Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 10 ---------- Was zuletzt geschah: Jonas‘ erstes Date mit Dominik läuft gut, aber mehr auch nicht. Ähnliches gilt für das zweite. Liegt es an ihm? Liegt es an Dominik? Oder liegt es an Erik, der sich immer wieder in Jonas‘ Gedanken stiehlt?   Kapitel 10 Hand in Hand mit Larissa, bahnte sich Jonas seinen Weg durch die Innenstadt. Nur so schafften sie es, im vorweihnachtlichen Gedränge nicht ständig durch vorbeieilende Passanten getrennt zu werden. „Willst du noch wohin, oder hast du alles?“, fragte sie. Jonas warf einen zweifelnden Blick auf den Inhalt seiner Taschen. „Ich glaub, ich sollt alles haben. So eine Scheiße echt. Jedes Jahr nehm ich mir wieder vor, nich‘ alles auf den letzten Drücker zu kaufen und dann fang ich doch wieder ‘ne Woche vor Heiligabend damit an.“ „Ach, es war ja ohnehin mehr als netter Stadtbummel gedacht. Wenn man es so sieht, ist es doch gar nicht übel. Also mal abgesehen davon, dass man sich fast prügeln muss, um durch die Menschenmassen zu kommen.“ Jonas bemühte sich, Larissas Optimismus zu teilen, aber er war angespannt und hatte das Gefühl, dass auch ihre Stimme ein wenig schriller als gewöhnlich war. Immer wieder ertappte er sich dabei, seine Mitmenschen kritisch zu beäugen. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt saß ihm im Nacken und die besorgten Anrufe und Nachrichten seiner Freunde und Verwandten hatten nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Seine Mutter hatte ihn sogar gebeten, sofort zu ihnen zu fahren und nicht erst, wie ursprünglich geplant, an Heiligabend, aber er hatte abgelehnt. So wie alle anderen, mit denen er darüber gesprochen hatte, bemühte er sich, diesem Ereignis so wenig Raum wie möglich zu geben und ohne Angst seinem Alltag nachzugehen. „Wie läuft es eigentlich mit Dominik?“, riss Larissa ihn aus seinen Gedanken. „Oh, ähm … Ganz okay.“ „Nur ganz okay?“ Jonas biss sich auf die Lippe. „Ich weiß auch nich‘ … Wir haben uns jetzt zweimal getroffen und er is‘ echt nett, aber irgendwie … Ihm geht Kunst am Arsch vorbei, ich bin ‘ne Niete in Naturwissenschaften. Is‘ irgendwie schwierig ‘n Gesprächsthema zu finden.“ „Na komm, es gibt doch so viel anderes, worüber man reden könnte.“ „Is‘ mir schon klar, aber irgendwie finden wir nix. Wenn wir erst irgendwo essen und danach ins Kino gehen, haben wir uns schon im Saal nix mehr zu sagen.“ „Dann macht doch was anderes, Herrgott nochmal!“, schimpfte Larissa. „Jaah … Ich sag ja auch nich‘, dass ich schon aufgebe.“ Dass Jonas bisher konsequent jeden Annäherungsversuch von Dominik abgeblockt hatte, verschwieg er ebenfalls lieber. „Vielleicht brauchen wir einfach mal was Privateres als so’n Treffen in ‘nem Café.“ Vielleicht musste er sich auch einfach endlich Erik aus dem Kopf schlagen. „Netflix and chill?“ „Sowas in der Art”, wich er aus, unsicher, was die Vorstellung, Dominik körperlich näherzukommen in ihm auslöste. „Wollen wir noch was essen?“ „Wollen wir!“, stimmte Larissa freudig zu. „Meine Füße bringen mich allmählich um.“ Sie deutete auf eine Seitengasse. „Ein paar Straßen weiter ist ein ganz guter und recht günstiger Chinese. Könnte aber schwierig werden, noch einen Platz zu bekommen.“ „Sehen wir ja gleich.“ Jonas stoppte Larissa, bevor sie abbiegen konnte „Warte, ich würd noch gern da drüben reinschauen.“ Ihr Blick folgte der Richtung, in die sein ausgestreckter Arm deutete. „Gute Idee, ich brauch eh auch einen neuen Zeichenblock. Vielleicht haben die auch Sprühdosen da.“ Während Larissa zielgerichtet auf die Abteilung für Künstlerbedarf zusteuerte, wanderte Jonas mit offenen Augen durch den Laden. Abgesehen von neuem Klebstoff, den er in jedem Kaufhaus bekommen konnte, war er gut ausgestattet und hatte lediglich seiner Neugierde nachgegeben, als er Larissa in das Geschäft gezogen hatte. Wie so oft, endete er in der Fotoabteilung. Nach langer innerer Debatte, griff er nach einem schlichten, dunklen Bilderrahmen und machte sich nach einem kurzen Preischeck auf den Weg zur Kasse. Die beiden ergatterten tatsächlich noch einen Tisch im Restaurant und Jonas war froh, einfach essen und Larissa zuhören zu können, anstatt selbst reden zu müssen. Immer wieder drückte seine Hand gegen die Tasche, in der sich der Bilderrahmen abzeichnete.   Ich empfinde mehr für dich als ich sollte und deshalb muss ich das zwischen uns beenden. Jonas starrte auf den Zettel. Seine Handschrift wirkte unsauber, die Formulierung holprig – gehörte da ein Komma vor das ‚als‘? – und er war sich nicht sicher, ob es überhaupt das war, was er sagen wollte. Frustriert knüllte er das Stück Papier zusammen und warf es neben den Papierkorb. Nein, das war definitiv nicht das, was er sagen wollte. Was er sagen wollte war: Hey, ich glaube, ich bin dabei mich in dich zu verknallen und es wäre echt super, wenn wir dem Ganzen eine Chance geben könnten. Aber das war unmöglich. Erik hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass das nicht die Richtung war, die er sich vorstellte und wenn es jemals einen falschen Zeitpunkt gegeben hatte, ihn unter emotionalen Druck zu setzen, dann diesen. Selbst ohne Stress mit Arbeit und Uni, würde seine Antwort vermutlich nicht positiv ausfallen, mal ganz davon abgesehen, dass es auch nicht wirklich fair war, ihm ausgerechnet jetzt eine weitere Baustelle aufzuhalsen. Mit einem tiefen Seufzen lehnte sich Jonas in seinem Stuhl zurück. Dasselbe galt doch aber für das Beenden ihrer Affäre, oder? Und dann noch auf so eine feige Art. Ein Zettel, angeheftet an ein Weihnachtsgeschenk. Lächerlich. Kurzentschlossen griff er sich das rubinfarbene Geschenkpapier und wickelte den Rahmen darin ein. Am Ende versah er das Päckchen mit einer kunstvollen Schleife. Ein Blick auf sein Handy zeigte ihm, dass er gerade noch rechtzeitig fertig geworden war, wenn er das Geschenk in Eriks Briefkasten werfen wollte, bevor er den Bus nach München nahm.   Stöhnend stolperte Jonas aus dem Wagen. Er fühlte seine Beine nicht mehr, von seinem Arsch wollte er gar nicht erst anfangen. Weshalb hatte er sich noch einmal dazu entschieden, lieber acht Stunden mit dem Bus zu fahren, anstatt die Bahn zu nehmen? Ach ja, weil er so ein paar Euro sparte. Er war sich nicht sicher, ob das eine seiner besseren Ideen gewesen war. Die Luft war bitterkalt, aber zu Jonas‘ Enttäuschung, hatte auch hier keine einzige Schneeflocke den Boden berührt. Er wuchtete seine Reisetasche über die Schulter und suchte nach dem Aufgang zu den Regionalzügen, inständig darauf hoffend, dass er seinen Anschluss nach Rosenheim erwischte. Bei der Aussicht, diesen zu verpassen und über eine Stunde am Bahnhof totschlagen zu müssen, schrie sein übermüdeter Körper erbost auf. Während er die Treppe hochstieg, kramte er sein Handy aus seiner Hosentasche, um seinen Eltern Bescheid zu geben, dass er gut in München angekommen war. So weit kam er allerdings nicht. „Jonas!“ Verblüfft blieb er stehen und hob den Blick. Am oberen Ende der Treppe standen seine Eltern, beide mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, seine Mutter die Arme bereits für eine Umarmung ausgestreckt. Jonas überwand die letzten Stufen schneller, als seine verkrampften Beine für möglich gehalten hätten. „Was macht ihr denn hier?“ „Wir dachten uns, wir holen dich gleich hier ab. Du hast eh so einen langen Weg hinter dir, da ist das letzte Stück im Auto doch besser als mit dem Zug.“ „Aber sowas von.“ Erschöpft und gerührt, schmiegte sich Jonas in die kräftigen Arme seiner Mutter. „Scheiße, hab ich euch vermisst!“ „Hörst du auf zu fluchen!“ „Sorry, Mama.“ „Und ganz dünn bist du geworden!“ „Das bildest du dir nur ein.“ „Komm, gib mir mal deine Tasche.“ „Danke, Papa.“ „Zuhause mache ich dir gleich eine Kleinigkeit zu essen.“ „Mama, ich werd‘ nich‘ verhungern, wenn ich bis zum Abendessen warte.“ Jonas rieb sich über seine juckenden Augen. „Eigentlich will ich bloß noch schlafen.“ „Das ist auch gut“, erwiderte seine Mutter. „Solange du zuhause bist, schläft du in deinem alten Zimmer. Vroni zieht derweil wieder zu Christine in den Speicher.“ „Scheiße, da mach‘ ich mich ja gleich beliebt bei den beiden.“ „Die freuen sich zu sehr auf dich, um groß zu meckern“, sagte sein Vater. „Ich freu mich auch auf sie.“ Lächelnd schüttelte Jonas den Kopf. „Hätte nie gedacht, dass ich das mal sag. Das dürfen die beiden nie erfahren.“ „Wir müssen ein Stück laufen“, erklärte seine Mutter. „Dein Vater weigert sich, ein paar Euro für den Parkplatz hier am Bahnhof auszugeben. Also stehen wir jetzt in irgendeiner Nebenstraße.“ „Die Preise sind völliger Wucher!“, schimpfte Jonas‘ Vater. „Früher hätte es das nicht gegeben!“ „Jetzt reg dich nicht wieder so auf! Und natürlich gab es das früher schon!“ Jonas grinste. Seine Schwestern und die kleinen Streitereien seiner Eltern. Zwei Dinge, die er erst zu schätzen gelernt hatte, nachdem er nicht mehr täglich von ihnen umgeben war. Gemeinsam überquerten sie den Parkplatz und Jonas‘ Blick wanderte zu zwei Männern, die sich offenbar gerade voneinander verabschiedeten. Als sie sich zärtlich küssten, fühlte er einen Stich in seiner Brust. Er wollte das auch. Wollte einen Partner, den er liebte. Der ihn liebte. Und den Mut, das aller Welt zu zeigen. „Schwuchteln.“ „Papa!“ Jonas biss sich auf die Zunge und atmete einmal tief durch, bevor er etwas sagen konnte, das garantiert zur Eskalation führte. „Die küssen sich doch bloß.“ Sein Vater schnaubte. „Die können’s treiben mit wem sie wollen, aber doch bitte in ihren eigenen vier Wänden, nicht hier. Ich will das nicht sehen.“ „Würdest du so’n Scheiß auch sagen, wenn’s ‘n Kerl und seine Ische wären?“ „Die müssten sich auch nicht gerade abschlecken, aber zwischen Mann und Frau ist das eben normal.“ „Homosexualität ist auch normal!“ „Früher hat es das nicht gegeben“, widersprach sein Vater. „Ja, weil man früher Angst haben musste, dafür in den Knast gesteckt zu werden! Oder halb totgeprügelt! Oder ganz totgeprügelt!“ „Ist ja gut jetzt!“, ging Jonas‘ Mutter dazwischen. „Du musst einfach verstehen, dass dein Vater und ich in anderen Zeiten aufgewachsen sind. Ich finde zwei sich küssende Männer auch seltsam. Bei uns gab’s sowas nicht, zumindest nicht offen. Da können unsere ach so modernen Parteien noch so oft runterbeten, dass das jetzt zu Deutschland gehört – für uns fühlt sich das einfach irgendwie falsch an.“ „Is‘ noch lang kein Grund–“ „Schluss jetzt!“, unterbrach seine Mutter erneut. „Ich will nichts mehr zu dem Thema hören. Ich bin sicher, ihr findet über die Feiertage noch genug andere Gelegenheiten, euch zu streiten.“ Jonas verbrachte die Fahrt nach Hause schweigend auf dem Rücksitz. ‚Irgendwie falsch‘, hatte seine Mutter gesagt. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass ihr eigener Sohn ‚irgendwie falsch‘ war?   Die Begrüßung zuhause vertrieb Jonas‘ düstere Gedanken. Sein Vater hatte noch nicht einmal den Motor abgestellt, als seine Schwestern die Garage stürmten und ihn aus dem Auto zerrten. „Endlich bist du da“, nuschelte Vroni in seine Jacke. „Ich hab dich sooooo vermisst.“ Jonas wuschelte ihr durch das dunkle Haar. „Ich dich auch.“ Er konnte sich nicht verkneifen, ein ‚du kleine Kröte‘ hinterherzusetzen und erntete prompt einen erbosten Aufschrei. „Mama! Jonas ärgert mich schon wieder!“ „Petze!“, neckte Christine und schob ihre kleine Schwester zur Seite, um ihren großen Bruder ebenfalls in die Arme schließen zu können. „Na, wie fühlt es sich an, endlich wieder gute Landluft zu atmen?“ „Gar nich‘ so beschissen“, gestand Jonas. „Dafür kann ich sogar euch ‘n paar Tage ertragen.“ „Na komm“, sagte Christine grinsend, „wir wissen alle, dass du nachts heimlich in dein Kissen weinst, weil du uns so vermisst.“ „Scheiße, du hast mich durchschaut!“ Jonas wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge. „Ich bin ‘n Häufchen Elend.“ Christine klopfte ihm auf die Schulter. „Das weiß ich doch.“ „Jetzt steht doch nicht hier in der kalten Garage rum!“, rief ihre Mutter. „Jonas, Abendessen gibt’s um–“ „Sechs“, unterbrach er. „Das weiß ich, Mama. Bloß, weil ich ‘n Vierteljahr woanders gewohnt hab, hab ich nich‘ vergessen, wie’s hier so läuft.“ „Umso besser. Dann nutz die Zeit bis dahin, bring deine Sachen auf dein Zimmer, geh duschen und zieh dir was Ordentliches an. Und begrüß Oma!“ Jonas wollte etwas einwenden, entschied sich aber spontan dagegen und stieß lediglich ein gequältes Seufzen aus. „Ja, Mama.“ Er versuchte, das Kichern seiner Schwestern, die ihn bis in sein Zimmer verfolgten zu ignorieren. Aber sein Zimmer war nicht länger sein Zimmer. Die alte Diele im Türrahmen knarzte, wie sie es immer getan hatte, doch seine Collagen waren durch Poster von Pferden und Popstars ersetzt worden, der schlichte Holzschreibtisch war nun weiß lackiert und auf dem Boden lag ein dünner, grüner Teppich, der nicht ansatzweise so flauschig war wie der, der ihm gehört hatte. „Gefällt es dir?“, fragte Vroni, ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfend. „Es is‘ … echt schön geworden.“ Jonas zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht. „Guck, guck, die hat Mama mir geschenkt!“ Sie deutete auf drei besonders ausladende Poster mit Pferden, die für Jonas‘ ungeschulte Augen alle ziemlich gleich aussahen. „Und ich darf eine halbe Stunde am Tag mit deinem Nintendo spielen!“ Nun zeigte Vroni auf den kleinen Schrank gegenüber des Betts, dessen Türen allerdings abgeschlossen waren. Das war wohl der Kompromiss, den Jonas‘ Eltern gefunden hatten, nachdem er seiner kleinen Schwester ohne vorher zu fragen seine alte Konsole überlassen und damit beinahe ein ernsthaftes Familiendrama verursacht hatte. „Und die Vorhänge habe ich selbst aufgehängt!“ „Das ist ja der Wahnsinn!“, rief Jonas und hoffte, Vroni würde die Übertreibung nicht bemerken. „Ich war schon zwanzig, als ich zum ersten Mal Vorhänge aufgehängt habe.“ Vronis Brust schwoll an vor Stolz. „Ich bin eben erwachsener als du!“ „Das bist du“, bestätigte Jonas mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck, den er zustande brachte. „Tust du mir den Gefallen und guckst mal, wo Oma is‘? Die hab ich noch gar nich‘ gesehen.“ Einen Augenblick lang huschte Misstrauen über Vronis Gesicht, aber dann hüpfte –ja, hüpfte – sie aus dem Raum. Kopfschüttelnd sah Christine ihr nach. „Was bin ich froh, dass wir bloß drei Jahre auseinander sind, sonst hättest du mich wahrscheinlich auch zu deinem kleinen Lakaien erzogen.“ „Was bin ich froh, dass du dich nich‘ an die ersten paar Jahre deines Lebens erinnern kannst.“ Verschlagen zwinkerte Jonas seiner verdutzten Schwester zu. „Du hast jetzt also den ganzen Speicher für dich allein?“, wechselte er das Thema, während er seine Reisetasche auf das ungewohnt schmale Bett beförderte. „Jawohl!“ Die Freude darüber war Christine deutlich anzusehen. „Dafür hat es sich fast gelohnt, ihn sieben Jahre mit Vroni teilen zu müssen. Jetzt bin ich beinahe traurig, dass ich nächstes Jahr fürs Studium wohl umziehen muss.“ „Schon ‘ne Ahnung, was du machen willst?“ „Nicht wirklich. Lehramt, vielleicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich den Rest meines Lebens um die Schratzen anderer Leute kümmern will.“ Christine zuckte mit den Schultern. „Außerdem muss ich meinen Abschluss erst mal schaffen. Glaub bloß nicht, Mama und Papa hätten eine Aushilfe eingestellt, nur, weil du nicht mehr da bist. Ich komme vor lauter Kellnern schon gar nicht mehr zum Lernen.“ „Ach komm, als ob du jemals viel für die Schule getan hättest“, widersprach Jonas, auch, um sein schlechtes Gewissen zu mildern. „Du schaffst so oder so ‘nen Bombenabschluss.“ „Jaaa, da hast du wohl recht“, antwortete Christine grinsend. „Ich bin immer noch eine der Jahrgangsbesten.“ „Streber und Angeber zugleich. Bist sicher beliebt.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Und mir Schulgefühle einreden, is‘ auch nich‘ grad die feine Art.“ „Dann erklärst du dich vielleicht eher bereit, mich über Silvester mit nach München zu nehmen.“ „Mama und Papa haben aber schon ‚Nein‘ gesagt!“, petzte Vroni, die sich unbemerkt zurück ins Zimmer geschlichen hatte. „Was ist mit Oma?“, erkundigte sich Jonas. „Die sitzt in der Küche. Und Christine darf nicht nach München, weil sie noch nicht alt genug ist!“ „Was echt unfair ist“, murrte diese. „Jonas durfte schon mit sechzehn in München Party machen.“ „Jonas ist ja auch ein Junge!“, erklärte Vroni, als wäre damit alles gesagt. „Das ist genau diese sexistische Kackscheiße, die heutzutage einfach nicht mehr existieren sollte!“ So wie Jonas seine Schwester kannte, regte sie sich mehr über die Begründung ihrer Eltern auf, als darüber, Silvester nicht in München feiern zu können. Beschwichtigend hob er die Hände, um den beginnenden Streit zu beenden. „Is‘ ja gut. Ich versuch mal, sie zu überreden, wenn, und nur wenn du versprichst, mir keinen Ärger zu machen.“ „Ach Bruderherz, wann habe ich jemals Ärger gemacht?“ „Das war jetzt hoffentlich ‘ne rhetorische Frage? Und jetzt raus hier, ich bin’s nich‘ mehr gewohnt, euch nervige Pestbeulen so lang um mich zu haben!“ Jonas wedelte mit den Händen, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen und seine Schwestern traten kichernd den Rückzug an. Nach einer kurzen Dusche, zwängte er sich in das Hemd, von dem er wusste, dass es seiner Mutter gefallen würde, musterte sich kurz im Spiegel und tauschte es wieder gegen einen seiner bequemen Kapuzenpullover. Auf Socken schlich er durch das Haus und wurde schnell fündig. Jonas‘ Oma hatte es sich auf dem alten Schaukelstuhl bequem gemacht, der aus irgendeinem Grund immer in der Küche, anstelle des Wohnzimmers stehen musste. Hinter ihr dudelte das Radio so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie es überhaupt hörte. Der vertraute Anblick, eine Erinnerung an seine Kindheit, wärmte sein Herz. „Hallo, Oma“, begrüßte er sie. „Bua!“, rief sie freudig und kämpfte sich aus dem Stuhl hoch, um ihn in die Arme zu schließen. „I hob di gor ned g‘heard.“ „Bin auch erst vor ein ‘ner halben Stunde oder so angekommen.“ Eng kuschelte er sich an die Frau, die er für den Rest seines Lebens mit Wolle und Butterplätzchen verbinden würde. „Bleibst a weng bei mia hockn? Erzeast vo da großn Stod?“ „Solange du willst.“ Und es wurde lange. Anstatt die Zeit bis zum Abendessen zu verschlafen, saß Jonas bei seiner Oma am Küchentisch und erzählte ihr, was er in den vergangenen Monaten so erlebt hatte. Jedenfalls das meiste. Seine Abenteuer mit Erik und Dominik sparte er geflissentlich aus. Je näher der Abend rückte, umso mehr Familienmitglieder gesellten sich zu ihnen, bis irgendwann die ganze Familie am Tisch versammelt war. Der Heiligabend war offiziell eingeläutet.   Jonas lag auf seinem Bett, das Leuchten seines Handys die einzige Lichtquelle im Raum. Der Großteil seiner Freunde hatte seine Frohe-Weihnachten-Nachricht beantwortet, nur Maria, Erik und Dominik fehlten noch. Er rief seinen Chat mit Maria auf und las noch einmal seine letzten Nachrichten an sie.   Du, 22:34 Uhr schade, dass wir uns heute nich mehr gesehen haben.   Du, 22:34 Uhr hätte nich gedacht, dass der erste tag zuhause so anstrengend wird   Du, 22:34 Uhr warst du in der kirche? hätte beinahe drama bei uns geben   Du, 22:35 Uhr dabei war ich schon die letzten jahre nich mehr da   Du, 23:01 Uhr ist es bei dir auch so … komisch?   Du, 23:05 Uhr ich mein, es is echt super, meine fam wiederzusehen, aber irgendwie fühl ich mich wie der totale außenseiter.   Jonas sah, dass Maria jede einzelne seiner Nachrichten gelesen hatte, aber sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Er war kurz davor, einfach anzurufen, als sie zu tippen begann.   Maria, 23:13 Uhr Bin ziemlich geschafft, daher die Kurzfassung: Ich bin wieder im Wohnheim in München. Riesenstreit. Details gibt es ein andermal.   Das klang gar nicht gut. Allmählich begann Jonas, sich Sorgen um Maria zu machen. Sie hatte sich in den vergangenen Monaten zunehmend von ihm abgekapselt, die meisten Telefonate wegen Zeitmangel abgesagt und es bei oberflächlichem Geplänkel belassen, wenn sie doch einmal miteinander gesprochen hatten. Rasch antwortete er:   Du, 23:13 Uhr fuck! tut mir echt leid. kann ich irgendwas tun?   Maria, 23:16 Uhr Sorry, ich will grad nur allein sein. Aber du könntest an Silvester zu mir kommen, dann haben wir Zeit zum Reden. Gute Nacht.   Du, 23:16 Uhr machen wir so. schlaf gut!   Jonas tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ihr kurzer Austausch hatte nicht dazu beigetragen, ihn zu beruhigen, aber er kannte Maria gut genug, um zu wissen, dass alles Bohren nichts nutzte, wenn sie nicht darüber sprechen wollte. Schlafen konnte er dennoch nicht mehr. Zum gefühlt tausendstem Mal an diesem Abend, bewunderte er die Spiegelreflexkamera, die seine Eltern ihm geschenkt hatten. Sie war wundervoll, genau das Modell, das er schon so oft sehnsüchtig im Laden beäugt hatte, weshalb auch ihr unverschämt hoher Preis kein Geheimnis für ihn war. Seine Eltern mochten nicht glücklich über seine Studienwahl sein, aber sie taten ihr Bestes, um ihn zu unterstützen. Zärtlich strich er über das pechschwarze Gehäuse und entfernte eine winzige Staubfluse vom Objektiv. Wenn er sich doch nur sicher sein könnte, dass seine Eltern auch andere Teile seines Lebens so leicht akzeptieren würden. Jonas‘ Handy kündete von einer weiteren Nachricht, aber zu seiner Enttäuschung, hatte sich Maria nicht spontan dazu entschieden, ihm doch noch ihr Herz auszuschütten. Stattdessen hatte Dominik geantwortet.   Dominik, 23:22 Uhr Dir auch frohe Weinachten.   Du, 23:22 Uhr danke. hattest du einen schönen abend?   Dominik, 23:23 Uhr Ja.   Genervt rollte Jonas mit den Augen. Sie konnten sich schon nicht richtig unterhalten, wenn sie sich direkt gegenübersaßen, schriftlich war es nahezu unmöglich. Eine weitere Nachricht von Dominik schien dieser These jedoch zu widersprechen, denn sie war ungewohnt lang.   Dominik, 23:29 Uhr Ich habe nachgedacht und ich glaube nicht, dass das zwischen uns funktioniert. Du bist wirklich nett, aber wohl einfach nicht mein Typ. Tut mir leid, ich hoffe du verstehst das. Viel Glück bei deinem Projekt!   Jonas las den Text wieder und wieder, doch auch nach dem dritten Mal, konnte er nicht sagen, was er in ihm auslöste. Er hatte schon lange geahnt, dass er und Dominik nicht wirklich zusammenpassten und wenn er ehrlich zu sich selbst war, schlug sein Herz ohnehin für Erik. Letztlich war es unfair von ihm gewesen, Dominik als Lückenbüßer zu missbrauchen und es war gut, dass dieser ihm die Entscheidung abgenommen hatte, das zwischen ihnen nicht weiterzuführen. Die Ablehnung schmerzte aus einem ganz anderem Grund. Jonas war einsam. Seine Familie, seine Freunde, sogar Maria; niemandem schien er sich wirklich öffnen zu können. Entweder, sie waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um ihm zuzuhören, oder sie brachten einfach kein Verständnis für ihn auf. Jetzt hatte sich die Zahl der Personen, mit denen er sich über etwas anderes als das Wetter und die letzte Party unterhalten konnte noch weiter reduziert.   Du, 23:36 Uhr is okay. dir auch viel erfolg für deine klausuren!   In Jonas‘ Kopf klangen diese Worte so verlogen wie sie waren, aber mit etwas Glück bemerkte Dominik das nicht. Und selbst wenn, brauchte es Jonas im Grunde nicht zu interessieren. Die Sache mit ihnen war gelaufen. Er löschte das Licht, drückte sein Gesicht tief in das viel zu weiche Kissen und inhalierte den vertrauten Duft nach seiner Kindheit, der nicht mehr wirklich zu ihm passen wollte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)