ganze Arbeit an Erik hängen blieb, aber auch wenn er protestiert hatte, war ihm insgeheim doch bewusst, dass die verordnete Schonfrist tatsächlich nötig war. „Kann sie es vielleicht morgen hier vorbeibringen?“ „Natürlich.“ Erik drehte sich um. „Hast du Hunger?“ „Ich würd nich‘ ‚Nein‘ sagen.“ Unbeholfen versuchte Jonas, seine SIM-Karte aus Eriks Handy zu friemeln, aber was mit zwei gesunden Händen schon schwierig war, war mit der Linken allein nahezu unmöglich. „Fuck!“ „Lass mich dir h–“ „Ich schaff das schon!“, giftete Jonas, nur, um gleich darauf frustriert das Handy an Erik weiterzureichen. „Sorry, ich … Ich hasse das hier. Also nich‘, dass ich hier bin, sondern, dass ich zu nix fähig bin. Nich‘ mal in die Uni kann ich, weil ich es kaum schaffe, die Treppen rauf und runter zu laufen, geschweige denn neunzig Minuten auf einem dieser scheißdrecks Stühle zu hocken. Ich brauch sogar Hilfe beim An– und Ausziehen, wenn der Scheiß keine drei Stunden dauern soll!“ Erik gab Jonas die SIM-Karte zurück. „Jetzt warte doch mal ein paar Tage. In einer Woche sieht das sicher schon wieder ganz anders aus.“ „Ja, klar.“ „Wirklich“, versicherte Erik. „Du wirst nicht die vollen zwei Monate so bewegungslos sein. Jeden Tag wird es ein bisschen besser.“ „Ich hoffe, du hast recht“, murrte Jonas. „Das hoffe ich auch.“ Als Erik Jonas‘ Seitenblick bemerkte, schmunzelte er amüsiert. „Für unser beider geistiger Gesundheit.“ „Arsch.“ „Mhm.“ „Ich wusste gar nich‘, dass du kochen kannst.“ Interessiert beobachtete Jonas Erik beim Tomatenwürfeln. „Denkst du wirklich, ich hätte die letzten zehn Jahre von Fertigpizza gelebt?“ „Ähm ... Ja?“ Erik lachte. „Ich gestehe, dass ich lieber backe als koche, aber verhungern muss ich trotzdem nicht.“ „Was gibt’s denn?“ „Nudeln mit Tomatensoße.“ Als Erik Jonas‘ Kichern hörte, drehte er sich um. „Hey! Keine Witze, bis du probiert hast!“ Das Messer in seiner Hand blitzte gefährlich. „Auch einfaches Essen kann toll schmecken.“ „Klar doch.“ Jonas runzelte die Stirn. „Kann ich dir echt nich‘ helfen?“ „Nein“, sagte Erik bestimmt. „Aber du kannst mich nach dem Essen daran erinnern, den Zweitschlüssel von meiner Nachbarin zu holen.“ „Wozu?“ „Ah, weil du das Haus vielleicht auch mal verlassen willst, wenn ich gerade nicht da bin, um dich anschließend wieder reinzulassen?“ „Oh. Stimmt.“ Jonas‘ Wangen wurden heiß. Ein Zweitschlüssel. Erik vertraute ihm seinen Zweitschlüssel an. „Danke.“ Zur Antwort beugte sich Erik nach unten, hauchte einen Kuss auf Jonas‘ Lippen und stupste dann frech mit der Zunge dagegen. Jonas streckte sich in seine Richtung, so weit seine Verletzungen das zuließen. Erst, als das Nudelwasser vernehmlich blubberte, lösten sie sich voneinander. „Toll“, murrte Jonas. „Jetzt hab ich Schmerzen und bin geil.“ „Und so wird das die nächsten zwei Monate auch weitergehen.“ „Hast du nich‘ grad gesagt, dass diese Scheißschmerzen bald nachlassen?“ „Naja, gut. Die Schmerzen wohl schon“, räumte Erik ein. „Der Rest …“ Er beendete seinen Satz mit einem vielsagenden Lächeln. „Du planst jetzt aber nich‘, mich die nächsten Wochen schmoren zu lassen?“ „Doch, so ähnlich sah mein Plan in der Tat aus.“ „Arsch.“ „Das hatten wir heute schon.“ Zur Antwort streckte Jonas Erik die Zunge raus und setzte ihn anschließend auf seine innere Ignore-Liste. Träge blinzelte er in das hereinscheinende Sonnenlicht, lauschte dem Klappern des Geschirrs und entschied, die kommenden Tage einfach zu genießen, anstatt sich darüber zu ärgern, so eingeschränkt zu sein. Auf zweimonatige Enthaltsamkeit hatte er dennoch keinen Bock, darüber mussten sie definitiv nochmal reden. Erik testete eine Nudel. Offenbar zufrieden mit dem Ergebnis, goss er das Wasser ab. „Probier mal.“ Bevor Jonas eine Chance hatte, von seinem Stuhl aufzustehen und selbst zum Herd zu gehen, wurde ihm einen Kochlöffel voll sämiger, leuchtendroter Soße vor die Nase gehalten. Vorsichtig kostete er. Fruchtig. Ein Hauch Schärfe, eine Ahnung Süße. Jede Menge Sommer und Sonne. „Das is‘ … echt scheißlecker.“ „Mhm.“ „Okay, los. Sag’s schon.“ „Ich hab‘s dir ja gleich gesagt.“ Wäre Eriks Lausbubengrinsen nicht so unwiderstehlich gewesen, Jonas hätte auf seine gebrochenen Rippen geschissen und diesem arroganten Arsch mit Wucht gegens Schienbein getreten. So begnügte er sich mit einem grimmigen Grummeln und wartete darauf, dass ein gut gefüllter Teller in seine Reichweite gelangte. Wenigstens hatte Erik daran gedacht, Nudeln zu kaufen, die Jonas halbwegs würdevoll mit nur einer Hand auf seine Gabel schaufeln konnte. „Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie’s in Stuttgart war.“ Jonas bereute die Worte in der Sekunde, in der er sie ausgesprochen hatte. Wie sollte so ein Grabbesuch schon sein? Hauptsache, er hatte es einmal mehr geschafft, den Finger auf offene Wunden zu legen. „Nicht viel anders als in den Jahren davor“, erwiderte Erik. Er schien sich weit weniger an der Frage zu stören als Jonas. „Abgesehen davon, dass ich nicht bei meiner Tante war. Was …“, er neigte den Kopf, „eigentlich weiß ich nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Es war einfach okay, denke ich. Ich soll dir übrigens schöne Grüße von Drago und Marco ausrichten.“ „Oh, danke. Sag ihnen auch schöne Grüße, falls du demnächst mal mit ihnen sprichst.“ „Mach ich. Soll ich Marco auch gleich in deinem Namen dafür danken, dass er mir beigebracht hat, Tomatensoße zu kochen?“ „Das is‘ sein Verdienst?“, fragte Jonas. „Mhm. Wenn er sich nicht erbarmt h–“ Erik stockte. „Tut mir leid. Ist es unangenehm für dich, wenn ich über unsere Vergangenheit spreche?“ Verdutzt schluckte Jonas den aktuellen Bissen Nudeln herunter. „Ähm, nee. Eigentlich gar nich‘.“ „Sicher?“, hakte Erik nach. Obwohl seine Antwort bereits feststand, tat Jonas Erik den Gefallen und horchte noch einmal gründlich in sich hinein. „Ganz sicher. Ich mein, wär es nich‘ viel komischer, wenn du mir nich‘ von ihm erzählst? Als hättest du was zu verbergen? Und außerdem … Ich vertrau dir. Ich kann mir einfach nich‘ vorstellen, dass du dich auf mich eingelassen hättest, wenn du eigentlich noch Gefühle für jemand ganz anderen hast.“ Jonas zuckte mit den Schultern und bereute es sofort. Als der Schmerz abgeflaut war, fuhr er fort: „Vielleicht bin ich auch gnadenlos naiv, du ein Arsch und am Ende geht alles ganz fürchterlich zum Teufel, aber darauf lass ich’s wohl einfach ankommen.“ Schweigend lauschte Erik Jonas‘ kleiner Ansprache und am Ende zeichnete sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen ab. „Was?“, fragte Jonas misstrauisch. „Nichts“, antwortete Erik kopfschüttelnd. Er stand auf. „Ich hole mal den Ersatzschlüssel.“ Als Erik wenige Minuten später zurückkehrte, hatte Jonas das Gefühl, dass da mehr in ihm vorging, als er preiszugeben bereit war noch immer nicht abgeschüttelt, aber noch zu keiner Entscheidung gefunden, ob er ihn darauf ansprechen sollte. Wofür er sich entschieden hatte, war eine zweite Portion Nudeln. „Sie scheint gerade nicht da zu sein“, sagte Erik. „Ich lasse ihr einen Zettel im Briefkasten, wenn ich gehe, dann kann sie dir den Schlüssel später vorbeibringen.“ „Okay.“ Eriks Blick fiel auf Jonas‘ vollen Teller. „Hättest du gewartet, hätte ich für dich nachgefüllt.“ Jonas konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Eine Reaktion, die Erik nicht entging. „Ich bin gerade ziemlich überfürsorglich, oder?“ „Japp.“ „Tut mir leid.“ „Schon gut.“ Im Grunde konnte Jonas Erik das kaum übelnehmen. Sogar er selbst war erschrocken, als er sich an diesem Morgen zum ersten Mal richtig im Spiegel betrachtet hatte. Die linke Hälfte seines Gesichts war aufgeschrammt und geschwollen, seine Haut entweder käsebleich oder schwarzblau verfärbt. Der Gips an seinem Unterarm war monströs und auch, wenn sich Jonas bemühte aufrecht zu stehen, stimmte irgendetwas mit seiner Körperhaltung nicht.   Wieder besänftigt, bedeutete er Erik, näher zu kommen, küsste seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen. „Ich weiß ja, dass du dir bloß Sorgen machst. Und ich sag dir dann schon, wenn du nervst.“ Damit zauberte er wieder dieses kleine Lächeln auf Eriks Gesicht. Nicht wirklich glücklich, aber es war ein Anfang.   „Also, ich gehe dann.“ Jonas blickte von seinem Buch auf. Nicht, dass er wirklich darin gelesen hätte. Ihm war noch immer schwummrig und sobald er sich zu lange auf die Buchstaben konzentrierte, meldete sich diese verdammte Übelkeit wieder. Dasselbe galt blöderweise auch, wenn er im Internet surfte oder fernsah, also waren seine Beschäftigungsmöglichkeiten begrenzt. Erik stand im Türrahmen, trug Hemd, Weste und Kontaktlinsen als Symbole seines anderen Ichs. Eines Ichs, das – mehr noch sich selbst als anderen – jeden Tag aufs Neue beweisen musste, dass er in seinem Beruf bestehen konnte. Dass er abgeklärt war und sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Keine Schwächen hatte, schon gar keine, die für andere sichtbar waren. Jonas dachte darüber nach, wie sehr sich seine Perspektive in den vergangenen Monaten verschoben hatte. Anfänglich hatte er sich nach genau diesem kühlen, dominanten Mann verzehrt, bis hin zu echter Enttäuschung, als ihm das erste Mal bewusst geworden war, dass der in dieser Form gar nicht existierte. Dass niemand Jonas an der Hand nehmen und durchs Leben führen würde, frei von eigenen Entscheidungen, frei von eigenen Fehlern. Jetzt wartete Jonas nur darauf, dass Erik nach Hause kam, seinen Panzer aus Perfektion ablegte und sich an ihn schmiegte. „Jonas?“, fragte Erik, augenscheinlich von seinem Schweigen irritiert. „Ist alles in Ordnung?“ „Oh, ähm, ja.“ Jonas lächelte verlegen. „Sorry, bin bloß abgeschweift. Dann isses wohl Zeit, dir gute Nacht zu wünschen. Um“, er warf einen Blick auf Uhr des alten DVD-Players, „kurz nach acht. Daran muss ich mich noch gewöhnen.“ „Wahrscheinlich wecke ich dich ohnehin wieder versehentlich, wenn ich nach Hause komme.“ „Ich glaub, das findest du schlimmer als ich. Außerdem hab ich ja jetzt mein Kissennest. Nich‘mal Babykätzchen und Hundewelpen könnten kuscheliger sein.“ Mit Eriks Hilfe hatte Jonas seine Seite des Bettes mit genug Kissen und Decken ausstaffiert, um die Nacht eher sitzend als liegend verbringen zu können und damit seine Chancen auf etwas Schlaf erhöht. „Und wenn’s so auch nich‘ klappt, weiß ich auch nich‘ weiter. Dann muss ich wohl einfach hoffen, dass meine Rippen heilen, bevor ich an Schlafmangel krepiere.“ „So weit wird es hoffentlich nicht kommen.“ Erik drückte Jonas einen Abschiedskuss auf die Lippen. „Und nicht vergessen: Falls es klingelt, ist das vermutlich meine Nachbarin wegen des Schlüssels.“ „Okay.“ Unruhig verlagerte Jonas sein Gewicht. „Kannst du … kannst du meine Lederjacke mitnehmen, wenn du gehst?“ „Wozu?“ „Um sie wegzuschmeißen. Ich selbst bring’s einfach nich‘ übers Herz, aber anziehen kann ich sie halt auch nich‘ mehr.“ Dank seiner lückenhaften Erinnerung wusste Jonas nicht sicher, was mit der Jacke passiert war, aber abgesehen von einigen Abschürfungen im Leder, zog sich ein langer Riss durch den rechten Ärmel. Er musste der Wahrheit ins Auge sehen: Das Ding war Schrott. „Meine Mutter mag Männer in Lederjacken nich‘“, plapperte er vor sich hin, ohne sich selbst wirklich zuzuhören. „Deshalb hat sie sich immer geweigert, mir eine zu kaufen. Ich weiß gar nich‘ mehr, an wie vielen Geburtstagen und Heiligabenden ich enttäuscht auf mein Geschenk geguckt hab, weil nich‘ das drin war, was ich eigentlich wollt. Also hab ich über ein Jahr lang gespart, um sie mir selbst kaufen zu können. Scheiße, das klingt wahrscheinlich völlig lächerlich, aber ich war so stolz drauf. Irgendwie war das eins der ersten Dinge, die ich mir so richtig selbst erarbeitet hatte. Ich mein, mein Abi is‘ ‘n Witz. Grad, dass ich überhaupt bestanden hab und ohne Maria wär das sicher nix geworden. Und sonst? Gab’s auch nich‘ viel. Aber jeden Monat den Großteil vom Taschengeld zurückzulegen … Sonderschichten im Apfelbäumchen zu schieben, sobald ich alt genug dafür war … So lange, bis ich endlich hatte, was ich wollte … Ich hab mich irgendwie erwachsen dabei gefühlt. Verantwortungsbewusst.“ „Verstehe“, sagte Erik langsam. „Ich nehme sie mit.“ „Danke.“ Jonas fühlte nicht, was er sagte.   Die Klingel riss Jonas aus seiner eher angestrengten Lektüre der Angewandten Mikroästhetik. „Verfickte scheißdrecks …!“ Unflätig fluchend kämpfte er sich von seinem bequemen Platz auf der Couch nach oben und schlurfte zur Tür. Es klingelte ein weiteres Mal. „Is‘ ja gut“, zischte er. „Lasst doch dem Invaliden ‘n bisschen Zeit.“ Eine Spur ruppiger als geplant riss er die Eingangstür auf und wurde dafür prompt mit einem stechenden Schmerz belohnt, der ihm einmal durch Mark und Bein fuhr und sämtliche Luft aus seinem Körper trieb. „Fuck!“ „Mensch Jung, watt hast du denn anjestellt?“ Mit zusammengebissenen Zähnen hob Jonas den Kopf. Vor ihm stand die alte Dame, deren Tüten er vor ein paar Wochen in den zweiten Stock getragen hatte und musterte besorgt sein zerschrammtes Gesicht. „Autounfall“, presste er hervor. „Bist ja janz blass um de Nase!“, rief sie alarmiert. „Geht gleich wieder“, versicherte er und atmete einige Male durch. Nicht zu tief, da sich das anfühlte, als sprengte er seinen eigenen Brustkorb, aber ausreichend, um seinen Herzschlag zu beruhigen. „‘Tschuldigung, falls ich Sie erschreckt habe.“ „Ach, Jung. Dett braucht schon watt mehr.“ Sie streckte ihre kleine, faltige Hand aus und öffnete sie. Darin lag ein schlichter Edelstahlschlüssel, identisch zu dem, der an Eriks Schlüsselbund hing. „Ick nehm an, der is für dich jedacht.“ „Isser. Danke.“ Unschlüssig drehte Jonas den Schlüssel in den Händen. Sollte er die Nachbarin hereinbitten? Es schien höflich, das zumindest anzubieten, aber das war immer noch Eriks Wohnung. „Bleibste länger?“, fragte sie. „Bloß ein paar Tage. Bis ich mich ‘n bissl besser bewegen kann.“ „Dett is awa schade. Dett Haus braucht mehr junges Jemüse. Janz besonders so nettes.“ „Ich will Eriks Gastfreundschaft nich‘ überstrapazieren“, erwiderte Jonas ausweichend. Die alte Dame lachte. „Na, da würd ick mir an deener Stelle mal keene Jedanken machen.“ So lächerlich es war, die Überzeugung in ihrer Stimme ließ Jonas‘ Herz hüpfen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)