Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 31 ---------- Was zuletzt geschah: Wie immer wartet Gutes und Schlechtes in Berlin. Jonas‘ Nachbarn treiben weiter ihre Spielchen und ihn damit in Eriks Arme – ein Umstand, den beide zu nutzen wissen. Eine gemeinsame Nacht führt zu einem gemeinsamen Morgen, der eine Menge neuer Erfahrungen bereithält.   Kapitel 31 Du, 13:43 Uhr hat alles geklappt?   Erik, 13:54 Uhr Überraschend gut. Der Anschlusszug hatte das perfekte Timing. Wenn jetzt nichts mehr schiefgeht, bin ich in ein paar Stunden endlich wieder in Berlin. Und bei dir ;)   Du, 14:02 Uhr also bleibts bei sieben?   Erik, 14:03 Uhr Definitiv ;) Ich werde pünktlich (und hungrig) vor deiner Tür stehen.   Du, 16:08 Uhr ich und mein köstliches essen erwarten dich!   Du, 16:08 Uhr falls ich nich gleich öffne, einfach weiterklingeln. hab etwas schlafmangel.   Du, 16:08 Uhr nachbarn waren diese nacht mal wieder extranervig.   „Immer diese jungen Leute, bei denen das Handy schon an der Hand festgewachsen ist“, tadelte Larissa grinsend. „Sorry, wichtiger organisatorischer Scheiß.“ Rasch ließ Jonas sein Handy in der Hosentasche verschwinden. „Wo is‘ denn jetzt diese blöde Galerie? Wir sin‘ eh schon zu spät dran.“ Stirnrunzelnd sah sich Larissa um und warf nun ihrerseits einen Blick auf ihr Handy, wohl in der Hoffnung, Google Maps könnte diese Frage beantworten. „Ich glaube … Ich glaube, wir müssen nur noch auf die andere Straßenseite.“ Sie deutete auf das sandfarbene Gebäude gegenüber. „Dann los!“ Ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfend, wartete Jonas an der roten Ampel. Er stürmte los, sobald sie auf Grün sprang los. „Pass auf!“ Larissas Stimme schien von weit her zu kommen, doch das Quietschen der Reifen war ganz nah. Ein Schlag. Etwas brach. Schmerz. Dann wurde alles dunkel.   Erik legte eine Hand an seine Brust und glaubte, darunter sein Herz flattern zu fühlen. Wann hatte er sich das letzte Mal so darauf gefreut, jemanden wiederzusehen? Gut, als Jonas endlich aus Bayern zurückgekommen war, hatte er sehr ähnlich empfunden. Aber davor? Das war lange her. Fast schon nervös drückte er die Klingel und wartete auf das erlösende Summen des Türöffners, das ihn einen Schritt näher zu den ausdrucksstarken Augen und dem herzhaften Lachen bringen würde, in das er sich so Hals über Kopf verliebt hatte. Dreißig Sekunden später überlegte er, wie lange man warten musste, bevor ein zweites Klingeln nicht mehr als unhöflich und übereilt galt. Jonas‘ Wohnung war winzig, wenn er nicht gerade im Bad beschäftigt war, würde er kaum so lange brauchen. Erik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Obwohl er von der Garage des Tix‘ zu Fuß gelaufen war und dann noch einmal eine Runde um den Block gedreht hatte, war er noch immer fünf Minuten zu früh. Vielleicht hatte er Jonas tatsächlich überrumpelt. Dennoch klingelte er ein weiteres Mal. Und wartete. Und wartete. Bis er sich an Jonas‘ Warnung erinnerte. Eigentlich hatte Erik diese als Witz aufgefasst, aber wenn Jonas‘ Nachbarn ihn tatsächlich wieder die halbe Nacht wachgehalten hatten, war es nicht unwahrscheinlich, dass er sich tatsächlich noch einmal hingelegt hatte und nun tief und fest schlief. Kurzentschlossen drückte Erik die Klingel erneut. Länger und penetranter dieses Mal, aber auch das brachte nicht den ersehnten Erfolg. Seufzend holte er sein Handy aus seiner Manteltasche und wählte Jonas‘ Nummer. Ohne ein einziges Freizeichen, sprang sofort die Mailbox an. Das war ungewöhnlich. „Hey, ich bin’s. Erik. Ah, ich stehe vor deiner Tür, aber entweder ist deine Klingel kaputt, oder du hörst sie einfach nicht. Ich laufe jetzt mal eine Runde um den Block, damit du Zeit hast, wachzuwerden und dann versuche ich es nochmal. Bis gleich.“ Zehn Minuten später war er zurück, aber das Ergebnis blieb dasselbe. Niemand öffnete, Jonas‘ Handy war ausgeschaltet. Erik hob die Hand, um zum dritten Mal zu klingeln, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken. Was, wenn Jonas gar nicht öffnen wollte? Vielleicht hatte er genug von Erik, saß mit abgeschaltetem Handy in seiner Wohnung und hoffte, dass er endlich aufgab und verschwand? Resolut schob Erik diesen Gedanken fort. Abgesehen davon, dass es keinen Grund gab, so etwas anzunehmen, wäre es nicht Jonas‘ Art, ihre Beziehung auf diese Weise zu beenden. Sicher lag er einfach friedlich schlafend auf seinem Bett und das Ladekabel seines Handys, das er noch schnell hatte anstecken wollen, bevor der Akku endgültig leer ging, vergessen daneben. Ein letztes Mal drückte Erik die Klingel und wartete eine angemessene Sekundenzahl, bevor er entschied, sich vorerst zurückzuziehen.   Du, 19:12 Uhr Hey, du Schlafmütze ;) Ich setze mich mal in das Café ein Stück die Straße runter und versuche nach einer Tasse Tee nochmal, dich aus deinem Dornröschenschlaf zu wecken. Bis gleich ;)   So wirklich wollte der grüne Tee nicht schmecken. Nach jedem vorsichtigen Schluck wanderte Eriks Blick zu seinem Handy, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, in der Hoffnung, eine neue Nachricht aufleuchten zu sehen. Aber auch nach der zweiten Tasse blieb das Display schwarz, seine Anrufe unbeantwortet und die Tür zu Jonas‘ Hausgang fest verschlossen.   Du, 21:18 Uhr Entschuldige, ich konnte nicht mehr länger warten. Musste zur Arbeit. Bitte melde dich kurz bei mir, sobald du meine Nachricht liest, damit ich weiß, dass bei dir alles in Ordnung ist.   Ruhelos tigerte Erik in seinem Büro auf und ab. Es war nach zwei Uhr morgens und er hatte noch immer nichts von Jonas gehört. Warum hatte er nicht einfach die ganze Woche Urlaub nehmen können? Oder wenigstens heute noch? Wer arbeitete denn gleich an dem Tag weiter, an dem er eine sechsstündige Zugfahrt hinter sich gebracht hatte? Erik seufzte. Die Antwort war klar. Er. Weil er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, hätte er es nicht getan. Weil er nicht daran gewöhnt war, auch mal etwas Besseres zu tun zu haben, als sich hinter Studium und Arbeit zu vergraben. Völlig unabhängig davon, hätte ein freier Tag ohnehin nichts an seiner Situation geändert. Auch dann würde Jonas nicht antworten. Auch dann gab es nichts, was er tun konnte. Er hätte lediglich mehr Zeit, sich in seine Ängste zu steigern. Jemand klopfte kräftig gegen seine Bürotür. Gleich darauf schob sich Toms massive Gestalt überraschend elegant in den Raum. „Wollt dir nur sagen, dass uns grad ein Gast auf die Tanzfläche gekotzt hat.“ „Sehr schön“, murrte Erik verstimmt. „Hat er sonst noch Stress gemacht?“ Tom lachte. „Nee. Mona hat ihm einen Wischmopp in die Hand gedrückt und er ist grad dabei, alles brav sauberzumachen.“ „Ah, gut.“ „Das ist alles?“, fragte Tom. „Da dachte ich, ich sorg mal für ein bisschen Ablenkung bei dir und du hast nicht mal ein müdes Lächeln für die Vorstellung übrig, dass Mona ‘nen Gast mit dem Wischmopp verfolgt?“ „Entschuldige, ich bin gerade mit den Gedanken woanders.“ Erik merkte, wie verspannt er war. Rasch glättete er die Falten auf seiner Stirn, zwang seine Finger von seinen Hemdsknöpfen abzulassen und versuchte, wie der verantwortungsvolle Mitarbeiter in Führungsposition auszusehen, der er war. Er konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Schon gar nicht gegenüber dem Chef der Security und Ehemann der Clubbesitzerin. Aber Tom hatte Erik nicht nur gute fünfzehn Jahre Lebenserfahrung voraus, sondern auch eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Glücklicherweise besaß er daneben auch so etwas wie Taktgefühl. „Langer Tag?“ „Mhm, könnte man so sagen. Ich bin heute erst aus Stuttgart zurückgekommen.“ Erik war froh, um die Ausrede, die ihm seine Reise lieferte. „Was hat dich denn von einer Stadt wie Berlin nach Stuttgart getrieben?“, fragte Tom, der offenbar nichts gegen einen kurzen Pausenplausch einzuwenden hatte. „Familienbesuch“, antwortete Erik ausweichend und Tom war klug genug, nicht weiter nachzufragen. „Heut ist übrigens echt wenig los. Wenn du dich nicht bei der letzten Getränkebestellung völlig verkalkuliert hast, oder spontan jemand tot umfällt, glaube ich kaum, dass noch ein Notfall eintritt. Das Absperren können meine Jungs und ich problemlos übernehmen. Falls du also etwas früher abhauen willst, nimmt dir das sicher keiner übel.“ Eriks Blick wanderte zu der Kostenkalkulation, die keine zehn Minuten benötigen sollte und jetzt schon seit einer Stunde auf ihre Fertigstellung wartete. „Hm. Mal sehen.“ „Na, überleg‘s dir. Ich geh dann mal wieder vor. Bis später.“ „Mhm.“   Am Ende war Erik bis zum Schluss geblieben und hatte danach noch beim Zusammenräumen geholfen. Alles, um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er auch in den frühen Morgenstunden noch nichts von Jonas gehört hatte. Jetzt saß er auf seiner Couch, zwang sich, nicht ständig sein Handy zu kontrollieren und versuchte verzweifelt, die neueste Folge einer Serie zu genießen, die ihn gerade nicht weniger interessieren könnte. Egal, wie oft er sich vorsagte, dass seine Sorgen unbegründet waren und es sicher eine ganz einfache Erklärung für die Funkstille gab, immer wieder kehrten die Erinnerungen an die Nacht vor zwölf Jahren zurück. Eriks anfängliche Freude, als seine Eltern nicht wie angekündigt am frühen Abend von ihrem Wochenendtrip zurückgekommen waren und er die sturmfreie Zeit noch etwas länger genießen konnte. Seine mit fortschreitender Stunde wachsende Unruhe. Die Erklärungsversuche, weshalb weder seine Mutter, noch sein Vater auf seine Anrufe reagierten. Das ungute Gefühl, als er schließlich weit nach Mitternacht schlafen gegangen war. Der Anblick seiner leichenblassen Tante, die ihn zusammen mit zwei Polizisten und einer auf Krisenintervention spezialisierten Psychologin am nächsten Morgen aus dem Bett geklingelt hatte. Erik sprang auf. Er konnte keine Sekunde länger stillsitzen.   Der Teigklops landete auf der Arbeitsfläche und erzeugte dabei das Geräusch einer platzenden Made, die mehr gefressen hatte als gut für sie gewesen war. Erik grub die Finger in den Teig und knetete als hinge sein Leben davon ab. Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Zeit reichte, den Teig in Ruhe gehen zu lassen und das Brot zu backen, bevor er zur Arbeit musste. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen und endlich das Rezept für den Sauerteigansatz ausprobieren, das er neulich gelesen hatte. So konnte er einen Teil der Wartezeit überbrücken, ohne untätig rumsitzen zu müssen. Widerstrebend wanderte sein Blick von seiner Uhr weiter zu seinem Handy. Nichts. Wie erwartet. Immerhin hatte er es geschafft, beinahe acht Minuten nicht hinzusehen. Das musste ein neuer Rekord sein. Eriks Nachrichten an Jonas blieben ungelesen, seine Anrufe wurden von der Mailbox beantwortet. Es war schwierig gewesen, sich einzureden, dass Jonas noch immer schlief, als Erik gegen sieben Uhr morgens endlich ins Bett gegangen war. Nahezu unmöglich, als drei Stunden später sein erster Blick nach dem Aufwachen seinem Handy gegolten hatte. Jetzt, am späten Nachmittag, kämpfte Erik konstant gegen die aufwallende Panik. Sein Brustkorb war zu eng und die Luft schien jeglichem Sauerstoff beraubt. Erneut wälzte er seine Möglichkeiten, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass diese mehr als begrenz waren. Es gab keinen Festnetzanschluss, auf dem er sein Glück hätte versuchen können und er kannte weder Jonas‘ Freunde noch Verwandte. Sämtliche Krankenhäuser Berlins durchzutelefonieren war eine Tagesaufgabe und wenn er ehrlich zu sich selbst war, ertrug er den Gedanken nicht, dass eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung seine Befürchtungen bestätigte. Und die Polizei? Würden sie nach so kurzer Zeit überhaupt ermitteln? Oder den Fall einfach zu den Akten legen, bis sich weitere Personen aus Jonas‘ Umfeld meldeten? Wütend schmetterte Erik den Brotteig auf die Arbeitsfläche. Warum hatte er sich auf Jonas eingelassen? Wie hatte er nur so dumm sein können? Das war die Strafe dafür, dass er jemanden so nahe an sich herangelassen hatte! Schuldgefühle lösten seinen Zorn ab. Zerfloss er gerade wirklich in Selbstmitleid, während Jonas möglicherweise in ernsten Schwierigkeiten steckte? Wenn er verletzt war. Wenn er– Die Klingel gönnte dem Brotteig eine kurze Pause von Eriks unbarmherzigen Händen. Ungeduldig gegen den Türrahmen trommelnd, wartete Erik auf den unangemeldeten Besucher. Hatte er etwas bestellt? Nein, daran würde er sich erinnern. Zeugen Jehovas? Um diese Zeit unwahrscheinlich. Einen Augenblick lang fürchtete er, es könnte die Polizei sein. Aber das war unrealistisch – im Fall eines Unfalls würde Jonas‘ Familie informiert, nicht der Freund, von dem so gut wie niemand wusste. Wer auch immer da zu ihm kam, er nahm sich mehr als genug Zeit dafür. Nach einer Weile hörte Erik schlurfende Schritte und angestrengte Atmung. Kurz darauf erschien ein dunkler Haarschopf am Treppenabsatz. Ein Haarschopf, der ihm nur zu bekannt war. In seiner Eile hätte Erik beinahe die Haustür hinter sich zufallen lassen und sie beide ausgesperrt. Im letzten Augenblick kickte er seinen Hausschuh zwischen Tür und Rahmen, bevor er zu Jonas hastete, der mit hängendem Kopf versuchte die Stufen zu bewältigen. „Fuck … Du bist … derjenige … von uns beiden … der … ‘ne neue … Wohnung … braucht.“ Kraftlos sank Jonas in Eriks ausgestreckte Arme. „Dritter Stock … ohne … verfickten Aufzug … geht echt gar … nich‘.“ Der Rucksack, den er bis eben verbissen umklammert hatte, fiel zu Boden. Erik wollte Jonas an sich drücken, ihn festhalten und in Sicherheit wissen, besann sich angesichts dessen Zustands jedoch eines Besseren und legte lediglich eine Hand auf den Arm, der nicht in einem dicken Gips steckte. „Was ist passiert?“   Jonas antwortete nicht sofort, sondern holte einige Male tief Luft und konzentrierte sich auf die Nähe seines Freundes, bis das bestialische Pochen in seinem Kopf erträglicher wurde. Erik schien darum bemüht, gefasst zu wirken, aber die Finger, die sich schmerzhaft in Jonas‘ Oberarm krallten, verrieten die Scharade. „So’n Wichser konnte Rot und Grün nich‘ auseinanderhalten und hat seine Motorhaube mit mir dekoriert“, sagte er schließlich. „Is‘ jedenfalls das, was man mir erzählt hat. Kann mich nich‘ wirklich erinnern. Nur, dass ich über die Straße wollte. Und dann war ich im Krankenhaus. Könnte auch schwören, was vom Sanka mitbekommen zu haben, aber vielleicht bild ich mir das auch bloß ein. Jedenfalls“, er deutete auf die Platzwunde an seinem Kopf, „sechs Stiche.“ Sein Finger fuhr seinen Körper hinab. „Zwei gebrochene Rippen.“ Weiter über bis zu seinem Unterarm. „Der is‘ auch durch. Natürlich der rechte, wie sollt’s auch anders sein. Außerdem isses glaub ich einfacher, die Flecken an meinem Körper zu zählen, die nich‘ blau sin‘.“ Jonas war sich nicht sicher, ob Erik ihm überhaupt zuhörte, redete aber dennoch weiter. „Die haben mich vierundzwanzig Stunden dabehalten, wegen der Gehirnerschütterung. Sorry, dass ich mich jetzt erst meld. Mein Handy hat’s nich‘ überstanden und ich bin zu verwöhnt, um noch irgendwelche Nummern auswendig zu lernen.“ Eriks hatte das Gesicht in Jonas‘ Halsbeuge gedrückt, sein Atem ging abgehackt. Sanft streichelte Jonas mit seinem gesunden Arm über den Rücken seines Freundes. Jenes Freundes, der seine Eltern bei einem Autounfall verloren hatte. Jenes Freundes, der am ganzen Körper zitterte. Jenes Freundes, der verzweifelt bemüht war, das Schluchzen zu bekämpfen, das so eindeutig an Jonas‘ Ohr drang. „Shh. Is‘ ja gut. Mir geht’s gut. Es tut kaum weh. Nur, wenn ich liege. Oder sitze. Oder atme.“ Erik ließ nicht erkennen, ob Jonas‘ Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern von Erfolg gekrönt gewesen war. Was vermutlich ‚Nein‘ bedeutete. „Ähm … kann ich vielleicht reinkommen? Stehen is‘ auch nich‘ so super.“ Wenigstens das schien Erik aus seiner Starre zu lösen. Rasch richtete er sich auf, drehte den Kopf zur Seite und wischte auffallend unauffällig über seine Augen. „Entschuldige. Natürlich kannst du reinkommen.“ Nach kurzem Zögern fragte er: „Bist du gleich vom Krankenhaus hierher?“ „Japp. Ich hatte schon befürchtet, dass du dir Sorgen machst. Nochmal sorry.“ „Ich bin einfach nur froh, dich zu sehen.“ Bereitwillig war Jonas Erik in die Wohnung gefolgt, blieb beim Anblick der Küche jedoch im Türrahmen stehen. Der Raum sah aus, als wäre eine Bombe darin detoniert. Überall lag Mehl verteilt, mit Teigresten bekleckerte Schüsseln, Löffel und Backformen stapelten sich in der Spüle. „Du warst … fleißig.“ „Ich war nervös“, erklärte Erik peinlich berührt. „Das sind die Überreste meiner Versuche, mich irgendwie abzulenken. Ah, völlig unabhängig davon … Lust auf frische Muffins?“ Jonas ignorierte das flaue Gefühl in seinem Magen, von dem die Ärzte gesagt hatten, dass es noch eine Weile anhalten konnte. „Vielleicht sollt ich öfter mal ‘n paar Stunden verschwinden, wenn ich zur Belohnung Muffins bekomm.“ „Untersteh dich.“ Erleichtert stellte Jonas fest, dass Erik deutlich gefasster wirkte als noch vor wenigen Minuten. „Hey, ähm, isses okay für dich, wenn ich hier bleib, bis du zur Arbeit fährst? Ich weiß, ich lad mich grad selber ein, aber die Fahrt hierher war echt anstrengend und die zu mir is‘ nochmal ‘n ganzes Stück länger. Vielleicht wenigstens, bis der scheiß Berufsverkehr halbwegs gelaufen is‘ und ich nich‘ mehr ständig Gefahr laufe, irgendwelche Ellenbogen abzubekommen?“ „Du kannst solange bleiben, wie du willst“, antwortete Erik und stellte Jonas einen Korb offensichtlich frischer und absolut köstlich duftender Muffins vor die Nase, bevor er sich wieder dem Teigklops auf seiner Arbeitsfläche widmete. Jonas nutzte den Moment, in dem Erik nicht hinsah, um sich an den Tisch zu setzen. Er wusste, dass er das nicht schaffen würde, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Bewegung schmerzte noch mehr als Stillstehen und das war schon schlimm genug. Ungeduldig wartete er, bis er schlimmste Schmerz verflogen war und er genussvoll in einen der Muffins beißen konnte. „Fuck, die sin‘ echt gut.“ Unglücklicherweise bedeuteten Kauen und Schlucken wieder Bewegung. Zu seinem Leidwesen würde Jonas es wohl bei einem Muffin belassen müssen. „Ist Karotte mit Cheesecakefüllung und Frischkäsetopping“, erwiderte Erik. Er deckte den Teigklops ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jonas. Sorgenfalten zerfurchten seine Stirn. „Wie fühlst du dich?“ Hätte es nicht so wehgetan, hätte Jonas mit den Schultern gezuckt. „Erschöpft. Irgendwie schwummrig. Mein Kopf hat wohl doch ‘n bissl was abbekommen. Die Übelkeit is‘ zum Glück ziemlich abgeklungen. Und die haben mir Schmerztabletten mitgegeben.“ „Stehen Operationen an?“ „Nee, zum Glück komm ich wohl ohne aus. Jedenfalls wenn’s jetzt nich‘ ganz beschissen läuft. Die Rippen tun echt scheißweh, sollen aber von allein heilen. Die Gehirnerschütterung auch. Beim Arm is‘ nix verschoben und der Rest sin‘ nur ‘n paar oberflächliche Schrammen und blaue Flecke. In zwei Monaten sollte ich wieder fit sein. Ich hab bloß keine Ahnung, wie ich mich bis dahin mit links rasieren soll.“ Erik strich über Jonas‘ bereits stoppeliges Kinn. „Ich finde, das steht dir ganz gut.“ „Dann lass ich’s vielleicht einfach wuchern.“ Spielerisch biss Jonas in die Finger, die sich seinen Lippen näherten. „Die Scheiße is‘ aber, dass ich die nächsten Wochen Sexverbot hab.“ „Wie bitte?“ Schockiert nahm Erik einige Schritte Abstand. „Und das sagst du mir erst jetzt? Unter diesen Umständen hätte ich dich doch nie in meine Wohnung gelassen!“ „Wenn’s nich‘ so scheißweh tät, würd ich jetzt ‘nen Muffin nach dir werfen. Okay, würd ich nich‘. Wär Verschwendung. Dafür esse ich sie einfach ganz allein auf.“ Lachen schmerzte, aber das war Jonas egal. Wichtig war nur das zarte Lächeln auf Eriks blassen Lippen.   „Du hättest wirklich nich‘ noch mit hoch kommen müssen. Meinen Rucksack hätte ich schon allein tragen können.“ „Vielleicht“, sagte Erik in einem Ton, der deutlich machte, dass er nicht daran glaubte. Das Dumme war, dass er damit vermutlich auch noch richtig lag. „Aber ich fühle mich wohler, wenn ich dich sicher in deiner Wohnung weiß.“ Jonas‘ Erwiderung erstarb auf seiner Zunge, als er die neuen Schmierereien auf seiner Wohnungstür entdeckte. Auch Erik hatte sie bemerkt. Als er sprach, klang seine Stimme rau. „Mir war nicht klar, wie schlimm es wirklich ist.“ Das hätte er auch nie erfahren sollen. Immer wieder kritzelten die Nachbarn auf Jonas‘ Tür und immer wieder übersprühte er den Dreck, sobald er Zeit dazu fand. Spätestens, bevor Erik bei ihm auftauchte. Die Tür musste inzwischen fünf Zentimeter dicker sein als bei seinem Einzug. Jonas wusste, dass diese Heimlichtuerei im Grunde sinnlos war, aber etwas in ihm weigerte sich, Erik über die wahren Ausmaße des Psychoterrors, den seine Nachbarn seit einigen Wochen veranstalteten einzuweihen. Das machte die Sache zu real. Allerdings hatte er nun offensichtlich keine andere Wahl mehr. „Bin echt froh, wenn ich hier weg bin. Wenn ich bloß mal ‘ne halbwegs bezahlbare Wohnung finden würd.“ Schweigend starrte Erik auf die Tür, die Lippen ein schmaler Strich, die Falte zwischen seinen Brauen überdeutlich. „Willst du nicht für ein paar Tage zu mir ziehen?“, fragte er unvermittelt. „Zu dir?“, wiederholte Jonas überrascht. „Wenigstens, bis die Rippenbrüche verheilt sind. Du kannst ja kaum die Arme heben, geschweige denn Einkäufe nach Hause tragen oder Ähnliches. Das allein ist doch schon umständlich genug. Dazu die Sache mit deinen Nachbarn. Es gefällt mir nicht, dass sich das immer weiter aufzuschaukeln scheint.“ Erik zupfte an seinem Mantelärmel. „Ah, ich weiß, dass meine Arbeitszeiten etwas unglücklich sind, aber ich könnte auf der Couch schlafen, wenn ich nach Hause komme, oder mir ein Klappbett fürs Büro besorgen.“ Er blickte auf, als Jonas eine Hand auf seine legte. „Solang du versprichst, dass du‘s mir sagst, wenn ich dir auf’n Sack geh, komm ich gern mit zu dir. Und du musst sicher nich‘ auf der Couch pennen.“ „Magst du dann ein paar Sachen packen und ich hole dich morgen gegen Mittag ab?“ „Okay.“ Unter der gelassenen Oberfläche, war Jonas‘ Herz kurz davor, seine ohnehin schon schmerzende Brust zu sprengen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)