Boys Don't Cry von abgemeldet (Spiegelkabinett) ================================================================================ Kapitel 1: II ------------- Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich endlich wieder eingekriegt hab. Bis die beschissenen Tränen endlich aufgehört haben in Sturzbächen über meine Wangen zu laufen und bis dieses absolut peinliche Schluchzen endlich aufgehört hat. Noch länger dauert es, bis ich mich dazu aufraffen kann endlich aufzustehen. Bis ich mich dazu animieren kann, überhaupt irgendetwas zu tun außer hier vor der Tür zu hocken und mir die Augen auszuheulen, obwohl ich genau das eben eigentlich nicht will! Ich wische mir noch einmal mit der Hand über die Augen ehe ich mich langsam aufrappel und meine Tasche vom Boden aufhebe, nur damit sie neben meinem Schreibtisch erneut unliebsam auf dem Boden landet. Ich will dieses dämliche Scheißteil nicht mehr sehen. Nicht mal dran denken. Alles, was mit dieser beschissenen Schule zu tun hat, einfach vergessen. Mich die nächsten sechs Wochen in meinem Zimmer verbarrikadieren und nur rauskommen, wenn diese Bastarde die sich Familienmitglieder schimpfen schon schlafen. Ich hab das alles hier so unglaublich satt! Ich ziehe das total veraltete Handy aus meiner Hosentasche – tja, ich bin wohl die einzige Person auf diesem gottverdammten Planeten die noch so ein beschissenes Tastenhandy hat! - und lasse mich auf den Drehstuhl an meinem Schreibtisch sinken. Als ich den Bildschirm anschalte, leuchtet mir direkt eine Nachricht von Hanji entgegen. Ich öffne den Nachrichtenverlauf und starre für einen Moment auf die Buchstaben, ohne sie wirklich zu lesen. Ich hasse es, dass ich sie ständig versetzen muss. Keine Ahnung, wann wir das letzte Mal einen Tag zusammen verbracht haben ohne dass ich früher losmusste, weil meine Eltern sonst Stress gemacht hätten. Keine Ahnung wann wir das letzte Mal einfach stundenlang gequatscht haben, ohne dass ich ständig auf die Uhr geschaut hab und ihr damit das Gefühl gegeben hab, das mich diese Treffen ankotzen. Und so ungern ich das auch zugebe… ich vermisse sie. Ich vermisse es, einfach mit ihr in ihrem Bett zu liegen und zu reden. Irgendwelche blöden Geschichten zu hören oder irgendwelche total sinnfreien Filme oder Serien anzusehen. Im Moment… wünsche ich mir nichts sehnlicher als das. Einfach… ein paar Stunden mit meiner besten Freundin.   Shitty Glasses , 12:43 Wie lief’s mit deinem Dad? So schlimm wie erwartet? Wenn’s nicht klappt ist das in Ordnung   Ich, 13:26 Schlimmer! Er hat nicht nur Theater gemacht… er hat mich auch noch vor dem neuen Freund meiner beschissenen Schwester bloßgestellt -.-   Shitty Glasses , 13:27 Ist er süß? ^///^ Er ist bestimmt süß! Ich MUSS ihn sehen! Kann ich vorbeikommen?! Biiiiiiiitteeeeeeeeeee   Tch. Das ist so typisch für sie. Was hab ich auch anderes erwartet? Als es zaghaft an meiner Zimmertür klopft bin ich tatsächlich etwas irritiert. Seufzend schmeiße ich mein Handy auf die Tischplatte, rolle genervt mit den Augen und stehe auf, durchquere das Zimmer und drehe den Schlüssel im Schloss. Zu meiner eigenen Überraschung fliegt mir nicht sofort die Tür entgegen wie es bei Mikasa oder meiner Mutter der Fall gewesen wäre. Und für meinen Vater… war das Klopfen zu leise. Als ich die Tür öffne, steht der brünette Junge, den meine Schwester angeschleppt hat, vor der Tür, die Hand erhoben um erneut an das Holz der Tür zu klopfen in dem Glauben, ich hätte es ignoriert oder schlichtweg nicht gehört. Ein warmes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen während er sich verlegen am Hinterkopf kratzt und von einem Fuß auf den anderen tritt. Süß. Er ist wirklich… süß. „Mikasa hat mich gebeten dir Bescheid zu sagen, dass das Essen fertig ist“ er wirkt selbst ein wenig verständnislos – irritiert – und das, obwohl er sich alle Mühe gibt es zu verbergen. „Und wieso sagt sie mir das nicht einfach selbst?“ frage ich gereizter, als ich eigentlich will. Er kann nichts dafür. Er kann nichts dafür, dass mein Vater sich wie der letzte Dreck benimmt und auch nicht dafür, dass meine Schwester das Lieblingskind ist. Er kann nichts dafür, dass er diese kleine Auseinandersetzung mitbekommen hat geschweige denn dafür, dass dieser Wichser von Vater solche Dinge ausgerechnet vor ihm austragen muss. Er kann nichts für die beschissene Situation und ich wette, dass es ihm genauso unangenehm ist wie mir. „Ich-“ „Vergiss es“ seufze ich resignierend, streiche mir die losen Strähnen meines Ponys aus dem Gesicht und trete an ihm vorbei in den Flur, ziehe die Tür hinter mir zu und steuere direkt – ohne ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden – die Treppe an. Er zögert kurz, folgt mir aber schließlich die Treppen nach unten, kaum dass ich die erste Stufe genommen hab. Als wir das Esszimmer betreten unterbricht mein Erzeuger sein Gespräch mit meiner Mutter, sieht mich kurz mit einem Blick, der so viel bedeuten soll wie „darüber werden wir später noch sprechen“ an, ehe er das Gespräch erneut aufnimmt. Mikasa sitzt an ihrem angestammten Platz vor Kopf und nimmt sich damit ein gnadenloses Beispiel an unserem Vater, macht ihrem unangefochtenen Titel der Prinzessin alle Ehre. Ich greife nach der Stuhllehne meines Stuhls um ihn nach vorn zu ziehen, lasse aber augenblicklich von meinem Vorhaben ab als ich einen saftigen Tritt von der Seite kassiere. Und Mikasas Blicke… könnten gerade nicht tödlicher sein. Mit fest zusammengebissenen Zähnen – ich schwöre, ich hätte ihr sonst all die Beleidigungen, die mir durch den Kopf schwirren, entgegen gespuckt – rutsche ich schließlich einen Stuhl weiter und mache damit Platz für ihren Prinz Charming. Während des Essens liegt meine vollständige Aufmerksamkeit auf meinem Essen, in dem ich lediglich lustlos herumstocher. Ich hab absolut keinen Hunger. Keinen Appetit. Von der Fragerunde, die meine Eltern hier veranstalten, bekomme ich absolut nichts mit und eigentlich… ist es mir auch völlig egal. Mich interessiert nicht, wie er Mikasa kennengelernt hat und was er an ihr toll findet. Mich interessiert nicht, in welchem Verhältnis die beiden genau zueinanderstehen. Ich will dieses Essen einfach nur hinter mich bringen. Diesen ganzen gottverdammten scheiß Tag! Ich will mich ins Bett verkriechen und am liebsten nie wieder aufstehen. Als mein Vater sich neben mir regt, hebe ich den Blick und bemerke, dass das Essen wohl beendet ist. Die Teller – alle, außer meiner - sind leer und mein Vater macht sich daran, das Esszimmer zu verlassen um anschließend die Stufen nach oben zu steigen. Ich stehe auf, staple routiniert die Teller übereinander und räume das Zeug in die Küche um abzuwaschen. Mittlerweile ist das zu einem festen Bestandteil geworden und ich muss zugeben, dass ich es irgendwie beruhigend finde. Die einfache Arbeit gibt mir ein paar Minuten Ruhe, in denen ich nicht nachdenken muss. In denen niemand etwas von mir erwartet. Ich stelle die Teller in die Spüle, drehe mich zur Tür um den letzte Rest aus dem Esszimmer zu holen und bin positiv überrascht, als Eren mir damit entgegenkommt. Lächelnd. Immer noch… lächelnd. Ich schweige, als er neben mich an die Spüle tritt und die Gläser abstellt. Vermutlich sollte ich mich bedanken… aber irgendwie… bekomme ich gerade nicht einmal das zustande. Gott! Ich bin wirklich erbärmlich. Ich stelle das Wasser an, um die Teller vor zu spülen. Und er… steht immer noch da. Schweigend. Genauso wie ich. Und da ich nicht weiß, was ich sagen soll, besteht das Schweigen einfach weiter. Auch als ich endlich warmes Wasser ins Spülbecken laufen lasse und anfange den ersten Teller zu spülen, steht er noch da und sagt keinen Ton. Er greift sogar schweigend nach dem Geschirrtuch und trocknet den abgestellten Teller ab. „Dass was dein Vater da vorhin gesagt hat…“ „Ist nicht der Rede wert. Soll der Alte doch meckern“ unterbreche ich ihn mit fester Stimme. Das letzte, was ich will, ist das Mitleid von dem Freund meiner beschissenen Schwester. Auch wenn er es vermutlich nur gut meint… aber ich will das einfach nicht hören. „Du hast geweint“ stellt er nüchtern fest. Wobei… nüchtern trifft es eigentlich nicht. Auch, wenn seine Stimme so klingt… seine Augen sprechen eine ganz andere Sprache. Sie funkeln regelrecht, zeigen die Wut, die sich hinter den ruhigen Worten verbirgt, ganz deutlich. „Tch“ schnalze ich abfällig mit der Zunge. Ich will diese Unterhaltung nicht weiterführen. Es ist zwar nicht so, dass mich seine Anwesenheit stören würde, aber ich weiß, was für ein Theater auf mich warten wird, wenn er sich nicht endlich verpisst. Mikasa wird mir den Hals umdrehen! „Wartet meine Schwester nicht auf dich?“ fragte ich und versuche wirklich, meine Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen, aber der Ärger der sich bereits seit heute Morgen angesammelt hat, macht es mir nicht unbedingt leicht. Ein verschmitztes Grinsen huscht über seine Lippen, als er mir den nächsten Teller aus der Hand nimmt und mit den Schultern zuckt, ehe er damit anfängt ihn sorgfältig abzutrocknen. Er schweigt, genauso wie ich, aber dieses Mal ist es irgendwie… anders. Ich kann nicht einmal genau sagen, was es ist. Es wirkt einfach… weniger angespannt. Als hätten die ausgesprochenen Worte dafür gesorgt das sämtliche Anspannung einfach verschwindet. Und dieses Grinsen… hat jegliche Sorge wegen Mikasa binnen weniger Millisekunden zerschlagen. Zunichtegemacht. Im Keim erstickt. Singend in die Hölle fahren lassen. Es könnte mir nicht egaler sein. Jedenfalls im Moment. „Eren, ich lass meine Gäste nur ungern die Drecksarbeit machen. Lass uns nach oben gehen“ durchbricht die klare Stimme meiner Schwester die angenehme Stille und ich brauch ihr nicht mal ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass sie dabei aussieht wie ein beschissener Engel. Als ich einen kurzen Blick zur Seite werfe, sehe ich sie tatsächlich zuckersüß Lächeln. Diese abgefuckte dreckige… Ich will sie töten. In winzig kleine Fetzen reißen und an die beschissenen Krähen verfüttern! Dieses gottverdammte Miststück! „Das stört mich nicht“ lächelt er aufrichtig und stellt den abgetrockneten Teller ordentlich auf den kleinen Stapel. Und für den Moment glaube ich wirklich, dass er sie einfach – wenn auch nur für diese wenigen Minuten – links liegen lassen würde. Für mich. Ein Mädchen, das er nicht kennt. Die kleine Schwester seiner Freundin. Und ich kann nicht anders, als es als einen kleinen Versöhnungsversuch des Universums zu sehen. „Ich würde gern etwas Zeit mit dir allein verbringen“ ihre Worte sind für mich wie ein Schlag ins Gesicht und das resignierende Seufzen zu meiner Linken… lässt diesen kurzen Moment wie eine Seifenblase zerplatzen. Es holt mich schneller in die Realität zurück, als mir lieb ist. Natürlich… lässt er sie nicht für mich stehen. Das ich überhaupt auch nur eine Sekunde daran gedacht hab, es könnte anders sein… Ich bin wirklich erbärmlich. Naiv und absolut bescheuert. Wer hat mir bitte ins Hirn geschissen?! Wieso sollte es anders sein? Es gibt niemanden, der sich nicht für sie entscheiden würde, wenn er die Wahl hat. Wieso sollte er anders sein? Wieso sollte es ausgerechnet jetzt anders laufen? Wieso sollte sich daran je etwas ändern? Daran… wird sich nie etwas ändern. Ich werd‘ immer nur die zweite Geige spielen. Ganz im Gegensatz zu dir achte ich auf mein Aussehen. Sieh dich an. Kein Wunder das jeder einen riesen Bogen um dich macht! Ich weiß nicht, wieso mir ihre Worte von heute Morgen wieder in den Sinn kommen aber… ich werd‘ sie einfach nicht mehr los. Sie verfolgen mich, während ich den Abwasch allein beende. Sie verfolgen mich, als ich die Treppen nach oben gehe und einen kurzen Moment im Flur verharre ohne wirklich zu wissen wieso. Auch dann noch, als ich mein Zimmer betrete, die Tür erneut hinter mir verriegel und mich vor den großen Spiegel stelle. Als ich die Augen für einen Moment schließe, in der Hoffnung es würde helfen den Kopf frei zu bekommen und auch dann noch, als ich sie wieder öffne und die Person im Spiegel betrachte. Eine Gestalt, von der ich weiß, dass sie zu mir gehört. Von der ich weiß, dass sie eigentlich ich ist und für die ich einfach kein Gefühl von Zugehörigkeit aufbringen kann. Es fühlt sich mehr so an… als würde mir eine andere Person gegenüberstehen und meine Bewegungen nachahmen. Sich synchron mit mir bewegen, als hätten wir es eingeübt. Wie eine Show. Eine Show, die ich satt hab‘ und eine Show, von der ich nicht weiß, wie lange ich sie noch spielen kann, von der ich aber genauso wenig weiß, wie ich aus ihr aussteigen kann. Sieh dich an. Kein Wunder das jeder einen riesen Bogen um dich macht! Ich greife an meinen Hinterkopf und löse das Haargummi, lasse die Finger durch meine hüftlangen Haare fahren ehe ich nach dem Saum meines T-Shirts greife und es mir über den Kopf ziehe. Ich betrachte die freigelegte helle Haut, die sich von der dunklen Farbe der Wäsche abhebt, die schmale Taille und die breiten Hüften. Die weiblichen Kurven. Die Hände, die sich von den langen, schwarzen Haaren lösen und langsam den Oberkörper entlangfahren. Ich kann jedes überflüssige Fettpölsterchen unter meinen Fingern fühlen, frage mich, ob es etwas ändern würde, wären sie nicht da. Ob ich mich wohler in meiner Haut fühlen würde. Ob es etwas bringen würde, sie loszuwerden und wenn ja, wie es am schnellsten geht. Frage mich, ob es das ist was Mikasa meinte. Sieh dich an. Kein Wunder das jeder einen riesen Bogen um dich macht! Die Hände wandern weiter, öffnen den Gürtel, den Knopf der Hose und den Reißverschluss, schieben sich unter den Bund und streifen den Stoff langsam von den langen Beinen. Beine, die vielleicht ins Gesamtbild passen, aber da, wo das Gesamtbild an sich aber nicht passt. Das Bild im Spiegel… ist nicht dass, was ich sehen will wobei ich mir nicht einmal sicher bin, was genau ich da eigentlich sehen will. Ich weiß nicht, was mich so unglaublich stört und ich weiß auch nicht, wie ich dieses Gefühl von… von Ekel, Selbsthass und Verachtung, das ich empfinde, wenn ich mich im Spiegel betrachte, endlich loswerden kann denn… diese ständigen Gedanken, diese penetrante Stimme in meinem Hinterkopf… lassen mich langsam verzweifeln. Sieh dich an. Kein Wunder das jeder einen riesen Bogen um dich macht! „Was mach ich hier eigentlich“ murmel ich leise, schüttel kaum merklich den Kopf und fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Das Gefühl, wie sie über meine Haut streifen, dieses leichte aber unangenehme Kribbeln auf der Haut… es stört mich. Und auch, als ich die Haare wieder zusammenbinde, kann ich dieses unangenehme Gefühl auf der Haut immer noch spüren. Nein… es ist nicht einfach nur unangenehm… es ist etwas, das ich einfach nicht ertragen kann. Etwas, das ich nicht spüren will, weil es sich falsch anfühlt. Ich drehe der Gestalt im Spiegel den Rücken zu und steuere zielstrebig den Schreibtisch am Fenster an. Der Regen prasselt immer noch unaufhörlich an die Scheibe und die an ihr herablaufenden Tropfen lassen die Welt dahinter beinahe noch trostloser wirken, als sie es ohnehin bereits tut. Ganz im Gegensatz zu dir achte ich auf mein Aussehen. Sieh dich an. Kein Wunder das jeder einen riesen Bogen um dich macht! Ihre Worte sind plötzlich viel präsenter, als sie es sein sollten. Heute Morgen hab‘ ich diese blöde Bemerkung einfach übergangen, hab keinen weiteren Gedanken daran verschwendet und jetzt… fressen mich die Selbstzweifel förmlich auf. Jetzt… ist das Gefühl etwas daran ändern zu müssen beinahe übermächtig und die Versuchung, eine Veränderung zu erzwingen in dem ich etwas an mir ändere, viel zu groß als dass ich es unterdrücken könnte. Nicht, das ich es gewollt hätte… Meine Augen wandern über die aufgeräumte Tischplatte und bleiben schließlich an dem kleinen Becher hängen, der mir als Stifthalter fungiert. An der Schere, die durch ihre Andersartigkeit zwischen den Stiften hervorsticht und förmlich nach Aufmerksamkeit bettelt. Ich greife danach, umschließe sie fest mit der Hand ehe ich zum Spiegel zurückgehe. Ich betrachte den langen Pferdeschwanz, der über meine Schulter fällt und greife schließlich entschlossen danach. Ich weiß, was ich damit riskiere und im Moment ist es mir völlig egal. Es ist mir egal, das mich mein Vater nachher in Grund und Boden schreien wird und es ist mir egal, das ich Mikasa damit einen weiteren Grund liefere, mir einen blöden Spruch nach dem nächsten zu drücken. Ich weiß, dass meine Mutter nicht begeistert davon sein wird. Und es könnte mir nicht egaler sein. Im Moment… kümmert mich nichts davon auch wenn ich weiß, dass ich später anders darüber denken werde. Im Moment… fühlt es sich richtig an. Ich setze die Schere einige Zentimeter hinter dem Haargummi an, das Gesicht im Spiegel schaut mir entschlossen entgegen und nach einem beruhigenden, tiefen Atemzug beginnen die schwarzen Strähnen nach und nach auf den Parkettbogen zu fallen. Und mit jeder Strähne die ich fallen sehe… geht es mir besser. Mit jeder Strähne… fühle ich mich leichter. Befreiter. Wohler. Irgendwie. Und als die letzte der langen Strähnen langsam zu Boden gleitet, schleicht sich sogar ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Nicht zufrieden. Nicht unbedingt glücklicher… aber es ist ein Anfang. Meine Hand hebt sich beinahe automatisch, ich löse das Haargummi und schüttel die Haare aus. Immer noch lächelnd. Immer noch mit einem guten Gefühl im Bauch. Ich steige über die Haare am Boden hinweg, hole meinen Kamm und beginne damit, die Spitzen zu schneiden. Kleine, bedachte Schnitte die aus dem unsauberen Schnitt etwas Ansehnlicheres werden lassen. Etwas, das man vielleicht als Frisur bezeichnen könnte. Etwas, das von einem Frisör durchaus zu retten ist. Die längsten Strähnen reichen mir gerade noch bis zu den Wangenknochen als ich die Schere zur Seite lege und mich erneut eingehend im Spiegel betrachte. Gedankenverloren… zumindest, bis mir die am Boden liegenden Haare wieder einfallen und sich unaufhaltbar in den Vordergrund meiner Gedanken drängen, bis ich mich auf daran mache sie soweit zu beseitigen, wie die begrenzten Mittel, die mein Zimmer hergeben, es zulassen. Ich hab‘ nicht vor dieses Zimmer unnötigerweise zu verlassen. Mir graut es davor, mit meinem Vater zu sprechen. Mir graut es davor, die Konsequenzen für mein Verhalten am Vormittag zu tragen, weil ich nicht weiß wie sie aussehen. Ich seufze, ziehe mir frische Sachen aus dem Schrank und schnappe mir anschließend dieses beschissene Drecksteil von Handy vom Schreibtisch. Und – wie nicht anders zu erwarten – werde ich förmlich von neuen Nachrichten erschlagen. Alle von Hanji. Ohne Ausnahme.   Shitty Glasses , 13:41 Ivyyyyyylein komm schon! BIIIIIITTTTEEEEE!   Shitty Glasses , 13:50 Bitte. Bitte. Bitte. Biiiiiitttteeeeeee! Komm schon ich sterbe hier vor Neugier!   Shitty Glasses , 14:03 Das ist so unfair! ._. Ivylein >.< Mama braucht diese Info’s!   Ich, 17:34 Du schwächelst, Shitty Glasses. Nur drei Nachrichten?! ^^ Du wirst ihn schon noch früh genug zu sehen kriegen. So wie unser Prinzesschen an seinem Arsch klebt, würd’s mich nicht mal wundern, wenn sie ihn mit in den „Familienurlaub“ schleifen würde.   Shitty Glasses , 17:35 Vier! Und ich weiß, wann ich abwarten muss ^^ Also? Ist er süß? Ja oder ja?   Ich, 17:36 Du nervst! -.-   Shitty Glasses , 17:36 Aha! Er ist süß! Iiiiiich wusste es! ^0^   Ein kleines Schmunzeln huscht über meine Lippen während ich das Scheißteil kopfschüttelnd zur Seite lege. Ich denke… dass sie mit diesem Thema nicht locker lassen wird. Dass sie mich förmlich über ihn ausquetschen wird. Und ich weiß… dass es mich nicht stören wird ihr von ihm zu erzählen. Von seinem Lächeln und diesen wahnsinnig schönen grünen Augen. Von seiner zuvorkommenden, höflichen und liebenswerten Art. Und…  - fuck was?! Ich hör mich an wie ‘n beschissenes verliebtes Schulmädchen. Gott! Das ist der beschissene Freund meiner beschissenen Schwester! Ich sollte so etwas nicht einmal auch nur im Ansatz denken! - es gibt schlechtere Themen, unangenehmeres und Dinge, die mich mehr aufregen und aufwühlen. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass wir dieses Gespräch nicht so bald führen werden, wie ich es mir eigentlich wünsche. Nicht vor dem Urlaub. Nicht vor diesen endlos langen zwei Wochen am Meer. Zwei Wochen, die für mich alles andere als Urlaub sein werden. Zwei Wochen, in denen ich meine beschissene Schwester nicht loswerde und ich meinen Eltern nicht zum Großteil der Zeit aus dem Weg gehen kann. Zwei Wochen, die für mich stressiger und nervenaufreibender werden, als dieses ganze beschissene Schuljahr. Das laute Trommeln an meiner Tür reißt mich schließlich aus meinen Gedanken. „Das Abendessen ist fertig. Beweg dich, wir warten!“ die Stimme meines Vaters klingt ungeduldiger und genervter als heute Vormittag und irgendwie… will ich dieses Zimmer nicht verlassen. Ich will nicht runtergehen und mich mit ihm an einen Tisch setzen. Ich will ihn nicht reden hören, nicht wettern und schreien. Für heute… will ich einfach nur noch meine Ruhe. Mein Bett und einen traumlosen Schlaf, der mich für ein paar Stunden von den sich ständig drehenden Gedanken befreit. Der mir ein paar Stunden Ruhe gibt, bevor dass alles von vorn beginnt. Bevor ich von vorn damit beginne zu zweifeln. Damit, nach Fehlern die so unoffensichtlich-offensichtlich sind, dass ich sie einfach nicht finde, egal wie genau ich hinsehe. Damit, mich zu fragen ob es irgendwann anders wird. Ob es irgendwann… besser wird. Und dennoch… stehe ich auf und durchquere das Zimmer, entriegel die Tür und trete und den Flur, nehme die Treppe nach unten und steuere das Esszimmer an. Ich weiß, dass es nicht besser wird, wenn ich mich verschanze. Es zögert die Konfrontation nur weiter heraus, gibt ihm mehr Zeit um sich aufzuregen und noch mehr Wut anzuhäufen, die er mir entgegenbringen kann. Hat einen weiteren Grund, mir Vorhaltungen zu machen und entdeckt einen neuen Fehler, den er mir austreiben will. Als ich durch die Türschwelle ins Esszimmer trete verstummen – wie zum Mittag – sämtliche Gespräche am Tisch. Mein Erzeuger sieht mich an, eine Mischung aus Entsetzen und Wut in den Augen. Meine Mutter hat den Mund geöffnet, als wolle sie etwas sagen und Mikasa… sie sieht aus als würde sie sich zusammenreißen. Als würde sie sich auf die Zunge beißen, um jeden blöden Kommentar runter zu schlucken, weil sie vor Eren nicht schlecht dastehen will. „Was… ist denn mit dir passiert? Hast du dir was in die Haare geschmiert was du nicht mehr rauskriegst oder was soll das?“ Wenn ich ehrlich bin, hab‘ ich schlimmeres von Mikasa erwartet. Ihre abgeneigte Haltung ist zwar deutlich herauszuhören… aber es hätte härter kommen können. Der Gesichtsausdruck meines Vaters dagegen, wie er zerknirschter und wütender wird als ich mich dem Tisch nähere und den Stuhl zurückziehe, lässt auf mehr schließen. Auf etwas, das ich lieber nicht hören will. „Was bist du? ‘Ne Lesbe? ‘Ne beschissene Transe? Hätte ich ‘n Sohn gewollt, hätte ich meine Socken angelassen als ich deine Mutter gefickt hab!“ in seiner Stimme schwingt all die Abneigung und all die Wut, die in seinen Augen so offen zu sehen ist, mit. Es ist förmlich greifbar und es ist mehr der Ton, der mich schlucken lässt als die harschen Worte an sich. Der Ton… ist wie ein Schlag ins Gesicht und die Worte, wie ein Tritt in die Magengrube. Es ist nicht so, als hätte ich etwas anderes erwartet… aber diese offensive Feindseligkeit… ich kann damit nicht umgehen. Und wäre da nicht die warme Hand, die kaum merklich meine unter dem Tisch berührt, beinahe so, als wolle sie mir Halt zusprechen, hätte ich augenblicklich und ohne darüber nachzudenken das Esszimmer wieder verlassen. Und es sind die warmen, aufrichtigen und freundlichen Worte, die mich zumindest einen kurzen Augenblick vergessen lassen. Die mein Unwohlsein und meine Wut auf mich selbst, auf das, was ich getan hab und meine Zweifel einfach fortwischen. Die mich stärken und die mich dazu bringen, mich an den Tisch zu setzen. Die mich dazu bringen, trotzig zu lächeln. Die mir Mut machen. „Mir gefällts“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)