Boys Don't Cry von abgemeldet (Spiegelkabinett) ================================================================================ Kapitel 4: V ------------ Ich brachte mich im Spiegel, lasse die Hände über den dünnen Stoff des bodenlangen Sommerkleides gleiten und schlucke. Es sieht falsch an mir aus. Passt einfach nicht zu dem, was ich im Spiegel sehe. Ich sehe kein Mädchen, keine Frau. Auch nichts dazwischen. Keine Ahnung, was ich sehe geschweige denn wie ich es benennen soll. Das was ich sehe... bin einfach nicht ich. Das ist alles, was ich weiß. Das laute Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken, lässt mich den Blick endlich vom Spiegel abwenden und ihm den Rücken zukehren.  Ich denke, ich hab länger gebraucht als gewohnt. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert bis ich mich beruhigt hab, noch länger bis ich mich dazu aufraffen konnte endlich aus der Dusche zu steigen und es war eine Qual für mich, mich in dieses gottverdammte Kleid zu zwängen, das meine Mutter so sehr an mir liebt. Sie hat es mir vor zwei Jahren gekauft. Hier in Südfrankreich und hat stolz ausgesehen, als sie mich das erste mal darin gesehen hat. Das ist der einzige Grund, wieso ich mich in dieses Kleid zwänge, obwohl ich es hasse. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich dieses Kleid je mochte. Kann nicht sagen, ob ich jemals ein Kleid an mir mochte. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals wohl in sowas gefühlt zu haben. Ich seufze, entriegel die Tür und Mikasa stürzt mir förmlich entgegen. Ihre Sachen schmeißt sie unachtsam auf die kleine Kommode, während sie eilig damit beginnt sich aus ihren Sachen vom Strand zu pellen. Sie flucht und schimpft, aber sie sieht mich nicht an. Sie beachtet mich nicht weiter. Vermutlich ist es besser so. Ich bin mir sicher, dass sie gesehen hätte, dass ich geweint hab. Und ich könnte wetten, sie hätte mich damit aufgezogen. Darauf rumgeritten. Gemeint, ich sei selbst schuld. Irgendwie sowas. Ich verlasse das Bad, ziehe die Tür hinter mir zu und bemerke das meine Eltern zurück sind. Meine Mutter sitzt mit ihren Einkäufen auf der großen Sofalandschaft im Wohnzimmer und legt sie ordentlich zusammen, während mein Vater mit Eren auf dem Balkon steht, eine Zigarette in der Hand, sich angeregt mit ihm unterhaltend.  Ich weiß nicht ob ich die Chance nutzen soll mit meiner Mutter zu reden, sie zu fragen, was sie für ein Problem mit mir hat. Ich will es wissen. Diese Unwissenheit macht mich krank und dennoch fürchte ich mich gleichermaßen vor ihrer Antwort.  Was ist, wenn ich sie gar nicht hören will? „Hattet ihr Spaß am Strand?“ Fragt sie, ohne mich dabei anzusehen. Ich lasse mich auf dem Sessel nieder, den sonst mein Vater in Anspruch nimmt, und frage mich, wieso sie sich plötzlich dafür interessiert. Ob es ihr leidtut, dass sie mich die letzten Tage völlig ignoriert hat ohne, dass ich je einen Grund dafür erfahren hätte oder ob es einfach ist, um die lästige Stille aus dem Raum zu verbannen. „Mhm“ mache ich nur, stütze die Ellbogen auf die Knie und vergrabe das Gesicht in meinen Handflächen. Mir geht es nicht gut, ich kann nicht mal genau sagen woran es liegt. Ob es an mir liegt, oder an der Tatsache wie ich diesen Abend verbringen werde.  Ich will den Abend nicht mit meiner Familie in diesem beschissenen Restaurant verbringen. Ich will dieses gottverdammte Kleid nicht tragen. Ich will kein Bild einer Vorzeigetochter mimen, wenn doch alle genau wissen, dass dem nicht so ist. Ich will kein Bild einer intakten Familie profilieren, weil es offensichtlich ist, dass wir das nicht sind.  Wären wir es, würden wir die Tage als Familie zusammen verbringen. Ich würde meine Schwester nicht hassen, würde sie nicht darum beneiden, dass sie die komplette Aufmerksamkeit bekommt, weil ich die gleiche Aufmerksamkeit bekommen würde. Ich würde sie nicht um ihren Freund beneiden, würde mich sogar für sie freuen. Ich würde mich bei Eren nicht so viel wohler fühlen als bei meiner Familie, würde mich vielleicht gar nicht wirklich für ihn interessieren.  Wären wir eine intakte Familie, wäre es egal dass ich nicht so hübsch und so schlau bin wie Mikasa. Sie würden mir die gleiche Liebe entgegenbringen, die sie für Mikasa haben und wir würden öfter Zeit miteinander verbringen.  Wären wir eine intakte Familie, würde ich nicht ständig vor ihnen flüchten wollen. Würde mich nicht ständig schlecht fühlen und hätte vielleicht ab und an das Gefühl das ich so gut bin, wie ich bin. Sie würden akzeptieren, dass ich anders als Mikasa bin und sie würden meine Talente fördern.  Aber wir sind keine intakte Familie, es ist einfach eine Scharade, die wir spielen, sobald wir die Ferienwohnung verlassen. Sobald wir in die Öffentlichkeit treten, sind wir das, was wir nicht sind.  Schauspieler. Selbst hier in der Ferienwohnung, auch wenn die selbst auferlegte Maske langsam aber sicher bröckelt. Immer mehr. Und ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lang dauert, bis sie völlig in sich zusammenfällt und alle ihr hässliches Gesicht zeigen. „Das ist schön“ erwidert sie, scheinbar immer noch mit ihren Klamotten beschäftigt. Sie würde bemerken, dass der Tag alles andere als spaßig für mich gewesen ist, wenn sie mir ins Gesicht sehen würde. Sie würde sehen, dass es mir schlecht geht. Sie würde sehen, dass ich eine Umarmung brauchen könnte. Das ein oder andere liebevolle Wort. Ich brauch mir da absolut nichts vormachen. Die werde ich nicht bekommen. Weder die liebevollen Worte, die ich mir wünsche, noch die Umarmung, die ich so bitter nötig hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann meine Mutter mich das letzte Mal liebevoll in den Arm genommen hat. Wann ich das letzte mal liebevolle Worte von ihr gehört hab. Ob es je liebevolle Gesten gab. Ich kann lediglich mit Gewissheit sagen, dass mein Vater mir gegenüber nie liebevoll gewesen ist. Er war immer streng, hatte immer zu hohe Erwartungen, denen ich einfach nicht gerecht werden kann. Ich strenge mich an, will es ihm recht machen, aber es ist trotzdem nie gut genug. Und ich bin mir sicher, dass es egal ist, was ich erreiche. Es wird ihm nie gut genug sein. Ich werde ihm nie genug sein. Es sind die zwei Hände, die sich auf meine Schultern legen, die mich aus diesem Sumpf aus schlechten Gedanken ziehen. Es ist der sanfte Druck, der mich realisieren lässt, dass ich mich viel zu sehr diesen Gedanken hingebe, die ich eigentlich verbannen sollte. Die ich gar nicht erst haben sollte. Jedenfalls nicht hier. Nicht jetzt. Ich seufze tonlos, drehe den Kopf und schaue direkt in zwei grün-blaue, durchdringende Augen. Wenn er mir so intensiv in die Augen sieht, bekomme ich immer wieder das Gefühl, dass er in der Lage ist mir bis auf den Grund meiner Seele zu blicken. Zu sehen, was sonst keiner sieht. Dinge, von denen ich selbst vielleicht gar nicht weiß, dass sie überhaupt da sind. Schwachsinn, ich weiß. Aber... „Ist alles okay?“ Fragt er, klingt aufrichtig besorgt. Natürlich. Es ist Eren. Eren, der perfekte Freund meiner perfekten älteren Schwester. Eren, der Einzige in dieser verfickten Ferienwohnung, der sich überhaupt für mich interessiert, der sich überhaupt um mich kümmert. Der Einzige, der sich sorgen macht, wenn ich mal wieder das Essen stehen lasse. Der einzige, der mich bittet, mit an den Strand zu kommen, weil er nicht will, dass ich den Tag allein in unserem Zimmer verbringe. Eren, an den ich viel zu oft denken muss, eben weil er all das tut, obwohl es ihn überhaupt nicht zu interessieren braucht. Nein. Es ist überhaupt nichts okay. „Alles bestens.“  Ich lüge, weil ich nicht weiß, was ich ihm sagen soll, wenn er nach dem Grund fragt. Ich wüsste nicht, was ich ihm erzählen soll. Er würde mich nicht verstehen. Ich verstehe mich ja nicht einmal selbst.  Wie kann ich also von irgendjemandem erwarten, dass er mir helfen kann, wenn ich doch selbst nicht weiß, was ich ändern muss, damit es endlich besser wird. Ich weiß, dass er weiß, dass ich nicht die Wahrheit sage. Ich bin ein furchtbar schlechter Lügner. Ich hasse es zu lügen, hasse es angelogen zu werden, aber ich denke, es ist besser, wenn ich es tue, auch, wenn es offensichtlich ist. Es ist besser für mich. Für ihn. Und für alle anderen.  Für jetzt... ist es nur wichtig diesen Abend hinter mich zu bringen. Mein Vater tritt durch die gläserne Balkontür in den Wohnbereich und schließt sie, sperrt damit die brütende Hitze des Sommers aus. Die Hände auf meinen Schultern verschwinden, wenn auch zögerlich und ich höre, wie Eren sich von mir entfernt und die Schlafräume ansteuert. Ich höre die gedämpfte Stimme meiner Schwester, verstehe aber nicht genau was sie sagt. Ich nehme an, dass sie flucht, weil wir losmüssen, sie aber noch nicht fertig ist. Wenn sie nicht so ´ne eingebildete, arrogante Bitch wäre, würde ihr das nichts ausmachen. Meine Mutter schweigt, genau wie mein Vater und die Stille, die sich im Raum zwischen uns ausbreitet, ist angespannt und drückend, aber keiner von uns durchbricht sie mit irgendwelchen sinnlosen Floskeln, die ohnehin ohne jegliche Bedeutung wären.  Sie sprechen weder miteinander, noch mit mir. Meine Mutter ist weiterhin mit ihren Klamotten beschäftigt und mein Vater sieht ihr einfach schweigend dabei zu. Er sieht mich nicht an, das tut er schon seit Tagen nicht, selbst dann nicht, wenn er mit mir spricht. Als Eren mit meiner beschissenen Schwester den Raum betritt, herrscht plötzlich Aufbruchstimmung. Meine Mutter lässt von ihrem Tun ab, lässt alles einfach liegen und kommt auf die Beine, während mein Vater sich etwas mehr Zeit damit lässt. Mein Geist sträubt sich immer noch dagegen, diesen Abend anzustreben, während mein Körper bereits dabei ist einfach zu funktionieren. Ich stehe auf, gehe an meiner Schwester und ihrem perfekten Sunnyboy vorbei und schnappe mir meine Schuhe. Sandalen, weiß mit gold, passend zu diesem beschissenen weißen Kleid. Ich hasse es. Ich habs von der ersten Sekunde an gehasst. Das Kleid, die Schuhe. Ich meide den Spiegel, will dieses Elend nicht sehen. Wir verlassen die Wohnung. Meine Eltern bilden die Spitze, Mikasa und Eren – händchenhaltend – zwischen ihnen und mir und ich kann nicht anders als ständig auf ihre Hände zu starren und mir zu wünschen, dass es meine Hand ist, die er hält. Es ist unfair von mir. Ich weiß das. Trotzdem sind diese Gedanken da und ich kann sie einfach nicht abschalten. Nicht eine verfickte Sekunde lang. Die Straßen sind belebt und als wir die Innenstadt erreichen wird es immer schwerer ihnen zu folgen ohne sie aus den Augen zu verlieren. Es wäre einfach, langsamer zu werden, sie aus den Augen zu verlieren und einfach mit der Masse zu verschwinden. Ich könnte sagen, ich hätte mich nicht mehr an den Weg erinnert und hätte mich verlaufen, bevor ich zur Ferienwohnung zurückgekehrt bin.  Es würde den Abend für mich leichter machen, gleichzeitig weiß ich, dass ich damit alles nur noch viel schlimmer machen würde. „Ivy!“ Brüllt mein Vater, als ich zurückfalle, nicht sicher ob ich meinen Notfallplan in die Tat umsetzen soll oder nicht. Ich beschleunige meine Schritte, um aufzuholen, schlängel mich eilig zwischen den Passanten hindurch und werde erst langsamer, als ich wieder dicht bei ihnen bin. Wir brauchen etwa eine Viertelstunde bis wir am Restaurant ankommen. Die Terrasse ist bereits gut gefüllt, alle sind elegant gekleidet und ich komme mir zwischen all diesen Menschen so unglaublich deplatziert vor, dass ich mir wünsche, ich hätte nicht auf die Stimme meines Verstandes gehört. Ich hätte einfach verschwinden sollen. Still und heimlich. Mein Erzeuger spricht mit einem der Kellner, sein Französisch ist grottig, aber trotzdem schafft er es, dem Kerl begreiflich zu machen, dass wir einen Tisch reserviert haben. Der Kerl im Anzug schlängelt sich zwischen den vollen Tischen hindurch, bringt uns an einen der wenigen leeren Tische und zündet die Kerze auf dem Tisch an, obwohl die Sonne noch braucht, bis sie untergeht. „Merci beaucoup“ bedankt sich dieses untalentierte Stück Scheiße mit seinem schlechten Französisch und lässt sich am Kopfende des Tisches nieder, als wäre er Napoleon höchstpersönlich. Meine Mutter und Mikasa lassen sich rechts von ihm nieder während Eren und ich die linke Seite des Tisches für uns beanspruchen. Ich frage mich, wieso er nie neben ihr sitz. Eigentlich sollte es mir egal sein aber... trotzdem denke ich immer wieder darüber nach. Ich denke viel zu viel über ihn nach. Denke viel zu oft an ihn. Ich muss damit aufhören. „Hast du schonmal französisch gegessen, Eren?“ Fragt mein Vater, schaut an mir vorbei, um ihn anzusehen. Er weicht mir aus, sieht mich nicht an. Er schüttelt den Kopf, greift nach der Karte, die ihm der Keller gerade entgegenhält und schlägt sie auf ohne meinen Vater eines Blickes zu würdigen.  Der Kellner entschuldigt sich, weil er zu wenig Karten hat und ich sage ihm, dass es in Ordnung ist. Eren schiebt mir, wie zur Bestätigung, die Karte etwas mehr entgegen, damit wir gemeinsam reinschauen können, obwohl ich eigentlich längst weiß, was ich will. Mein Vater schnaubt verächtlich während Mikasa mir einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein verpasst. Ich zische leise, werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. Nicht mehr, nicht weniger. Ich hab weder Lust, noch Kraft mich mit einem von ihnen zu streiten. Ich bin müde, will diesen Abend einfach hinter mich bringen. Ins Bett, die Augen schließen und einfach alles für einen Moment vergessen. Während ich zum Schein den Kopf in Richtung der Karte neige beobachte ich Erens Gesichtszüge. Er wirkt planlos und ich frage mich, ob er Schwierigkeiten hat, die Karte zu verstehen. Meine Familie ist jedes Jahr in Frankreich und dementsprechend gut ist mein Verständnis. Er dagegen sieht eher ratlos aus. Beinahe wie mein sprachlich völlig untalentierter Erzeuger. „Wenn du Meeresfrüchte magst, kann ich das Blanquette de la mer empfehlen“ murmel ich leise, hoffend das weder mein Vater noch Mikasa etwas davon mitbekommen. Ich will Stress vermeiden und ich weiß, dass ich den zwangsläufig auslösen würde so wie mit allem, was ich sage oder tue. Die knappen Gespräche am Tisch ziehen mehr oder weniger an mir vorbei. Es ist nicht so, als würde mich irgendetwas davon interessieren. Es fällt mir leicht sie einfach auszublenden, in die Menge aus gesichtslosen Fremden zu starren und mir vorzustellen am Strand zu sein. Der Strand würde leerer werden, die Sonne würde langsam hinter dem Horizont verschwinden und die Welt in ein schönes orange-rot tauchen. Ich würde die schöne Spiegelung auf dem Wasser betrachten und ich würde den Sand zwischen den Zehn genießen, mich von den sanften Geräuschen des Meeres beruhigen lassen und mir wünschen nie wieder zurückzumüssen. „Je vous en prie“ Die Stimme des Kellners reißt mich zusammen mit dem vor meiner Nase erscheinenden Teller aus meiner Tagträumerei. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während ich den Kellner ansehe, aber sobald er aus meinem Blickfeld verschwindet, verschwindet auch mein Lächeln.  Keiner sagt etwas, alle beginnen einfach damit zu Essen und ich denke, ich bin froh darum. Ich stochere mehr darin herum, als dass ich esse, aber ich hab schon seit Tagen keinen Appetit. Ich spüre die Blicke von der Seite und ich brauch ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er mich besorgt mustert. Er tut es bereits seit Tagen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Mich nervt es, dass es mir gefällt, dass er sich sorgt und ich hasse es, dass ich einfach nicht damit aufhören kann. Ich sehne mich nach dem Ende dieses Urlaubs. Ich sehne mich danach, endlich Abstand zwischen uns zu bekommen, weil ich glaube, dass ich dann aufhören kann, ihn anzuhimmeln als wäre er einer der griechischen Götter. Ich glaube dass es dann einfacher wird, einfach weiter zu machen wie bisher. „Was ist los? Ich dachte, du stehst auf diesen ekelhaften französischen Fraß. Hast du Angst, du könntest noch fetter werden?“ „Was ist los? Ich dachte, du wolltest gut vor deinem Stecher dastehen. Hast du keine Angst, dass er dich sitzen lassen könnte, wenn er sieht was für ´ne beschissene Bitch du bist?“ „Ivy es reicht!“ „Ist das dein beschissener Ernst? Sie darf mich dumm von der Seite anmachen, aber wenn ich etwas gegen deinen geliebten Engel sage, bin ich der Arsch?“ „Senk deine Stimme, die Leute gucken schon“ „Weißt du was?! Fick dich. Fickt euch alle!“ Der Stuhl kippt um, als ich ruckartig aufstehe und dem Tisch den Rücken zukehre. Ich höre nicht, als Eren meinen Namen ruft, kümmere mich nicht darum ob ich einen von den Kellnern anrempel, weil ich mich rücksichtslos zwischen den Tischen hindurch schlängel um so schnell wie möglich von hier wegzukommen.  Sobald ich kann, beschleunige ich erneut die Schritte. Die Menschen auf den Straßen sind weniger geworden, die Restaurants und kleinen Bars dafür umso voller. Die Stadt ist laut, lauter als ich ertragen kann und ich weiß einfach nicht wohin.  Wenn ich zurück zur Ferienwohnung gehe, werd ich nicht lange allein sein. Nach diesem Abgang werden sie das Essen schnell hinter sich bringen. Mein Vater wird mich anschreien, weil ich ihn in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht hab, meine beschissene Schwester wird mich anschreien, weil ich sie vor ihrem Freund hab schlecht dastehen lassen, obwohl sie dafür schon selbst sorgt und meine Mutter wird sich wie immer aus allem Raushalten. Eren wird auf meiner Seite sein, wird versuchen den Streit zu schlichten und wird damit alles nur noch schlimmer machen ohne es zu beabsichtigen. So wie die ganze beschissene Woche. Letztlich schlage ich den Weg runter zum Strand ein, hoffe einfach dort die Zeit und Ruhe zu bekommen, die ich brauche um mich wieder zu sammeln und zu beruhigen. Um mich seelisch darauf vorzubereiten was in der Ferienwohnung zweifelslos auf mich warten wird. Je näher ich dem Strand komme, desto langsamer werden meine Schritte und desto mehr zieht sich mein Brustkorb zusammen. Meine Sicht ist verschwommen, mein Kopf drückt und meine Nase ist zu. Ich weiß nicht, ob ich heule, weil ich wütend bin oder ob ich heule, weil mir einfach alles zu viel ist. Alles was ich weiß ist, dass ich jetzt niemanden sehen will. Meine Schritte werden langsamer, als ich den Strand erreiche. Das seichte Rauschen in der Ferne ist irgendwie tröstend, gleichzeitig hinterlässt es ein Gefühl von Sehnsucht, das ich nicht wirklich beschreiben kann. Es ist einfach da, dieses Gefühl etwas zu vermissen, aber was es ist... weiß ich nicht. Ich fahre mir mit dem Handrücken über die Augen, ziehe die Nase hoch und ziehe die Schuhe aus. Ich spüre den feinen, warmen Sand zwischen meinen Zehn, die mittlerweile angenehme Wärme der untergehenden Sonne auf meiner Haut und den sanften, salzigen Wind, der mir vom Meer entgegen weht in den Haaren. Ich gehe weiter, bleibe erst stehen, als das Meerwasser meine Knöchel umspült, das bodenlange Kleid endgültig ruiniert und ich das wunderschöne Glitzern des Wassers aus nächster Nähe betrachten kann. Ich liebe das Meer und ich weiß, dass ich es sehnsüchtig vermissen werde, sobald wir wieder zurückfahren. Es ist beinahe... wie Heimweh. „Ivy!“ Fuck! Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?! Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß! Ich fahre mir erneut über die Augen. Ich weiß zwar, dass er trotzdem wissen wird, dass ich geheult hab, aber ich will nicht, dass er die Tränen in meinem Gesicht sieht. Ich will nicht, dass er sieht, wie erbärmlich und schwach ich bin. Eigentlich will ich gar nicht, dass er hier ist. „Was willst du verdammt?“ Fahre ich ihn wütend an. Meine Stimme ist fester als erwartet und ich bin fast ein wenig Stolz, dass ich ihm böse Blicke zuwerfen kann.  Ich will nicht, dass er glaubt, dass ich ihn oder seine Unterstützung brauche. Ich will nicht, dass er glaubt, er wäre sowas wie mein Held. „Dass eben im Restaurant...“ „Halt dich raus! Kümmer dich einfach um dein beschissenes Prinzesschen, so wie alle anderen auch und lass mich in Ruhe. Ich brauch weder dich, noch deine Hilfe, noch sonst irgendwas von dir! Es geht dich nichts an!“ Nimm mich in den Arm und sag mir, dass alles irgendwann besser wird. Sag mir, dass ich besser bin als jeder Einzelne von denen. Er kommt einen Schritt auf mich zu, während ich einen Schritt zurückgehe. Es ist besser, wenn er sich einfach von mir fernhält. Für ihn. Für mich. Für jeden von uns.  Ich denke mittlerweile sogar, dass es besser gewesen wäre, ich hätte mich nie für das erste Mal bedankt, wo er mir geholfen hat. Ich hätte seine Hand nicht annehmen sollen, als er sie mir gereicht hat. Ich hätte ihn wegstoßen sollen, als er mir helfen wollte.  Es wäre einfacher. Einfacher so zu tun, als wäre nichts gewesen. Es wäre einfacher, ihn einfach nur als den neuen Freund meiner Schlampenschwester zu sehen. Es wäre einfacher, nicht ständig an ihn zu denken. Vielleicht wäre es sogar leichter, ihn nicht zu beachten. So zu tun, als wäre er einfach irgendein Junge. Irgendwer, der mich nichts angeht. „Du hast Recht. Es geht mich nichts an“ Wieso verdammt bist du dann hier und nicht bei ihr? Wenn es dich nichts angeht... wieso zum Fick kannst du mich dann nicht einfach in Ruhe lassen? Ich gehe noch einen Schritt zurück, weil er noch einen auf mich zu kommt. Er steht mittlerweile mit den Füßen im Wasser, seine Chucks sind völlig durchgeweicht. „Und du hast auch Recht damit, dass ich mich einfach raushalten sollte aber...“ Er streckt die Hand nach mir aus, sodass ich erneut einen Schritt zurückgehe. Ich sinke mit den Füßen tiefer in den Sand, die Wellen schlagen gegen meine Beine und ich verliere den Halt, weil ich unvorsichtig bin. Da ist eine Hand, die sich um meinen Unterarm schließt. Kühles Wasser, das plötzlich überall ist und ein Körper, der meinen Sturz federt. Ein Arm, der mich fest umschließt und eine Hand, die sich auf meinen Hinterkopf leg. „Aber ich kann mich nicht raushalten, weil ich dich wirklich gern hab, Ivy.“ „Alles was du tust ist -“ Die weichen, sanften Lippen die sich auf meine pressen, lassen mich sämtliche Wut und sämtlichen Ärger der letzten Tage einfach vergessen. Als wäre nichts passiert.  Da sind nur diese unglaublichen Lippen, die sich sanft und ohne jeden Zwang auf meinen bewegen und das sanfte Kribbeln. Lippen, die mich glauben lassen, das all der Stress, all der Streit und all die bösen Worte mich jetzt hierhin gebracht haben. In die Arme des Jungen, der in meinen Augen perfekt ist. Ohne Makel. Ohne Fehler. Der Junge, der eigentlich viel zu gut für mich ist. Der Junge, den ich einfach nicht verdiene. „Ich werde immer auf deiner Seite sein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)