Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 14 ---------- Was zuletzt geschah: Zurück in Berlin, kehrt Jonas nahezu nahtlos in den Großstadtalltag zurück. Er studiert, zieht mit seinen Freunden um die Häuser und genießt heißen Telefonsex mit Erik. Zugegeben, Letzteres ist eine eher neue Erfahrung und dazu eine, die abgesehen von einem Höhepunkt, in eine Verabredung zum Kaffeetrinken gipfelt. Aus dem Kaffee werden Kakao und Tee und die sonntägliche Verabredung zum Vögeln verwandelt sich in eine Einladung ins Theater, der Jonas nur zu gerne folgt, auch, wenn ihn der Gedanke, Eriks Freunde kennenzulernen, schon jetzt in Schweiß ausbrechen lässt.   Kapitel 14 „Fuck, fuck, fuck!“ Atemlos und wild um sich blickend, hetzte Jonas die Straße entlang, in der Hoffnung, endlich das erlösende Schild zu entdecken. Er war schon zehn Minuten zu spät und hatte noch immer keine Ahnung, ob er sich auch nur ansatzweise am richtigen Ort befand. Sein GPS blinkte nutzlos und versetzte den kleinen Punkt, der seinen Körper markieren sollte, ruckartig in einen Tümpel, der vermutlich nicht einmal in Berlin lag. Das wäre der passende Zeitpunkt gewesen, seine Niederlage einzugestehen und Erik anzurufen, um ihn um Hilfe zu bitten, aber noch brachte Jonas das nicht über sich. Die Erleichterung, die seinen Körper durchflutete, als er das niedrige Gebäude vor der nächsten Kreuzung als Theater erkannte, wurde rasch durch Unbehagen ersetzt. Sie hatten verabredet, sich vor dem Haupteingang zu treffen, aber keine Menschenseele war in Sichtweite. Wahrscheinlich hatte Erik die Warterei sattgehabt und sich ins Innere verzogen. Falls das so war, konnte Jonas ihm daraus kaum einen Vorwurf machen. Mit jedem Schritt, den er sich der Eingangstür näherte, wurde Jonas langsamer. Eigentlich hatte er geplant, einen guten ersten Eindruck auf Eriks Freunde zu machen. Sich zu verspäten und sie in der Kälte stehen zu lassen, konnte man nur bedingt als solchen bezeichnen. Vielleicht sollte er einfach wieder umkehren und Erik schreiben, dass er sich nicht gut fühlte. ‚Mach keinen Scheiß!‘, schalt er sich selbst. Erik hatte seine Karte bezahlt. Gar nicht erst aufzutauchen, war weitaus dreister als sich zu verspäten. Jonas atmete einmal tief durch und ging auf die Tür zu. Erst kurz davor bemerkte er das pfeilförmige Schild mit dem Vermerk ‚Haupteingang ums Eck‘. Schüchtern lugte Jonas um das Gebäude herum und entdeckte Erik in dem Moment, in dem dieser ihn entdeckte und mit einem breiten Lächeln zu sich und den beiden Männern neben ihm winkte. „Sorry“, krächzte Jonas verlegen, als er die kleine Gruppe erreicht hatte. „Irgendwie hab ich wohl den falschen Bahnaufgang erwischt, jedenfalls sah alles ganz anders aus als auf dem Plan, den ich mir davor angesehen hab und …“ „Alles gut“, beruhigte Erik ihn. „Wir haben mehr als genug Zeit.“ „Du musst dann wohl Jonas sein.“ Jonas richtete seinen Blick auf den Mann neben Erik, der ihn angesprochen hatte. „Ähm, ja. Hi.“ „Ich bin Marco!“ Grinsend reichte er Jonas die Hand. Obwohl Marco fast einen Kopf kleiner als Jonas war, trug er gefühlt dessen doppeltes Gewicht an Muskelmasse mit sich herum und hätte durchaus einschüchternd gewirkt, wären da nicht sein offenherziges Lachen und die dunklen, freundlichen Augen gewesen, die Jonas neugierig musterten. „Kommt nicht oft vor, dass Erik uns jemanden vorstellt.“ „Und jetzt frag dich mal, warum das so ist“, erwiderte dieser mit einem schmalen Lächeln. „Och, ich denke, das wissen wir beide.“ „Marco“, raunte dessen Nebenmann kaum hörbar, bevor er sich an Jonas wandte. „Mein Name ist Drago.“ In seinen Worten schwang ein für Jonas‘ Ohren ungewohnter Akzent mit. Weich und melodisch, mit einer ganz eigenen Art das ‚R‘ zu rollen. Im Gegensatz zu Marco, war Drago groß und drahtig, mit aschblondem Haar, hohen Wangenknochen und harten Gesichtszügen. Im ersten Augenblick fürchtete Jonas, er hätte sich mit seiner Verspätung doch bei wenigstens einer Person unbeliebt gemacht, aber als er Drago die Hand reichte, schenkte dieser ihm ein warmes Lächeln. „Schön, dich kennenzulernen.“ „Freut mich auch sehr.“ „Dann ist die offizielle Vorstellungsrunde wohl beendet, was?“, fragte Marco sichtbar gut gelaunt und legte einen Arm um Drago, der die Geste mit einem strengen Blick quittierte, aber nichts dagegen unternahm. „Lasst uns reingehen“, schlug Erik vor. „Es ist doch relativ viel los und hier herrscht freie Platzwahl. Wenn wir zu spät dran sind, könnte es schwierig werden, zusammenhängende Sitze zu ergattern.“ Einen Moment lang hoffte Jonas, er würde Marcos Geste kopieren, doch Erik hielt Abstand als er sie ins Innere des Theaters führte. Die Vorhallte war schlicht und gemütlich eingerichtet, aber so winzig, dass kaum alle Besucher hineinpassten und der eigentliche Saal bot nach Jonas‘ Schätzung nicht mehr als sechzig Plätze. Selbstverständlich waren die besten davon bereits besetzt. „Hoffentlich wird es halbwegs lustig“, brummte Marco als er sich auf einen der knarzenden Holzstühle fallen ließ. „Mir würden spontan tausend bessere Ideen für ‘nen Sonntagabend einfallen.“ „Jetzt hör auf zu nölen“, tadelte Erik sanft. Er ließ Jonas den Vortritt und setzte sich selbst auf den äußersten Platz. „Du hast dem Theaterabend schließlich zugestimmt.“ „Weil ihr mir als einzige Alternative ein Musical gelassen habt. Ein Musical! Als würdet ihr euch extra Mühe geben, sämtliche Klischees zu erfüllen!“ „Was ist mit dir, Jonas?“ Drago hatte offenbar entschieden, das Quengeln seines – wie Jonas annahm – Partners zu ignorieren. „Gehst du häufiger ins Theater?“ „Ähm … gelegentlich. In der Schule hatten wir so ‘n Theaterabo …“ „In der Schule?“, wiederholte Marco und lachte. „Das ist eine sehr nette Art, unseren beiden Kulturfanatikern hier klarzumachen, dass dir Theater am Arsch vorbeigeht und du heute nur aus Mitleid oder Mangel an Alternativen mitkommst. Ich meine, wie lange ist die Schule bei dir her? Bestimmt fünf Jahre, oder?“ „Eigentlich hab ich grade erst mein Abi gemacht“, erwiderte Jonas peinlich berührt. Marcos verblüffter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein joviales Grinsen. „Awww! Ein Küken!“ „Marco!“ Dieses Mal kam der Rüffel zweistimmig. Einmal von Drago, einmal von Erik. „Ignorier ihn einfach“, wies Drago Jonas an. „Er ist offensichtlich in einer Höhle groß geworden und weiß es nicht b–“ Das letzte Wort wurde von Marcos Lippen erstickt und Jonas sah, wie Dragos anfänglicher Protest erstarb, seine kühlen Züge weich wurden und sich sein Körper an den seines Freundes schmiegte. Verlegen über diese öffentliche Zuneigungsbekundung, richtete Jonas den Blick auf seine verschränkten Hände und entschied, das Thema zu wechseln, nachdem die beiden wieder voneinander abgelassen hatten. „Erik hat erzählt, ihr wärt nur zu Besuch hier. Wie lange bleibt ihr denn?“ „Nur noch morgen“, antwortete Drago. „Kaum zu glauben, dass das jetzt schon das sechste Mal ist, dass wir das machen. Ist inzwischen ‘ne richtige Tradition geworden“, fügte Marco hinzu. „Also kommt ihr jedes Jahr hierher?“ „Wir können Erik seinen Geburtstag ja schlecht alleine feiern lassen! Auch, wenn wir dieses Jahr etwas spät dran waren.“ „Du hattest Geburtstag?“ Überrascht drehte sich Jonas zu Erik, dem das Thema unangenehm zu sein schien. „Am neunzehnten“, antwortete er knapp. „Warum hast du nix gesagt?“ Erik zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nicht, dass du dich zu irgendwas verpflichtet fühlst.“ Der Saal verdunkelte sich und das Scheinwerferlicht, das auf die kleine Bühne vor ihnen gerichtet wurde, beendete ihr Gespräch frühzeitig.   Jonas stimmte in den stürmischen Beifall des Publikums ein. Das Stück war überraschend witzig gewesen, die Schauspieler hervorragend und die Stimmung ausgelassen. Der Abend wäre perfekt, hätte Erik nur irgendwann Jonas‘ Hand, die dieser demonstrativ auf der schmalen Lehne platziert hatte ergriffen. „Und?“ Erik wandte sich an Marco. „War das jetzt so schlimm?“ „Nö, war eigentlich ganz nett.“ Erwartungsvoll grinste Marco in die Runde. „Wie geht’s jetzt weiter? Gibt’s das Duo noch?“ „Sofern es in den letzten sechs Monaten nicht dichtgemacht hat.“ Eriks Antwort klang in Jonas‘ Ohren ein wenig unwillig, aber Marco reagierte mit dem Enthusiasmus eines Kinds im Süßwarenladen. „Dann mal los!“ „Du könntest auch erst fragen, ob wir überhaupt Lust darauf haben“, merkte Drago an. „Nö, Ausreden sind nicht erlaubt. Ich bin mit ins Theater, dafür kommt ihr jetzt mit ins Duo! Müssen wir doch ausnutzen, wenn wir schon in Berlin sind.“ Kopfschüttelnd folgte Drago seinem Freund, der sich ungeduldig durch die schmale Sitzreihe drängte. Jonas und Erik schlossen sich ihnen an, doch auf der Treppe angekommen, stoppte Erik Jonas, indem er ihn sanft am Oberarm berührte, die Hand allerdings gleich darauf wieder wegzog. Ihre beiden Begleiter, die davon nichts bemerkt hatten, steuerten weiter den Ausgang an. Fragend drehte sich Jonas zu Erik. „Kennst du das Duo?“, erkundigte sich dieser. „Nee.“ „Grundsätzlich ist dort natürlich jeder willkommen, aber es richtet sich vornehmlich an ein schwules Publikum. Falls du dort also lieber nicht gesehen werden willst, können wir gerne woanders hingehen.“ Im ersten Moment war Jonas so überrascht und gerührt von Eriks Umsicht, dass die Zweifel erst im zweiten kamen. „Irgendwie hab ich nich‘ das Gefühl, dass Marco davon begeistert sein wird.“ Erik winkte ab. „Der wird es überleben, wenn er einmal im Leben seinen Dickschädel nicht durchsetzen kann. Berlin hat wirklich genug Alternativen zu bieten.“ „Aber es is‘ doch scheiße, wenn ihr nur wegen mir eure Pläne umschmeißt.“ „Ich würde Marcos Ideen nicht als ‚Pläne‘ bezeichnen“, entgegnete Erik gelassen. „Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht übermäßig scharf aufs Duo.“ Jonas zupfte am Reißverschluss seiner Lederjacke. Er dachte an Marco und Drago, die den gesamten Abend über offen gezeigt hatten, dass sie zueinander gehörten. Ihre Finger, die sich ineinander verschlungen hatten, die flüchtigen, aber liebevollen Küsse, die vielen beiläufigen Berührungen, die zeigten, wie selbstverständlich die Nähe des anderen für sie war. Wenn er auch nur hoffen wollte, jemals etwas Ähnliches zu haben, musste er anfangen, seine Hemmungen abzubauen. „Eigentlich wär‘ ich schon ‘n bissl neugierig auf den Laden.“ Erik wirkte überrascht, lächelte aber. „Dann sollten wir sehen, dass wir die anderen einholen, bevor sie ohne uns hingehen.“ Als sie auf die Straße traten, wurden sie Zeuge eben jener Zuneigung, die Jonas zu seiner Entscheidung bewogen hatte. Obwohl sich ihre Lippen nur sanft berührten, strahlten Marco und Drago eine solche Intimität aus, dass er sich erneut betreten abwandte. Erik zog hingegen eine Braue hoch. „Wollt ihr doch lieber gleich ins Hotel?“ Ohne hinzusehen, scheuchte Marco ihn mit einer Handbewegung fort, aber Drago schob seinen Freund resolut von sich und ignorierte das darauffolgende enttäuschte Jammern. „Du wolltest ins Duo“, erinnerte er Marco. „Jetzt halte dich auch daran.“   Zaghaft blickte sich Jonas nach bekannten Gesichtern um und atmete erleichtert auf, als er feststellte, dass er das Duo wohl ungesehen betreten konnte. Sein ursprünglicher Mut hatte ihn überraschend schnell verlassen. So unauffällig wie möglich, zog er seinen Geldbeutel aus der Tasche. Der Türsteher kontrollierte streng und Jonas plante, seinen Ausweis vorzuzeigen, bevor er lautstark dazu aufgefordert wurde. Irgendetwas sagte ihm, das Marco das nicht unkommentiert lassen würde. Wie erwartet, musterte der Türsteher ihn kritisch, ließ ihn jedoch nach einem kurzen Nicken zu Erik passieren. „Das is‘ mir auch noch nich‘ passiert“, sagte Jonas verblüfft und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Er hätte die Sache auch einfach hinnehmen können als wäre es das Normalste der Welt für ihn, ohne Ausweiskontrolle in Clubs gelassen zu werden, aber nein, er hatte mal wieder die Klappe aufreißen müssen. „Pascal hat eine Weile fürs Tix gearbeitet“, erklärte Erik, laut genug, damit Jonas ihn über die Musik hören konnte. „Er weiß, dass ich ihnen keine Minderjährigen anschleppen würde.“ „Oh. Ach so.“ Um seine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass er offenbar doch nicht so erwachsen aussah wie er einen Moment lang gehofft hatte, ließ Jonas den Blick durch den Raum schweifen. Abgesehen von einer erhöhten Männerquote, wirkte der Laden völlig normal. Dämmrige Beleuchtung, eine große Theke, hinter der diverse Spirituosen ausgestellt waren sowie einige Tische und Hocker, die man an den Wänden postiert hatte, um noch genug Platz für eine kleine Tanzfläche zu bieten. „Ganz schön voll.“ „Du solltest mal an einem Samstag herkommen.“ Mit Jonas im Schlepptau, kämpfte sich Erik zur Bar durch. „Was willst du trinken?“ Jonas‘ spontaner Entschluss, Erik und die anderen zu begleiten, hatte unglücklicherweise nicht seinen ohnehin schon schmalen Geldbeutel bedacht, aber er weigerte sich, sich davon den Abend verderben zu lassen. „Nix da, das übernehme ich!“ Als Erik protestieren wollte, hob er abwehrend die Hand. „Keine Widerrede. Was willst du?“ „Eine Cola.“ Abschätzend musterte Jonas ihn. „Du brauchst echt nich‘ was möglichst Billiges nehmen.“ Erik lachte. „Tue ich nicht. Ich trinke nur sehr selten Alkohol.“ „Oh. Okay. Cola also.“ Mit ihren Getränken in der Hand – Cola für Erik, Bier für Jonas – sahen sie sich um. „Marco und Drago haben sich wohl in den hinteren Bereich verzogen.“ Tatsächlich war Dragos heller Schopf in der Menge gut auszumachen, aber er und Marco waren zu sehr miteinander beschäftigt, um den beiden Neuankömmlingen große Aufmerksamkeit zu schenken. Amüsiert schüttelte Erik den Kopf. „Immer noch wie ein frisch verliebtes Pärchen.“ „Wär‘ ziemlich gut, das auch zu haben …“ Sorgsam beobachtete Jonas Eriks Reaktion auf seine Worte. Dieser lächelte, gab darüber hinaus aber herzlich wenig preis. Nach einigen Sekunden, in denen Enttäuschung ein schmerzhaftes Loch in Jonas‘ Brust grub, wechselte er das Thema. „Bist du eigentlich öfter hier?“ „Früher häufiger“, antwortete Erik. „In letzter Zeit nicht mehr wirklich.“ „Wieso nicht?“ Erik zuckte mit den Schultern. „Kaum Zeit und ehrlich gesagt auch keine Lust.“ „Darfst du das überhaupt schon trinken?“, mischte sich plötzlich Marco in ihr Gespräch ein und tippte gegen Jonas‘ Bier. „Würdest du bitte endlich damit aufhören?“ Erik klang alles andere als amüsiert. „Ach komm“, wehrte Marco lachend ab. „Ich zieh das Küken doch nur ein bisschen auf! So, wer macht jetzt mit mir die Tanzfläche unsicher?“ Jonas hob die Hand. „Das Küken!“ Zur Hölle mit dämlichen Spitznamen, damit konnte er gerade noch umgehen. Zwei Sekunden verstrichen, dann brach Marco in schallendes Gelächter aus und klopfte Jonas kräftig auf den Rücken. „Siehst du, Erik? Er versteht meinen Humor!“ Ebenfalls lachend, packte Jonas Eriks Handgelenk und zog ihn – ein paar halbherzig vorgebrachten Protesten zum Trotz – mit auf die Tanzfläche. Anfangs hielt er sich eng an Marco und Erik; verunsichert von den vielen knapp bekleideten männlichen Körpern und der eindeutig sexuell aufgeladenen Stimmung um ihn herum, aber jeder Song, der über ihn hinwegspülte, nahm ein paar Hemmungen mit sich. Allerdings nicht schnell genug. Kurz bevor sich Jonas überwinden konnte, nicht mehr nur sehnsüchtig auf Eriks Schultern, Hüften und Hände zu starren, sondern sie zu berühren, verabschiedete sich dieser von der Tanzfläche und gesellte sich zu Drago an einen der Stehtisch. Jonas war versucht, ihm zu folgen, aber er mochte den Song, der in diesem Moment begann. Und den nächsten. Und den übernächsten. Verschwitzt und atemlos, traf Jonas das restliche Grüppchen an der Bar wieder. „Ist hier noch jemand kurz vorm Verhungern?“, fragte Marco und stellte sein leeres Glas auf den Tresen. Erik und Drago schüttelten die Köpfe, aber Jonas‘ Magen hatte sich schon im Theater bemerkbar gemacht und sein zweites Bier war ausreichend gewesen, um seinen Blick zu verschleiern. „Ich hätte nichts dagegen“, gab er zu. „Sonst keiner?“ Als sich niemand meldete, hakte sich Marco bei Jonas unter. „Dann läuft’s wohl auf uns zwei Hübsche hinaus. Kennst du was in der Gegend?“ „Ähm, nee …“ „Gut, ich auch nicht.“ „Ein Stück die Straße runter sind ein paar Fast-Food-Läden, die noch offen haben sollten.“ Vage deutete Erik zum Ausgang und nach rechts. „Dann mal los!“ Dankbarerweise entließ Marco Jonas wieder aus seinem Griff, bevor sie die Straße betraten. Schweigend liefen sie nebeneinander her, feiner Nieselregen trieb die Leute in eine der zahlreichen Bars, die sie passierten. Ein Pärchen, das sich unter einem viel zu kleinen Regenschirm zusammengekuschelte hatte, rannte kichernd an ihnen vorbei. „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Drago und du, mein ich …“ Obwohl er den ganzen Abend über sehr herzlich mit ihm umgegangen war, schüchterte Marco Jonas noch immer ein wenig ein. „Ganz unspektakulär über einen gemeinsamen Freund. Wir waren auf seiner Einweihungsparty und sind eher zufällig ins Gespräch gekommen.“ Marco grinste breit. „Tja, und ein paar Jahre später sind wir dabei, ein gemeinsames Haus zu bauen.“ „Ehrlich?“ Der Gedanke, ein Haus zu bauen, um dort zusammen mit seinem Partner zu leben, lag für Jonas noch so weit in der Zukunft, dass es ihm beinahe unwirklich erschien. „Naja, Drago ist Architekt und ich Tischlermeister, wir haben gute Kontakte in so ziemlich jeden Bereich der Bauchbranche. Da wäre es irgendwie paradox, ewig in einer Mietwohnung zu leben.“ Marco verschränke die Arme vor der breiten Brust. „Wir machen das meiste in Eigenregie oder mit Hilfe von Freunden, aber dafür braucht alles auch entsprechend lange. Dauert sicher noch ein halbes Jahr, bis das Haus halbwegs bewohnbar ist.“ „Ähm, ich hab noch gar nich‘ gefragt, wo ihr überhaupt wohnt. Nich‘ in Berlin, so viel weiß ich.“ „In Stuttgart. Geboren und aufgewachsen. Naja, ich. Drago lebt erst seit ein paar Jahren dort.“ „Dann kennst du Erik wohl schon eine ganze Weile?“ „Zehn Jahre, ungefähr.“ „Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Jonas weiter. Plötzlich war da etwas Wachsames in Marcos Zügen. „Hat er dir das nicht erzählt?“ „Ähm, nee. Er hat eigentlich gar nich‘ viel gesagt. Bloß, dass er heute mit zwei Freunden ins Theater geht.“ Seufzend kratzte Marco seinen Nacken. „Also, ursprünglich kennengelernt haben wir uns übers Boxen.“ „Erik boxt?“, rief Jonas entsetzt und einmal mehr brach Marco in schallendes Gelächter aus. „Nicht wirklich. Er war grauenhaft und hat es gehasst.“ Marco schüttelte den Kopf, lächelte dabei aber. „Ich habe nie rausgefunden, wie sehr das eine das andere bedingt hat. Jedenfalls war ich schon seit Jahren in diesem Studio und hatte es mir zur Aufgabe gemacht, den Anfängern ein bisschen unter die Arme zu greifen.“ „Hat in Eriks Fall wohl nich‘ so ganz klappt. „Ha! Nein, hat es wohl nicht. Aber wir haben uns kennengelernt und das war das wirklich Wichtige.“ Er tippte gegen Jonas‘ Schulter. „So, du bist dran. Erzähl mir ein bisschen was von dir.“ „Oh, ähm … Guck mal, der Dönerstand da drüben. Holen wir uns was von da?“ „Machen wir. Und glaub bloß nicht, dein Ablenkungsversuch würde funktionieren.“ Jonas tat, als hätte er Marcos Bemerkung überhört. Sie bezahlten ihr Essen und verschlangen es noch an Ort und Stelle. „Also?“, fragte Marco, nachdem er den letzten Bissen heruntergeschluckt und das Papier im Müll entsorgt hatte. „Schieß los.“ „Da gibt es nich‘ so viel zu erzählen …“ „Bisher kenne ich genau deinen Namen. Ein bisschen mehr darf es schon sein.“ „Naja, ähm …“ Verlegen strich sich Jonas durchs Haar. Warum nur hatte er das Gefühl, genauestens durchleuchtet zu werden? „Du hast gerade Abi gemacht, richtig?“, half Marco nach. „Also bist du – was? – achtzehn? Neunzehn?“ „Zwanzig, eigentlich“, murmelte Jonas, grub die Hände tiefer in die Taschen und starrte auf den Gehweg vor ihm. Sein Alter und sein Schulabschluss waren beides keine Themen, mit denen er sich besonders wohlfühlte. „Ich, ähm … Ich bin ‘n Jahr später in die Schule gekommen und … musste dann die achte Klasse wiederholen. Ich … war nich‘ grad ‘n Musterschüler.“ „Und trotzdem hast du es bis zum Abi durchgezogen?“ Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich wusst‘ nich‘, was ich sonst machen soll. Wollte immer in Richtung Kunst gehen, aber wenn ich mir einfach bloß ‘ne Ausbildung gesucht hätte, hätten meine Eltern bestimmt drauf bestanden, dass ich ‘ne Kochlehre oder so mach‘, damit ich ihre Gaststätte übernehmen kann. Nach dem Abi war ich wenigstens volljährig und konnt‘ selbst entscheiden, was ich werden will.“ „Habt ihr ein gutes Verhältnis, du und deine Eltern?“ „Jaah, im Großen und Ganzen schon.“ Jonas stockte. „Nee, ich bin unfair. Eigentlich haben wir ‘n echt gutes Verhältnis.“ „Und uneigentlich?“ Kein Wunder, dass Marco und Erik befreundet waren. Sie waren beide absolute Genies darin, Jonas Dinge zu entlocken, die er normalerweise für sich behalten hätte. „Keine Ahnung … Wahrscheinlich hab ich manchmal Angst, sie zu enttäuschen. Das … kann ganz schön belastend sein.“ Marco brummte zustimmend. „Da bin ich fast froh, dass ich das schon hinter mir habe.“ Die unbekümmerte Aura, die ihn bisher umgeben hatte, flackerte und Jonas schluckte seine Frage herunter. Allerdings schien seine Neugierde Marco nicht entgangen zu sein. „Meine Eltern zu enttäuschen, meine ich.“ „Was ist passiert?“ „Sie haben nicht besonders gut auf mein Comingout reagiert.“ „Oh.“ „Was mir eigentlich immer klar war.“ Marco stieß ein leises Seufzen aus. „Dass sie mich direkt vor die Tür setzen, hatte ich allerdings nicht erwartet.“ „Das … Das is‘ heftig.“ Steif setzte Jonas einen Fuß vor den anderen, während er versuchte, die Vorstellung von sich zu schieben, seine eigenen Eltern könnten ihn ebenso verbannen, sollten sie jemals von seiner Homosexualität erfahren. „Ach, scheiße“, murmelte Marco. „Du hast es deinen noch gar nicht gesagt, oder?“ Jonas schüttelte den Kopf. „Und bist dir nicht sicher, ob du es tun sollst.“ Jonas nickte. „Tja, da habe ich ja mal voll in die Scheiße gegriffen. Sorry. Lass mich dir sagen, dass ich über die Jahre sehr, sehr viele Comingouts mitbekommen habe und die Reaktion meiner Eltern definitiv die extremste war.“ „Darf ich fragen, wie’s danach zwischen euch weiterging? Ich mein, ähm, ich kann voll verstehen, wenn du nich‘ drüber quatschen willst, aber ...“ „Ach was, das ist schon okay“, versicherte Marco. „Ich fürchte nur, es gibt nicht viel Positives zu berichten. Mein Vater hat mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus der Wohnung geschmissen und sehr deutlich gemacht, dass ich ihm nicht mehr unter die Augen treten soll. Ich bin dann erst mal bei Freunden untergekommen, bis ich mit der Lehre fertig war und mir was eigenes leisten konnte. Von meinen Eltern habe ich seitdem nichts mehr gehört.“ „Gar nix?“, fragte Jonas entsetzt. „Nein.“ Marco war offensichtlich um einen unbekümmerten Tonfall bemüht, doch seine Hände waren fest zu Fäusten geballt. „Am Anfang habe ich versucht, anzurufen, aber sie haben aufgelegt, wann immer sie meine Stimme erkannt haben. Danach bin ich dazu übergegangen, ihnen Briefe zu schreiben. Jedes Jahr einen. Ich erzähle ihnen, wie es mir so geht und was ich gemacht habe.“ Er seufzte. „Drago sagt immer, dass ich das lassen soll, weil ich mir nur unnötig Hoffnung mache, dass sie irgendwann doch darauf antworten könnten, aber … Ich sehe das anders. Die beiden sollen schlicht nicht vergessen, dass sie einen Sohn haben.“ Jonas wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und es war Marco, der das Schweigen brach, kurz, bevor sie das Duo erreicht hatten. „Guck nicht so traurig!“, forderte er ihn auf. „Ich hatte über zehn Jahre Zeit, um mich mit der Geschichte zu arrangieren und nur, weil es mir passiert ist, muss es bei dir noch lange nicht genauso laufen. Wie gesagt, ausgehend von dem, was ich in den letzten Jahren so mitbekommen habe, bin ich definitiv einer der extremsten Fälle.“ Stumm nickte Jonas und zuckte zusammen, als sich ein schwerer Arm um seine Schultern legte. „Komm, ich gebe dir jetzt erstmal ein Bier aus und dann machen wir die Tanzfläche unsicher!“ Jetzt schaffte es wenigstens ein schmales Lächeln auf Jonas‘ Gesicht.   Verschwitzt und durstig bahnte sich Jonas seinen Weg zur Bar. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, wusste nur, dass er dringend etwas zu trinken brauchte. Idealerweise ohne Alkohol, wenn er an diesem Abend auch nur ansatzweise einen klaren Kopf behalten wollte. Während er darauf wartete, dass der Barkeeper ihn bemerkte, warf er einen Blick auf die kleine, inzwischen beinahe überfüllte Tanzfläche. Erik war bereits vor einer Weile irgendwo in der Menge verschwunden, doch Jonas fühlte noch immer ein Kribbeln an den Stellen, die seine Hände zuvor beim Tanzen berührt hatten. Sicher, sie waren dabei nicht so eng umschlungen gewesen wie einige der anderen Gäste, oder auch nur halb so vertraut wie Marco und Drago, aber es war dennoch schön gewesen, mal nicht jeden Blick und jede Geste auf Öffentlichkeitstauglichkeit überprüfen zu müssen. „Welch Glück, da bekomme ich ja doch noch die Gelegenheit, mit dem Neuen zu quatschen.“ Instinktiv trat Jonas einen Schritt zurück, um der unangenehm lauten Stimme an seinem Ohr zu entkommen. Direkt neben ihm stand ein Mann in seinem Alter, mit einem Lächeln auf den Lippen, das seine Augen nicht erreichte. „Was?“ „Du bist doch Eriks neuester Fang, nicht wahr?“, fragte der Fremde vergnügt. „Keine Ahnung, wovon du redest.“ Jonas versuchte weiterhin Abstand zu gewinnen, aber es war voll und seine Nachbarn machten keine Anstalten, ihm mehr Platz zu gönnen. „Wirklich nicht?“ Das falsche Lächeln des Fremden wurde breiter. „Dann habe ich mir sicher nur eingebildet, euch den ganzen Abend zusammen gesehen zu haben. Und du hast nicht noch immer diesen erdigen Duft in der Nase, weißt nicht, wie es sich anfühlt, von ihm berührt zu werden. Oder geküsst … Sanft und zurückhaltend, beinahe schüchtern, bis du vor Sehnsucht nach ihm zerfließt. Dich zu ihm lehnst und ihm zeigst, wie sehr du ihn willst.“ Der Fremde machte eine kunstvolle Pause „Erst dann lässt er dich sein Verlangen spüren.“ Unwillkürlich wanderten Jonas‘ Finger zu seinen Lippen, strichen darüber, weckten die Erinnerung an ihren ersten Kuss. Diese Reaktion blieb seinem Gegenüber nicht verborgen. „Na, siehst du? Das hättest du doch gleich zugeben können, wir sind hier doch alle Freunde.“ Der Fremde verzog das Gesicht zu einer Trauermiene. „Leider, leider hat man so einen Typen wie Erik nie für sich allein.“ Vertrauensvoll legte er einen Arm um Jonas und deutete mit der anderen Hand in den hinteren Bereich, der von der Bar aus gerade noch zu sehen war. „Guck!“ Er hatte Jonas den Rücken zugewandt, aber es war eindeutig Erik, der sich gerade angeregt mit einem ziemlich attraktiven Mann unterhielt, dessen Piercings im gedämpften Licht funkelten. Noch während Jonas ihn beobachtete, legte Erik zärtlich eine Hand an die Wange des Manns, strich eine Haarsträhne hinter dessen Ohr und beugte sich vor, als hauchte er ihm Küsse auf den bloßgelegten Hals. „Tut mir ja echt leid für dich“, flötete der Fremde. „Sowas ist hart. Das weiß ich.“ „Einen Scheiß weißt du!“, knurrte Jonas und schlug die Hand von seiner Schulter. „Und nimm endlich deine Bratzn weg!“ „Ist hier alles in Ordnung?“ Bei Dragos Anblick, verzog sich der Fremde in die andere Richtung, allerdings nicht, ohne Jonas noch einmal verschwörerisch zuzuzwinkern. „Jonas?“ „Jaah … Ja, alles okay“, murmelte Jonas abgelenkt. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. „Bin wohl die viele Aufmerksamkeit nich‘ gewohnt.“ Das war noch nicht einmal gelogen, er war noch nie so oft angesprochen worden, wie an diesem Abend. Die anderen Begegnungen waren jedoch wesentlich angenehmer gewesen. „Hm.“ Drago wirkte nicht überzeugt, ließ das Thema jedoch fallen. „Marco und ich würden langsam ins Hotel aufbrechen. Bleibt ihr noch?“ „Ich denk‘, ich hau auch ab.“ Jonas hatte eindeutig die Schnauze voll. „Ich wart‘ schon mal draußen.“ Die Nachtluft kühlte seine heißen Wangen und vertrieb ein paar Nebelfetzen aus seinem Kopf. Mit geschlossenen Augen reckte er die Nase in den Wind. „Sieht aus, als müssten wir alle in verschiedene Richtungen. “ Marcos Stimme schien weit entfernt. Die Hand, die sich auf seine Schulter legte, holte Jonas jedoch zurück in die Realität. Erik lächelte sanft. Unschuldig. Als hätte er sich nicht bis eben an einen anderen Typen rangemacht. „Müde?“ „‘N bisschen“, antwortete Jonas ausweichend. „Wir haben gerade festgestellt, dass es sich nicht wirklich lohnt, uns ein Taxi zu teilen“, erklärte Erik. „Aber wenn du willst, kannst du heute gern bei mir übernachten.“ „Nee, lass mal“, wehrte Jonas ab. Rasch fügte er hinzu: „Ich hab morgen doch scheißfrüh ‘n Seminar.“ Daran hätte er mal lieber gleich denken sollen, bevor er sich auf den Abend eingelassen hatte. „Ah, das verstehe ich natürlich.“ Erik trat von einem Fuß auf den anderen. „Vielleicht könnten wir uns trotzdem ein Taxi teilen. Dann setze ich dich zuerst bei dir ab und–“ „Wir müssen doch in entgegengesetzte Richtungen“, unterbrach Jonas ihn. Eigentlich hatte er keine Ahnung, wo sie überhaupt waren, aber er verspürte nicht die geringste Lust, sich zusammen mit Erik auf die Rückbank eines Taxis zu pferchen. „Mir macht ein Umweg wirklich nichts aus.“ „Nee, das passt schon.“ Jonas wollte einfach nur weg, wollte Abstand zwischen sich und Erik bringen, damit er verarbeiten konnte, was er gerade gesehen hatte. „Da fährt bestimmt irgendwo eine Nachtlinie, die ich nehmen kann.“ „Sicher?“, fragte Erik zweifelnd. „Ganz sicher. Du hast dich heut‘ echt schon genug um mich gekümmert.“ Er winkte Marco und Drago zu. „War nett, euch kennengelernt zu haben!“ Nach diesem kurzen Abschied flüchtete Jonas in eine Seitenstraße und hoffte, irgendwie nach Hause zu finden.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)