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Raupe im Neonlicht

von

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Kapitel 12

Was zuletzt geschah:

Wichtige Gespräche finden immer in der Küche statt. Dieser Regel folgend, nutzt Jonas eine nächtliche Begegnung mit seiner Schwester für sein Comingout und erntet entgegen seiner Befürchtung keine Ablehnung, sondern eine rippenbrechende Umarmung.

Damit hat er eine Sorge weniger, doch ein paar andere bleiben. Ist seine Beziehung zu Erik wirklich rein sexuell? Und was zur Hölle ist eigentlich mit Maria los?

 

Kapitel 12

„Und du trinkst keinen Schluck Alkohol!“

„Natürlich nicht, Mama“, versprach Jonas etwa zum fünfzigsten Mal.

„Und du hast deine Schwester im Blick!“

„Ja, Papa.“ Das hatte er sicher schon sechzig Mal versprochen.

„Und du rufst an, wenn etwas sein sollte.“

„Aber ja.“

„Denk daran, dass Christine minderjährig ist.“

„Christine steht übrigens neben euch und hört jedes Wort“, maulte diese ihre Eltern an. „Ich werde mich nicht abfüllen, schwängern oder entführen lassen. Jonas wird in der Rolle des verantwortungsvollen Fahrers und großen Bruders völlig aufgehen. Können wir jetzt, da sich alle über die Bedingungen im Klaren sind, endlich los?“

„Fahrt vorsichtig.“ Jonas‘ Mutter zog ihre beiden Kinder in eine rippenzermalmende Umarmung.

„Aber ja“, versicherte Jonas. „Is‘ doch bloß München. Die Fahrt dauert nich‘ mal ‘ne Stunde.“

„Denk immer daran, dass alle anderen Volltrottel sind und fahr entsprechend“, mahnte sein Vater.

„Daran musst du mich wirklich nich‘ erinnern.“

„Okay, ich erkläre das hier jetzt offiziell für beendet!“ Christine ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloss die Tür mit einem lauten Knall.

„Wir sehen uns morgen.“ Jonas beeilte sich, seiner Schwester zu folgen, bevor seine Eltern ihre Belehrungen fortsetzen konnten. Es war wundervoll, wieder hinter dem Steuer seines geliebten, kleinen Autos zu sitzen, das er bei seinem Umzug nach Berlin schweren Herzens Christine vermacht hatte.

„Schade, dass du zu jung bist, um meinen Begleiter zu spielen“, sagte diese. „Sonst könnte ich jetzt fahren.“

„Und mir den ganzen Spaß verderben?“ Jonas tippte gegen seine Schläfe. „Vergiss es!“

„Dann hoffe ich mal, dass du das Fahren mit der alten Rostlaube noch nicht verlernt hast. Ist ja doch schon eine Weile her, seit du das letzte Mal damit unterwegs warst.“

„Jetzt fang du nich‘ auch noch an!“ Auch diesen Vortrag hatte Jonas bereits von seinen Eltern zu hören bekommen. Zu seiner Erleichterung, erinnerte sich sein Körper genau an die kleinen Macken und Bedürfnisse des Wagens und bald brausten sie entspannt über die Landstraße.

„Was treiben du und Maria heute?“, fragte Christine, nachdem eine ganze Weile nur das Radio zu hören gewesen war.

„Keine Ahnung. Ich treff‘ mich erst mal mit ihr im Wohnheim und dann sehen wir mal weiter.“

„Langweilig!“

„Will ich fragen, was du und dein … ähm … Freund? … so plant?“

„Mein Freund. Sprich es ruhig aus.“ Glücklicherweise schien Christine über Jonas‘ Zögern eher amüsiert als verstimmt. „Und ich bezweifle, dass du die Antwort darauf hören willst.“

„Ich wollt‘ noch nich‘ mal das hören …“ Jonas warf seiner Schwester einen raschen Seitenblick zu. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Was?“

„Allein bei diesem Typen zu bleiben? Ich fühl‘ mich nich‘ besonders wohl dabei, dich einfach bei dem abzusetzen. Sollt‘ was sein, brauch‘ ich sicher ‘ne halbe Stunde, bis ich bei dir bin.“

„Würdest du das auch sagen, wenn ich ein Kerl wäre?“

„Japp“, erwiderte Jonas schlicht. „Dann wär‘ der Typ nämlich trotzdem irgendwer, den du im Internet aufgegabelt hast.“

„Och Jonas, ich bin doch nicht blöd.“ Christine schüttelte den Kopf. „Natürlich treffen wir uns heute nicht zum ersten Mal. Das hast du falsch verstanden. Wir hatten schon einige Dates, aber nie die Gelegenheit, mal allein miteinander zu sein.“

„Oh.“ Jonas diskutierte mit sich selbst und traf eine Entscheidung. „Ich würd‘ ihn trotzdem gern kennenlernen. Sonst mach ich mir den ganzen Abend Sorgen.“

„Aber ja, großer Bruder. Du darfst ihn mal kurz beschnuppern, wenn du dich dann besser fühlst.“

„Glaub mir, wir profitieren beide davon, wenn ich dich nich‘ alle fünf Minuten anrufe, um zu checken, ob du noch lebst oder schon in irgendnem Folterkeller hängst.“

„Wenn du es jetzt noch schaffst, nicht an seinem Haus vorbeizufahren, haben wir einen Deal.“

„Oh, ups.“ Jonas hatte die resignierte Stimme seines Navis, das ihn darauf hinwies, dass er sein Ziel schon vor hundertfünfzig Metern erreicht hatte, gekonnt ignoriert.

Belustigt stellte er fest, wie nervös ihn die Aussicht Christines Freund zu treffen machte und er nahm sich fest vor, seinen überbordenden Beschützerinstinkt im Zaum zu halten. Das Letzte, das er sein wollte, war der übermotivierte Bruder, der glaubte, die ‚Ehre‘ seiner Schwester verteidigen zu müssen.

Die Türglocke des kleinen Reihenhauses spielte eine nette Melodie, durchbrochen von dem quäkenden Bellen eines Hundes.

„Ist ja gut, Stella, ist ja gut. Bleib in deinem Körbchen.“ Der Junge, der die Tür öffnete, war Jonas auf Anhieb sympathisch. Seine warmen Augen spiegelten das Lächeln auf seinen Lippen wider und dass es ihm peinlich zu sein schien, von Christine vor den Augen ihres Bruders geküsst zu werden, bescherte ihm einen weiteren Pluspunkt. Zu guter Letzt war da noch der altersschwache Malteser-Mix, der die Neuankömmlinge argwöhnisch beäugte, ohne seinem Herrchen von der Seite zu weichen.

Mit einem Strahlen, das in den vergangenen Jahren selten geworden zu sein schien, deutete Christine zwischen den beiden Männern hin und her.

„Jonas, das hier ist Nick. Nick, das ist mein Bruder Jonas.“

Ganz ohne gespielte Höflichkeit, sondern mit einem ehrlichen Lächeln, streckte Jonas die Hand aus. „Hi, schön, dich kennenzulernen.“

„Freut mich auch.“ Nick war schmal gebaut und reichte Jonas gerade bis zur Brust – selbst Christine musste ihn um ein paar Zentimeter überragen – aber sein Händedruck war trocken und fest. Er deutete auf seinen Hund. „Das da ist übrigens Stella. Keine Angst, die mault zwar, beißt aber nicht. Dafür fehlen ihr inzwischen die Zähne. Sie kann sich höchstens an euren Knöcheln festsaugen und eure Haut wundlutschen.“

Abwehrend hob Jonas die Hände. „Das will ich nich‘ riskieren. Ich lass‘ euch mal lieber allein.“

„Ähm, ehrlich gesagt …“ Nick wandte sich an Christine. „Ein Kumpel von mir gibt eine kleine Party bei sich und ich dachte, wir könnten da vorbeischauen.“

„Echt jetzt?“ Christine schaffte es, beinahe so missmutig auszusehen wie Stella. „Da haben wir endlich mal die Gelegenheit, die Nacht zusammen zu verbringen und du willst lieber mit irgendwelchen besoffenen Deppen feiern?“

„Diese ‚besoffenen Deppen‘ sind meine Freunde.“ Nick hatte versucht, die Rüge durch ein Lächeln abzumildern, aber sein Ärger klang hörbar durch.

„Tut mir ja leid, aber ich bin einfach enttäuscht. Willst du n–“

„Wo wohnt dein Freund denn?“, unterbrach Jonas, in der Hoffnung, den aufflammenden Streit im Keim zu ersticken. Christine warf ihm einen grimmigen Blick zu, schwieg jedoch.

„Am anderen Ende der Ortschaft. Wir würden schon irgendwie hinkommen, aber ich dachte …“

„Is‘ kein Problem für mich. Wenn ihr hinwollt, fahr ich euch gern.“

Mit einer stummen Bitte in den Augen, drehte sich Nick zu Christine, die sich bei diesem Anblick geschlagen gab. „Ist ja gut. Wird wohl eh mal Zeit, dass ich deine Freunde kennenlerne.“

„Du wirst sie mögen, versprochen!“

Wieder versöhnt, kuschelten sich die beiden auf die schmale Rückbank und sahen dabei so glücklich aus, dass Jonas einen spontanen Anfall von Eifersucht niederkämpfen musste. Nachdem er sich von Nick die Adresse hatte diktieren lassen, fuhren sie los, waren aber noch keine zwei Minuten unterwegs, als sein Handy, das er auf den nun freien Beifahrersitz gelegt hatte, piepste.

„Das sind bestimmt Mama und Papa.“ Bevor Jonas protestieren konnte, hatte sich Christine sein Handy gekrallt und las die Nachricht. „Doch nicht.“

Jonas wurde heiß und kalt zugleich. War die Nachricht am Ende von Erik? Stand etwas darin, das Fragen aufwarf?

Christine beendete seine Spekulationen. „Maria hat dir geschrieben.“

„Was will sie denn?“ Jonas bemühte sich, nicht erleichtert zu klingen.

„Sie sagt dir für heute ab. Schreibt, sie sei zu müde.“

„Was?“

„Das ist ja schräg. Ist doch sonst nicht ihre Art, Verabredungen so kurzfristig platzen zu lassen.“

Christine hatte recht, das war tatsächlich nicht Marias Art. Jonas entdeckte eine Parklücke und stellte den Wagen ab. „Sorry, ich muss das kurz klären.“

Seine Schwester reichte ihm sein Handy. „Tu das.“

Um ein wenig Privatsphäre zu haben, stieg Jonas aus und schloss die Tür hinter sich, aber ausgehend davon, dass Christine und Nick bereits damit beschäftigt waren, das Gesicht des jeweils anderen zu essen, hätten sie vermutlich ohnehin nicht viel mitbekommen. Er wählte Marias Nummer und wartete. Und wartete. Und wartete. Irgendwann erbarmte sich die Mailbox.

„Maria, was ist los mit dir? Du kannst mir doch nich‘ einfach so absagen! Ich mach mir Sorgen um dich!“ Jonas atmete einmal tief durch. Vorwürfe halfen niemandem. „Ich setz‘ jetzt Christine und ihren Freund ab und dann fahr‘ ich zu dir. Wenn du müde bist, machen wir uns einfach ‘nen ruhigen Abend. Von mir aus verpiss ich mich auch, sobald ich weiß, dass es dir gut geht. Aber ich komm‘ vorbei, also bist du besser zuhause!“

Frustriert warf er sein Handy zurück auf den Beifahrersitz.

„Und?“, fragte Christine. „Was hat sie gesagt?“

„Sie is‘ gar nich‘ erst rangegangen.“

„Hm. Komisch.“

„Ja.“

Zum Glück war die verbleibende Fahrt kurz, denn die Stimmung im Auto war mehr als seltsam. Jonas hatte Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren, Christine schien ebenfalls in Gedanken versunken und Nick fühlte sich vermutlich ziemlich ausgeschlossen und sichtlich unwohl.

„Wir sind da.“ Das Haus, vor dem sie hielten, lag etwas weiter außerhalb als Nicks, war dafür aber auch deutlich größer. „Sagt mir Bescheid, wenn ich euch wieder aufsammeln soll. Aber denkt dran, dass ich mindestens dreißig Minuten her brauch.“

„Machen wir, Bruderherz“, versprach Christine. „Oh, und sag Maria bitte schöne Grüße. Seit sie nach München gezogen ist, sehen wir uns kaum noch. Höchstens mal zufällig, wenn sie bei ihren Eltern zu Besuch ist und dann ist sie nicht besonders gesprächig.“

„Schweigsamkeit scheint sowieso ihr neues Ding zu sein“, murmelte Jonas zu sich selbst. Laut sagte er: „Richt‘ ich ihr aus.“

„Die Grüße, nicht das mit dem gesprächig sein!“, mahnte Christine.

„Jetzt haut endlich ab.“ Als die beiden bereits zur Tür raus waren, kurbelte Jonas das Fenster herunter und rief hinterher: „Und betrinkt euch nich‘ zu sehr! Wer in mein Auto kotzt, zahlt die Reinigung!“

Vor dem Gartentor drehte sich Christine noch einmal um und winkte Jonas zum Abschied. „Fordere mich nicht heraus!“

 

Jonas hatte beinahe länger dafür gebraucht, Marias Wohnheimzimmer zu finden, als von Nicks Haus nach München zu kommen. Nun beantwortete Stille sein Klopfen. Bereits zum fünften Mal hob er die Hand und ließ seine Knöchel wiederholt hart gegen das billige Holz schlagen. „Komm schon, Maria. Mach auf!“

Eine Gruppe lachender Studenten zog an Jonas vorbei und einer von ihnen drückte ihm ein warmes, aber noch verschlossenes Bier in die Hand. „Zum Trost.“

„Danke …“

Jonas klopfte erneut. „Maria! Lass mich hier nich‘ rumstehen wie ein beschissener Bittsteller! Ich glaub‘, da laufen schon Wetten, ob du mich heut‘ noch reinlässt!“

Ranlässt“, verbesserte ein breit grinsendes Mädel aus dem Nachbarzimmer. Die meisten Türen waren weit geöffnet, anscheinend hatte das Stockwerk entschieden, sich zu einer einzigen großen Party zusammenzuschließen. „Ich habe fünf Euro auf ‚Ja, und wir alle werden es hören können‘ gesetzt.“

„Herzlichen Dank für diese Zuversicht, aber den Fünfer bist du los.“

„Damit die Welt an dich glauben kann, musst du zunächst an dich selbst glauben.“

„Hey, Konfuzius“, maulte Jonas, „würd’s dir viel ausmachen, dich um deinen eigenen Scheiß zu kümmern?“

„Jetzt werd doch nicht gleich so pissig.“ Das Mädchen rollte mit den Augen. „Kein Wunder, dass deine Perle nicht aufmacht. Vielleicht sollte ich ja lieber die Polizei rufen, damit du sie nicht weiter belästigen kannst?“

Belästigen? Ich werd ja wohl noch meine beste Freundin besuchen dürfen!“

„Sie will aber offensichtlich nicht von dir besucht werden!“

Jonas entschied, dass es klüger war, vorerst den Rückzug anzutreten, bevor er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Während er die Treppen zum nächsten Stockwerk nahm, kramte er sein Handy hervor und wählte erneut Marias Nummer, erreichte aber wieder nur die Mailbox. Was sollte er jetzt tun?

„Jonas?“

Das Handy noch in der Hand, drehte sich Jonas zu dem Mann, der ihn angesprochen hatte. „Clemens …“

Das halbe Jahr, in dem sie sich nicht gesehen hatten, hatte keine tiefschürfenden Veränderungen mit sich gebracht. Clemens‘ haselnussfarbenes Haar fiel ihm noch immer in wilden Strähnen ins Gesicht, seine tiefblauen Augen funkelten verschmitzt und die Lippen, von denen sich Jonas unzählige Male gefragt hatte, wie sie sich auf seiner Haut anfühlen würden, verzogen sich zu jenem unbedarften Sunny-Boy-Grinsen, das Jonas‘ Knie in Wackelpudding verwandelte. „H-Hi“, murmelte er verlegen und hoffte inständig, nicht zu auffällig zu starren. Plötzlich schlossen sich zwei starke Hände um seine Schultern und zogen ihn näher an diese betörende Mischung aus frischem Schweiß und dem Deo eines bekannten Herstellers.

„Mensch, das ist ja Monate her, dass wir uns gesehen haben! Wie geht’s dir denn? Meine Eltern haben erzählt, du studierst jetzt Kunst in Berlin?“

„Jaah, sowas Ähnliches.“

„Und? Wie gefällt es dir da? Ist bestimmt aufregend!“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Is‘ ganz okay.“ Konnte Clemens ihn nicht einfach in Ruhe lassen? All die unerwiderten Gefühle, die er über Jahre hinweg heruntergeschluckt hatte, drohten, sich wieder einen Weg nach oben zu bahnen.

Clemens schien blind für den Tumult zu sein, den er in Jonas auslöste. „Was treibt dich denn hierher?“

„Wollt mit Maria feiern gehen.“

„Ach, stimmt, die wohnt ja auch hier. Wir sind uns ein paar Mal über den Weg gelaufen."

„Hm.“

„Ich wollte gerade zu einem Freund, ein bisschen vorglühen. Bin für die Snacks zuständig.“ Clemens hielt eine Einkaufstüte hoch. „Später ziehen wir dann weiter. Wollt ihr euch uns anschließen?“

„Vielleicht ‘n andermal.“

Allmählich flackerte Clemens‘ beständiges Lächeln. „Okay, schade. Naja, dann werde ich mal zu den anderen gehen. Ruf mich einfach an, wenn ihr es euch doch noch anders überlegt, ja?“

„Okay.“

Clemens versuchte sich an einem letzten, aufmunternden Lächeln. „Also dann. Melde dich mal wieder, ja? Wäre doch schade, wenn wir ganz den Kontakt verlieren.“

Jonas nickte nur und wünschte sich, Clemens möge endlich verschwinden. Zum Glück tat er ihm diesen Gefallen nach einer weiteren, viel zu langen Sekunde und joggte leichtfüßig die Stufen zu einem der unteren Stockwerke hinab.

Einfach, um etwas zu tun zu haben, wählte Jonas erneut Marias Nummer. Zu seiner Überraschung, wurde das quälende Freizeichen bald durch ihre Stimme ersetzt.

„Hallo?“ Maria klang, als hätte sie ihren Mund mit Watte ausgestopft.

„Wo zum Fick steckst du?“

„Ich habe geschlafen“, nuschelte sie. „Hast du meine Nachricht nicht bekommen?“

„Doch, hab ich. Und dir gleich drauf auf die Mailbox gequatscht, dass du das voll vergessen kannst.“ Als Maria nichts erwiderte, fuhr Jonas fort: „Ich bin im Wohnheim. Hab ich Chancen, dass du mir diesmal aufmachst, bevor deine Nachbarn die Bullen rufen und mich rausschmeißen lassen?“

Maria zögerte.

„Bitte?“, schob Jonas hinterher. „Ich geh‘ auch gleich wieder, wenn’s dir nich‘ gut geht und du mich loshaben willst. Ich … Ich will dich nur kurz sehen. Einfach mal ‚Hallo‘ sagen.“

„Na gut.“ Maria hatte sich große Mühe gegeben, ihren gesamten Unwillen mit diesen zwei Silben auszudrücken. „Komm vorbei.“

„Danke. Bis gleich.“

Jonas sprintete die Treppen hoch und über den Gang, wobei er sein Möglichstes tat, das Grölen und Pfeifen, das ihn dabei begleitete zu ignorieren. Zu seiner Erleichterung öffnete Maria ihre Tür, kurz nachdem er zum ersten Mal geklopft hatte und zog ihn in ihr überraschend geräumiges Zimmer.

„Oh, wow. Wenn ich gewusst hätte, dass so ’n Wohnheim ‘ne scheiß Luxusbude is‘, wär‘ ich auch in eins gezogen.“ Jonas runzelte die Stirn. Eine Jeans hing lieblos über dem Schreibtischstuhl, einige Arbeitsblätter lagen auf dem Boden verstreut und neben dem Bett stand benutztes Geschirr. Das Zimmer war weit davon entfernt chaotisch zu sein, aber für die sonst so pedantische Maria war es dennoch ungewöhnlich unordentlich.

Nachdem er den Zustand ihres Zimmers ausreichend begutachtet hatte, nahm Jonas Maria selbst unter die Lupe und erschrak über die Zerbrechlichkeit, die sich ihm dabei offenbarte. Marias rote Locken wirkten stumpf, ihre Haut blass und die eigentlich charmanten Sommersprossen stachen hervor wie Dreckspritzer auf weißer Leinwand. Das Besorgniserregendste war aber die weniger offensichtliche Veränderung. Der sonst so störrische Blick – das Symbol der Kraft, mit der Maria Jonas über seine schlimmsten Phasen von Selbsthass und Verleugnung hinweggeholfen hatte – glich nun eher dem eines geprügelten Hundes. Jonas überlegte, wie er seiner Sorge Ausdruck verleihen konnte, ohne zu aufdringlich zu werden und entschied sich für die offensichtliche Frage. „Alles okay bei dir?“

Maria sank auf ihr Bett. „Ich weiß nicht.“ Bereitwillig rutschte sie zur Seite, als sich Jonas zu ihr gesellte, starrte dabei aber weiterhin auf ihre Hände. „Entschuldige für vorhin. Und dafür, dass ich mich so selten melde. Ich habe im Moment einfach keine Energie dafür.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Keine Ahnung, ich glaube nicht. Oder sagen wir, ich wüsste nicht wie.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es fühlt sich an, als würde die komplette Welt über mir zusammenbrechen und gleichzeitig finde ich es lächerlich, wie sehr ich mich durch solche Luxusprobleme aus dem Konzept bringen lasse.“

„Deine Eltern?“ Marias Eltern, die mit strenger Hand über ihr einziges Kind regierten, lieferten regelmäßig Material für Konflikte. Jonas hatte noch nie verstanden, wie sie solange in ihrem goldenen Käfig hatte leben können, ohne völlig verrückt zu werden.

„Auch“, gab Maria zu. „Und das Studium. Und dieses Wohnheim. Und dass du sechshundert Kilometer entfernt sitzt. Irgendwie alles.“

„Jetzt bin ich ja erst mal hier.“ Jonas‘ Worte klangen stumpf in seinen Ohren, in Anbetracht der Tatsache, dass er in ein paar Stunden seine Schwester abholen und kurz darauf zurück nach Berlin fahren würde, aber Maria lehnte sich an seine Schulter und murmelte: „Zum Glück bist du so hartnäckig.“

„Japp, damit kann ich dienen.“ Er legte einen Arm um sie. „Erzählst du mir, was Weihnachten bei euch los war?“

Maria nahm Jonas‘ Hand. „Das Übliche.“ Sanft verflochten sich ihre Finger mit seinen. „Ich bin zehn Minuten zu spät, weil ich im Stau stehe und schon ist das ein Zeichen für meine Unzuverlässigkeit. Meine Kleidung ist nicht festlich genug, also respektiere ich meine Familie nicht. Ich wage es anzudeuten, auf eine Promotion zu verzichten, falls ich schon vorher einen passenden Job finde, oder auch einfach nicht gut genug sein sollte und meine Eltern interpretieren das als mangelnden Leistungswillen. Gleichzeitig soll ich aber bitte so schnell wie möglich heiraten und Kinder bekommen. Das war dann der Punkt, an dem mir der Kragen geplatzt ist. Ich … Ich liebe meine Eltern. Wirklich. Und ich weiß, dass sie auf ihre Weise auch mich lieben. Wenn sie dabei nur weniger … restriktiv sein könnten.“ Maria sackte nach hinten und rollte sich auf dem Bett zusammen. „Es ist so anstrengend. Ich habe das Gefühl, ständig zu scheitern und nie gut genug zu sein, völlig egal, was ich mache. Manchmal … Manchmal frage ich mich, warum ich morgens überhaupt die Energie aufbringe aufzustehen. Ich könnte genauso gut einfach liegen bleiben.“

„Sag das nicht.“ Jonas fühlte sich hilflos. Mit jedem Wort war Maria leiser geworden, sprach mehr mit der Wand als mit ihm. Zärtlich legte er die Arme um sie, in der Hoffnung, ihr wenigstens etwas Trost spenden zu können.

„Tut mir leid, dass ich dir Silvester versaue.“

„Und so ‘ne Scheiße sagst du auch nich‘! Ich bin einfach froh, dich wiederzusehen. Is‘ mir scheißegal, was das für’n Tag ist.“

Zur Antwort kuschelte sich Maria näher an ihn heran. Jonas schloss die Augen und hielt sie fest.

 

„Jonas?“

„Mhm?“

„Dein Handy klingelt.“

„Oh, fuck!“ Adrenalin jagte durch Jonas‘ Körper und vertrieb die letzten Fetzen Müdigkeit. Eilig fummelte er sein Handy aus seiner Hosentasche. „Shit!“ Es war kurz nach zwei Uhr morgens und er hatte schon drei Anrufe seiner Schwester verpasst. Rasch drückte er auf ‚Rückruf‘.

„Na, feierst du schön?“

Erleichtert stelle Jonas fest, dass Christine eher amüsiert als verärgert klang. „Sorry, ich hab’s nich‘ gehört. Wartest du schon lang?“

„Nee, alles gut. Ich wollte dir bloß sagen, dass Nick und ich gern so gegen drei aufbrechen würden. Hier sind schon einige weg und wir wollen niemanden nerven. Schaffst du das?“

„Japp, drei sollte klappen. Die Adresse hab ich auch. Ich klingle dich an, sobald ich da bin, okay?“

„Gut, bis dann!“

Maria ließ sich zu einem herzhaften Gähnen hinreißen. „War das Christine?“

„War sie. Ich soll dir übrigens Grüße ausrichten. Und sagen, dass du gefälligst mehr mit ihr quatschen sollst, wenn ihr euch trefft.“

„Ihr beiden seid euch viel zu ähnlich …“

„Ich tu‘ mal so, als hätte ich das nich‘ gehört.“ Jonas stand auf und streckte sich. „Ich sollt‘ los, wenn ich halbwegs pünktlich da sein will. Kommst du mit?“

„Wozu? In die Pampa fahren, deine Schwester kurz begrüßen und dann irgendwie wieder hierherkommen? Das ist doch Unsinn.“

„Eigentlich dacht‘ ich, dass du bei uns pennen könntest und wir morgen gemeinsam nach München fahren, wenn ich meinen Bus kriegen muss.“

„Du weißt, was meine Eltern davon halten, wenn ich bei dir übernachte.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Sie müssen’s ja nich‘ erfahren. Und selbst wenn, werden sie‘s überleben. Wir sin‘ beide erwachsen. Ich mein, fuck, wenn uns nach Ficken gewesen wär, hätten wir in den letzten Jahren unzählige Gelegenheiten gehabt, auch ohne beieinander übernachten zu müssen. Scheiße, wir hätten’s hier treiben können!“

„Kann schon sein“, räumte Maria ein. „Trotzdem ist das zusätzlicher Stress, den ich gut verzichten kann. Und … Ich denke, ich brauche einfach Zeit für mich allein.“

„Sicher?“ Jonas hatte da so seine Zweifel. Seiner Meinung nach hatte Maria mehr als genug Zeit allein verbracht, aber er wusste auch, dass sie in dieser Hinsicht schon immer völlig anders als er getickt hatte.

„Sicher. Aber es war schön, dass du hier warst. Hat meinen Akku wieder ein bisschen aufgeladen.“

„Wenigstens etwas“. Jonas zwang sich zu lächeln und zog Maria in seine Arme. „Pass auf dich auf. Übernimm dich nicht. Hör nicht zu sehr auf deine Eltern. Und ruf mich an, wenn irgendwas sein sollte, hörst du? Völlig egal was, völlig egal wann. Versprochen?“

„Versprochen.“

Mit einem dumpfen Stechen im Magen, verabschiedete er sich von seiner besten Freundin.

 

Es war kalt und Jonas fühlte den vorangegangenen Schlafmangel bitterlich. Nur das aufdrehte Gequassel seiner Familie hielt ihn wach.

„Ruf uns an, wenn du angekommen bist.“

„Ja, Mama.“ Jonas versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu winden. Wie konnte jemand, der ihm gefühlt bis knapp über den Bauchnabel reichte so viel Kraft in den Armen haben?

„Nächstes Mal fährst du mit der Bahn“, sagte sein Vater entschieden. „Das ist ja kein Zustand, so.“

„Das geht schon“, wehrte Jonas ab. „Der Bus is‘ billiger. Und die Bahn is‘ ja auch nich‘ wirklich schneller, bloß etwas bequemer.“

„Papperlapapp! Bequemer ist besser als gar nichts. Mach dir um das Geld mal keine Gedanken, das kriegen wir schon hin.“

„Jetzt lasst mich doch auch mal zu ihm!“ Christine drückte ihre Mutter zur Seite, um sich nun ihrerseits in Jonas‘ Arme zu werfen. „Komm gut nach Berlin, Bruderherz.“ Die Lippen Millimeter von seinem Ohr entfernt, flüsterte sie. „Wenn du irgendwas auf dem Herzen hast … Ich hör dir immer zu.“ Dann wuschelte sie durch sein Haar und brach den Bann der Geschwisterliebe.

„Lass den Scheiß!“

„Jonas! Sprache!“

Kichernd beobachtete Christine ihren Bruder, während dieser versuchte, seine Frisur wieder halbwegs in ihren Ausgangszustand zu bringen. „Ich hab dich lieb, du eitler Sack“

Zur Antwort streckte Jonas ihr die Zunge raus. „Verschwinde endlich, du Ekel.“ Seiner Worte zum Trotz, schloss er Christine ein weiteres Mal in die Arme, bevor er sich seiner jüngsten und herzerweichend schniefenden Schwester zuwandte. „Ach, Vroni …“

„Ich will nicht, dass du gehst!“

„Ich bin ja bald wieder da.“ Er nahm sich fest vor, dieses Versprechen zu halten. „Ende Februar sind meine Vorlesungen erstmal vorbei und dann komme ich gaaanz lange zu euch.“

„Versprochen?“

„Versprochen!“ In alter Familientradition knuddelte Jonas seine jüngste Schwester, bis sich ihr Schluchzen in Lachen verwandelt hatte.

Der Moment wurde viel zu früh von seiner Mutter beendet. „Es wird Zeit.“

Jonas warf einen Blick auf die große Uhr am Busbahnhof. In fünf Minuten würde er wieder auf dem Weg nach Berlin sein. Erleichterung und Trübsinn stritten um die Vorherrschaft in seinem Innersten.

„Jonas!“

Die ganze Familie Staginsky drehte sich zu dem Neuankömmling. Blass und atemlos, aber mit einem Lächeln im Gesicht, stand Maria vor ihnen. „Ich hatte wirklich Angst, ich hätte dich verpasst. Entschuldige, dass ich so spä–Hey! Lass mich sofort runter!“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jonas dieser Aufforderung Folge leistete und Maria aus seinen Armen und zurück auf den Boden entließ. „Mit dir hätte ich echt nich‘ mehr gerechnet.“

„Ich wollte dir nicht versprechen zu kommen, falls ich es nicht halten kann.“

„Bin froh, dass du‘s geschafft hast!“

„Knapp“, stellte Maria nüchtern fest. „Aber noch so eine Umarmung sollte wohl drin sein.“

Dieses Mal musste sie nicht lange auf Jonas‘ Reaktion warten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2018-07-24T21:26:02+00:00 24.07.2018 23:26
Echt süße Aktionen von Jonas, Christine und Nick zu fahren und bei Maria vorbeizufahren! Er hängt ja doch sehr an seinen Lieben und doch an seiner Familie, selbst wenn er nicht hundertprozentig ehrlich zu ihnen sein kann. So kehrt er hoffentlich mit aufgetankten sozialen Batterien nach Berlin zurück - denn da warten ganz andere Dinge auf ihn ;)
Mir gefällt's aber sehr gut, wie liebevoll du Jonas doch darstellst ;)


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