Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Prolog: -------- Künstliches Licht erhellte dunkle Straßen, Autos dröhnten über Asphalt. Es war spät geworden. „Das war das letzte Teil.“ Erschöpft sank Jonas gegen die Wand, wischte eine Strähne aus seiner verschwitzten Stirn. Aus der Wohnung gegenüber drang laute Musik, ließ den Umzugskarton neben seinen Füßen vibrieren. „Hoffentlich kannst du bei diesem Krach schlafen.“ Das besorgte Gesicht seiner Mutter erschien in seinem Sichtfeld. Holzspäne zierten ihre schwarze Hose, Schweißränder verfärbten den Kragen ihrer Bluse. Sie deutete hinter sich, in das winzige Ein-Zimmer-Apartment. „Papa und ich haben den Schrank fertig aufgebaut und der Schreibtisch wackelt nicht mehr. Du musst nur noch das Bett beziehen und die restlichen Kartons auspacken. Dabei können wir dir leider nicht mehr helfen, wenn wir heute noch nach Hause fahren wollen.“ „Kein Ding“, versicherte Jonas. „Schaut lieber zu, dass ihr sicher ankommt. Ruft kurz durch, wenn ihr da seid.“ Seine Mutter lächelte, eine Spur Betrübtheit in den dunklen Augen, die seinen so ähnlich waren. „Schon seltsam, diesen Satz zur Abwechslung aus deinem Mund zu hören. Kaum verlassen sie das Nest, werden sie gleich ganz erwachsen.“ Ihre Finger strichen über die Wange ihres Sohns, zupften an dessen Haaren. „Ich wünschte nur, du hättest dir das mit der Frisur noch einmal überlegt. Schlimm, die Seiten so kurzrasiert und dann bloß ein bisschen was Langes in der Mitte. Wie ein Rattennest.“ Mürrisch schob Jonas ihre Hand weg. „Lass den Scheiß, Mama. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“ „Und du wirst trotzdem darauf achten, wie du mit uns sprichst.“ Jonas‘ Vater lehnte am Türrahmen, klopfte Staub von seinen Händen. Weder seine kräftige Statur, noch die rotblonden Haare hatten sich bei seinen drei Kindern durchgesetzt und Jonas hoffte inständig, dass das auch für die Neigung zur Glatzenbildung galt, die im vergangenen Jahr sehr deutlich geworden war. „Sorry, Papa“, murmelte er zerknirscht, rief sich in Erinnerung, dass er nur noch wenige Minuten durchhalten musste. Bald wären die beiden auf dem Weg in ihr winziges, bayerisches Dorf und er befreit von jeder elterlichen Zurechtweisung. „Also … dann macht’s mal gut.“ Unschlüssig standen seine Eltern im Hausgang, schienen ihr ältestes Kind nicht sich selbst überlassen zu wollen. Jonas keuchte auf, als er sich unerwartet in einer zweifachen Umarmung wiederfand, der Kopf seiner Mutter an seine Brust, der seines Vaters an seine Schulter gelehnt. Wann war er über sie hinausgewachsen? Zu seiner eigenen Überraschung, drückte Jonas seine Eltern fest an sich, wurde, nun, da der definitive Abschied nahte, doch noch von seinen Gefühlen übermannt. „Kommt gut heim, ja?“ „Aber ja“, versicherte sein Vater. „Und du passt auch gut auf dich auf. Berlin ist ein ganz anderes Pflaster als unser Dörfchen.“ „Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du gleich ans andere Ende Deutschlands ziehen musst.“ Die Stimme seiner Mutter war tränenschwanger. „Ich hab nun mal bloß in Berlin ‘nen Studienplatz bekommen“, erwiderte Jonas und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er darüber war. „Und dann noch diese voreilige Trennung von Maria. Das arme Mädchen ist sicher am Boden zerstört“, redete seine Mutter weiter, vielleicht, um sich nicht anmerken zu lassen, dass erste Tränen über ihre Wangen rollten. „Als wolltest du alle Brücken hinter dir abbrechen.“ „Das will ich ganz sicher nich‘!“, beteuerte Jonas. Er hörte Schritte im Gang, schaffte es aber nicht, sich aus der Umarmung zu lösen, bevor bereits ein böswilliges Kichern erklang, gefolgt von einem undeutlichen Murmeln, das sich verdächtig nach ‚Muttersöhnchen‘ anhörte. Ein Schlüssel klickte, die Musik aus der Nachbarwohnung wurde lauter, dann schloss sich die Tür mit einem Knall und dämpfte den Lärm wieder. Resolut schob Jonas seine Eltern von sich. „Ihr geht jetzt lieber. Den Rest schaff ich schon ohne euch.“ „Komm noch mit zum Auto“, bat sein Vater. „Wir haben da eine kleine Überraschung für dich.“ Die silbrige Oberfläche glänzte matt im künstlichen Licht, Jonas‘ Finger fuhren über das wohlbekannte Firmenlogo. „Danke.“ Das Wort klang lahm in seinen Ohren, aber mehr brachte er nicht heraus. „Dein jetziger Laptop war doch schon alt als du ihn von Maria bekommen hast und wir dachten, fürs Studium könntest du etwas Neues brauchen.“ Sein Vater schlug die Kofferraumtür zu. „Danke“, wiederholte Jonas. „Gern geschehen, Spatz“, sagte seine Mutter. „Wir sind sehr stolz auf dich.“ Weitere Umarmungen, mahnende Worte und Abschiedstränen folgten, bevor Jonas endlich allein in seinem frisch eingerichteten Reich war. Sein Blick huschte über das schmale Bett, die winzige Küchenzeile, den alten Holztisch seiner Eltern. Vor dem Fenster stand sein neuer Schreibtisch, an der Wand daneben ein zweitüriger Schrank. So wenig und dennoch war damit sämtlicher Platz aufgebraucht. Der Boden war mit Kartons vollgestellt, in denen sich Bücher, Comics, Fotografien, Kleidung und anderer Kram stapelten. Jonas hatte vieles mitgenommen und noch mehr zurückgelassen. Sanft legte er sein neues Notebook auf dem Bett ab, direkt neben seine geliebte Lederjacke und die günstige, aber treue Digitalkamera, die er vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Nach kurzem Abwägen, machte er sich ans Auspacken. Vermutlich war es sinnvoll, wenigstens dafür zu sorgen, dass er sich am nächsten Morgen nicht im Halbschlaf durch bergeweise Kartons wühlen musste, um überhaupt das Haus verlassen zu können. Schwarze Kapuzenpullis wanderten in Jonas‘ Kleiderschrank, dicht gefolgt von Shirts mit bekannten und unbekannten Kunstaufdrucken, Röhrenjeans und Boxershorts. Die Hemden, auf die seine Mutter bestanden hatte, verschwanden in einem der obersten Fächer, der von seiner Oma gestrickte Wollpulli erhielt einen Ehrenplatz am Kleiderbügel, auch, wenn Jonas ihn vermutlich nie tragen würde. Zehn Minuten und zwei leere Kartons später, entschied er, für heute genug getan zu haben. Jonas schnappte sich seine Kamera und kletterte auf den unter seinem Gewicht ächzenden Schreibtisch. Zwei Tage vor seiner Abreise hatte er in mühevoller Handarbeit Fotos ausgeschnitten, sie in kleine Plexiglasanhänger gestopft und diese an den weißen Vorhängen befestigt, die nun das Fenster einrahmten. Jonas‘ Eltern, seine Großmutter, seine beiden Schwestern Christine und Vroni; Maria, die lieber alleine in München studierte als mit ihm in Berlin und Clemens, sein Kindheitsfreund, dem er seit Jahren aus dem Weg ging, ohne sich ganz von ihm lösen zu können – sie alle lächelten Jonas entgegen und brachten ein kleines Stück Heimat in die Fremde. Nach langen Sekunden wandte Jonas‘ seinen Blick von der Vergangenheit ab und der Zukunft zu. Grelle Reklametafeln bewarben die an der Straße aufgereihten Lokale, ein Plattenbau, der sich in nichts von dem Haus unterschied, in dem Jonas die nächsten vier Jahre leben sollte, versperrte die Aussicht. War Jonas‘ Geburtsort von zartem Grün überzogen, pulsierte in Berlin Neonlicht durch tristes Grau. Schwungvoll stieß er das Fenster auf, atmete abgasgeschwängerte Luft und brüllte seine Ekstase nach draußen. „HALLO BERLIN!“ „HALT DIE SCHNAUZE!“ Offensichtlich teilte einer seiner Nachbarn Jonas‘ Enthusiasmus nicht. Der ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken, hüpfte zurück auf den Teppich und startete sein Notebook. Das Alte, das bereits mit dem WLAN verbunden und startklar war. Endlich war er allein, konnte tun und lassen was er wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Endlich konnte er sich entfalten, befreit von den konservativen Ketten seines Dorfs. Endlich konnte er in Ruhe wichsen, ohne Gefahr zu laufen, dass jemand in sein Zimmer platzte. Bald dröhnte kehliges Stöhnen durch Jonas‘ Kopfhörer, auf dem im Dunkeln glimmenden Bildschirm gab sich ein Mann einem anderen bedingungslos hin. Endlich brauchte Jonas nicht mehr zu fürchten, dass seine Familie von seiner Homosexualität erfuhr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)