Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 9 --------- Was zuletzt geschah: Jonas springt über seinen Schatten und erzählt seiner Kommilitonin Larissa, weshalb deren Verkupplungsversuche mit jungen Damen immer ins Leere laufen. Später springt er ins kalte Wasser, allerdings nicht, ohne zuvor Erik zu treffen, der sich von ihrer spontanen Begegnung wenig begeistert zeigt. Am Ende des Tages hat Jonas zwar ein Date, nur lautet der Name in seinem Terminkalender plötzlich ‚Dominik‘ und nicht ‚Erik‘.   Kapitel 9 Es war nur ein Treffen. Nur ein Treffen. Zwei Leute, die Zeit miteinander verbrachten. Die lachten, wenn es gut lief und sich anschwiegen, wenn nicht. Nichts Besonderes. Er hatte das schon tausendmal gemacht. Nur, dass das nicht stimmte. Jonas‘ inneres Mantra wurde von der Erkenntnis durchbrochen, dass er sich auf dem Weg zu seinem allerersten Date befand. Ein Date. Ein Treffen, mit der Absicht, sich besser kennenzulernen und bei Gefallen eine romantische Beziehung einzugehen. Mit einem Mann. Jonas war auf dem Weg zu einem Date mit einem Mann. Unbewusst verlangsamte er seine Schritte, bis der Bus, der seiner Rechnung nach erst in drei Minuten hätte ankommen sollen, an ihm vorbeiraste, ein paar Passagiere auf die Straße schmiss, ein paar andere einsteigen ließ und abbrauste, bevor Jonas auch nur in die Nähe seiner Türen gekommen war. Fuck. Zu spät zum ersten Date. Er hätte kaum einen besseren ersten Eindruck hinterlassen können. Die Pizzeria war gut besucht und Jonas froh, doch noch reserviert zu haben. Bevor er an den Tisch trat, an dem er Dominiks lockigen Kopf erspäht hatte, wischte er seine feuchten Hände an seiner Jeans ab, schluckte mehrmals, um den Geschmack nach trockener Pappe von seiner Zunge zu streifen und setzte ein hoffentlich überzeugendes Lächeln auf. „Hey. Sorry, dass ich zu spät bin.“ „Kein Problem.“ Auch Dominik lächelte, aber Jonas hatte den Eindruck, dass es ein wenig bemüht wirkte. Die Grübchen, die ihm seit ihrem ersten Treffen im Kopf herumspukten, wollten nicht so recht hervortreten. „War ja nur eine Viertelstunde …“ „Jaah, nochmal sorry deswegen.“ Verlegen rutschte Jonas auf den freien Sitz gegenüber Dominik. „Mir ist der Bus vor der Nase weggefahren und dann bin ich irgendwie eine Seitenstraße zu früh abgebogen und …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Berlin ist einfach zu groß für mich.“ „Ich finde, man gewöhnt sich recht schnell daran. Und notfalls gibt es ja auch noch Google Maps.“ Jonas nickte schuldbewusst. Offenbar hatte er Dominik mit seiner Verspätung gehörig auf dem falschen Fuß erwischt. „Dann, ähm … Dann bist du auch noch recht frisch in Berlin?“ „Nein. Schon ein paar Jahre.“ Jonas wartete darauf, dass Dominik von alleine fortfuhr und hakte er nach, als das nicht der Fall war. „Du bist also nich‘ erst fürs Studium hergekommen?“ „Nein.“ Nervös glättete Jonas die Tischdecke vor ihm. „Sorry, is‘ das … Trampel ich da grad auf ‘nem blöden Thema rum?“ „Nein, wieso?“ „Oh, du warst nur … Ich dacht‘ …“ Jonas schüttelte den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, dass Dominik nicht Erik war. Wortkarg zu reagieren bedeutete nicht zwangsweise, nicht über etwas sprechen zu wollen. Vielleicht war das auch einfach Dominiks Art. „Schon gut, vergiss es. Kennst du Larissa schon länger?“ „Nicht wirklich.“ „Aber ausreichend, damit sie dich mit nervigen Sprachnachrichten bombardiert.“ Dieses Mal war Dominiks Lächeln echt. „Ehrlich, ich glaube, dafür muss man sie nicht besonders gut kennen.“ Jonas schnaubte. „Stimmt auch wieder. Ich hab am ersten Studientag bloß versehentlich in ihre Richtung geguckt und zwei Minuten später wusste ich praktisch alles über ihr Leben, inklusive der Farbe ihrer Lieblingsunterwäsche.“ „Lila?“ „Mit gelben Blümchen.“ Ihr allmählich warmlaufendes Gespräch wurde kurzfristig von einem gestressten Kellner unterbrochen, der eilig ihre Bestellungen aufnahm. Zweimal Cola und zweimal Salamipizza. Erleichtert atmete Dominik aus. „Hättest du jetzt Pizza Hawaii bestellt, hätte ich dieses Date für beendet erklären müssen.“ „Nee du, keine Sorge“, erwiderte Jonas und hoffte, dass Dominik ihm nicht anmerkte, wie nervös ihn der Begriff ‚Date‘ machte. „Nix gegen Ananas, aber den Scheiß auf meine Pizza packen will ich dann doch lieber nich‘.“ „Gut.“ Anstatt mit der Tischdenke, spielte Jonas nun mit einer Ecke seiner Serviette, während er überlegte, welche Fragen er Dominik noch stellen konnte. „Was machst du denn, wenn du dich nich‘ unfreiwillig auf WG-Partys rumtreibst?“ „Studieren.“ „Maschinenbau, richtig?“ „Ja.“ „Und, ähm … Wie is‘ das so?“ „Anspruchsvoll. Die Karriereaussichten sind ganz gut, deshalb wollen das viele machen, ganz egal, ob sie dafür geeignet sind oder nicht. Da wird im ersten Jahr ordentlich aussortiert und man muss aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren.“ „Aber es macht dir Spaß?“ Dominik zuckte mit den Schultern. „Ist okay. Wie gesagt, die Jobaussichten nach dem Abschluss sind ziemlich gut.“ „Bei mir jetzt nich‘ so.“ „Ich verstehe sowieso nicht, warum man etwas in Richtung Kunst studiert“, sagte Dominik und nahm die Cola entgegen, die ihm der Kellner brachte. „Kann man das nicht einfach hobbymäßig machen und etwas Ordentliches studieren?“ „Ähm, naja, ich würd jetzt nich‘ sagen … Ich mein, was empfindest du denn als was ‚Ordentliches‘?“ „Keine Ahnung. Irgendetwas, mit dem man dann eben auch einen Job findet. Etwas, das wirklich gebraucht wird.“ „Ich find schon, dass unsre Gesellschaft Kunst braucht“, gab Jonas ein wenig verstimmt zurück. „Du hast recht.“ Dominik rieb sich übers Gesicht und als er die Hände senkte, waren da nicht nur diese bezaubernden Grübchen, die sein Lächeln einrahmten, sondern seine Wangen hatten zusätzlich eine charmante Röte angenommen. „Entschuldige, ich klinge schon wie einer dieser arroganten MINTler, die denken, ihr Studium sei das einzig Wahre, oder?“ „Vielleicht ein bisschen“, entgegnete Jonas, doch sein kurzfristig aufgeflammter Zorn war bereits verraucht. „Aber das treib ich dir schon noch aus.“ „Hoffentlich. Ich will echt nicht so wie mein Vater werden. Du kennst diese Witze über Asiaten, deren Kind erst wieder mit ihnen sprechen darf, nachdem es ein erfolgreicher Arzt geworden ist? Abgesehen davon, dass ich mir ziemlich sicher bin, keinerlei asiatische Verwandtschaft zu haben trifft es das bei uns ziemlich genau.“ Jonas verzog das Gesicht. „Klingt ätzend.“ „Manchmal ist es das.“ Dominik verstummte und trank einen Schluck Cola. Vielleicht wollte er nicht weiter über seine Familie sprechen, aber vielleicht interpretierte Jonas auch schon wieder zu viel in sein Verhalten hinein. Ein anderer Kellner, Jonas vermutete, dass der vorhergehende entweder Pause hatte oder weinend auf der Personaltoilette hockte, brachte ihnen zwei imposante Pizzen, deren Duft nach krosser Salami und geschmolzenem Käse seinen Magen zu einem ausgehungerten Knurren animierte. Weitestgehend schweigend verspeisten Dominik und Jonas die beiden runden Monster vor ihnen. Gelegentlich streifte Dominiks Fuß Jonas‘ Unterschenkel, aber dieser war sich nicht sicher, ob die Berührung zufällig oder gewollt war und fand sich außerstande, sie zu erwidern. „Schade, dass wir morgen beide so scheißfrüh aufstehen müssen“, sagte er, nachdem jeder seine Rechnung beglichen hatte und sie in Richtung ihrer jeweiligen Haltestellen schlenderten. „Sonst könnten wir jetzt noch ‘n bissl um die Häuser ziehen.“ „Vielleicht machen wir das einfach, wenn wir uns das nächste Mal treffen“, schlug Dominik vor. Jonas sah ihn mit großen Augen an, kam allerdings nicht umhin, einen raschen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Niemand achtete auf sie oder ihr Gespräch. „Hättest du denn Lust dazu?“ „Von mir aus gerne.“ Ein warmes Gefühl breitete sich in Jonas‘ Brust aus. „Dann schreib ich dir, sobald ich weiß, wie meine Schichten im Café aussehen, okay?“ „Gut.“ Dominik nickte zur Straße. „Da kommt mein Bus. Bis dann.“ Lange blickte Jonas den roten Rücklichtern nach und versuchte, aus seinen Gefühlen schlau zu werden.   Eine halbe Woche nach seinem Date mit Dominik, fand sich Jonas erneut vor Eriks Tür wieder und war kurz davor, die Klingel ein zweites Mal zu drücken, als dieser endlich den Summer betätigte. Mit jeder Stufe, die Jonas überwand, beschleunigte sein Herz einige Schläge und er hatte Mühe, sich seine zurechtgelegten Sätze in Erinnerung zu rufen. Hi. Danke für den Schal. Übrigens, ich habe jemanden kennengelernt. Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Mach’s gut. Wie gewohnt wartete Erik an seiner geöffneten Haustür, doch anders als sonst, schaffte es Jonas dieses Mal nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Sorry für die Verspätung, der Prof hat überzogen.“ „Schon gut.“ Erik klang nicht, als ob alles gut wäre. „Ich wollte ohnehin mal Pause machen.“ Er trat zur Seite, um Jonas in seine Wohnung zu lassen. „Bin auch sofort wieder weg, sobald ich meinen Schal hab.“ „Hängt an der Garderobe.“ Jonas nickte. Erst, nachdem er Erik den Rücken zugewandt hatte, traute er sich, den Blick zu heben. Sein blauer Wollschal hing unschuldig an dem Haken, über den er ihn bei seinem letzten Besuch so nachlässig geworfen hatte. Er nahm ihn an sich und holte tief Luft. Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr sehen. Aber als er sich umdrehte, wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen. Eriks war blass, die kleinen Fältchen um seine Mundwinkel traten deutlich hervor und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Immer wieder strich er fahrig über seine Unterarme, als versuchte er, den Stoff seines Pullovers zu glätten. Besorgt runzelte Jonas die Stirn. „Bist du krank?“ „Hm? Nein, nein.“ Erik rang sich ein schmales Lächeln ab. „Nur etwas müde.“ Jonas begriff, dass er möglicherweise zu viel in Eriks Nachricht interpretiert hatte. Man sah ihm die Erschöpfung deutlich an. „Du hast grad echt den Arsch voll Arbeit, was?“ „So könnte man es vielleicht ausdrücken.“ Einen Augenblick lang wurde Eriks Lächeln breiter, bevor es flackerte und erstarb. „Und wie lange soll das so weitergehen? Nix für ungut, aber du siehst aus, als könntest du mindestens zwanzig Stunden Schlaf brauchen.“ „So schlimm ist es dann doch nicht“, sagte Erik abwehrend. „Nur gerade viel auf einmal. Kurz vor Weihnachten habe ich ein Referat und wenn das erledigt ist, muss ich dringend mit meiner Hausarbeit anfangen. Danach wird es, was die Uni betrifft etwas ruhiger. In der Arbeit …“ Erik zuckte mit den Schultern. „Es ist eben Jahresabschluss und ich bin zum ersten Mal alleine dafür verantwortlich.“ Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr sehen. War es nicht schrecklich unfair von Jonas, Erik zu allem anderen auch noch diese Worte aufzubürden? Anscheinend würden sie sich in nächster Zeit ohnehin nicht treffen, also konnte er damit doch auch noch warten, bis er nicht mehr befürchten musste, Erik könnte jeden Moment im Stehen einschlafen. Allerdings fand Jonas noch immer keine Erklärung für dessen seltsames Gebaren im Schwimmbad. Stress allein schien ihm ein ziemlich unzureichender Grund dafür zu sein und er wollte sich nicht länger in Rätselraten ergehen. „Ach so, ähm, wegen neulich. Als wir uns in der Umkleidekabine getroffen haben …“ „Ah. Ja.“ Jetzt war es Erik, der den Blick senkte. „Ähm, es is‘ nich‘ so, dass ich dir irgendwie … keine Ahnung, nachgelaufen wär oder so. Das war echt Zufall.“ Verwirrung machte sich auf Eriks Gesicht breit. „Ich weiß nicht, was du–“ „Ich stalke dich nich‘!“, fiel ihm Jonas ins Wort. „Nur, falls du das dachtest …“ Erik zog die Brauen zusammen, bis sich die kleine Falte dazwischen zeigte. „Jonas, ich hatte keine Sekunde lang angenommen, dass du mich stalken würdest. Mir ist schon klar, dass unsere Begegnung neulich Zufall war. Sie hat mich nur …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dich dort zu sehen.“ „Oh. Okay. Du warst nur so … abweisend.“ „Ich weiß. Tut mir leid.“ Skeptisch musterte Jonas Erik, der erneut begonnen hatte, den Saum seiner Ärmel nach unten zu ziehen. Als er Jonas‘ Blick bemerkte, verschränkte er die Arme hinter seinem Rücken. Diese Beklommenheit war so untypisch, dass Jonas ihre Begegnung im Schwimmbad noch einmal Revue passieren ließ. Er hatte Erik angesprochen. Sie hatten sich kurz unterhalten. Eventuell hatte Jonas die Gelegenheit genutzt, mal einen etwas genaueren Blick auf Eriks nackten Oberkörper zu werfen. Die Sommersprossen auf seinen Schultern, der goldene Pfad zwischen Bauchnabel und Schambereich, die kräftigen Arme. Die … Jonas seufzte. „Isses dir unangenehm, dass ich die Narben an deinen Unterarmen gesehen hab?“ Ironischerweise hatte Jonas ihnen bis zu diesem Moment keinerlei Bedeutung beigemessen. Im Schwimmbad hatte er sie einfach für das Souvenir einer recht kratzbürstigen Katze gehalten. Erst jetzt, nachdem er noch einmal darüber nachgedacht hatte, war ihm eingefallen, dass sie denen einer ehemaligen Mitschülerin ähnelten, über deren psychische Probleme mehr als genug Gerüchte im Umlauf gewesen waren. Sollte das wirklich die Erklärung sein? „Keine Ahnung, was du glaubst, was ich d–“ Jonas verstummte. Erik war sichtlich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, aber seine Lippen waren zu einem schmalen Strich gepresst und das letzte bisschen Farbe aus seinen Wangen gewichen. Instinktiv zog Jonas ihn in eine feste Umarmung und flüsterte: „Du glaubst doch nich‘ etwa, ich würd dich deswegen plötzlich für ‘nen völlig anderen Menschen halten, oder?“ Erik tat nichts, um die Umarmung zu erwidern, entzog sich ihr jedoch auch nicht, also entschied Jonas, dass er ihn noch nicht daraus entlassen würde. „Ich mein, echt jetzt, eigentlich sollt ich dir das richtig übelnehmen, dass du mich für so oberflächlich hältst!“ „Ich halte dich nicht für oberflächlich“, murmelte Erik. Seine Hände legten sich auf Jonas‘ Rücken, aber die Berührung war so zart, dass dieser sie kaum wahrnahm. „Oh gut, dann muss ich dir ja nich‘ klarmachen, dass ich es scheißeblöd finde, andere nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Und dann noch für was, was offensichtlich ‘ne Weile her is‘.“ „Würdest du dasselbe sagen, wenn ich ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert hätte?“ Jonas schnaubte. „Okay, das wär ‘n Sonderfall.“ Spielerisch zupfte er an Eriks Pullover. „Scheiße, das heißt, du musst mal für mich strippen, damit ich sowas ausschließen kann.“ Zu Jonas‘ Erleichterung lachte Erik leise. „Entschuldige. Es war dumm von mir, so ein Geheimnis darum zu machen.“ „Jaah, irgendwie schon. Ich mein, is‘ nich‘ so, als würd ich’s nich‘ auch verstehen. Menschen sin‘ Idioten. Ich wette, du hast schon mal beschissenere Reaktionen geerntet hast als ‘ne Umarmung.“ Wieder lachte Erik. „Gelegentlich. Trotzdem hatte ich eigentlich nicht geplant, sie zu verstecken. Es ist nur …“ Sanft löste er sich aus der Umarmung. Er wirkte ruhiger, aber seine linke Hand spielte noch immer mit dem Saum seines rechten Ärmels „Wir hatten so einen komischen Start und ich wollte … Ah, ich wollte wohl einfach einen möglichst guten Eindruck auf dich machen. Damit du dich sicher bei mir fühlen kannst.“ „Versteh ich“, sagte Jonas mehr zu sich selbst als zu Erik. Auch er war nicht immer ehrlich gewesen, entschied jedoch, dass das der völlig falsche Zeitpunkt war, um die Geschichte mit Maria aufzuklären. „Aber ich muss dich jetzt trotzdem an das erinnern, was du mir ganz am Anfang gesagt hast. Von wegen unsere Rollen, die wir im Spiel annehmen nich‘ ins reale Leben mitzunehmen und so.“ „Den Fehler habe ich wohl wirklich gemacht“, gab Erik zu. „Aber es war auch einfach eine gute Gelegenheit für mich, dem ganzen Thema aus dem Weg zu gehen. Ehrlich gesagt spreche ich nicht besonders gerne darüber, wollte dich aber auch nicht belügen, oder eventuelle Fragen abwimmeln. Letztlich habe ich wohl beides getan.“ Er schwieg einen Augenblick und Jonas hatte den Eindruck, dass er mit sich selbst rang, ob er fortfahren oder es dabei belassen sollte. „Reicht es dir, wenn ich sage, dass ich nach dem Tod meiner Eltern eine …“ Wieder stockte er. „Die Zeit danach war ziemlich hart. Aber das ist lange her und zum Glück sind nur ein paar Narben geblieben.“ „Erik, du musst mir gar nix erzählen“, beteuerte Jonas und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Ich hör zu, wenn du willst, aber davon abgesehen beurteile ich bloß, was ich direkt sehe und erlebe. Dahingehend ist mir deine Vergangenheit echt scheißegal.“ „Danke.“ Unerwartet drückte Erik Jonas an sich. Seine Stirn sank auf Jonas‘ Schulter, seine Finger gruben sich in dessen Jacke. „Und danke, dass du es so offen angesprochen hast. Das hat … geholfen.“ „Kein Ding. Wenn ich eins gut kann, dann die Klappe aufzureißen.“ Entgegen seiner großspurigen Worte, war Jonas‘ Mund völlig ausgetrocknet. Er hatte keine Ahnung, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Ihre bisherige Beziehung war nahezu ausschließlich sexueller Natur gewesen; körperliche Nähe, die nicht erregen, sondern Trost und Wärme spenden sollte absolutes Neuland. Aber dieses Neuland fühlte sich erschreckend richtig an. Zärtlich fuhr Jonas durch Eriks Haar, ließ seine Fingerspitzen von dem feinen Flaum an dessen Nacken kitzeln. Eriks Atem strich über seine Halsbeuge und die fest um seinen Körper geschlossenen Arme erinnerten ihn an seine eigene Sehnsucht. Der Duft nach Sonne und Holz stieg ihm in die Nase. Mit jeder ihrer Begegnungen war ein Stück der perfekten Schale, mit der Erik sich umgeben hatte weggebrochen und Jonas merkte, wie sehr er den Menschen, der sich dahinter verborgen hielt mochte. Still lauschte dem Klopfen seines Herzens und wusste, dass er im Begriff war, sich zu verlieben. Erik war der Erste, die sich aus der Umarmung löste. Sanft nahm er Jonas den Schal aus den Händen und legte ihn stattdessen um dessen Schultern. „Gut, dass du ihn wiederhast. Ich mag die Farbe an dir.“ Ohne darüber nachzudenken, beugte sich Jonas vor und küsste Erik. Dessen Lippen vibrierten gegen Jonas‘, als er fragte: „Sehen wir uns nach Weihnachten?“ Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr treffen. Wie konnte Jonas das sagen, nachdem er eben erst großspurige Reden darüber gehalten hatte, dass sich nichts zwischen ihnen geändert hatte? Natürlich würde Erik Jonas‘ Zurückweisung auf seine Narben beziehen. Natürlich würde er denken, Jonas war lediglich auf der Suche nach einer Ausrede. Und natürlich wollte Jonas ihn wiedersehen. „An mir soll’s nich‘ scheitern.“ War es Wunschdenken, oder war Eriks Lächeln zum ersten Mal an diesem Tag weniger melancholisch als vielmehr glücklich? „Das fände ich sehr schön.“ Selbst die kühle Luft, die Jonas vor der Haustür empfing, konnte die Röte nicht von seinen Wangen vertreiben. Fuck! Fuck! Fuck!   Auf dem Weg in das kleine Café, machte sich Jonas eine mentale Notiz: Es war eine dämliche Idee, drei Stunden vor einem Date mit einem süßen Typen einen vergessenen Schal aus der Wohnung seiner aktuellen Affäre zu holen. Völlig in Gedanken versunken, wäre er um ein Haar an dem Tisch vorbeigelaufen, an dem Dominik bereits auf ihn wartete. „Hey, hier bin ich.“ „Ups, sorry.“ Jonas ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen. Mit einem zweifelnden Blick hob Dominik sein mit einer zartrosa Flüssigkeit gefülltes Glas, schwenkte es ein wenig und trank schließlich tapfer daraus, bevor er fragte: „Wie war dein Tag?“ „Ganz okay.“ Jonas versuchte, die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf sich zu lenken und an etwas zu denken, das nichts mit seiner Begegnung mit Erik zu tun hatte. Das Wetter! Nein, das erinnerte ihn nur an den Schal, der sich weich und warm um seinen Hals schmiegte. Die Arbeit! Das Vorstellungsgespräch, bei dem er Erik kennengelernt hatte. Partys! Seine erste Nacht mit Erik. Die Uni! Ja, die Uni! „Ich hab bloß noch immer keinen Plan, was das Thema für mein Projekt zum Semesterende sein soll. Was trinkst du da?“ „Rosen-Eistee. Ist mir aber viel zu süß.“ Dominik reichte sein Glas an Jonas weiter, damit dieser probieren konnte. „Ist es so schwer, ein Projektthema zu finden?“ „Is‘ halt relativ offen, was die Vorgaben angeht. Ich würd‘ ganz gern was mit Fotografie machen, aber irgendwie glaub ich, dass das allein nich‘ genug ist und selbst wenn, dann fällt mir kein gutes Grundthema ein und–“ „Ja, klingt wirklich schwierig.“ „Ähm … Ja.“ War das Einbildung, oder hatte Dominik ihn gerade eiskalt abgewürgt? „Was darf ich dir denn bringen?“, löste die Kellnerin das kurze Schweigen zwischen ihnen auf. „Rosen-Eistee, bitte.“ Jonas fand ihn kein bisschen zu süß, sondern gerade richtig. „Aber ich weiß, wie es dir geht“, nahm Dominik das Gespräch wieder auf. „Wir haben so viele Klausuren am Ende der Vorlesungszeit. Ich habe echt keine Ahnung, wie ich die alle schaffen soll.“ „Ach, Augen zu und durch. Ich bin sicher, dass du das kannst.“ „Das sagt sich so leicht, wenn man selbst den Stress nicht hat.“ Jonas bemühte sich zu lächeln, aber es wurde eher ein Zähnefletschen. „Stimmt, ich hab natürlich keine Ahnung, wie sich Stress so anfühlt.“ Dominik sah ihn erschrocken an und verzog das Gesicht. „So war das nicht gemeint. Ich bin nur … naja, gestresst eben.“ Er drehte seinen Strohhalm zwischen den Fingern. „Hast du dir überlegt, welchen Film wir heute sehen wollen?“ „‚Paterson‘, dieser neue Film von Jim Jarmusch würd‘ mich interessieren.“ „So ein Kunstding? Naja, wenn du unbedingt willst. Ich dachte eher an den neuen Jack Reacher oder so. Irgendwas zum Abschalten.“ „Oh. Ähm … Ich hab den ersten Teil nich‘ gesehen.“ „Hm … Dann ‚Arrival‘? Soll ein recht guter SciFi-Streifen sein.“ Sofort dachte Jonas an Eriks Vorliebe für Science-Fiction Bücher und fragte sich, ob dieser den Film bereits gesehen hatte und falls ja, mit wem. „Jaa … Ja, warum eigentlich nich‘.“ Dominik lächelte, seine Grübchen so bezaubernd wie immer. „Super, dann sind wir uns da ja schon mal einig.“ Seine Fingerspitzen streiften Jonas‘ Hand, der sie mit einem Seitenblick auf die anderen Gäste wegzog. „Ähm … Ich guck mal fix, wann und wo der Film läuft.“ Rasch holte er sein Handy hervor und suchte nach den Laufzeiten in den nahegelegenen Kinos, in der Hoffnung, Dominik hätte seine Zurückweisung nicht als solche erkannt. „Wir sollten uns beeilen.“ Der Kinosaal war groß, voll und ihre Plätze nicht besonders gut, aber es war das schnatternde Pärchen neben ihnen, das Jonas den letzten Nerv raubte. Er atmete innerlich auf, als der Film begann und die beiden verstummten. Mit jeder Sekunde ihrer angeregten Unterhaltung, war ihm das Schweigen, das zwischen ihm und Dominik herrschte bewusster geworden. Seine Erleichterung hielt jedoch nur wenige Szenen an. Es war dunkel, die Sitze so bequem wie Kinositze nun einmal sein konnten und die schmalen Armlehnen boten die perfekte Gelegenheit, unauffälligen Körperkontakt herzustellen. Unsicher schielte Jonas zu Dominik, der gebannt das Geschehen auf der Leinwand verfolgte. Sollte er seine Abweisung im Café wiedergutmachen? Wollte er sie wiedergutmachen? Warme Finger streiften seinen Handrücken und wieder zog er sich zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)