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Raupe im Neonlicht

von

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Kapitel 28

Was zuletzt geschah:

Jonas harrt weiterhin in seinem Elternhaus in Bayern aus, ohne sich dort wirklich zuhause zu fühlen. Genervt von seiner Passivität beschließt er, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und verabredet sich mit seiner Jugendliebe Clemens zum Skifahren, um eine fast vergessene Freundschaft neu aufleben zu lassen. Der Tag verläuft nicht völlig schmerzfrei, aber glücklicherweise ohne Knochenbrüche. Gut gelaunt lässt sich Jonas überzeugen, den Abend zusammen mit Clemens bei ein paar Bier ausklingen zu lassen. Dabei wagt er sich an eine Herausforderung, gegen die sich eine Schwarze Piste wie der Kinderhügel anfühlt – er erzählt Clemens von Erik und wird für seinen Mut mit Akzeptanz und Freundschaft belohnt.

 

Kapitel 28

Schnuppernd hielt Jonas die Nase ins Esszimmer, dicht gefolgt von Christine und Maria.

Der berühmte Schweinebraten in Dunkelbiersoße seines Vaters duftete himmlisch, grüne Bohnen und mit geröstetem Weißbrot gefüllte Kartoffelknödel rundeten das Bild ab. Der wenige freie Platz, den der Küchentisch noch bot, wurde von gegrilltem Wurzelgemüse, Blaukrautsalat und Semmelknödelauflauf besetzt. Gedämpftes Licht, das sich in den Gläsern brach, sorgte für einige urige Atmosphäre, mit der Jonas‘ Meinung nach kein noch so schickes Berliner Lokal mithalten konnte.

„Fuck, wer soll’n das alles essen?“, fragte er.

„Challenge accepted!“, rief seine Schwester grinsend und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

„Du fängst erst an, wenn alle an ihrem Platz sitzen!“, schimpfte ihre Mutter aus der Küche.

„Jawohl, Mutter!“, brüllte Christine – deutlich lauter als nötig – zurück.

„Und Jonas, nochmal so ein Wort und du brauchst dir keine Gedanken mehr machen, wer das alles isst. Du bist es dann nämlich sicher nicht!“

„‘Tschuldige, Mama“, murrte Jonas über das Kichern seiner beiden Begleiterinnen hinweg. Er nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf sein Handy zu werfen und konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Erik hatte ihm das Foto einer Tiefkühlpizza geschickt, auf deren Karton ein mit einem traurigen Smiley bekritzeltes Post-It klebte. Zur Antwort schoss Jonas ein Foto des aufwändig gedeckten Esstischs.

„Hast du kleiner Hipster gerade wirklich dein Essen fotografiert?“, fragte Christine entsetzt.

„Jonas, leg dein Handy weg!“, forderte sein Vater, während er die Getränke von der Küche ins Esszimmer trug. „Wir wollen essen.“

„Mit wem schreibst du überhaupt die ganze Zeit?“, fragte seine Mutter.

„Einem, ähm, Freund.“

„Der, von dem du mir schon erzählst hast?“, bohrte sie weiter. „Der bei dir ums Eck arbeitet?“

„Jaah. Genau der.“ Jonas konnte Marias und Christines Blicke auf sich spüren. „Und ich hab ihm nur gezeigt, wie toll ich hier bekocht werd.“

„Was soll der Aufwand eigentlich?“, fragte Christine. „Man sollte meinen, ihr wüsstet euren einen freien Tag in der Woche besser zu schätzen.“

„Wir müssen es doch ausnutzen, wenn mal wieder die ganze Familie versammelt ist“, erklärte ihr Vater lächelnd und zwinkerte Maria zu. Ein kalter Schauer jagte über Jonas‘ Rücken und dem Gesichtsausdruck seiner Schwester nach zu urteilen, war er nicht er einzige, der einen größeren Plan hinter diesem Essen witterte.

„Ihr werdet verkuppelt“, wisperte sie hinter vorgehaltener Hand.

„Bitte nicht“, seufzte Maria und Jonas schloss sich ihrem Flehen still an.

„Worüber redet ihr?“, fragte Vroni; entrüstet, dass sie wie so oft von ihren älteren Geschwistern ausgeschlossen wurde.

„Darüber, wie lecker das Essen ist“, sagte Jonas schnell. Das stimmte zwar, aber allzu oft konnte er diese Ausrede am heutigen Abend nicht mehr verwenden. Irgendwann würden sogar seine Eltern misstrauisch werden.

„So, Maria.“ Das überfreundliche Lächeln seiner Mutter war gruselig. „Was macht das Studium?“

 

Ein üppiges Abendessen – begleitet von einem noch üppigeren Verhör – später, versteckten sich Jonas, Christine und Maria im ausgebauten Speicher vor weiteren unangenehmen Fragen.

Stöhnend ließ sich Christine auf ihr Bett fallen und rieb über ihren gut gefüllten Magen. „Okay Jonas, Zeit für ein paar ehrliche Antworten.“

Jonas sank noch etwas tiefer in den mit blauem Kunstpelz bezogenen Sitzsack. Er hatte eine Ahnung, was gleich kommen würde.

„Wie zum Teufel hast du zwei Portionen Nachtisch geschafft?“, wollte Christine wissen. „Ich hatte nicht einmal eine Halbe und bin kurz vorm Platzen!“

„Entschlossenheit“, antwortete Jonas schlicht. Er war sich sicher gewesen, gleich über Erik ausgehorcht zu werden, aber anscheinend hatte er sich getäuscht.

„Du hast echt was aus dem Speicher gemacht, seit ich das letzte Mal hier war“, stellte Maria bewundernd fest. Sie war die einzige, die sich noch keinen Platz zum Faulenzen gesucht hatte. Stattdessen stand sie auf der Bodenklappe in der Mitte des Raums und sah sich neugierig um.

„Du weißt doch, Maria. Groß genug, damit jemand darin übernachten kann, sollte sie länger bleiben wollen. Zum Beispiel, weil diese Person sich dazu entschieden hat, doch eine Fernbeziehung mit meinem lieben Bruder zu wagen und die Zeit, die beide in Bayern sind, nutzen möchte.“

Jonas rollte mit den Augen. „Ich glaub, mein persönliches Scheißhighlight war Mums Erzählung von ihrer Freundin, deren Mann im Ausland arbeitet ‚aber sie schaffen es trotzdem zusammenzubleiben, weil sie sich lieben und füreinander gemacht sind‘.“

„Ehrlich?“, fragte Maria. „Nicht die ‚früher haben wir noch an unseren Beziehungen gearbeitet‘ Tirade deiner Oma?“

„Nee“, winkte Jonas ab. „Die lässt sie sowieso etwa einmal pro Woche ab.“

„Schön fand ich aber auch das Verhör von Dad, wann du denn planst Kinder zu bekommen, wenn du mindestens fünf Jahre bis zum Master brauchst und danach vielleicht sogar promovieren möchtest“, warf Christine ein.

Stöhnend barg Maria das Gesicht in den Händen und nuschelte: „Erinnere mich bitte nicht daran.“

Während Christine damit beschäftigt war, Maria im selben Atemzug aufzumuntern wie aufzuziehen, warf Jonas einen verstohlenen Blick auf sein Handy.

„Aha!“, rief Christine triumphierend. „Schon wieder! Eigentlich wollte ich ja warten, bis du selbst mit der Sprache rausrückst, aber jetzt hast du es versaut! Jetzt musst du einfach erzählen, wer dieser ‚Freund‘ ist, von dem Mum vorhin gesprochen hat!“

„Oh. Ähm, naja …“ Verlegen strich Jonas eine Strähne aus seiner Stirn, konnte aber nichts gegen das Lächeln unternehmen, das sich klammheimlich auf sein Gesicht stahl. „Vielleicht isser ‘n bissl mehr als ‚ein Freund‘.“

„Ich wusste es!“, quietschte Christine. „Seit wann? Wie heißt er? Was macht er? Wie sieht er aus? Wie habt ihr euch kennengelernt? Und warum bist du“, anklagend deutete sie auf Maria, „nicht überrascht?“

„Weil die Sache nicht so neu ist, wie Jonas jetzt tut“, antwortete diese.

„Was?“

Maria warf Jonas einen langen Blick zu und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sich auch bei ihr diese schmale Falte zwischen den Brauen bildete, wenn sie mit etwas unzufrieden war. „Willst du es erzählen, oder soll ich?“

„Was erzählen?“ Fragend blickte Christine zwischen den beiden hin und her. „Kommt schon Leute, hört mit der Geheimniskrämerei auf!“

„Sein Name is‘ Erik“, sagte Jonas, ohne Maria aus den Augen zu lassen. „Er ist Verwaltungsleiter eines Clubs in Berlin und wir haben uns kennengelernt, als ich mich dort beworben hatte. Das war im Oktober. Danach hatten wir mehr oder weniger regelmäßigen Kontakt. Wirklich nähergekommen sind wir uns Anfang des Jahres und kurz bevor ich hierhergefahren bin, haben wir beschlossen, es offiziell zu machen.“

Christine schlug die Hände vor den Mund. „Awww!“ Sie zupfte an seinem Ärmel. „Los, ich will Fotos sehen!“

„Oh, ähm, ich glaub … Ich glaub, ich hab gar kein Foto von Erik.“ Darüber war Jonas mindestens so überrascht wie seine Schwester.

„Du hast ein paar Dinge ausgelassen“, unterbrach Maria die Unterhaltung kühl.

Fragend wandte sich Jonas ihr zu. „Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel, dass er dir am Anfang deutlich gemacht hat, nicht mehr als Sex zu wollen. Und, dass er davon erst abgerückt ist, als klar war, dass du dieses Spielchen nicht länger mitspielst. Und selbst dann hat er es noch geschafft, dich eine komplette Woche schmoren zu lassen, bis er sich gnädigerweise dazu herabgelassen h–“

„Das reicht jetzt, Maria“, unterbrach Jonas sanft. „Ich weiß, dass du das so siehst, aber damit tust du Erik unrecht. Und mir auch. Ich bin kein kleines Kind, das man vor sich selbst und dem bösen Wolf beschützen muss. Ja, da sin‘ ein paar Sachen schiefgelaufen und wir werden an uns arbeiten müssen, wenn es funktionieren soll. Das wissen wir selbst. Wir sind bereit, das zu tun, weil wir wollen, dass es funktioniert. Ich weiß auch, dass du dir nur Sorgen machst und dafür kann ich dir kaum böse sein. Aber wenn du wirklich willst, dass es mir gutgeht, dann komm zu uns nach Berlin. Gib Erik eine Chance, lern ihn kennen und wenn du ihn dann immer noch scheiße findest, reden wir nochmal drüber. Bis dahin, will ich kein böses Wort mehr über ihn hören.“

Einige Atemzüge lang herrschte überraschtes Schweigen. Am Ende war es Christine, die es brach. „Mein Brüderchen ist erwachsen geworden.“

Röte schoss in Jonas‘ Wangen. „Ich war nie anders!“

Maria sagte nichts.

Jonas sah sie an, fragte hoffungsvoll: „Also? Kommst du nach Berlin?“

Sie schüttelte den Kopf. „Jonas, ich–“

„Bitte. Nicht nur, damit du Erik kennenlernst. Einfach, weil’s scheißgut wär, dich mal wieder bei mir zu haben.“

Wieder verfiel Maria in Schweigen, aber Jonas kannte sie gut genug, um zu sehen, dass ihr Widerstand schrumpfte.

„Bitte“, wiederholte er noch einmal.

Endlich gab Maria ein geschlagenes Seufzen von sich. „Okay. Ich kann dir noch nicht versprechen, wann genau, aber ja, irgendwann komme ich nach Berl– AH!“ Maria lachte auf, als Jonas sie von den Füßen riss und im Kreis wirbelte. „Lass mich sofort runter, du überschwänglicher Riesenwelpe! Ich nehme alles zurück! Und Christine irrt sich, du bist kein bisschen erwachsener geworden!“

Nachdem er sie noch ein wenig hatte protestieren lassen, setzte Jonas sie wieder auf den Boden. „Oh, und ich hab’s nach dem Skiausflug neulich Clemens erzählt. Also, das mit Erik und mir.“

„Ehrlich?“, fragte Christine. „Wie hat er reagiert? Er kann ja manchmal schon ein unsensibler Idiot sein.“

„Da scheinen sich ja alle einig zu sein“, erwiderte Jonas grinsend. „Nee, er hat echt scheißgut reagiert. Tausendmal besser als befürchtet und wenigstens hundertmal besser als erwartet und … und ich denk, ich bin so weit, es Mum und Dad zu erzählen. Vielleicht einen Tag bevor ich wieder abhaue oder so. Dann haben wir Zeit zum Quatschen, aber wenn’s scheiße läuft, müssen wir‘s nich‘ so lang miteinander aushalten.“ Seine Hand umfasste Marias. „Und, ähm, ihr würdet mir echt helfen, wenn ihr dabei wärt. So als moralische Unterstützung und so.“

Dieses Mal war Maria diejenige, die Jonas in die Arme zog und schon bald gesellte sich auch Christine dazu. „Sag einfach wann und wir sind da“, versprach sie.

 

Nachdem Maria wieder nach München gefahren war und seine Schwestern sich in den Speicher zurückgezogen hatten, lag Jonas im Bett und nutzte die Ruhe, um Erik auf den neuesten Stand zu bringen.

 

Erik, 00:12 Uhr

Klingt, als täte dir der Urlaub zuhause richtig gut :)

 

Du, 00:13 Uhr

schon irgendwie. auch wenns zuerst nich danach aussah

 

Du, 00:13 Uhr

aber ich bin auch froh, wenn ich wieder zurückkomm

 

Du, 00:13 Uhr

auf dauer isses mir dann doch echt zu langweilig

 

Erik, 00:13 Uhr

Ein Glück.

Du würdest mir schon sehr fehlen ;)

 

Erik, 00:14 Uhr

Schon eine Ahnung, wann du ungefähr zurückkommst?

 

Du, 00:14 Uhr

mitte nächster woche. die ticktes sind schon gekauft

 

Du, 00:15 Uhr

am abend davor sag ich meinen eltern, dass ich schwul bin

 

Erik, 00:19 Uhr

Gratuliere, das ist ein großer Schritt :)

 

Du, 00:20 Uhr

danke

 

Du, 00:20 Uhr

ich sollt wohl langsam schlafen. muss morgen wieder im apfelbäumchen helfen

 

Du, 00:20 Uhr

schlaf gut. du musst ja morgen auch wieder ran

 

Erik, 00:21 Uhr

Zum Glück erst abends.

Dir auch eine gute Nacht :)

 

Zu Jonas‘ Entsetzen, war die letzte Woche seines Aufenthalts wie im Flug vergangen und ehe er es sich versah, saß er erneut zusammen mit Christine, Maria und seinen Eltern am Tisch. Seine Großmutter war vor einer Weile mit Vroni in ihr Zimmer verschwunden, nachdem letztere über Bauchschmerzen geklagt hatte. Damit war der perfekte Zeitpunkt gekommen, seinen Eltern jenes Geheimnis zu verraten, das er die vergangenen Jahre so verzweifelt vor ihnen zu verbergen versucht hatte.

Nervös schob Jonas seine letzte Erbse von einer Seite des Tellers zur anderen. Jetzt oder nie. Jetzt oder nie. Jetzt oder …

„Ach, ich habe gestern übrigens mit Tante Claudia telefoniert“, erzählte seine Mutter niemand Speziellem. „Angelika ist jetzt wirklich mit dieser Frau zusammengezogen.“

Jonas ließ seine Gabel sinken. Angelika war eine Cousine irgendeines Grades, mit der er so gut wie nie zu tun gehabt hatte, die aber, soweit er wusste, die Einzige in der Familie war, die sich jemals offen als bisexuell geoutet hatte. Unnötig zu erwähnen, dass ihre Eltern davon nicht besonders begeistert gewesen waren.

„Wirklich?“, fragte sein Vater. „Naja, ich denke, das wird sich schon wieder auflösen. Gib dem mal ein paar Monate, dann hat sich das erledigt.“

„Vermutlich“, stimmte seine Mutter zu. „Aber stell dir vor, wenn nicht! Muss schon hart sein, wenn das eigene Kind … Die sind jetzt natürlich das Thema im Dorf. Claudia ist das schon sehr unangenehm. Und Enkel kann sie sich auch erstmal abschminken.“

„Sie könnten adoptieren“, murmelte Jonas.

„Ich bitte dich!“ Sein Vater verdrehte die Augen. „Ein Kind braucht Mutter und Vater. Schlimm genug, dass inzwischen so viele Ehen auseinandergehen, da muss man wirklich nicht no–“ Donnernd krachte ein Stuhl zu Boden.

„IHR SEID UNMÖGLICH!“

Alle Augen richteten sich auf Christine. Ihr Atem ging schnell, ihre Hände waren zu Fäusten geballt, sie zitterte vor Wut. „Denkt ihr auch mal zwei Sekunden nach, bevor ihr so eine Scheiße absondert?“

„Christine!“, protestierte ihre Mutter. „Was soll denn das?“

„Was das soll?“, rief Christine außer sich. „Ich sag dir, was d–“

„Christine“, bat Jonas leise. „Beruhig dich.“

Sie stoppte, warf jedem der Anwesenden einen grimmigen Blick zu und stürmte aus dem Esszimmer.

„Was, in drei Teufels Namen, hatte das denn zu bedeuten?“, wollte Jonas‘ Vater wissen.  

Jonas warf wiederum seine Gabel auf den Teller und stand auf. „Ich werd mal nach ihr sehen.“ Als er das Zimmer verließ, hoffte er inniglich, dass niemand seinen wackligen Gang, seine tauben Finger und Beine bemerkte.

Die Speichertreppe war hochgezogen, die Klappe geschlossen. „Christine?“, rief Jonas nach oben. „Darf ich raufkommen?“

Ein Knarren, die Klappe ging auf und die verborgene Trittleiter entfaltete sich elegant, bis die unterste Sprosse knapp vor Jonas‘ Füßen den Boden berührte. Christine stand vor ihrem Bett, die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Füße tappten ungeduldig auf den Teppich. Bei Jonas‘ Anblick wurden ihre Züge weicher. „Sorry“, nuschelte sie schuldbewusst. „Ich hätte nicht so ausflippen dürfen.“

„Schon okay. Hat mir wenigstens ‘nen Grund gegeben, da wegzukommen.“

„Ihr könnt mich nach so einer Nummer doch nicht allein bei euren Eltern zurücklassen!“, zischte Maria, die heimlich die Speichertreppe erklommen hatte. Mitfühlend sah sie zu Jonas. „Alles klar bei dir?“

„Jaah. Ja, denk schon.“ Jonas zwang ein freudloses Lächeln auf sein Gesicht. „Ich würd mal sagen, das is‘ richtig beschissen gelaufen. Fuck.“ Er fuhr sich durchs Haar, schloss für einige Sekunden die Augen. „Mädels, ich wär ganz gern ein bisschen allein. Werd ‘ne Runde laufen gehen oder so. Später komm ich wieder zu euch hoch, ja?“

Er ging, bevor er eine Antwort erhalten hatte.

 

Die kalte Luft, die Jonas entgegenschlug, war wundervoll – wie ein kühles Tuch auf einem entzündeten Mückenstich. Er hatte seine alte Kondition überraschend schnell wiedererlangt und erreichte den Waldrand ohne Mühe. Der Lichtkreis seiner Stirnleuchte tanzte über den Boden, erleuchtete gefrorene Erde, Tannennadeln und knorrige Zweige.

Jonas hatte es seinen Eltern nicht gesagt. War das schlimm? Feige? War es wirklich ein Problem, damit noch länger zu warten? Einen Monat? Ein Jahr? Den Rest eines Lebens? Seine Eltern würden sich nicht ändern. Ihre Meinung würde sich nicht ändern.

Das war jetzt egal. Hier im Wald war alles egal. Nur der nächste Schritt zählte.

 

Nach Atem ringend beugte sich Jonas nach vorne, stützte die Hände auf den Knien ab. Er hatte sich übernommen, war nicht locker gelaufen, sondern verzweifelt geflüchtet. Er sollte umkehren. Aber noch nicht. Noch nicht.

 

Aus dem Speicher hörte Jonas gedämpfte Stimmen, doch sie schienen weder Maria noch Christine zu gehören. Er lauschte, bis er sicher war, dass lediglich der Fernseher lief. Auch wenn er versprochen hatte, bald zurückzukommen, wollte er im Moment niemanden sehen. Weder seine Geschwister, noch Maria und ganz besonders nicht seine Eltern. Leise zog er sich in sein Zimmer zurück. Einen Augenblick lang fürchtete er, Vroni könnte es wieder für sich beansprucht haben, aber es war leer, das Bett so ungemacht, wie er es in der Früh verlassen hatte.

Jonas streckte sich darauf aus und ließ seinen brennenden Lungen einige Minuten Zeit, sich zu beruhigen, bevor er einen Blick auf sein Handy warf. Larissa hatte versucht, ihn anzurufen. Schon wieder. Sie hatte irgendwann in der vergangenen Woche damit angefangen und seither nicht mehr aufgehört. Jeden Tag hatte er mindestens drei verpasste Anrufe, es schien sie auch nicht zu stören, dass er sie wegdrückte, wann immer er rechtzeitig auf sein Handy sah. Er hatte keinen Nerv, mit ihr zu sprechen, aber er brachte es auch nicht über sich, sie dauerhaft zu blockieren.

Jonas‘ Finger schwebte über seiner Kontaktliste. Schließlich überwand er sich und wählte Eriks Nummer.

„Hey!“

„Hi … Stör ich dich grad?“

„Nein, gar nicht“, versicherte Erik.

„Oh, okay. Gut.“ Jonas biss sich auf die Lippe. Er hatte Eriks Stimme hören wollen, aber jetzt wusste er nicht, was er ihm erzählen sollte.

„Übermorgen habe ich meine letzte Klausur“, brach Erik das kurze Schweigen. „Und ich dachte, wir könnten danach etwas unternehmen. Zur Feier, dass ich es überstanden habe und du wieder in Berlin weilst. Du hast ja auch noch frei, oder?“

„Ich muss wieder im Café arbeiten“, antwortete Jonas tonlos. „Aber erst ab Samstag. Hab versprochen, als Ausgleich zu meinem Spontanurlaub die nächsten Wochenendschichten zu übernehmen.“

„Ah, das lässt doch ein paar Möglichkeiten offen.“ Der Optimismus in Eriks Stimme bildete einen harten Kontrast zu Jonas‘ bedrücktem Gemurmel. „Es ist natürlich ein wenig klischeebehaftet, aber ich würde wahnsinnig gerne mal wieder ins Kino. Vielleicht eine Nachmittagsvorstellung, bevor ich arbeiten muss?“

„Klingt ganz gut.“

„Wann geht denn morgen dein Bus?“

„Scheißspät. Dann kann ich vielleicht ‘n bissl pennen.“

„Hmm, so viel zu meinem Plan, dich zum Essen zu entführen.“

„Erik?“

„Mhm?“

„Ich hab’s ihnen nich‘ gesagt.“

„Okay.“

„Is‘ das alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte Jonas gereizt.

„Was willst du denn von mir hören?“ Erik ließ nicht erkennen, was er dachte.

„Keine Ahnung! Dass es in Ordnung is‘. Dass es nicht in Ordnung is‘. Dass ich endlich meinen feigen Arsch bewegen und es einfach hinter mich bringen soll!“

„Du weißt, dass ich dir diese Entscheidung nicht abnehmen kann“, erwiderte Erik.

„Weiß ich.“ Jonas seufzte. Frustriert über sich selbst, frustriert über die Situation. „Fuck, ich weiß!“

„Ich kann dir nur versprechen, an deiner Seite zu stehen, wenn du mich brauchst. Ganz egal, wie du dich entscheidest.“

Jonas versuchte, diesen verfluchten Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. „Dann … Is‘ es okay für dich, wenn ich mir damit noch Zeit lasse?“

„Natürlich ist es das.“ Kein Zögern, kein Heucheln. „Das habe ich dir schon einmal gesagt und daran ändert sich auch nichts. Mach diese Entscheidung nicht von mir, oder irgendjemand anderem abhängig.“

„Wenn ich mich nur nich‘ wie ‘n Scheißversager fühlen würd.“

„Schließ mal deine Augen.“

„Wozu?“

„Tu mir den Gefallen und mach’s einfach.“

Zweifelnd befolgte Jonas Eriks Anweisung. „Okay …“

„Jetzt stell dir vor, wer du warst, als du frisch in Berlin angekommen bist. Deine Träume, deine Pläne, deine Ziele.“

„Fuck, ich war echt scheißnaiv“, stellte Jonas fest, nachdem er einen Moment darüber nachgedacht hatte.

„Und jetzt führ dir vor Augen, wie viel du seither erreicht hast. Mit wem hast du Kontakte geknüpft? Welche Projekte hast du dir überlegt oder sogar schon umgesetzt? Was hast du Neues versucht und dabei gelernt, völlig egal, ob es erfolgreich war oder du gescheitert bist?“

Dieses Mal brauchte Jonas etwas länger für seine Antwort. „Das … is‘ gar nich‘ so wenig.“ Ein unsichtbares Gewicht bröckelte von seinen Schultern, ließ ihn zum ersten Mal seit dem abgebrochenen Abendessen wirklich durchatmen.

„Mhm, dachte ich mir.“ Erik klang zufrieden. Ob mit sich selbst oder Jonas‘ Antwort, war schwer zu sagen.

Ein Klopfen zog Jonas‘ Aufmerksamkeit auf die Tür. „Warte mal kurz.“ Lauter rief er: „Ja?“

Christine und Maria streckten vorsichtig die Köpfe in sein Zimmer. „Dürfen wir reinkommen? Vroni ist auf Christines Bett eingepennt und wir wollen sie nicht wecken.“

„Ähm … Ja. Ja, klar, kommt rein.“

Die beiden schoben sich durch die Tür. „Bist du okay?“, fragte Maria.

„Bin ich.“ Jonas war selbst überrascht, wie wahr diese Worte waren. „Wartet kurz, ich will nur schnell …“ Er hob sein Handy wieder zum Ohr. „Sorry, Maria und meine Schwester haben grad mein Zimmer gestürmt.“

Erik lachte. „Dann sollten wir wohl für heute Schluss machen.“

„Is‘ vermutlich bess–“

„Ist das am Telefon der, vom dem ich denke, dass er es ist?“, unterbrach Christine.

„Ich weiß ja nich‘, an wen du so de– CHRISTINE!“

Flugs hatte Jonas‘ Schwester ihm das Handy aus der Hand gerissen und hielt es an ihr Ohr. „Erik? … Japp, genau die.“ Sie lachte. „Davor musst du mir erklären, warum mein fotoverrückter Bruder kein einziges Bild von dir besitzt … Na, weil ich ein Beweisfoto sehen will!“

„Christine“, stöhnte Jonas, versteckte resigniert das Gesicht hinter seinen Händen und versuchte, Marias Kichern zu überhören. Aber Christine war noch nicht fertig.

„Weißt du was? Das klingt gar nicht übel. Ich glaube, das mache ich … Ja … Japp, das wird sicher lustig. Also für uns. Für Jonas eher nicht so.“ Wieder lachte sie. „Soll ich ihn mal in deinem Namen drücken? … Awww! Jederzeit!“

Ehe Jonas sich versah, fand er sich in einer rippenzermalmenden Umarmung wieder. „AU! Fuck! Is‘ ja gut!“

„Noch mal?“, fragte Christine und Jonas brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass diese Frage nicht an ihn gerichtet gewesen war, sondern sie noch immer mit Erik telefonierte. „Alles klar!“

Noch mehr zertrümmerte Knochen für Jonas. Zu seinem Leidwesen hatte Maria entschieden, sich ebenfalls an dieser Aktion zu beteiligen. Eingeklemmt zwischen zwei kichernden Frauen, das Lachen seines Freundes im Ohr, wandelte sich sein Unbehagen schnell in Geborgenheit. Er kämpfte dagegen an, aber ein Schluchzen drängte von seiner Brust über seine Lippen. Keine Trauer, vielmehr Erleichterung. Wie hatte er nur jemals denken können, keinen Platz in dieser Welt zu haben?

Sanft nahm er Christine das Handy aus der Hand. „Erik? Ich bin’s wieder.“

„Ah, und ich dachte schon, deine Schwester hätte sich in den vergangen zwei Sekunden eine böse Kehlkopfentzündung eingefangen.“

„Wir sehen uns bald, ja?“

„Ganz sicher. Sag mir einfach Bescheid, sobald du in Berlin bist.“

„Okay. Mach’s gut.“

„Du auch.“

Jonas legte auf und lehnte seinen Kopf gegen Marias.

„Er klingt nett“, sagte Christine.

„Er is‘ nett“, erwiderte Jonas.

Wieder klopfte jemand an die Tür und platzte herein, bevor Jonas etwas sagen konnte. Vorwurfsvoll starrte Vroni ihre beiden älteren Geschwister und Maria an. „Ihr seid alle hier drin und ich bin ganz allein!“ Tränchen kullerten über ihre geröteten Wangen. „Immer schließt ihr mich aus!“

„Awww, nich‘ weinen.“ Jonas streckte den Arm nach Vroni aus und zog sie an seine Brust. „Weißt du was? Morgen hole ich dich von der Schule ab und dann machen wir was zusammen, ja?“

„Nur wir beide?“, fragte Vroni schniefend.

„Nur wir beide“, versprach er. Mit der Hand, die nicht über ihr Haar strich, wischte er die Tränen von ihrer Wange.

„Versprochen?“

„Versprochen.“

„Und wird nicht gebrochen?“

„Und wird nich‘ gebrochen.“

„Okay.“ Zufrieden kuschelte sich Vroni an ihren älteren Bruder. Dann verzog sie das Gesicht. „Igitt. Du stinkst.“

„Ich war joggen“, verteidigte sich Jonas halbherzig, musste aber zugeben, dass sie recht hatte. Sofern er nicht wollte, dass über Nacht die Fliegen von der Wand fielen, sollte er vor dem Schlafengehen dringend duschen.

„Ach so!“ Christines Ausruf riss Jonas aus seiner Abendplanung. „Ich habe übrigens mit Erik besprochen, dass ich dich mal in Berlin besuche und ihn kennenlerne. Nur, damit du’s weißt.“

„Was?“

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, Jonas. Du kannst nicht einfach Maria nach Berlin einladen und erwarten, dass Christine in Bayern versauert. Blöd gelaufen.

Heute ist es spät geworden und ich fürchte, das wird nicht zum letzten Mal so sein. Der März wird für mich wahrscheinlich noch extrem stressig, also seid vorgewarnt, dass Updates später kommen können oder (im schlimmsten Fall) auch mal ausbleiben. Ich hoffe mal, dass es nicht so weit kommt – einfach, weil das bedeuten würde, dass ich wirklich bis zur Stirn in Arbeit stecke – aber ganz ausschließen kann ich es leider nicht. Ab April wird es vermutlich, naja, vielleicht nicht ruhiger, aber doch wenigstens wieder etwas geregelter zugehen.

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende euch allen!
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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2018-07-28T21:40:48+00:00 28.07.2018 23:40
Puh, da ist dieses Kapitel aber wieder eine Menge gelaufen, Schlechtes, aber auch Gutes. Wenn Jonas' Eltern echt so stockkonservativ sind, wird das Coming-out echt schwierig... Mal schauen, wie lange es noch dauern wird. Aber fest steht, es muss und wird kommen. Es bleibt spannend!
Aber echt süß, wie viel Unterstützung Jonas von Maria und Christine bekommt! Und dass Erik allmählich immer offizieller eingebunden wird. Solang Jonas seine Mädels hat, ist alles nur halb so schlimm ;)
Ach ja, und beim Essen lief mir direkt das Wasser im Mund zusammen... Ich hätte echt Lust auf Jonas' Foodporn-Bild gehabt ;D
Von:  Usaria
2018-03-11T12:53:15+00:00 11.03.2018 13:53
Tolles Kapitel. Bei der Szene bei dem festlichen Abendessen musste ich schellmisch Grinsen! Ja ja! Natürlich das wichtigste für eine Frau ist ja dass sie Kinder bekommt und.... ahhh! Aber so i´s wirklich. Noch in ländlichen Gegenden. Ich kriegs ja durch meine Familie mit.
Und bei der Szene wo es über Jonas Cousine ging konnte ich nur den Kopf schütteln. Hallo wir sind in 21. Jahrhundert! kommt da mal an!

@Onlyknow3: Wenn die Kleine was ausplaudert, dann können sich die Beiden immer noch raus reden, dass Erik ein guter Freund ist, und was spricht dagegen, dass die jüngere Schwester diesen neuen "besten" Freund kennen lernen will. *Unschuldiger Blick*
Außerdem können sie auch Christines Besuch, auch mit kulturreller Weiterbildung zu rechtfertigen; Nur das die 3 dann halt ein ganz anderes Kulturprogramm machen werden. *Schellmisch :))!
Antwort von:  Noxxyde
11.03.2018 20:54
Danke :)

Oh ja, dass die Hauptaufgabe von Frauen Familienarbeit ist, steckt leider immer noch in vielen Köpfen. Auch hier sind Jonas' Eltern recht konservativ. Sie wollen ihren Stammhalter eben in guten Händen wissen und jemanden haben, der ihren Familiennamen fortführt - und kommen gar nicht auf die Idee, dass derjenige vielleicht ganz andere Träume und Ziele hat.
Das merkt man ja leider auch an der Art, wie sie über die Cousine reden. War für Jonas natürlich schon ein ziemlicher Schlag ins Gesicht :/

Danke fürs fleißige Kommentieren!

LG Noxxy
Von:  Onlyknow3
2018-03-09T20:15:02+00:00 09.03.2018 21:15
Autsch, ob das jetzt so gut war vor ihrer jüngeren Schwester.
Super Kapitel weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Noxxyde
10.03.2018 23:29
Danke, freut mich, dass es dir gefallen hat :)

LG Noxxy


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