Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 16 ---------- Was zuletzt geschah: Ein eigentlich netter Abend mit Erik und zwei Freunden lässt Jonas verunsichert darüber zurück, wo er und Erik nun eigentlich stehen. Zweifel, Alkohol und der Wunsch nach Ablenkung ergeben eine gefährliche Mischung und plötzlich findet sich Jonas im Bett mit einem Fremden wieder. Sein rebellierender Magen beendet die Sache vorzeitig, aber noch schafft es Jonas nicht, ihm dafür wirklich dankbar zu sein.   Kapitel 16 Beißende Kälte war das Erste, das Jonas nach dem Aufwachen wahrnahm. Das Zweite war sein flauer Magen. Nicht schlimm genug, um sich noch einmal zu übergeben, aber definitiv ausreichend, um ihm jeden Appetit zu verderben. Kein großer Verlust. Jonas war sich ohnehin nicht sicher, ob ihn seine steifen Gliedmaßen sicher bis zur Küche tragen würden. Er hoffte nur, wenigstens seinen Badschrank erreichen zu können. Eine Kopfschmerztablette war jetzt lebensnotwendig. Erst, nachdem Jonas die Tablette geschluckt und die Bestandsaufnahme seines physischen Zustands beendet hatte, holten ihn die Erinnerungen der vergangenen Nacht ein. Stöhnend sank er zurück auf den Boden. Das war wahrlich nicht sein erster Kater und mehr als einmal hatte er im Suff etwas angestellt, worauf er nüchtern gut hätte verzichten können, aber das war ein neuer Tiefpunkt. Die Füße an die Brust gezogen, den schmerzenden Kopf in den Händen, suhlte er sich in Selbstmitleid, bis er entschied, diese Tätigkeit seiner Gesundheit zuliebe in seinem warmen Bett fortzusetzen. Auf dem Weg dorthin hob er sein Handy auf, das im Laufe der Nacht aus seiner Hosentasche gerutscht sein musste. Er war beinahe überrascht, das Display heil vorzufinden. Angesichts seines bisherigen Tagesverlaufs hatte er etwas Anderes erwartet. Abgesehen von Larissa, die sich erkundigte, ob er noch eine gute Nacht gehabt hatte – der Zwinkersmiley dahinter sprach dafür, dass seine nächtliche Eskapade nicht völlig unbemerkt geblieben war – warteten keine Nachrichten auf ihn. Erik hatte sich schlicht nicht mehr gemeldet. Jonas biss sich auf die Lippe. Er schämte sich, wollte seine Sorgen mit jemandem teilen, sich Rat und Beistand holen oder einfach ordentlich ausheulen, bis er bereit war, den Dreck von seinen Klamotten zu klopfen und erhobenen Hauptes weiterzumachen. Aber an wen konnte er sich schon wenden? Larissa? Sie kamen gut miteinander aus, aber Jonas hatte nicht das Gefühl, sich ihr schon weit genug öffnen zu können, um ihr von Erik zu erzählen. Davon abgesehen, war sie mit Dominik befreundet. Es war schlimm genug gewesen, die Enttäuschung in ihrem Gesicht zu sehen, als er ihr erzählt hatte, dass das zwischen ihnen nichts werden würde. Jetzt noch zu gestehen, die ganze Zeit mehr oder minder zweigleisig gefahren zu sein, schien ihm mehr als unklug. Maria wollte er nicht mit seinen Problemen belasten, sie hatte genug mit ihren eigenen zu tun. Bei jedem ihrer Telefonate, hörte er die erzwungene Heiterkeit in ihrer Stimme, fühlte er ihren ständigen Kampf, sich nicht aufzugeben. Sie brauchte wirklich niemanden, der über sein verkorkstes Liebesleben jammerte. Und seine Schwester Christine? War es nicht schlimm genug, täglich mit ihren Eltern konfrontiert zu sein, ohne ein Wort über Jonas‘ Comingout verlieren zu dürfen? Musste er ihr wirklich ein weiteres Geheimnis aufbürden? Einen Augenblick lang dachte Jonas an Clemens. Wie einfach es doch wäre, ihn anzurufen und sein Leid zu klagen, wenn … tja, wenn Erik ein Mädchen wäre. Wütend auf sich und die ganze Welt, warf sich Jonas Kopf voraus in seine Kissen. Ein vager Geruch nach Alkohol und fremdem Deo stieg in seine Nase, doch bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, das Bett neu zu beziehen, war er bereits eingeschlafen. Als Jonas die Augen das nächste Mal aufschlug, beherrschten lange Schatten sein Zimmer; Kopfschmerz und Übelkeit waren zu einem Gefühl diffusen Unwohlseins zusammengeschmolzen. Stöhnend tastete er nach seinem Handy. Ein Blick auf die Uhrzeit ließ ihn hochfahren. „Fuck!“ Wenn er auch nur ansatzweise pünktlich bei Erik auftauchen wollte, hatte er noch ungefähr fünf Minuten, um das Haus zu verlassen. Und diese fünf Minuten mussten eine Dusche beinhalten, er konnte unmöglich in seinem jetzigen Zustand in die Öffentlichkeit. Das Handtuch schon im Arm, hielt Jonas inne. Wollte er überhaupt pünktlich bei Erik sein? Verkatert und mit schlechtem Gewissen? Nach allem, was passiert war? Vielleicht sollte er lieber absagen, durchatmen und dann zu einem besseren Zeitpunkt in Ruhe mit ihm sprechen. Oder sich zuhause vergraben und so tun, als hätten sie sich nie kennengelernt. Energisch wischte Jonas diese Gedanken beiseite. Es war Zeit, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, Erik seine Gefühle zu gestehen und mit den Konsequenzen zu leben. Mit neuer Energie drehte Jonas das Wasser auf und versuchte, Ricos Geruch und das Gefühl seiner Finger von seiner Haut zu waschen.   Jonas hatte noch nicht einmal Eriks Stockwerk erreicht, als ihn der Mut verließ. Die gesamte Fahrt hatte er damit verbracht nach passenden Worten zu suchen, aber jetzt da es Ernst wurde, war sein Kopf wie leergefegt. Vor dem letzten Treppenabsatz holte Jonas tief Luft. Er konnte das. Das war keine mündliche Prüfung bei seinem Hasslehrer, sondern ein Gespräch mit Erik, einem der empathischsten Menschen, denen er je begegnet war. Sicher spürte er schon, dass etwas nicht stimmte, bevor Jonas überhaupt den Mund geöffnet hatte. Er würde nachfragen und dann einfach zuhören. Geduldig und verständnisvoll. Die Wohnungstür war einen Spalt geöffnet, dahinter der Mann, der Jonas‘ Herz rasen ließ. „H–“ Jonas schaffte es nicht, sein Hallo zu beenden. Erik zog ihn in seine Wohnung, erstickte die Begrüßung mit einem Kuss. Hart, fordernd und ausgehungert. Unter anderen Umständen wäre Jonas in seine Arme geschmolzen und hätte sich Verlangen und Sehnsucht freudig hingegeben. Aber dieses Mal konnte er das nicht. Alles was er fühlte, waren grobe Hände und übereifrige Lippen, die ihn an Rico erinnerten. Still wartete er ab, bis Erik ihm eine kurze Pause gewährte, einen Augenblick, seine Gedanken zu sammeln. Stattdessen wurde Erik immer zudringlicher. Seine Finger fanden Jonas‘ Jeansknopf, nestelten ungeduldig daran, während seine Zunge nass und schleimig über Jonas‘ Hals leckte. Merkte er nicht, dass seine Berührungen unerwidert blieben? „Erik“, flüsterte Jonas hilflos, aber falls dieser ihn gehört hatte, ließ er sich nicht stören. Resigniert schloss Jonas die Augen. Erst Rico, jetzt Erik. War er für sie nicht mehr als ein Stück Fleisch, das ihrer Befriedigung diente? Ja, er hatte Scheiße gebaut, aber durfte man deshalb einfach auf seinen Gefühlen rumtrampeln, seine Wünsche und Bedürfnisse ignorieren? Zorn wallte in ihm auf. „Erik, HÖR AUF!“ Die Hände verschwanden, aber Jonas‘ Wut blieb. „Denkst du eigentlich nur ans Ficken?“ Nach einem tiefen Atemzug schlug er die Augen auf. Erik stand einen guten Meter von ihm entfernt, mit einem Ausdruck im Gesicht, der nahe an Entsetzen reichte und Jonas fürchten ließ, ihn nicht nur mit Worten von sich gestoßen zu haben. Das hätte allerdings vorausgesetzt, dass er sich überhaupt bewegen konnte. Mühsam lockerte er seine schmerzhaft zu Fäusten verkrampften Finger. Eine lange Sekunde sagte keiner von ihnen ein Wort. Jonas tastete nach der Türklinke. „Tut mir leid.“ Erik rieb sich über die Augen, versteckte das Gesicht hinter seinen Händen. „Tut mir leid.“ Das Letzte, das Jonas hören wollte, war eine Entschuldigung. Wenigstens einmal wollte er der moralisch Überlegene sein. Nicht der, der Gefühle entwickelte, aus Angst, enttäuscht zu werden beinahe fremdvögelte und dann in die Hand Biss, nach deren Berührung er sich eigentlich so sehnte. Jonas war wütend. Wütend auf Erik und dessen gepiercten Typen. Wütend auf Rico. Aber vor allem war Jonas wütend auf sich selbst. Also versuchte er, die Verantwortung für sein Handeln auf jemand anderen abzuwälzen. Was jedoch schwierig war, wenn derjenige ihn ansah wie ein geprügelter Welpe. „Könntest du endlich mal damit aufhören, immer so scheißverständnisvoll zu sein?“, fauchte Jonas. „Das is‘ einfach nur zum kotzen!“ „Du hast recht“, erwiderte Erik. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war sein Ton merklich abgekühlt „Ich muss kein Verständnis für deine Launen aufbringen. Oder dafür, dass du mich offensichtlich zu ihrem Blitzableiter auserkoren hast. So viel Respekt sollte ich vor mir selbst haben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Verletzt und noch immer zornig wandte sich Jonas mit einem knappen Nicken zur Tür. „Ach so, da wir ohnehin gerade beim Thema Respekt sind …“ Jonas hielt in seiner Bewegung inne, unschlüssig, ob er zuhören oder einfach gehen sollte. Erik nahm ihm die Entscheidung ab, indem er fortfuhr. „Du bist mir natürlich zu nichts verpflichtet und darfst vögeln wen auch immer du willst. Aber ist es wirklich zu viel verlangt, das nicht direkt vor meiner Nase zu tun?“ Die Türklinge und Jonas‘ darauf liegende Hand verschwammen vor seinen Augen. „Du hast uns gesehen?“ „Ich wollte dich in meiner Pause fragen, ob du Lust auf einen Mitternachtssnack hättest. Du warst allerdings schon anderweitig beschäftigt.“ Eilig verrieb Jonas die Tränen, die unvermittelt über seine Wangen rannen. „Du hast echt das beschissenste Timing der Welt.“ „Tatsächlich denke ich, dass mein Timing in diesem Fall ausgesprochen günstig war.“ „Fuck. Fuck, fuck, fuck. Fuck!“ „Kein Grund, dich so fertig zu machen.“ Eriks Stimme schnitt durch die Luft. „Wir waren uns einig, dass das zwischen uns nur eine lockere Sache ist. Es wäre mir zwar lieber, wenn du dir nicht das Tix als Jagdgrund suchen würdest, aber wenn du das unbedingt nötig hast, dann bitte. Ich halte dich nicht auf.“ „Erik …“ Endlich konnte sich Jonas von der Tür lösen. In einem kläglichen Versuch die Spuren seiner Tränen zu verbergen, wischte er mit dem Jackenärmel über Augen und Wangen, bevor er sich umdrehte. „Es tut mir leid.“ Erik setzte zu einer Erwiderung an, aber Jonas unterbrach ihn. „Warte! Lass … Lass mich kurz …“ Er holte Luft und hoffte, so wieder Kontrolle über seine Stimme zu erlangen. Alles in ihm sträubte sich, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber wenn die Alternative lautete, weiter Eriks kaltem Blick ausgesetzt zu sein, diesem harten Zug um seinen Mund, der keinen Hauch eines Lächelns zuzulassen schien, dann blieb ihm nichts übrig als reinen Tisch zu machen. Seine Finger verkrampften sich zu einer Faust, fest genug, damit seine Nägel tiefe Halbmonde in seiner Haut hinterließen. „Seit … Ich weiß nich‘ wie lang … Wochen, Monate … Seit ner scheißlangen Zeit jedenfalls, analysiere ich jetzt schon jedes Wort und jede Geste von dir, in der Hoffnung, etwas darin zu entdecken. Und inzwischen hab ich keine Ahnung mehr, woran ich bin. Mal bist du superlieb und aufmerksam und mal … seh‘ ich dich mit irgendwelchen Typen und … Ich war unsicher und hatte Angst vor Ablehnung und dann hast du dich gestern nicht blicken lassen, dafür war aber Rico da, der mir … Keine Ahnung, der einfach klargemacht hat, dass er mich will und …“ Jonas zwang sich, sein Gestammel an diesem Punkt zu beenden. „Ich hab mich in dich verliebt. So richtig heftig. Und hab die beschissenste Art gewählt, um damit umzugehen." Hoffnungsvoll blickte Jonas von seinen Füßen zu Erik, suchte in dessen Gesicht nach Hinweisen, aber da war nur diese neutrale Maske. „Ich weiß nicht, was ich dir dazu sagen soll.“ Jonas hatte damit gerechnet, abgewiesen zu werden, aber es war Eriks Emotionslosigkeit, die es besonders schmerzhaft machte. „Dann is‘ das wohl meine Antwort.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, drehte er sich um und flüchtete aus Eriks Wohnung. Mit jedem Schritt wurde er schneller, übersprang halbe Treppen, bis er endlich aus dem Haus und in der Kälte war. Er rannte weiter, stürzte die Straße hinunter und erreichte gerade noch rechtzeitig den an der Haltestelle wartenden Bus, bevor die Türen sich hinter ihm schlossen. Normalerweise genoss er es, das Stück bis zur Bahn zu Fuß zu laufen, aber heute wollte er einfach nur nach Hause, das Gesicht in seine Kissen drücken und hemmungslos heulen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)