Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 19 ---------- Was zuletzt geschah: Jonas‘ lange überfälliges Gespräch mit Erik verläuft weitestgehend ergebnislos. Um für ein wenig Ablenkung zu sorgen, ziehen zwei neue Mitbewohner in seine Wohnung, die sich allerdings als recht schweigsam (und in Daisys Fall auch kränklich) entpuppen. Just, als Jonas endlich Maria sein Herz ausschüttet, meldet sich Erik und bittet um ein Date.   Kapitel 19 „Nee, das geht echt gar nich‘!“ Ungeduldig riss sich Jonas das Karohemd vom Körper. „Ich fand’s eigentlich recht niedlich“, kommentierte Maria vom ihrem Platz auf dem Schreibtisch aus. Die Lautsprecher des Notebooks verwandelten ihre ohnehin schon hohe Stimme in blechernes Piepsen. „‚Niedlich‘ is‘ nich‘ grad der Eindruck, den ich vermitteln will.“ „Sondern?“ „Keine Ahnung. Heiß? Geil? Unwiderstehlich?“ „Da bin ich die falsche Ansprechpartnerin“, erinnerte ihn Maria. „Aber was auch immer dein Look aussagen soll, sofern dein Date pünktlich ist, hast du noch etwa zehn Minuten, um ihn zu erreichen.“ „Was? Fuck!“ Verzweifelt musterte Jonas die Klamottenberge, die er neben, auf und stellenweise unter seinem Bett verteilt hatte. Wahllos griff er nach dem ersten schwarzen Hoodie, den er zwischen die Finger bekam und schlüpfte hinein. „Dann eben so …“ Wenigstens war das Oberteil schön warm und erfüllte damit die Anforderung, die Erik gestellt hatte. „Ich will ja nicht meckern“, mischte sich Maria ein, „aber unter ‚heiß‘ verstehe ich dann doch etwas Anderes.“ „Ja, ja“, nuschelte Jonas. „Deshalb zieh ich dazu ja auch die hier an.“ Er befreite eine graue Jeans von mehreren Lagen Stoff und präsentierte sie seiner Webcam. Maria schnaubte. „Wie lange hast du das Teil jetzt schon? Seit der achten Klasse?“ „Zehnte“, presste Jonas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte, sich unter beständigem Fluchen in das widerspenstige Kleidungsstück zu quetschen. Am Ende drehte er Maria triumphierend den Rücken zu. „Na, was sagst du?“ „Ich bin bekehrt. Urplötzlich fühle mich zu Männerhintern hingezogen“, erwiderte sie trocken. „Nein, im Ernst. Du siehst gut aus.“ „Jetzt noch ‘nen passenden Gürtel und dann …“ „Hast du noch etwa fünf Minuten, um dieses Chaos zu beseitigen.“ „Fuck!“ Jonas‘ Klingel ertönte, während er damit beschäftigt war, sich gegen die Türen seines Kleiderschranks zu werfen, in der Hoffnung, sie endlich schließen zu können. „Oh, er ist pünktlich“, stellte Maria fest. „Das gibt Pluspunkte.“ „Nich‘ bei mir!“ Eilig betätigte Jonas den Summer, sprintete zurück zu seinem Schrank und stopfte einen überstehenden Ärmel ins Innere. „Ich lasse euch mal ein bisschen Privatsphäre“, sagte Maria. „Aber ich will Fotos sehen!“ „Vielleicht noch Lebenslauf und Führungszeugnis?“ „Warum eigentlich nicht?“ „Maria!“ „Ja, ja, ist ja gut. Viel Spaß!“ Maria unterbrach die Verbindung und das keine Sekunde zu früh. Ein sanftes Klopfen wies Jonas darauf hin, dass sein Besucher die Wohnungstür erreicht hatte und geduldig wartete, bis ihm geöffnet wurde. Erik sah aus wie immer. Groß und athletisch, mit goldenem Haar, das an seinem Hinterkopf zu einem strengen Knoten gebunden war und die klaren Linien seiner attraktiven Züge betonte. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, deutete einen Hauch Unsicherheit an und imitierte damit Jonas‘ eigene Mimik. „Hi!“ Fahrig strich sich Jonas eine Strähne aus seiner von einem dünnen Schweißfilm überzogenen Stirn. „Hast du gut hergefunden?“ „Mhm. Ich arbeite ja quasi ums Eck.“ „Oh. Stimmt ja.“ Jonas‘ Wangen wurden heiß. Er hatte keine Ahnung, wie er Erik gegenübertreten sollte. War eine Umarmung angemessen? Verflucht, er wollte ihn umarmen, aber seine Hand schien an der Klinke festgeklebt. „Ähm, komm doch kurz rein. Ich muss bloß noch schnell meine Jacke anziehen.“ Falls sich Erik ebenfalls nach einer Umarmung sehnte, machte er keine Anstalten, diesen Wunsch umzusetzen. Seine Hände waren fest in seinen Manteltaschen vergraben. Jonas ließ ihn in die Wohnung und begann, nach seiner Jacke Ausschau zu halten, die während seines Bekleidungsmarathons in irgendein Eck gerutscht sein musste. Zum Glück war seine Wohnung winzig, allzu viele Verstecke gab es dort nicht. „Ist das von dir?“, fragte Erik, ohne seinen Blick von der weitläufigen Collage zwischen Küchenzeile und Badtür abzuwenden. Waren Jonas‘ Wangen zuvor gerötet, begannen sie nun, mit sonnengereiften Tomaten zu konkurrieren. „Ähm, jaah. Ich wollt nur … Eigentlich stellt das so‘n bisschen meine Reise von Bayern nach Berlin dar. Also, jedenfalls soll es das.“ Er deutete zum linken Rand der Collage, der mit einer Sammlung alter Kinderfotos, Zeitungsartikel und Magazinausschnitte geziert war. „Hier ging es sozusagen los und dann irgendwann … kommt Berlin.“ Die Personen auf den Fotos wurden älter, Urkunden und Zeugnisse mischten sich unter fröhliche Gesichter, die Farben wechselten von sanften Erdtönen zu fahlem Grau und schrillem Neon. „Beeindruckend.“ Erschreckenderweise schien Erik das ernst zu meinen. „Nee, so besonders isses wirklich nich‘“, wehrte Jonas rasch ab. „Ähm, es is‘ auch nich‘ fertig. Eher so ‘ne Art Dauerprojekt. Guck, das hier …“ Er deutete auf ein Foto. Glückliche Menschen vor einem opulent geschmückten Christbaum. „Das war dieses Weihnachten. Ich war mir erst nich‘ sicher, wohin ich’s packen soll, aber dann dacht ich mir, dass die Mitte wohl ganz gut wär. So als, ähm, Schnittstelle zwischen meinem alten und meinem jetzigen Leben und ...“ Jonas stoppte. „Sorry, das interessiert dich wahrscheinlich kein bisschen.“ „Doch, tut es“, widersprach Erik schlicht. „Fühlt sich an, als hätte ich in den letzten fünf Minuten mehr über dich erfahren als in den Monaten davor.“ Er beugte sich nach vorne und studierte das Weihnachtsfoto. „Deine Familie, nehme ich an?“ „Japp. Meine Mum, mein Dad. Das ganz vorne is‘ Christine, eine meiner Schwestern. Wir sind ziemlich genau drei Jahre auseinander, aber Vroni – das Mädchen in dem blauen Kleid da – is‘ dafür ‘n echtes Nesthäkchen. Das dahinter is‘ meine Oma, sie wohnt seit Opas Tod bei uns, also seit, ähm, etwa fünfzehn Jahren.“ Jonas‘ Blick schweifte über die Collage. „Oh, und das is‘ Maria! Von der hab ich dir ja schon öfter erzählt.“ Er deutete auf ein Foto, das am Tag ihrer Abifeier geschossen worden war. Maria in Anzug und Krawatte, Jonas in zerrissenen Jeans und Bandshirt. Seine Mutter hätte ihn beinahe nicht aus dem Haus gelassen. Ein schwer zu deutender Ausdruck huschte über Eriks Gesicht. „Man sieht, wie nahe ihr euch steht.“ „Ach ja?“ Jonas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Mir war nich‘ klar, dass das so offensichtlich is‘. Aber es stimmt wohl. Ich mein, ich hab keine Ahnung, wo ich heute ohne Maria wäre. Jedenfalls nich‘ hier. Ohne sie–“ Er stockte und strich sich verlegen durchs Haar. Zu spät war ihm eingefallen, dass er Erik in dem Glauben gelassen hatte, zwischen ihm und Maria hätte eine Weile mehr als Freundschaft existiert. Irgendwann würde er ihm die Wahrheit sagen müssen, besser heute als morgen. Aber jetzt gerade brachte er es nicht über sich. „Wegen mir können wir dann übrigens los.“ Er hatte seine Jacke über jener Stuhllehne entdeckt, über die er sie beim Heimkommen geworfen hatte. „Mhm. Dann lass uns das tun.“ Das Auto war kuschelig warm, Erik musste es auf der Hinfahrt ordentlich geheizt haben. Jonas lehnte sich in seinem Sitz zurück und genoss das Gefühl, nur wenige Zentimeter von Erik getrennt zu sein. „Wohin geht’s eigentlich?“, fragte er neugierig. „Das siehst du noch früh genug.“ „Echt jetzt? Du verrätst es mir nich‘?“ „Nö.“ Theatralisch seufzend und künstlich beleidigt, starrte Jonas aus dem Fenster. Bald wurde klar, dass sie die Stadt verließen. Die Häuser wurden kleiner und die Lücken zwischen ihnen größer, bis sie vollends hinter dichten Wäldern verschwanden. Nachdem ungefähr eine halbe Stunde verstrichen war, bog Erik in einen von Bäumen umgrenzten Parkplatz ein und stellte den Wagen ab. Jonas sah sich um. „Verrätst du mir jetzt, wo wir sind?“ „Ein Stück außerhalb Berlins.“ „Echt jetzt?“, fragte Jonas gespielt schockiert. „Scheiße, und ich hatte gehofft, du zeigst mir Las Vegas.“ „Vielleicht nächstes Mal.“ Erik führte ihn über den fast leeren Parkplatz auf einen schmalen Wanderweg. Zu Jonas‘ Bedauern nicht schmal genug, um einen Vorwand zu liefern, ihre Schultern und Oberarme aneinanderzupressen. „Ich dachte mir, ich zeige dir mal den See, in dem ich im Sommer ganz gerne schwimme“, erklärte Erik. „Er ist nicht besonders groß, wir könnten ihn also einmal umrunden und danach eine Kleinigkeit in dem Restaurant auf der anderen Seite des Parkplatzes essen.“ Er zupfte an seinem Ärmelsaum. „Ah, so laut ausgesprochen klingt das allerdings ziemlich lahm. Und das Wetter scheint auch nicht wirklich mitzuspielen. Ich hatte auf ein wenig Sonne gehofft.“ Eriks Stimme, im Grunde seine ganze Körpersprache, sendete deutliche Signale. Jonas grinste. „Nervös?“ Überrascht sah Erik ihn an. „Natürlich. Ich wollte einen schönen Tag mit dir verbringen, aber mein letztes erstes Date ist über neun Jahre her. Da fühle ich mich ein wenig eingerostet.“ „Falls dich das tröstet: Mein allererstes erstes Date ist keine drei Monate her und trotzdem bin ich scheißnervös.“ ‚Keine drei Monate‘ bedeutet, dass du Erik zu diesem Zeitpunkt schon gekannt hast, erinnerte der rationalere Teil seines Gehirns Jonas. Zu spät. Er und Erik musterten sich aus den Augenwinkeln, unsicher was sie von dem Geständnis des anderen halten sollten. „Du fängst an“, entschied Jonas schließlich. Erik zuckte mit den Schultern. „Da gibt es eigentlich nicht besonders viel zu erzählen. Ich war zwei Jahre mit meinem Ex zusammen und danach sieben Jahre Single. Also hatte ich mein letztes erstes Date vor etwas mehr als neun Jahren.“ „Sieben Jahre Single?“, wiederholte Jonas ungläubig. „Scheiße, das is‘ ‘ne verflucht lange Zeit. Gab … gab es echt niemanden, mit dem du wenigstens mal ein erstes Date wolltest?“ „Nein.“ „Das … Wirklich?“ Jonas konnte sich mit Eriks Antwort nicht zufriedengeben. „Oder hast du es einfach nie weit genug kommen lassen?“ Als Erik nichts erwiderte, wurde ihm bewusst, wie vorwurfsvoll er geklungen hatte. „Scheiße, tut mir leid. Das war nich‘ als Angriff gemeint.“ „Ich habe es auch nicht als solchen aufgefasst“, stellte Erik klar, „sondern darüber nachgedacht, ob du recht haben könntest. Ah, da vorne ist übrigens der See.“ Er deutete auf eine graue, von sich kräuselnden Wellen aufgeraute Fläche, die zwischen kugeligen Büschen und kahlen Bäumen schimmerte. Der Wanderweg machte eine Biegung, die den Ausläufern des Wassers folgte. „Wir kommen gleich zu den Liegewiesen, dann sieht man ihn besser.“ Noch während Erik redete, brach der Wildwuchs am Wegrand auf und machte Platz für eine schlammige Wiese. Jonas beobachtete den sanften Wellengang des Sees, lauschte dem Knistern der Äste, atmete den Duft nach klarem Wasser und zertrampeltem Laub. „Fuck, jetzt wo ich hier bin, merk ich erst, wie sehr mich die Stadt in letzter Zeit angekotzt hat. Ich mein, is‘ natürlich alles aufregend und lebendig und so und ich wollt wohl auch nich‘ mehr zurück aufs Land ziehen, aber Scheiße, es is‘ auch so verfickt anstrengend.“ Gemeinsam liefen sie über die Wiese bis zum Ufer. Dort angekommen, klaubte Jonas ein flaches Steinchen vom Boden auf und ließ es schwungvoll übers Wasser hüpfen. „Ha! Viermal!“ „Nicht schlecht.“ Erik suchte einen passenden Stein und tat es ihm nach. Der Stein titschte über das Wasser und versank. „Hm.“ „Einmal“, kommentierte Jonas. „Mit viel gutem Willen.“ „Nur, weil ich abgelenkt war“, behauptete Erik. „Ich verlange eine Revanche!“ „Die Ehre gebietet, dir diese Bitte zu gewähren“, erklärte Jonas grinsend. „Auch, wenn wir beide wissen, dass es nix ändern wird.“ Aufmerksam suchte er das Ufer nach einem Stein ab, der seinen Ansprüchen genügte. „Sieh zu und lerne!“ Er hob den Arm, hielt sein Handgelenk stabil aber locker und holte Schwung. Ein schmerzhafter Stich fuhr durch seine rechte Seite, gerade, als er das Steinchen fliegen lassen wollte. Es rutschte aus seiner Hand und landete mit einem traurigen Platsch! im Matsch. Vorwurfsvoll wirbelte Jonas herum, die nun freie Hand auf die schmerzende Stelle gepresst. „Betrug! Verrat!“ Erik hob abwehrend die Hände, ganz so, als hätte er Jonas nicht im passenden Moment gekniffen, um seinen Sieg zu vereiteln. „Ich bin unschuldig.“ Beinahe hätte Jonas ihm dieses Schauspiel abgekauft, doch das süffisante Schmunzeln, das sich auf Eriks Gesicht stahl, strafte seine Worte Lügen. „Wenn es nich‘ so arschkalt wäre, würd ich dich dafür in den See schubsen“, drohte Jonas. „Ach, weißt du was? Ich mach’s einfach!“ Mit einem Kampfschrei stürzte er sich auf den Betrüger, umklammerte dessen Taille und schob mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Doch Erik stemmte die Beine in den Boden und bewegte sich keinen Millimeter. Stattdessen packte er Jonas‘ Schultern, drehte ihn und sich selbst um die eigene Achse und ehe Jonas sich versah, stand er selbst mit dem Rücken zum Wasser. „Fuck!“ Jetzt war es an Jonas, einen Abstecher ins kalte Nass zu verhindern. „Das is‘ noch nich‘ entschieden!“ Lachend und gelegentlich fluchend, kämpften die beiden um die Oberhand, immer darauf bedacht, weder selbst im See zu landen, noch ihren Kontrahenten versehentlich tatsächlich im eisigen Wasser zu versenken. „ARFF, ARFF, WUFF!“ Das Kläffen des kleinen Köters unterbrach Jonas‘ und Eriks Rangelei, „Kiry!“, die Stimme seines Frauchens ließ sie schneller auseinanderfahren als gleichpolige Magnete. Verlegen blickte Jonas zum Wanderweg, aber von der Frau, die ihren Hund gerufen hatte war bisher nichts in Sicht. Lediglich das Tier selbst stand an der Einbiegung und bellte sich die Seele aus dem Leib. Jonas ging in die Knie. „Musst du dich so aufregen?“ Seine ruhige Stimme und die friedfertige Geste wirkten, der Hund verstummte beinahe augenblicklich und neigte misstrauisch den Kopf. Anscheinend zufrieden mit dem Ergebnis seiner Inspektion, näherte er sich schwanzwedelnd und schnüffelte an Jonas‘ ausgestreckter Hand. „Na, das is‘ doch schon viel besser.“ Das Fell des Hundes hatte eine unspektakuläre mausgraue Farbe, war jedoch dicht, warm und unglaublich weich. Glücklich tänzelte das Tier auf seinen Pfötchen, während Jonas seine steifen Finger in der flauschigen Unterwolle wärmte. „Hier bist du!“ Eine junge Frau hetzte um die Ecke, in ihrer linken Hand baumelte eine Leine. „Tut mir wirklich leid!“, rief sie Erik und Jonas zu. „Ich würde ja sagen ‚eigentlich tut sie sowas nicht‘, aber seien wir ehrlich, sie tut es sehr wohl.“ „Kein Problem“, versicherte Jonas. „Sie kann ja auch ganz lieb sein.“ Er kraulte die Hündin abschließend noch einmal hinter den Ohren, bevor ihre Besitzerin sie anleinte und mit einer letzten Entschuldigung in die entgegengesetzte Richtung verschwand. „Du hast ein Händchen für Tiere“, stellte Erik fest. „Um‘s mit Marias Worten zu sagen: Ich hab ‘n Händchen für alles, dessen IQ erfolgreich an Limbo-Wettbewerben teilnehmen könnte.“ „Ich bin mir nicht sicher, was das jetzt über mich aussagt.“ Erik hob den Blick zum Himmel. „Gehen wir weiter? Mir gefällt das Wetter nicht. Da hinten wird es ganz schön düster.“ Jonas nickte und trottete voran, wünschte sich jedoch stumm, den Abstand zwischen ihnen wieder verringern, Eriks Hände erneut auf seinem Körper fühlen zu können. Immer wieder huschten seine Blicke zu Eriks Gesicht, in der Hoffnung zu erahnen, was er dachte. „Ah, ich habe dir deine Frage von vorhin noch gar nicht beantwortet“, sagte Erik unvermittelt, als sie auf dem schmalen Pfad zurückgekehrt waren. Verwirrt runzelte Jonas die Stirn. „Welche Frage?“ „Ob ich Beziehungen in den letzten Jahren bewusst aus dem Weg gegangen bin.“ „Oh. Stimmt.“ Jonas war sich nicht sicher, ob er die Antwort noch hören wollte. „Du hast tatsächlich nicht ganz unrecht“, räumte Erik ein. „Die Vorstellung, nochmal eine feste Beziehung einzugehen macht mich nervös. Aber … Ah, wie sage ich das jetzt, ohne unnötigen Druck aufzubauen? Ich mag dich. Als Freund und in meinem Bett. Ich will mehr Zeit mit dir verbringen, viel mehr. Und das ist nichts, das ich in den vergangenen Jahren für jemand anderen empfunden habe.“ Es war unmöglich, das Lächeln, das sich auf Jonas‘ Gesicht ausbreitete aufzuhalten, genauso wenig, wie den Zweifel, der sich leise in seine Gedanken stahl. „Kann ich dich trotzdem noch fragen, warum dich Beziehungen nervös machen?“ Wieder antwortete Erik nicht sofort. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Vermutlich, weil … Nein, das muss ich anders formulieren …“ Hilflos öffnete und schloss er die Hände. „Meine erste Beziehung war … nicht wirklich gut und sie hat eine Menge Trümmer hinterlassen, die ich mit in die zweite geschleppt habe. Die hätte zwar so oder so nicht funktioniert – heute ist mir das klar, damals war es das nicht – aber es hätte meinem Ex und mir einige schmerzhafte Momente erspart, wenn ich mit meinen Altlasten besser hätte umgehen können. Und ich kann nicht versprechen, dass ich jetzt dazu in der Lage bin.“ Erik zögerte, setzte mehrmals zum Sprechen an und schloss den Mund wieder, bis er hinzufügte: „Das war einer der Gründe, warum ich mich so spät gemeldet habe.“ Jonas wollte mehr wissen. Mehr über Erik und mehr über dessen Beziehungen, die offenbar ein so unglückliches Ende genommen hatten, aber er fürchtete, damit die bisher so gute Stimmung zu kippen. Erik schien sich entschieden zu haben, ihnen eine Chance zu geben und Jonas hatte keinerlei Interesse, seine Zweifel erneut aufflammen zu lassen, indem er zu lange auf ihnen zündelte. „Du bist dran“, sagte Erik nach einer Weile. „Womit?“ „Ich habe dir erzählt, warum mein letztes erstes Date ewig her ist. Jetzt will ich wissen, was es mit deinem allerersten Date vor drei Monaten auf sich hatte.“ Nervös starrte Jonas auf seine Schuhe, während er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. „Da war dieser Typ, den ich auf ‘ner WG-Party kennengelernt habe. Und … ähm … also …“ Zwischen ihm und Dominik war nie mehr passiert, als ein paar Versuche Händchen zu halten, die er auch noch abgeblockt hatte und trotzdem fühlte sich Jonas als müsse er beichten. „Er hat mich gefragt, ob ich wir, äh …“ „Eigentlich hat mich interessiert, warum du trotz Beziehung nie ein Date hattest“, unterbrach Erik Jonas‘ Stammeln. „Bez–Oh. Du sprichst von Maria.“ „Mhm.“ Vermutlich hatte Erik bemerkt, dass Jonas die Geschichte mit Dominik unangenehm war und entschieden, das Thema zu wechseln. Dummerweise läutete er damit gleich die nächste Beichte ein. „Vom Regen in die Traufe“, murmelte Jonas zu sich selbst. Fragend hob Erik eine Braue. „Ach ja?“ Zeit für die Wahrheit. „Maria und ich sin‘ bloß Freunde“, stieß Jonas hervor. Deutlich leiser fügte er hinzu: „War mir peinlich, vor dir zuzugeben, dass ich völlig unerfahren bin.“ Noch leiser schloss er seine Beichte ab: „Du warst mein erster richtiger Kuss.“ „Verstehe.“ Die kleine Falte zwischen Eriks Augenbrauen erschien und seine Lippen wurden schmal. Unsicher schielte Jonas zu ihm, brauchte ein paar Sekunden, um genug Mut für seine Frage aufzubringen. „Bist … bist du sauer?“ „Was? Nein!“ Erik schüttelte den Kopf. Die kleine Falte blieb. „Ich kann mir nur bessere erste Küsse vorstellen. Vom restlichen Verlauf dieser Nacht mal abgesehen.“ Jonas verkniff sich ein Lachen. Erik, der ewige Perfektionist. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Jonas‘ erster Kuss wohl vor einem prasselnden Kaminfeuer und auf Rosen gebettet stattgefunden. Selbstverständlich, nachdem er zuvor monatelang umgarnt worden war. „Ich fand’s eigentlich ziemlich gut“, stellte er klar. „Zugegeben, das Ende hätte ‘n bissl anders laufen können, aber alles in allem kann ich mich kaum beschweren. Da hätte ich echt an beschissenere Typen geraten können.“ „Ah, danke?“ Jetzt lachte Jonas doch. „Gern geschehen. Obwohl ich es schon vorgezogen hätte, nich‘ erst zwanzig werden zu müssen, bevor mir jemand die Zunge in den Hals steckt.“ Eine Weile schlenderten sie schweigend nebeneinander, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und Jonas wurde das Gefühl nicht los, dass sich Erik eine Menge Fragen verkniff. „Maria und ich waren unser gegenseitiges Alibi, damit der Rest der Welt aufhört uns zu nerven“, erklärte er. „Ihre Eltern sin‘ bei dem Gedanken, dass sie Sex haben könnt‘ zwar völlig ausgeflippt, aber als sie sich mit fünfzehn immer noch so gar nich‘ für Jungs interessiert hat, war’s auch nich‘ recht. Meine Eltern waren nich‘ ganz so prüde, aber genauso penetrant. Und weil sowieso jeder dachte, dass wir ‘n Pärchen wären, weil, wo kämen wir denn hin, wenn sich ‘n Junge und ‘n Mädchen einfach so gut verstehen, haben wir sie einfach in dem Glauben gelassen.“ Jonas kaute auf seiner Unterlippe. „Als ich mir zum ersten Mal eingestanden habe, dass ich Jungs viel spannender als Mädchen finde, war Maria für mich da. Sie hat mir durch ‘ne Menge Scham und Angst und Wut geholfen. Ich weiß nich‘, wie ich diese Zeit ohne sie überstanden hätte.“ „Ich glaube, langsam verstehe ich, wie wichtig sie für dich ist.“ Jonas lächelte breit. „Das is‘ sie definitiv.“ „Dann bin ich jetzt wohl an der Reihe, ein Geständnis zu machen.“ Plötzlich wirkte Erik ernst und Jonas‘ Lächeln erlosch. „Was denn?“, fragte er misstrauisch. „Ich dachte, nachdem du auch mit deiner Ex befreundet bist, wäre das keine große Sache, aber jetzt sieht das vielleicht etwas anders aus.“ Es war unmöglich, das ‚auch‘ in Eriks Satz zu überhören. „Du machst es ganz schön spannend …“ „Entschuldige, das war nicht mein Ziel. Du, ah, erinnerst dich sicher noch an Marco?“, fragte Erik. „Klar.“ Jonas begriff, worauf er hinauswollte. „Ihr wart …?“ „Ja.“ Das erklärte Marcos zögerliche Reaktion, als Jonas ihn gefragt hatte, woher er und Erik sich kannten. „Der zweite Freund, nehme ich an?“ Das wenige, das Erik über seine erste Beziehung erzählt hatte, sprach nicht unbedingt für freundschaftliche Gefühle. „Der zweite“, bestätigte Erik. „Ich hätte dir das wohl früher erzählen sollen, aber …“ Er seufzte. „Marco und ich sind schon so lange einfach nur Freunde, dass ich ehrlich gesagt gar nicht auf die Idee gekommen bin, darin ein Problem zu sehen. Bis er mir eine Standpauke gehalten hat, weil ich es dir verschwiegen habe.“ Erik blieb stehen und drehte sich zu Jonas. „Marcos Freundschaft ist mir wichtig, aber ich will auch nicht, dass du dich deswegen unwohl fühlst. Falls das so ist … Lass uns darüber sprechen, ja?“ Das war wohl Eriks Art, Jonas zu sagen, dass er die Freundschaft mit Marco im Zweifel über eine Beziehung mit ihm stellen würde und auch, wenn diese Erkenntnis schmerzte, gestand sich Jonas ein, dasselbe in Marias Fall zu tun. In seinem Kopf schwirrten viel zu viele Fragen, um auch nur eine davon herausgreifen zu können. Marco. Selbstbewusst, erfolgreich und lebenserfahren. Keine Scheu, der Öffentlichkeit zu zeigen, wem sein Herz gehörte. Wie konnte Erik von jemandem wie ihm, zu jemandem wie Jonas springen? „Ah, siehst du die Büsche da drüben?“, fragte Erik. Er deutete auf eine dichtbewachsene Stelle neben dem Wanderweg, die die Sicht auf den See verdeckte. Jonas brauchte einen Moment, um sich auf den unerwarteten Themenwechsel einzustellen, nahm die Ablenkung aber dankbar an. „Japp.“ „Man kann es von außen nicht erkennen, aber wenn man sich durch dieses Gestrüpp quetscht, kommt man zu einer kleinen Liegewiese direkt am See. Gerade genug Platz für eine Handvoll Leute und zum Glück ziemlich unbekannt.“ „Dein Stammplatz?“, fragte Jonas. „Mhm. Habe ich vor ein paar Jahren mal zufällig beim Schwimmen entdeckt. Du bist der Erste, dem ich in dieses Geheimnis anvertraue.“ So trivial sich das für einen Außenstehenden anhören mochte, Jonas‘ Herz machte bei diesen Worten einen Hüpfer. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich zunehmend, aber seine Aufmerksamkeit galt Eriks rechter Hand, die wenige Zentimeter neben seiner eigenen baumelte. Sollte er? Behutsam streifte Jonas‘ Handrücken über Eriks. Ein Schauder breitete sich auf seiner Haut aus, zog bis tief in seinen Magen. Wachsam verfolgte er Eriks Reaktion, als er die Geste wiederholte. Erik musste die Berührung spüren, ließ sich jedoch nichts anmerken. Jonas schluckte und hakte seinen kleinen Finger bei Erik ein. Endlich drehte dieser den Kopf, Überraschung in den Augen und ein Lächeln auf den Lippen. Jonas‘ ganzer Körper kribbelte. Wie konnte eine so unschuldige Berührung eine solche Wirkung entfalten? Sie waren nicht die Einzigen, die dem schlechten Wetter trotzten. Hinter einer der zahlreichen Biegungen kam ihnen ein älteres Pärchen entgegen, dick eingehüllt in Gummistiefel, Regenjacke und Mützen über den grauen Locken. Instinktiv wollte Jonas seine Hand wegziehen, seine Verbindung mit Erik leugnen. Stattdessen verschränkte er nun auch ihre übrigen Finger miteinander. Scheu nickte er dem Pärchen zu, murmelte ‚Grüß Gott‘, ganz so, wie es ihm von seinen Eltern beigebracht worden war. Das Paar erwiderte sein Nicken und stiefelte an ihnen vorbei. Damit war die kurze Interaktion beendet, doch als Jonas sich nach ihnen umdrehte, sah er, wie die Frau nach der Hand ihres Manns griff und die vertraute Geste imitierte. „Ah!“ „Was?“ Die Frage hatte aggressiver geklungen als geplant, aber es war schwierig für Jonas, adäquat zu reagieren, während eine Wagenladung Adrenalin durch seine Adern jagte. „Es fängt an zu regnen. Ich habe gerade einen Tropfen abbekommen.“ „Wirklich? Ich … Scheiße, doch. Wie weit isses noch zur Wirtschaft?“ „Nicht weit“, versicherte Erik. „Noch einmal ums Eck.“ Donner rollte über ihre Köpfe hinweg. Glücklicherweise stimmte Eriks Angabe und sie erreichten das Restaurant, kurz bevor sich die vereinzelten Wassertröpfchen zu rauschenden Fäden entwickelten, die die Erde benetzten und den Wanderweg in Schlamm verwandelten. Der weißgetünchte Putz, die warmen Holzrahmen der Fenster und die von Bäumen umrahmte Terrasse verliehen dem kleinen Lokal die Aura eines Hexenhäuschens in einem verzauberten Wald. Ein perfekter Unterschlupf bei schlechtem Wetter und gleichzeitig bestens geeignet, die Sommersonne zu genießen. „Ah, Shit.“ Wenn Erik fluchte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Jonas‘ Blick huschte zu den dunklen Fensterscheiben. „Lass mich raten … Ruhetag?“ „Betriebsurlaub.“ Stöhnend barg Erik das Gesicht in den Händen. „Tut mir leid. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wenigstens können wir uns hier unterstellen, bis das Wetter ein wenig aufklart.“ „Nee, da weiß ich was Besseres.“ Lachend zog Jonas Erik zum Rand der Überdachung. "Wettlauf zum Auto! Der Gewinner … ähm … wird weniger nass?“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sprintete er los. Schlamm spritzte auf und ruinierte seine Lieblingshose, die für sportliche Ertüchtigungen denkbar ungeeignet war. „Unfair!“, rief Erik ihm hinterher und startete mit einigen Sekunden Verzögerung. Dafür, dass er behauptet hatte, zu selten Joggen zu gehen, holte er erschreckend schnell auf, aber auch, wenn Jonas seit einigen Monaten nicht mehr spielte, hatte er seine Fußballerbeine noch nicht völlig verloren. Sie lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Erik übernahm kurzfristig die Führung, als Jonas am Rand des Parkplatzes im Matsch ausrutschte und verzweifelt versuchte, sich nicht aufs Maul zu legen, doch mit dem Ziel in Sichtweite, aktivierte er seine letzten Kraftreserven und zog an seinem Kontrahenten vorbei. „Ha!“ Atemlos lehnte sich Jonas gegen die Beifahrertür. „Gewonnen!“ „Nur … dumm für dich … dass ich … den Schlüssel … habe“, schnaufte Erik. Mit einem Knopfdruck entriegelte er die Tür, aber als er das Auto umrunden wollte, hielt Jonas ihn fest. Der Parkplatz war leer, er und Erik allein. „Zeit für meinen Preis.“ Auffordernd tippte sich Jonas gegen die Lippen. Wenn er nervös gewesen war, als er Eriks Hand ergriffen hatte, stand er jetzt kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er schloss die Augen. Zärtliche Finger strichen nasse Strähnen aus Jonas‘ Stirn, erkundeten seine Wangen, streiften über seine erwartungsvoll geöffneten Lippen. Zunächst schmeckte Jonas nur Wasser. Dann schmeckte er Erik. Sanft, kaum wahrnehmbar und viel zu kurz. „Mehr“, flüsterte Jonas in die Leere. Erik erfüllte seinen Wunsch. Arm in Arm, versunken in ihrer eigenen Welt, lehnten die beiden an dem fliederfarbenen Ford. Ihre Hände suchten Halt am Körper des anderen; sie küssten, streichelten, erkundeten sich, schienen jede Berührung nachholen zu wollen, die ihnen in den letzten Wochen entgangen war. Eisige Tropfen rannen von Jonas‘ Haaren über seinen Nacken und Rücken, bis sie seine Kleidung völlig durchweicht hatten. „Du zitterst“, stellte Erik fest. „Du doch auch.“ „Wollen wir …“ Erik zögerte. „Zu dir?“, vervollständigte Jonas seinen Satz. „Japp, wollen wir definitiv.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)