Vergiss mein nicht von reuab_art (Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri) ================================================================================ Prolog: Herein, herein! ----------------------- Vergiss mein nicht Kapitel 1 Die Straßen waren nur partiell beleuchtet und niemand, der nicht etwas zu verbergen hatte, traute sich auf die düsteren Wege. Der kräftige Wind fegte ein paar Zeitungsreste der letzten Tage vor sich her und heulte in den Gassen mit den Straßenhunden um die Wette. Es war nicht zu leugnen: Die Zeiten waren hart, das Geld fehlte überall und jeder kämpfte mit allen Mitteln um sein Überleben. Die industrielle Revolution kündigte sich zunehmend in den höheren Schichten an, doch hier, am Grund des niederen Lebens, fehlte es Hoffnung für einen neuen Anfang. Das Geschäft mit Glücksspiel und schneller Liebe florierte. Wer nichts zu verlieren hatte, verlor sich. Wenn man hier etwas zu beißen haben wollte, musste man Opfer bringen. Am Ende der Goulston Street lag das Zentrum der Nacht. Von außen eher schäbig, ragte ein alter Steinbau drei Stockwerke hinauf. Die Zimmer waren mit Kerzen erleuchtet, hier und da hing ein Tuch aus dem geöffneten Fenster. Es strömten immer wieder Menschentrauben zu dem großen Flügeltor und verdeckten im Fackelschein ihre Gesichter unter ihren Hüten oder hinter ihren Kragen. Fremde beäugten misstrauisch, was vor sich ging, doch es dauerte nie lange, bis sie selber zu den Gestalten gehörten, die förmlich wie eine Motte zum grellen Licht gezogen wurden. Der Mond lag verhangen hinter Wolken, sodass der spärliche Lichtschein einer roten Laterne den einsamen Weg wies, der noch jeden gestandenen Mann erhaschte und verführte. Wie jeden Abend strich sich Mila ihre Haare zurecht, band sie kunstvoll zu verschiedensten Frisuren und schminkte ihre Lippen. Penibel achtete sie darauf, sie voll und tiefrot aussehen zu lassen. Das wirkte besonders gut und brachte mehr Menschen in ihr Netz. Sie war nach außen kalt gefroren, doch ein winziges Licht in ihr schien immer wieder aufzuflackern. Mit den langen Fingern knöpfte sie das schwarze Kleid bis kurz über ihrer Brust zusammen und verband es mit einigen Perlenbändern, die wie kleine Tränen schimmerten. Tränen, die sie nie mehr weinen wollte. Bereits vor einigen Monaten hatte sie sich so viel Respekt verschafft, dass sie die neue Empfangsdame wurde. Nur der Teufel wusste, was aus der armen Sara geworden war. Niemand hatte sie je wiedergesehen. Doch hier, wo die Hölle sich vor den eigenen Augen auftat, würde niemand nach dem Teufel fragen. „Meine Blume, bist du soweit?“, hörte sie eine nur zu bekannte Stimme hinter sich fragen. Schwer seufzte sie, legte ihre Perlenarmbänder um und besah ihr Spiegelbild. Mit einem kalten Lächeln drehte sie sich um und nickte. „Jean, ich hatte ein wenig die Zeit vergessen, verzeiht mir!“, flüsterte sie demütig. Mit einem Knicks schlich sie sich an dem großgewachsenen Mann vorbei, der ihr im Vorübergehen noch die Wange streichelte. Sie war eine starke und selbstbewusste Frau, doch in ihrer Not hatte sie selber den Pakt mit dem Teufel geschlossen. Damit ihre kranken Eltern nicht verhungern mussten, war sie selber in seinen Dienst getreten. Vorsichtig stieg sie die Treppenstufen hinunter und achtete darauf, dass sie mit den feinen Lederschnürstiefeln keineswegs auf ihre Schleppe trat. Der Betrieb begann in einer halben Stunde und sie wollte noch schnell sichergehen, dass alles soweit vorbereitet war. An der heruntergekommenen Bar brannten bereits alle Kerzen und die Gläser waren frisch poliert. Prüfend fiel ihr Blick auf einige Ratten, die vor dem lädierten Klavier kampierten. Mit einem lauten „Schhhh!“ und ein paar Tritten verjagte sie sie unter das Musikinstrument. Zufrieden rückte sie ihre Schleppe zurecht. „Die Ratten haben mehr Angst vor dir als vor mir!“, kam eine enttäuschte Stimme hinter ihr zu Wort. Lachend drehte sie sich um und starrte in die ewig freundlichen Augen des großen Mannes mit dem ungewöhnlichen Haar. „Victor, mein Engel, du bist zu nett zu ihnen!“, warf sie ihm lachend und gleichzeitig tadelnd vor. Der Barkeeper zuckte kurz mit den Schultern und musste ebenfalls frech grinsen. Vorsichtig knöpfte er seine Weste zu, steckte die Taschenuhr mit der ausgefallenen Kette in die Brusttasche und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Bist du fertig mit der Bar, Victor?“, fragte die Rothaarige eilig, denn bevor Jean gleich die Türen öffnete, sollte alles perfekt sein. Schließlich verachtete er es, wenn das Personal tratschte, denn Zeit war Geld. Vor allem wenn es darum ging, die Männer schnell zu Glas und Frau zu bringen. Mila pfiff laut mit zwei Fingern, denn sie hatte wenig Lust, die Mädchen noch einmal extra ermahnen zu müssen. Sie wusste genau, dass diese sich mal wieder irgendwo in den hinteren Räumen die Zeit vertrieben und sich gerne um die Arbeit drückten. Es war ihnen nicht zu verübeln, denn niemand war hier freiwillig. Viele brachten mit dem schäbigen Hungerlohn ihre Kinder durch, denn die Männer hatten sie verlassen und wieder andere hatten nicht einmal ein eigenes Dach über dem Kopf. Nichts war schlimmer, als verwaist auf der Straße zu leben, denn das bedeutete den sicheren Tod. Nach und nach kamen die hübschen Mädchen zur Bar, begrüßen Victor, der ihnen doch immer ein großer Trost war und halfen sich gegenseitig mit dem Binden der Corsagen. Sie alle waren keine blutjungen Dinger mehr, aber doch das, was die Männer hier suchten. Viele trugen aufwendige Federkreationen in ihren Haaren, die Gesichter geschminkt wie Porzellanpuppen und die Röcke kurz. Ausziehen bedeutet Zeitverlust und das konnte hier niemand gebrauchen. Mila besah jede einzeln und nickte zufrieden. Dann fiel ihr Blick wieder auf Victor. „Wo ist denn nun wieder dieser nichtsnutzige Trickbetrüger?“, maulte sie und sah sich genervt um. Victor lachte kurz, hob dann beide Hände und schwor: „Also ich weiß nur, wo er heute Nacht war!“. Bei den Worten ging ein Kichern durch die Mädchengruppe. Jeder wusste, dass der Barkeeper sein Herz an den jungen Kartenspieler verloren hatte. Er sah so unendlich unschuldig aus, mit seinem schwarzen Haar, den großen Augen und seinem stets zu großen Hut. Doch wenn es um ein Spiel ging, war er nicht zu schlagen. Mit Freude unterhielt er die Herrschaften in der Bar auch hin und wieder mit kleineren Zaubertricks. Dabei war er stets extrem höflich zu den Damen und schenkte ihnen in seiner Freizeit ein offenes Ohr für ihre Probleme. Mila war wirklich nicht in der Stimmung, um jetzt zu diskutieren, aber noch ehe sie sich aufregen musste, kam der junge Mann bereits vollbepackt durch die Hintertür. Sein zu großer Hut saß etwas schief auf seinem Kopf und er musste stark nach Luft schnappen. „Yuriii!“, flötete es aus Richtung der Bar und er wurde von allen freundlich begrüßt. Lediglich Mila erwies ihm keinen Gruß und schubste ihn direkt weiter in den Raum hinein. Es war dringend Zeit zu öffnen. Aus dem Augenwinkel sah sie Jean, der mit dem großen Schlüsselbund zu den Eingangstüren schritt. Jeder hier hatte großen Respekt vor ihm, denn das eigene Leben lag in seinen Händen. Er schätzte seinen Kunden sehr und bot ihnen alles, was das Herz und der Geldbeutel verlangten. Victor blickte ihm abschätzig hinterher und verlor sogar für ein paar Sekunden sein herzliches Lächeln. Der große Kronleuchter wurde von Yuri entzündet und der Schlüssel drehte geräuschvoll im Schloss. Jean starrte auf seine Hand mit dem Bund und verzog kurz die Lippen zu einem hämischen Grinsen. Mit einer ausladenden Geste riss er die Türen auf und brüllte: „Hereinspaziert, meine Herren, hier finden sie nur das Beste! Die erste Runde Gin geht aufs Haus!“ Damit erhob er die Hände wie ein Löwendompteur und erfreute sich an den hineinströmenden Massen. Er war der König der Nacht und niemand konnte ihm das Gefühl nehmen. Mit einem selbstgefälligen Lachen begrüßte er Stammkunden und Neulinge gleichermaßen. Selbstverständlich behielt er stets Stillschweigen über seine Kunden, denn es waren angesehen und mächtige Herrschaften unter ihnen. Jean wusste genau, wer seine Spielchen hier trieb und hatte damit mehr Fäden in der Hand, als so manchem lieb war. Seine leblosen Augen glitten über den gefüllten Saal und blieben schließlich im oberen Teil des Gebäudes an den Treppenstufen haften. Von dort wurde sein Blick vehement erwidert. „Meine schönste Blüte…!“, flüsterte er leise und grinste selbstbewusst in sich hinein. To be continued… Kapitel 1: Eine frische Rose ---------------------------- Die Nacht war hart gewesen und das Publikum kritisch. Jean streckte sich und warf seinen Zylinder auf die samtbezogene Couch. Genüsslich nippte er an einem schimmernden Kristallglas mit Gin und ließ sich auf das Möbelstück sinken. Auf dem kleinen Sekretär stapelten sich die Geldscheine der letzten Geschäfte. So gefiel es ihm. Mit einem verschmitzten Grinsen streifte er seine Stiefel ab, lockerte den Kragen und legte den Kopf in den Nacken. „Komm her!“, befahl er trocken und streckte einen Arm aus. Hinter den ozeanblauen Samtvorhängen bewegte sich ein zierlicher Schatten, der für jeden Außenstehenden nicht wahrzunehmen war. „Zier dich nicht wieder, komm her!“, wiederholte der Schwarzhaarige nun unbeherrschter. Der Schatten verschwand hinter einem weiteren Vorhang und ließ Jean kopfschüttelnd zurück. „Was habe ich mir nur bei dir gedacht!?“, fragte er sich unweigerlich und verzog die Lippen. So eine stachelige Rose war ihm noch nie begegnet. So schön die Blüte auch war, so ungenießbar war der Stich der Dornen. Jean ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Er wusste, es gab kein Entkommen. Langsam erhob er sich und streifte mit der Hand an jedem der edlen Vorhänge entlang. Seine Augen waren die eines Falken, stetig wachsam und zum Angriff bereit. Es dauerte nur wenige Sekunden, da riss er mit einer Hand den Stoff zur Seite, griff mit dem freien Arm nach dem zierlichen Körper und warf ihn hinter sich zu Boden. „Darling, ich glaube, du missverstehst!“, hauchte er, wandte sich geschmeidig um und ging langsam in die Hocke. Zwei grüne Augen starrten ihn unnachgiebig an, gefüllt mit Missfallen und Wut. „Du kannst dich hier vielleicht frei bewegen, aber du bist allein mein Eigentum. Ich würde es begrüßen, wenn du dir das merken könntest!“, raunte der dunkelhaarige Geschäftsmann nun ungeduldiger. Die zierliche Gestalt vor ihm wandte sich ab und strich sich ein paar der feinen, goldenen Strähnen aus dem Gesicht. Das Lächeln kehrte auf Jeans Lippen zurück und er griff nach der blassen Hand vor ihm. Schneller, als er reagieren konnte, zogen spitze Nägel tiefe Furchen auf seine Wange. „DU VERDAMMTES BIEST!“, brüllte er aufgebracht und wischte sich mit dem Handrücken das wenige Blut ab, das sich den Weg über die feinen Wangen bahnte. Im ersten Moment wollte er ausholen, doch seine Hand blieb in der Luft. „Wag das nie wieder! Sonst bist du hier nur eine von vielen Attraktionen! Das verspreche ich dir!“, zischte er leise, während er sich erhob und mehrmals tief ein und ausatmete. Mit dem lauten Knall der Tür verschwand er fluchend, verschloss den Raum jedoch mit einem kaum hörbaren Rasseln der Schlüssel. Vorsichtig – langsam - nicht sicher, was nun passieren würde, erhob sich die zarte Gestalt und strich sich die feine Kleidung zurecht.  Das blonde Haar fiel in Strähnen gerade so über die schmalen Schultern und war in kleinen Partien am Hinterkopf gebunden. Den dünnen Hals zierte nur ein feines, schwarzes Band zur Schleife gebunden. Es fiel auf die verzierte Weste und das schlichte, rote Hemd, das einen Teil der weißen Brust offenbarte. Fast mystisch schimmerte dort ein kleiner, goldener Anhänger an dem Band, der in feinster Gravur eine Rose zeigte und den verschnörkelten Schriftzug „Jean“. Ein Blick in den Spiegel verriet, dass der vergangene Moment nicht spurlos vorbeigezogen war. Große, glitzernde Tränen bahnten sich den Weg über die Wangenknochen zu den zarten Lippen. Nichts konnte diese momentan trocknen. Sie würden nur weiter verrinnen und irgendwann wäre keine Träne mehr über.   Victor putze die letzten Gläser der Nacht und lehnte sich mit einem langen Seufzer an die Bar. „Was für eine Nacht! So viele Hosen, die aufgeknöpft werden wollen und das ständig! Also ich finde es nicht fair, dass ich hier nur die Gläser putzen darf!“, rief er laut, in voller Absicht, dass ihn jemand hören würde. Sein Ziel wurde nicht verfehlt und der junge Kartenspieler erhob schlaftrunken den Kopf vom Tisch. „Victor, kannst du an nichts anderes denken?“, tadelte Mila ihn mit genervter Stimme. Dieses ständige Geturtel war für sie nicht auszuhalten. „Aber, wo du gerade wach bist…“, richtete sie das Wort an Yuri: „Geh auf den Markt und hole Früchte für die Mädchen!“ Mit ihren langen Fingern zog sie kraftvoll am Kragen des Kartenspielers. Diesem blieb wenig übrig und so warf er seinem Liebsten einen entschuldigenden Blick zu. „Oh, du kannst doch meinen Yuri nicht alleine schicken! Der Markt ist groß und die Ware schwer zu tragen. Allerdings muss ich noch die Fässer wegbringen und bin jetzt keine Hilfe.“, bedauerte der Silberhaarige mit Nachdruck. Mila verzog die geschminkten Lippen und schien ernsthaft zu überlegen. Ihr Blick schweifte durch den verlassenen Raum, vorbei an Tischen und Bänken bis hin zur Treppe. „Yuri!“, befahl sie und winkte den jungen Mann zu sich. Sie drückte ihm ihre Schlüssel in die Hand. „Sieh zu, dass du Jean bittest, dir das Geld zu geben und dann nimm Sara mit, sie kann schleppen wie ein Ackergaul!“ Mit einem eiligen Nicken stolperte der Schwarzhaarige die Treppe hinauf, die Schlüssel fest an sich gedrückt. Die vielen Türen irritierten ihn und er musste sich eingestehen, dass er die Zimmer hier oben nicht wirklich kannte. Langsam schritt er an den einzelnen Räumen entlang, bis er zu einer besonders großen Flügeltür gelangte. Dunkel erinnerter er sich, dass Jean hier seine Gemächer hatte und er nur ein einziges Mal zutritt dazu bekam. Vorsichtig klopfte er und räusperte sich vorsorglich. Als niemand antwortete, blickte er auf den Schlüsselbund von Mila hinab. Sie wäre mehr als wütend, wenn er jetzt nicht endlich zum Markt gehen würde. Möglichst lautlos schloss er mit dem größten Schlüssel die Tür des Gemachs auf und trat langsam ein. Verstohlen blickte er sich in dem reich eingerichteten Raum um. Hier konnte man erkennen, wo das Geld blieb. Durch seine wöchentlichen Einkäufe wusste Yuri bereits, wie viel Geld er benötigte und wandte sich zu dem kleinen Sekretär. Natürlich hätte er Jean lieber selber gefragt, aber wenn dieser abwesend war, musste er sich eben selber helfen. Gerade, als er einige Scheine in seine Westentasche gesteckt hatte, hörte er eine Stimme hinter sich: „Was tust du da? Stiehlst du es?“ Völlig verängstigt riss Yuri den Kopf herum, versuchte zu rennen und fiel ausgerechnet über den ausladenden Fuß der großen Stehlampe. Unsanft ging er zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen, hilflos wie eine Schildkröte. Schritte kamen näher und ein Gesicht erschien in seinem Blickfeld. Ganz aus dem Konzept gebracht, rappelte der junge Mann sich etwas auf und sah dem anderen ins Gesicht. „Du… bist der Junge von gestern.“, murmelte er verwirrt. Sein Gegenüber verzog die Lippen und keifte ihn lautstark an: „Und du wolltest stehlen!“ Er erntete einen verdutzten Blick von Yuri. Ein paar Sekunden vergingen, bevor der Kartenspieler seine Stimme wiederfand. „Das verstehst du falsch! Ich kaufe Früchte für die Mädchen, jede Woche zum gleichen Preis. Jean gibt mir das Geld sonst passend, aber ich habe ihn nicht gefunden.“, erklärte er ruhig und zeigte ihm die Scheine. Der Junge mit dem blonden Haar legte den Kopf schief und schien nachzudenken. Yuri hatte wirklich große Sorge, dass Jean ihm die Hand abschneiden würde, wenn der Andere ihm erzählte, dass er klauen wollte. Dabei hatte er dies ja nun wirklich nicht im Sinn. „Du… gehst auf den Markt? Nimm mich mit!“, forderte der Unbekannte gerade heraus. Yuri lief indes kreidebleich an und schüttelte kräftig den Kopf. „Nein, nein, nein! Jean würde mich umbringen, wenn ich auch nicht weiß, warum er dich hier einschließt! Aber NEIN!“, rief er mit fuchtelnden Armen. Das Gesicht des Blonden verdunkelte sich merklich. „Ich laufe dir nicht davon! Aber ich möchte raus, die Stadt sehen… etwas anderes als diesen Raum!“, bat er schon fast flehend. Yuri wusste, dass nur der Teufel ihn so testen konnte, aber wie sollte er ablehnen? Der Blick des Blonden durchbohrte ihn immer weiter und er ahnte, wo das enden würde. Seufzend rieb er sich die Stirn und jaulte: „Du versprichst es mir, ja? Wenn du wegläufst, sind wir beide tot!“ Schneller, als Yuri schauen konnte, hatte der andere sich seinen Mantel übergeworfen und die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. „Du hast mein Wort!“ Langsam zog der Kartenspieler ihn hinter sich her durch den Flur. Niemand sollte sie sehen oder gar Jean verraten, was passierte. Leise schlichen sie an allen Türen vorbei. Unten in der Halle schien gerade niemand zu sein und so nutzte Yuri den Moment, um die Treppe hinunter zu huschen. Sie waren fast an der Tür angelangt, als ihnen schwere Schritte folgten. Ängstlich wandten sie sich um. Vor ihnen stand Victor, die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte. „Yuriiiii, mein Liebling!“, schnurrte er und beachtete die eingehüllte Person gar nicht. „Hast du also Sara gefunden?“ Yuri versuchte seine Unsicherheit zu überspielen und nickte eifrig. Dabei zwang er sich zu einem gequälten Lächeln. Victor umkreiste beide mit ein paar Schritten. „Seltsam, wo Sara doch gerade vorhin an mir vorbei gegangen ist und zum Schneider wollte.“, flötete der Silberhaarige erheitert. Yuri fiel jeglicher Ausdruck aus dem Gesicht und er lief wieder kreidebleich an. So ertappt hatte er sich noch nie gefühlt und er war immerhin ein Trickbetrüger. „Was versteckst du da, mein Schatz?“, fragte der Ältere nun geradeheraus und zog ruckartig an der Kapuze der vermummten Person. „Herrgott, YURI!“ Er musste einen Schrei unterdrücken, als er den blonden Jungen unter dem Cape sah. „Bist du von allen guten Geistern verlassen!? Du kannst doch nicht einfach…!“ Victor klang ernsthaft verzweifelt. Der Jüngste senkte wütend den Blick, denn fast wäre er nicht mehr der Vogel im goldenen Käfig gewesen. „Ich… ich wollte ihn doch nur mit auf den Markt nehmen. Was ist daran so schlimm?“, fragte Yuri verwirrt. Er verstand nicht, was das Problem daran sein würde. Mit festem Griff zog Victor ihn von dem anderen Jungen weg und raunte: „Das ist der Junge, für den Jean so viel Geld bezahlt hat! Du bringst doch auch keine goldene Taschenuhr auf den Markt und legst sie dort einfach ab!“ Yuri verstand nicht, was ihm sein Freund sagen wollte und machte ein verwirrtes Gesicht. „Aber… er ist doch nie bei den Gästen?“, versuchte er sich selber die Situation zu erklären. Während er so nachdachte, dämmerte es ihm langsam. Manche Ware war zu wertvoll, als dass sie der Menge gehörte. Betrübt sah er zu dem Jungen, der seinem Blick auswich. Obwohl er scheinbar fast erwachsen war, sah er so kindlich und verletzlich aus. „Victor, bitte, können wir ihn nicht einmal mitnehmen?“, bat Yuri noch einmal und setzte den bettelnden Blick auf, dem Victor nie widerstehen konnte. Der Ältere fuhr sich mit der Hand durch das silberne Haar und seufzte laut. Dieser kleine Kartenspieler würde ihn noch einmal ins Grab bringen! „Mein Herz, du bist zu gut für diese Welt hier!“, flüsterte er ihm süffisant ins Ohr und jagte Yuri damit einen Schauer über den Rücken. „Gut, ich begleite euch!“ Kapitel 2: Sünde ---------------- Kapitel 3      Sünde   Vorsichtig schob Victor die beiden Jüngeren durch die Flügeltüren und blickte sich ernst um. Mila durfte sie nicht sehen, sonst würde es wieder zu einer schier endlosen Diskussion führen. Sie war mehr als gründlich in der Ausführung ihrer Aufgaben und streng zu jedem. Victor geriet zwar oft mit ihr in kleine Streitigkeiten, dennoch hielt er sie für fair und ehrlich. Es war nicht leicht in diesem Gewerbe, das wussten sie alle. Nur, wer an sich selber dachte, konnte überleben. Der Barkeeper verließ hinter den Anderen die Räumlichkeiten und setzte seinen Zylinder auf. Den Mantel zog er fest an den Körper, denn es war kühl und regnerisch. Nasse Fäden fielen auf sie nieder, durchnässten schnell Stoff und Schuhe. Ihr jüngster Begleiter hob die Kapuze etwas aus dem Gesicht und blickte gen Himmel. Seine stechend grünen Augen waren leer, wie ein längst geschlossenes Theater, das kein freudig lachendes Leben mehr in sich trug. Yuri sah ihn aus dem Augenwinkel an und fühlte sich aus ihm unerklärlichen Gründen plötzlich schuldig. Sein Magen zog sich zusammen und er wandte den Blick ab. Seinem Liebsten war dies nicht entgangen und er griff sanft nach der Hand des Kartenspielers. „Sag, du hast bestimmt einen Namen oder?“, durchbrach der Älteste die unsagbare Stille. Langsam sank das Gesicht des Blonden nach unten, während Regentropfen tränengleich das weiße Gesicht verließen. „Yura.“, antwortete er nach einiger Bedenkzeit leise und zog die Kapuze wieder in sein Gesicht. Weder Yuri noch Victor wussten, was sie nun sagen sollten ohne zu neugierig zu wirken. Zu ihrem Glück nahm ihnen diese Entscheidung bereits jemand anderes ab. „Kinder, wie schön euch hier zu treffen!“, flötete eine Stimme unweit von ihnen. Ihr Besitzer kam freudig auf sie zugestürmt. Das schwarze Gewand war bereits von Regen durchnässt und lediglich der weiße Kragen strahlte gegen das Grau des Tages an. Freundliche, offenherzige Augen musterten die drei Männer, während der Fremde die Arme empfangend ausstreckte. Victors Gesicht erhellte sich schlagartig und er umarmte den blonden Priester herzlichen. „Guter Freund! Yuri, du erinnerst dich doch an Reverend Chris?“, rief der Silberhaarige sichtlich erfreut und winkte seinen jungen Freund heran. Etwas betreten schüttelte Yuri ihm die Hand, denn er konnte sich noch sehr gut an das letzte Treffen erinnern. Sie hatten ihn in einer Kneipe unweit der Kirche angetroffen und der Abend war feuchter verlaufen, als dieser regnerische Tag es je sein könnte. Wenn der große Priester nicht sein Gewand tragen würde, so könnte nichts, aber auch gar nichts darauf hinweisen, dass er ein Mann Gottes war. Yuri kannte niemanden, der das irdische Leben so genoss, wie Reverend Chris. „Seid ihr auf dem Weg zum Markt? Phichit hat heute besonders feine Früchte, eure Mädchen werden sich freuen!“, rief der Geistliche und klatschte dabei mehrfach in die Hände. „Oh, und wen habt ihr mir noch nicht vorgestellt?“ Victor gefror schlagartig. Er hatte ja ihren jungen Begleiter völlig vergessen und nun wusste er nicht einmal, was er seinem Freund sagen sollte. „Nun… eigentlich…“, begann er zögerlich, als Chris schon ohne jegliche Berührungsängste seine Hand zum Gruße ausgestreckt hatte. Yura hob den Kopf etwas und man konnte schemenhaft das junge Gesicht erkennen. Die Hand nahm er jedoch nicht. Schnell verdunkelte sich der Blick des Priesters und er ging einen Schritt zurück. „Mein Kind, du weißt nicht, worauf du dich einlässt!“ Nur zu gut kannte er die sonstigen Mädchen, die bei Jean arbeiteten und die ein oder andere kam zu ihm zum Gottesdienst. Sie erzählten ihm ihre Geschichten, ihr Leid und ihr Leben. Oft sah er sie zerbrechen, zu Grunde gehen an all dem Schmerz oder gar sterben in ihrem Elend. Er wollte nicht noch ein anonymes Grab auf dem Kirchhof, das einem einsamen Mädchen gehörte, dessen Namen niemand kannte. „Kehr um und wende dich Gott zu!“. Seine Stimme klang fest und bestimmend. Doch er erntete nichts als ein rasches, hämisches Lächeln. Victor legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes und beschwichtigte ihn: „Er gehört Jean, siehst du das Halsband? Keines von den Mädchen. Aber du weißt ja, wie ich darüber denke. Glaub mir, niemand von uns würde dort arbeiten, wenn er es nicht zum Überleben bräuchte. Hast du heute schon die Zeitung gelesen? In den Textilfabriken arbeiten immer mehr Frauen und Kinder, niemand kann sich auch nur mehr als ein Stück trockenes Brot leisten.“ Der Reverend schnaubte verächtlich und strich vorsichtig über das Kreuz an seinem Hals. „Ich weiß! Otabek hat mir heute Morgen davon berichtet. Er selber arbeitet 16 Stunden, die Frauen und Kinder sind bis zu 12 Stunden in der Fabrik. Gott alleine weiß, wohin uns diese Industrialisierung führen wird. Nichts als Geld für die ohnehin Reichen. Mehr und mehr in den gierigen Schlund der Dämonen! Und ich? Jeden Sonntag kommen weniger Menschen in den Gottesdienst. Ich kann niemanden mehr zur Hilfe in der Kirche bezahlen. Wenn Otabek mir nicht hin und wieder ohne Entlohnung helfen würde, so wäre mir schon jedes Fenster eingebrochen und das Dach zerfallen. Oh, Herr, es brechen noch schlimmere Zeiten an!“ Bei den schwermütigen Worten senkte Yuri bedrückt seinen Blick. Wenn der sonst so lebensfrohe Priester schon den Mut verlor, wo sollten sie dann enden? Victor bemerkte die traurigen Augen seines Liebsten und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. „Hab keine Sorge, nach dem Regen scheint auch für uns eines Tages einmal die Sonne!“ Ein verächtliches Schnauben quittierte die hoffnungsvollen Worte und der Älteste ließ seinen Blick bei dem blonden Jungen ruhen. Dieser schien genervt von dem Gespräch zu sein und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Wir kommen aus der Gosse, wir enden in der Gosse!“, spie der Jüngste verächtlich aus. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte der Geistliche den nun doch etwas forschen Jungen. „Ein so zartes Alter und schon so verloren. Du solltest am Sonntag in die Kirche kommen, meine Türen stehen dir auf.“, bot er ihm nun wieder etwas freundlicher an. Scheinbar war diese Einladung ihm keine Antwort wert, denn Yura wandte sich mit einem Augenrollen ab. Um die Situation nicht weiter auszureizen, hob der Barkeeper beschwichtigend die Hände. „Lasst uns nicht den Markt vergessen! Wir brauchen dringend Früchte. Chris, mein Freund, sei so lieb und grüße Otabek von mir. Er sollte nicht so viel arbeiten und endlich häuslich werden. Die arme Frauenwelt geht sonst an ihm zugrunde! Yuri, komm, husch, husch, wir müssen los!“ Noch einmal umarmten sich die Freunde und der Reverend machte sich auf den Weg zurück zur Kirche, damit die Kerzen nicht in seiner Abwesenheit verloschen.   Der Markt war trotz des desolaten Wetters voll und man kam kaum durch die engen Gänge zwischen den Ständen. Vorsichtig schoben die drei Männer sich an anderen Besuchern vorbei zu ihrem gewünschten Stand. Er war nicht zu übersehen und die schönsten, süßesten Früchte stapelten sich dort. Exotische Stücke aus fernen Ländern waren die Spezialität von Phichit. Als dieser Yuri sah, stieß er einen Freudenschrei aus, rannte hinter dem Stand hervor und sprang seinen Freund fast gänzlich um. Minutenlang redete er auf ihn ein, fragte, warum er ihn in der letzten Woche nicht besucht hatte und verfing sich förmlich in seinem eigenen Redeschwall. Victor begann zu lachen, denn er mochte den jungen Freund seines Liebsten gerade wegen seiner unaufhaltsamen Art. Gerade wollte er Yura erzählen, wie er Phichit zum ersten Mal getroffen hatte, da musste er einen Schrei unterdrücken. Der Blonde war einfach verschwunden. Zitternd zog er an Yuris Ärmel und konnte nicht schnell genug die Worte zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorquetschen: „Er ist WEG!“ Während Yuri kreidebleich anlief, sah Phichit beide fragen an. „Ist… ist alles in Ordnung? Habt ihr einen Geist gesehen?“ Victor musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Schließlich würde Jean ihm den Kopf abreißen, wenn er ihm gestehen musste, dass er sein Eigentum verloren hatte. Atemlos und hektisch erklärte er Yuri seinen Plan: „Du… gehst mit den Früchten nach Hause! Tu so, als wäre alles in Ordnung. Wenn Mila fragt, sagst du ihr, ich muss noch Gin kaufen. Ich suche diesen Jungen. Egal, was passiert, Jean darf N-I-C-H-T-S davon wissen!“ Immer wieder schüttelte er den armen Kartenspieler dabei, bis dieser völlig aus der Fassung war und nur eifrig nickte. Ohne noch eine Sekunde zu verlieren, rannte der Barkeeper los.   Vorsichtig drückte Yura sich an den Besuchern des Marktes vorbei. Seine Augen glitten über einige Stände mit goldenen Armkettchen aus feinster Handarbeit. Für einen Moment ruhten seine Finger auf einem außergewöhnlichen Stück mit kleinen Ornamenten und einer schlicht gearbeiteten Katzensilhouette. Er besaß nichts und das kleine Pergamentschild an dem Armband war mit so vielen Zahlen beschriftet, dass ihm bei dem Preis schlecht wurde. Seine Augen wanderten schnell von rechts nach links und als er sich unbeobachtet fühlte, verschwand das Armband in seinem Ärmel. Mit einem zufriedenen Grinsen wandte er sich ab und überlegte, ob er sich nicht auch etwas zu essen aneignen konnte, da wurde er wüst am Oberarm gepackt. „Du kleines Luder, du DIEBIN!“, brüllte ihn ein großgewachsener, braunhaariger Mann an. Er selber war noch jung und schien der rechtmäßige Besitzer des Armbandes zu sein. Der Kunstschmied riss dem Kleineren die Kapuze hinunter und staunte nicht schlecht, als es gar keine junge Frau war, die ihn da bestohlen hatte. Er brauchte einen Moment um sich zu fassen und holte mit der flachen Hand aus, um den frechen Dieb zu strafen Yura versuchte sein Gesicht mit dem freien Arm zu schützen und erwartete schon eine gehörige Tracht Prügel für seine Tat. Doch nichts geschah. Langsam ließ er den Arm sinken und hob den Blick. Neben ihm stand ein Mann, kaum größer als er und hielt die drohende Hand über ihm fest. Der Blick der dunklen Augen war von ihm weggerichtet, doch er konnte sich nicht von dem Anblick lösen. „Michele, nicht! Was bekommst du für das Armband?“ Die Stimme des Fremden war so sanft, dass Yura Gänsehaut bekam. Erst jetzt merkte er, dass er das Armband noch immer in der Hand hielt. Der Händler verzog das Gesicht und ließ den Jungen langsam los. „Du willst doch wohl nicht noch so einem dahergelaufenen Dieb helfen?“, murrte er, beließ es aber dabei. Vorsichtig nahm der Fremde Yura das Armband aus der Hand, öffnete die Schließe und legte es um den feinen, dürren Arm. Dann wandte er sich wieder dem Kunstschmied zu. „Ich muss sowieso noch aufs Land für deine Mutter und Stoffe holen, dann kann ich im Anschluss noch zu dir kommen und gebe dir die fehlende Summe, in Ordnung?“ Wieder diese sanfte Stimme, wieder ein regelrechtes Zucken durch Yuras Körper. Warum tat dieser Fremde das einfach für ihn? Seine Lederkleidung sah so ärmlich und abgenutzt aus, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass er auch nur annähernd den Preis des Schmuckstückes bezahlen konnte. Aber der Schmied schien ihm zu vertrauen. „In Ordnung, Otabek! Aber nur, weil Mutter die Stoffe wirklich dringend braucht. Seit die Textilfabriken immer größer werden, kommt sie mit ihrer Schneiderei kaum über die Runden. Die Zeiten sind hart, nicht einmal Kohle für den Ofen ist mehr da.“ Plötzlich wirkte der Braunhaarige verletzlich und Yura traute sich, sich etwas mehr aufzurichten. Seine Augen fielen wieder auf das Armband an seinem Handgelenk. Es war so fein und wunderschön, dass er es womöglich noch lange Zeit angestarrt hätte, wäre da nicht schon ein Barkeeper gewesen, der ihn eiligst mit sich zerren wollte. Erst als dieser gerade mit einer Moralpredigt beginnen wollte, erkannte er Otabek. Sein Gesicht erhellte sich und er beließ er vorerst mit der Zurechtweisung. „Otabek, ich habe gerade vorhin Reverend Chris getroffen. Er sollte dich von mir grüßen. Du lässt dich ja nie blicken! Bist du immer noch nicht verheiratet?“  Otabek stutzte kurz über diese direkten Worte, aber er kannte Victor nicht anders. Schnell schüttelte er den Kopf. „Nein, auf diese Ehre verzichte ich gerne! Ich habe mehr als genug Arbeit in der Fabrik und die Kirche kann meine Dienste auch gut gebrauchen. Aber… was tust du hier?“ Er blickte abwechselnd von dem vermeintlichen Dieb zum Barkeeper. Ganz recht wusste Victor nicht, was er sagen sollte. Schließlich wusste er, was Otabek von Jeans Geschäften hielt. Mehr als nur einmal waren sie ziemlich böse aneinandergeraten und weiß der Himmel wieso, aber es war jedes Mal gut ausgegangen. Dennoch wollte er ihn nicht belügen. Leise, damit nicht noch andere ihr Gespräch mitanhörten, erklärte er ihm alles. Während er den Worten lauschte, ruhten seine Augen auf dem blonden Jungen. Erst jetzt hatte er das vielsagende Halsband bemerkt, dessen goldener Anhänger unverkennbar war. Yura wich seinem Blick aus, denn er schämte sich dafür, dass der Fremde ihm einfach das Armband geschenkt hatte und scheinbar nun über seinen Hintergrund verärgert war. „Jean, hm? Hat er nicht genug Spielzeug?!“,fragte Otabek verächtlich und konnte sich selber nicht erklären, warum ihn diese Geschichte so verletzte. Er hasste diesen Mann für all das, was er tat, doch in diesem Moment fühlte er noch viel mehr Wut. „Victor, du weißt, was ich davon halte! Ehrliche Arbeit hat noch nie jemandem geschadet!“ Vorsichtig zog er Victor ein Stück mit sich, damit der Blonde seine Worte nicht hören konnte. „Wer ist dieser Junge?“, fragte er ohne weitere Umschweife. Victors überraschter Blick musste Gold wert sein, denn die Wangen des Jüngeren färbten sich rosé. „Öhm… i…ich weiß nur, dass er Yura heißt und Jean eine Menge für ihn bezahlt hat.“, stotterte der Barkeeper noch immer etwas perplex. Otabeks Blick ging an ihm vorbei ins Leere und er schien konzentriert nachzudenken. Victor dämmerte so langsam, was den Anderen so beschäftigte. „Otabek! Nein! Nein, nein, nein, NEIN! Du weißt ganz genau, dass du Jean schon mehr als zu oft verärgert hast! Du bist lebensmüde! Wahrlich! Ich nehme ihn jetzt wieder mit zurück und du wirst nicht eine Sekunde länger an ihn denken!“ Mit diesem Worten packte der Silberhaarige den jungen Yura und zog ihn am Mantel mit sich. Die grünen Augen des Blonden aber trafen den sanften Blick Otabeks, der ihm sehnsüchtig nachsah. „Herr im Himmel, was tust du nur mit mir?“ Kapitel 3: Begehre nicht, was dir nicht gehört ---------------------------------------------- Hier ist das neue Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch         Wann immer ihm das Leben eine schwere Bürde auferlegt hatte, so hatte er etwas Gutes daraus gemacht. Wenn die Klingel erst nach 16 langen Stunden in den Bleichdämpfen der Textilfabrik zum Schichtende erklang, so hatte er doch nie ein böses Wort verloren. Nicht einmal, wenn er mitansehen musste, wie sein Lohn immer geringer ausfiel, obwohl die Industrie täglich reicher und gieriger wurde. Jeden Tag schleppte er sich müde und hustend zurück zu der kleinen Wohnung am Rande der Stadt, die er sich mit wenigem Geld leisten konnte. Vielen ging es noch schlechter, das wusste er. Immerhin hatte er zwei Zimmer und einen guten Ofen, der alles warmhielt. Hin und wieder reparierte er nach der Schicht noch Maschinen vor Ort und erhielt einen recht erfreulichen Lohn dafür. Das Geld hob er sorgsam in einer alten Tabakdose auf, denn man wusste nie, wann die Zeiten noch schlechter wurden. Kaum älter als 20 Jahre alt, blickte Otabek auf viele leidvolle Jahre zurück. Schon früh hatte er Arbeit in den Textilfabriken gefunden und war für sein ruhiges, aber tüchtiges Arbeiten bekannt. Freunde hatte er keine, aber in welcher Zeit sollte er sich auch mit ihnen treffen? Sein Leben bestand aus den Bleichtöpfen, den Farbchemikalien und den schweren Leinenstoffen, die nass nahezu untragbar waren. In der wenigen Freizeit, die er besaß, half er häufig in der Kirche aus. Dafür wollte er keine Entlohnung, denn er wusste, dass die Ärmsten die Kirche dringender brauchten.   Nach der ihm immer noch seltsam und verwirrend erscheinenden Begegnung hatte es ihn genau dorthin gezogen. Die Kirche – Ein Ort der Stille und Besinnung. Otabek brauchte gerade dringlichst einen klaren Kopf und an Schlaf war ohnehin um diese Uhrzeit nicht zu denken. Sein Husten war in letzter Zeit so schlimm geworden, dass sein Vorsteher ihn zwangsweise ein paar Tage beurlaubt hatte. Natürlich nur unter größtem Protest seitens des jungen Mannes. Keine Arbeit hieß kein Geld. Mit zittrigen Händen entzündete er die Kerzen am Eingang, die der Wind immer wieder durch das marode Gebäude ausgeblasen hatte. Ein Knacken hinter ihm zog seine Aufmerksamkeit auf eine kleine, dunkle Gestalt. Der anfängliche Schreck wich Entspannung als er die kleine Kirchenkatze unter einer der Bänke entdeckte. Im letzten Winter hatte er sie vor einer vorbeifahrenden Kutsche gerettet und mit in die Kirche genommen. Langsam kniete er sich vor sie und streichelte die weichen Ohren. Ein Seufzen entwich seinen Lippen und all die Erinnerungen des Treffens kamen wieder hoch. Warum nur quälten diese ihn so? Mittlerweile sollte ihm doch endlich egal sein, was in der Dunkelheit der menschlichen Seele verborgen lag. Warum nur flammte in ihm immer wieder das Bild von diesem Jungen auf? Otabek versuchte sich einzureden, dass es ihm schließlich nicht schlecht gehen konnte. Immerhin war Jean wählerisch mit seinem Eigentum und sorgte bisweilen recht umfangreich, gar kostspielig dafür. Die kleine Katze schnurrte hörbar und drehte den Kopf von rechts nach links. Wann immer Otabek hier war, klebte sie förmlich an ihm. Als der junge Mann Schritte vernahm, erhob er sich und blickte zum Altar. „Mein Sohn! Was führt dich um so eine frühe Zeit hierher?“, erklang die sorgenvolle Stimme des Priesters. Reverend Chris war stets sehr besorgt um seinen Schützling, würde er ihn doch auch lieber in besserer Verfassung sehen. „Kind, du musst dich ausruhen. Das Dach ist momentan recht dicht und bei Gott, es wird auch diesen Monat wieder überstehen!“ Der Blonde hob die Hände und lächelte. Otabek bewunderte ihn für seinen Optimismus, blieb jedoch lieber der Realität treu. „Father, ich hoffe, ihr irrt nicht! Dennoch werde ich es mir noch ansehen, ich traue den alten Balken nicht. Ihr müsst sie dringend ersetzen lassen!“, warnte ihn der junge Arbeiter vorsorglich. Doch der Priester lächelte nur sanft und schob seinen Gegenüber zu den Bänken. „Setz dich, mein Sohn!“ Mit diesen Worten drückte er ihn an den Schulter hinunter, sodass er sich setzen musste. Vorsichtig hob er das Kinn des Dunkelhaarigen mit dem Zeigefinger und Daumen an. „Ich sehe dir an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Willst du einem Mann Gottes widersprechen?“ Mit einem bezaubernden Lächeln setzte er sich zu ihm und wartete auf eine zufriedenstellende Antwort. Er wusste, wie verschwiegen Otabek war, aber das hatte ihn noch nie davon abgehalten, neugierig zu sein. „Nun… Reverend, ist es eine Sünde, etwas zu begehren, das mir nicht gehört?“, fragte der junge Mann völlig emotionslos und gerade heraus, sodass der Geistliche kurz etwas verdutzt schaute. Dann sprang er hastig auf, krempelte die Ärmel hoch, stemmte die Fäuste in die Hüften und rief: „Halleluja, das ich das noch erleben darf! Mein Sohn, du hast also endlich eine Frau für dich gefunden? Verheiratet, was? Kein Problem, können wir annullieren!“ Mit offenem Mund saß Otabek vor dem Priester und sah aus, als wenn ihn gerade der Teufel persönlich angesprochen hätte. „Ähm… ich glaube nicht, dass…!“, begann er zu erklären, doch der Reverend zog ihn schon am Ärmel hoch und mit sich zum Altar. „Ich habe doch extra für gute Tage eine Flasche Gin aufgehoben! Mein Sohn, das müssen wir feiern! Ach, was sag ich da, lass uns in die Kneipe unten an der Straße gehen und du erzählst mir alles über sie!“ Der Blonde war nicht mehr zu bremsen. Etwas verzweifelt hielt Otabek ihn am Ärmel fest. „Father, nein! Ich… ich kann nicht! Versteht bitte! Es…“, versuchte er noch einmal zu erklären, doch sein Husten zwang ihn für einen Moment auf die Knie. Vorsichtig sank er auf die harten Marmorstufen. Besorgt beugte der Priester sich zu ihm. „Kind, du bist krank! Du brauchst einen Arzt. Bitte, du kannst mir später alles erklären, ich werde nach Dr. Lee schicken. Nein, ich hole ihn selber! Leg dich zur Ruhe! Der Ofen hinten in der Kammer ist an. Ich verspreche dir, ich beeile mich.“ Vorsichtig half er dem jungen Arbeiter auf und stützte ihn bis zu dem kleinen Ruheplatz in der hinteren Kammer, ehe er schnell seinen Mantel griff und sich auf den Weg machte.   Victor hatte sich auf dem Rückweg schon die schlimmsten Szenarien ausgedacht. Jean würde ihn hängen lassen, vierteilen, teeren und federn und noch schlimmeres. Panisch hielt er immer noch das Handgelenk des jungen Blonden neben sich fest, als er langsam die Hintertür aufschloss. Mit einem diebischen Blick schaute er sich in dem Vorratsraum um, doch er konnte niemanden erblicken. Sonst war doch um diese Zeit immer die Hölle los? Die unangenehme Stille, die aus dem Barbereich drang, war gespenstisch. Hastig schob er Yura durch die Tür und schloss hinter beiden sorgfältig ab. „Jetzt mach dir nicht in die Hose, hat doch keiner bemerkt!“, raunte die Gestalt unter der Kapuze. Victor verzog den Mund und wollte den Blonden am liebsten gleich wieder zur Tür rausschmeißen. Das Früchtchen hatte heute schon genug Ärger gemacht. „Rein da und ab auf dein Zimmer!“, zischte der Barkeeper genervt und stieß ihn etwas gröber an. Ohne Widerworte verschwand der Junge die Treppe hoch, sehr zur Erleichterung von Yuri, der bereits im Hauptraum wartete. „Na, endlich! Zu unserem Glück muss hier die Hölle losgewesen sein. Keiner hatte Zeit, unsere Abwesenheit zu bemerken.“ Trotz der tröstlichen eigenen Worte, wirkte Yuri blass und gestresst. Victor schloss ihn sofort in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Mein Yuri, mein Goldstück, mach mir nie wieder solchen Ärger. Ich würde doch vor Sorge vergehen, wenn etwas passieren würde. Warum bist du nur so blass? Bist du krank? Sprich, mein Liebster!“ Dabei schüttelte er den armen Kartenspieler so sehr, dass diesem wirklich schlecht wurde. „V…Vic…Victor! Nein, es ist nur… Alle sind so aufgebracht. Dr. Lee ist hier. Eines der Mädchen…“ Yuris Stimme brach ab. Tränen kullerten langsam über seine hellen Wangen und glitzernde Perlen benetzten den Boden. „Er meint, sie wird wieder gesund, aber warum Victor? Warum passiert das? Wieso hat sie das getan?“ Victors Augen versuchten Yuris Blick zu finden, doch er scheiterte. Vorsichtig nahm er das Gesicht seines Liebsten in die Hände und legte seine Stirn an die seines Gegenübers. „Yuri, wir leben in schweren Zeiten. Nicht jeder ist so stark. Sei nicht traurig. Wenn Dr. Lee sagt, sie wird wieder gesund, dann ist es so. Jean wird sie nicht mehr hier haben wollen und du weißt doch, dass der Doktor den Mädchen oft einen Job im Krankenhaus anbietet. Wie vielen geht es nun besser?“ Die eigentlich tröstlichen Worte verfehlten ihren Zweck und Yuri weinte noch viel mehr. „Aber… in was für einer Welt leben wir, in der man sich zuerst fast selber alles nimmt, um dann nur einem Funken Hoffnung nachzujagen?“, schluchzte er laut. Der Barkeeper seufzte, wusste er doch selber, dass es eigentlich mehr tragisch, als tröstlich war. Doch wohin mit all dem Schmerz der Welt, wenn nicht doch versuchen, etwas Gutes darin zu sehen. „Warum heulst du hier rum, hast du keine Arbeit?“, ertönte eine wütende Stimme am oberen Ende der Treppe. Jean schritt hastig nach unten und griff den Kartenspieler am Kragen. „Du Nichtsnutz! Räum die Früchte ein und kümmere dich danach um den ganzen Dreck im Vorgarten. Was sollen die Kunden denn denken, wenn alles so aussieht! Und du!“, wandte er sich an Victor. „Füll die Flaschen an der Bar auf, aber vergiss nicht, sie ordentlich mit Wasser zu strecken. Das merken die sowieso nicht!“ Sein Blick traf auf den seines Barkeepers und wurde wütend erwidert. Langsam erst ließ er den Kragen des Kartenspielers los. „Ihr taugt beide zu nichts!“, warf er hinter, bevor er selber ein paar Tische und Stühle zurecht rückte. Yuri war schon wieder völlig den Tränen nahe, doch Victor warf ihm ein warmes Lächeln zu und nickte. Später hätten sie etwas Zeit für sich, dann würde er ihm allen Schmerz der Welt von den Lippen küssen. Noch während er diesen Gedanken nachhing, klopfte es laut und hastig an der großen Flügeltür. „Geschlossen! Komm heute Abend wieder!“, brüllte Jean nur genervt und stellte neue Kerzen auf die Tische. Als das Klopfen jedoch nur fordernden wurde, riss er seinen Schlüsselbund vom Gürtel und knurrte beim Öffnen der Tür: „Dir werde ich Manieren beibringen, du Hund!“ Als er schon die Faust geballt hatte, schaute er verdutzt in das knallrote Gesicht von Reverend Chris. Perplex ging er einen Schritt zurück. „Was denn? Hat dein Gott jetzt auf einmal etwas für Nutten über?“ Jean wollte ihm gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, da hielt der Priester mit einer unverhofften Stärke dagegen. „Dr. Lee“, keuchte er nur außer Atem. „Er ist doch hier oder?“ Ohne weitere Worte abzuwarten, schritt er in die unglückseligen Hallen. Sein Blick schweifte umher und er rümpfte kurz die Nase. „Chris!“, rief Victor von der Bar und kam eilig zum ihm gelaufen. „Was bringt dich denn hier her? Ein Notfall?“ Sorgenvoll steckte auch Yuri seinen Kopf aus der Speisekammer hervor. „Sag mal, ist das hier ein Plaudercafé oder eine Nährunde!? Raus hier! Es interessiert mich nicht, welche Ratte auf der Straße zugrunde geht. Ich brauche den Doktor hier! Also verschwinde!“, schrie Jean den Priester unvermittelt an. Dieser sah ihm mit festem Blick in die Augen. „Ich bin mir sogar ganz sicher, dass dir das egal ist!“ Dann wandte er sich an Victor, „Bitte, ich muss mit dem Doktor reden. Otabek ist krank, es geht ihm nicht gut. Du weißt, diese ganzen Mittel in der Fabrik bringen ihn irgendwann noch um! Bitte!“ Während Victor ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf stürmte zu den Zimmern, hatte Jean sich an einen nahen Tisch gesetzt. Mit einem belustigten Lachen schlug er seine Faust auf den Tisch. „Ha, es gibt ja scheinbar doch einen  Gott oder wie erkläre ich mir diese fantastische Nachricht heute?“, spottete der Dunkelhaarige hämisch. Chris war kein Mensch, der leicht zu reizen war, doch gerade musste er sich mehr denn je zusammenreißen, um diesen widerlichen Geschäftsmann nicht mundtot zu schlagen. Ehe er etwas erwidern konnte, kam Victor die Treppe mit Dr. Lee gemeinsam hinunter. „Mister Leroy, ich bin hier fertig. Sie wird ganz genesen, aber bitte, seien sie achtsam! Benachrichtigen sie mich, sollte noch etwas sein. Ich hoffe, sie werden meine Dienste nicht mehr so schnell in Anspruch nehmen!“, verabschiedete sich der schwarzhaarige Mediziner. Er war der Beste in der ganzen Stadt und leitete trotz des jungen Alters bereits das Krankenhaus mit einer erfreulich guten Quote. Der Priester hatte bereits die Tür zum Gehen geöffnet. „Ich begleite euch direkt, Reverend! Zu Fuß brauchen wir zu lange. Bitte, wir nehmen die Kutsche!“ Zurück blieben nur ein noch immer erfreulich dreinblickender Jean, ein Victor der kurz überlegte, dem Geschäftsmann die Ginflasche über den Kopf zu schlagen und ein Yuri, der vor Tränen nicht mehr wusste, wie er die Früchte sehen sollte.   Auf der kurzen Fahrt erzählte der Priester dem Arzt alles und erhoffte sich ein paar beschwichtigende Worte. Doch Dr. Lee schwieg. Schnell erklommen sie die Stufen zur Kirche, durchquerten den Kirchraum und gelangten zur warmen Kammer, die kaum größer als ein Vorratsraum war. Dennoch war sie gemütlich mit einem kleinen Fenster zur Straße. Otabek lag ruhig in den vielen Decken, eine Kerze auf dem kleinen Tisch neben ihm war fast ausgebrannt. Als er die Gesellschaft bemerkte, schreckte er hoch, doch der Husten zwang ihn zurück auf die Pritsche. Vorsichtig hörte der Arzt ihn ab, verzog jedoch keine Miene. Reverend Chris stand besorgt hinter ihm und wartete endlich auf ein paar erlösende Worte. Immer wieder erhoffte er sich zumindest an einem Gesichtsausdruck erkennen zu können, was der Mediziner dachte, doch er scheiterte. Letztendlich erhob Dr. Lee sich und seufzte leise. Kapitel 4: Bedrohung -------------------- Warum nur war ausgerechnet sie damit beauftragt, dieses verwöhnte Ding zu betreuen? Sie war schließlich kein Kindermädchen und auch keine Erziehungsdame. Diesem Nichtsnutz konnte man ohnehin keine Manieren beibringen. Jean hatte sie nach dem ganzen Stress des Tages mit ein paar Besonderheiten zu seiner Kammer geschickt, die sie vorsichtig auf einem Tablett balancierte. Der Mann schien ausgenommen gute Laune zu haben und Mila wusste schon, warum. Ein verächtliches Schnaufen entwich ihr und sie stieß mit dem Fuß gegen die große Tür, um auf sich aufmerksam zu machen. „Aufmachen!“, befahl sie kurz und hörte nach einer kurzen Zeit das Klicken des alten Schlosses. Zwei grüne Katzenaugen sahen sie böse funkelnd an, als die große Kammer geöffnet wurde. „Was willst du?!“, wurde sie nur kurz angefaucht, nahm sich davon allerdings nichts an und schritt ohne nachzufragen in den Raum hinein. „Sei still, du unerzogenes Ding! Hier, dein Essen!“ Mit diesen Worten knallte sie das Tablett auf den alten Sekretär und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ihr Blick noch einmal auf den blonden Jungen fiel. Er saß auf dem Samtsofa und schaute traurig zu Boden. Der Blick war so erfüllt von Schmerz, dass Mila selber kurz das Gefühl des Weinens hinunterschlucken musste. Langsam wandte sie sich zu ihm und kniete sich vor ihn. Neugierig wartete sie, ob der Junge etwas sagen würde, doch kein Wort verließ seine Lippen. Vorsichtig legte sie die Hände auf seine Knie. „Was ist los? Möchtest du nichts essen?“, fragte sie behutsam. Als Antwort erhielt sie lediglich ein Kopfschütteln. Ob er wohl etwas von dem ganzen Geschehen am Tage mitbekommen hatte? Wahrscheinlich nicht, die Kammer lag doch zu weit abseits. Milas Blick schweifte über den dürren Körper, die verzierte Weste und das Halsband mit Jeans Anhänger. Traurig  senkte sie ihren Blick und blieb verwundert an einem anderen Schmuckstück hängen. An das Handgelenk des Jungen schmiegte sich ein feines Goldarmband und Mila könnte schwören, dass es echt war. „Woher hast du das?“, fragte sie gerade heraus. Die Augen des Jungen weiteten sich und er zuckte zusammen. „Das geht dich gar nichts an! Es ist ein Geschenk!“, keifte der Blonde und sprang auf. Er würde dieses Armband mit seinem Leben verteidigen, wenn es sein musste. Völlig perplex starrte die Rothaarige den aufgebrachten Yura an. „Beruhig dich! Ich bin mir sicher, es ist nicht von Jean, also woher ist es?“ Auch Mila erhob sich und schritt auf ihn zu. „Wenn du es gestohlen hast, dann Gnade dir Gott!“, drohte sie mit leiser Stimme. Die grünen Augen sahen sie zutiefst verletzt an, doch eine Antwort erhielt sie nicht. „Jetzt sag mir, wo es herkommt!“, befahl die Ältere noch einmal mit Nachdruck. Yura wich ein paar Schritte zurück und hielt das Armband mit der Hand verdeckt. „Ich sagte doch, es war ein Geschenk! Von… einem Mann.“, flüsterte er bedrückt und wandte sich ab. Mila hatte mit wenigen Schritten den Abstand zwischen ihnen geschlossen und ihn an der Schulter umgedreht. „Bist du lebensmüde? Jean wird dich erschlagen, wenn er das mitbekommt. Und überhaupt, wie bitte konnte dir das jemand hier schenken?“, zischte sie aufgebrachter, als sie es erwartet hätte. Doch ein hämisches Grinsen legte sich auf die Lippen des Jüngeren. „Ich lasse mich nicht in einem goldenen Käfig einsperren. Bitte, renn zu Jean. Erzähl es ihm! Aber lass mich in Ruhe mit deinem scheiß geheuchelten Interesse an mir!“, spie er ihr förmlich ins Gesicht. Gerade als sie antworten wollte, fiel die schwere Tür in das Schloss und Jean betrachtete beide mit einer Mischung aus Argwohn und Unverständnis. „Raus!“, befahl er Mila, die sich wortlos an ihm vorbeidrückte und eilig verschwand. Yuras Herz begann ängstlich zu schlagen, hatte er doch mehr als nur Abneigung für den Mann über. „Schau an, hat meine Blüte keinen Hunger?“, fragte er, bevor er selber von einer seltsam anmutenden, exotischen Frucht abbiss. Der Blonde wich ein paar Schritte zurück und schüttelte mit dem Kopf. „Hier, nimm!“, bot ihm der Geschäftsmann die Frucht an und ging langsam auf ihn zu. Wieder wich Yura aus, doch dieses Mal ergriff Jean sein Handgelenk. „Wenn ich sage, dass du isst, dann tust du es!“, fluchte er wütend und zog ihn zu sich. Kraftvoll umfasste er das Kinn des Blonden und drückte seine Finger in die zarten Wangen, sodass dem Kleineren nichts anderen blieb, als die Lippen etwas zu öffnen. Gewaltsam zog Jean ihn näher zu sich und sah ihm in die Augen. Hass und Ekel blickten ihm unverhohlen entgegen, doch er musste nur bitter Lachen. Gewaltsam drückte er dem Jungen die Frucht zwischen die Lippen. „Iss!“, zischte er drohend und Yura biss ein kleines Stück davon ab, in der Hoffnung, Jean würde seinen Griff lockern. Der Geschäftsmann grinste ihn schmutzig an und nickte zufrieden. Er bekam immer, was er wollte, das stand für ihn fest. Allerdings hatte er nicht mit so einer Wildkatze gerechnet, die ihm just in dem Moment das Fruchtstück angewidert in das Gesicht spuckte. Perplex ließ er den Jungen für einen Moment los, wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und musste sich augenscheinlich erst einmal sammeln. Doch schneller, als es Yura lieb war, wurde er von dem Älteren gepackt und schmerzhaft geohrfeigt. Mit einem erstickten Schrei ging er auf die Knie und hielt sich die schmerzende Stelle. Tränen füllten seine Augen, doch er wollte nicht zulassen, dass Jean ihn weinen sah. „Du kleines Biest! Wag das nie wieder! Wenn ich nicht gerade heute so gute Laune hätte, dann wäre daraus eine Tracht Prügel geworden. Benimm dich gefälligst!“, raunte Jean genervt, setzte aber im nächsten Moment wieder sein selbstgefälliges Grinsen auf. „Heute Nacht kommst du mir nicht davon!“ Der Blick in Yuras Augen gab Jean das Gefühl absoluter Zufriedenheit. Diese verschreckten, ängstlichen Augen, wie sie flehend vom Boden zum ihm aufblickten. Lachend nahm er noch eine der Früchte und verschwand mit einem lauten Knallen der Tür. Zurück blieb nur ein hastig atmender und völlig verzweifelter Junge.   Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, die Räume waren voll und unten in der Halle konnte man vor Geschrei und Gelächter kaum sein eigenes Wort verstehen. Mila stand an der Bar bei Victor und erzählte ihm von ihrer seltsamen Begegnung am Nachmittag. Peinlich berührt polierte er Gingläser und nickte nur zeitweise als Zeichen, dass er ihr zuhörte. Auf gar keinen Fall durfte er sich verraten. Mila würde ihn und Yuri sofort im Fass im Hinterhof ertränken. Erst als der junge Kartenspieler ebenfalls zu ihnen stieß, erhellte sich sein Gesicht. Sein Liebster war für ihn doch stets eine große Stütze. Mit ihm war alles auf einmal erträglich. „Du glaubst es nicht… ein Goldarmband! Ein so schönes Stück! Er sagte, ein Mann habe es ihm geschenkt. Wer bitte kann sich denn so ein Armband leisten? Ein Arzt? Ein Richter? Oder vielleicht ein Fabrikbesitzer?“ Milas Stimme war unangenehm aufgekratzt und sie tippte genervt mit ihren Fingernägeln auf der Theke herum. Yuri konnte schnell erkennen, worum es in dem Gespräch ging und hatte schon längst vergessen, dass Mila ja gar nichts davon wusste. Als Victor mit einem „möglicherweise“ antwortete, schüttelte er den Kopf. „Quatsch, Otabek ist doch nicht reich!“, warf er ein, stolz darauf, dass er sich endlich einmal etwas von Victors Bekannten gemerkt hatte. Er schreckte mit einem Quietschen zusammen, als Victor das eben polierte Glas fallen ließ und ihn kreidebleich anstarrte. Langsam dämmerte Yuri, was er da angestellt hatte, doch Mila hatte ihn schon am Kragen gepackt und zu sich gezogen. „Hast du gerade ernsthaft diesen Namen in diesen Hallen erwähnt? Bist du…? Warte… von ihm!?“ Ihr Blick fiel auf Victor und dieser konnte schwören, dass die Frau ihm gegenüber gerade seinen Tod plante. „Wie zur Hölle ist das passiert? Raus mit der Sprache, ihr Nichtsnutze!“, befahl sie und hörte sich die erklärenden Worte der beiden ohne einen weiteren Kommentar an. Während Victor Mila alles anvertraute und betete, dass sie ihn nicht köpfen würde, wanderte Yuris Blick durch den Raum. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Weit hinten, in der Nähe der Treppe entdeckte er Jean und neben ihm Yura. Das schulterlange, blonde Haar war fein geflochten und in Teilen zurückgebunden. Die vorherige bestickte Weste war einem minzfarbenen, geschnürten Hemd gewichen, das in vielen Teilen feine Ziernähte besaß und am Rücken wie eine Corsage mit Bändern geflochten war. Das Halsband schimmerte im Lichteinfall der Kerzen und zierte den dürren Hals wie eine unheilvolle Schlinge. Der Blick des Jungen war gesenkt, während Jean sich mit allerlei Kunden unterhielt. Yuri empfand so viel Mitleid für den Anderen, dass es ihm fast schmerzte. Wirklich weh tat allerdings der Schlag, den Mila ihm auf sein Ohr verpasste. „Hörst du gefälligst zu?“, schnauzte sie ihn an und stemmte die Arme in die Hüften. Perplex nickte der Schwarzhaarige und konnte aus dem Augenwinkel Victors besorgtes Gesicht erkennen. „Ok, ok, also euch ist hoffentlich klar, dass egal und ich betone EGAL, zu welchem Zweck nie wieder so etwas passieren darf!“, schwor die junge Frau alle ein und sah verstohlen zu Jean hinüber. Ein Nicken besiegelte den Pakt.   Der Reverend zog den verschlissenen Schal enger um seinen Hals und legte Kohlen in den Ofen. Sein kleines Haus lag direkt an der Kirche angebunden und bot das Nötigste zum Leben. Der Regen peitschte gegen die düsteren Glasfenster mit dem Bleibesatz. Vorsichtig wärme er einen Krug mit Wasser auf dem Ofen auf und ließ ein paar Teeblätter hineinsinken. Die Kerzen waren schon recht weit hinunter gebrannt und er suchte eilig nach neuen für die Nacht. Das Wasser brodelte leise vor sich hin und der Blonde hob die Kanne mit einem einfachen Baumwolltuch hinunter, direkt auf die Steinplatte des kleinen Tisches. Eilig fischte er zwei Tassen aus dem alten Vorratsschrank und stellte sie zu dem Krug. Besorgt fiel sein Blick auf seinen Gegenüber, der mit dem Kopf auf seinen Armen lag. Die Anstrengung des Tages war einer enormen Müdigkeit gewichen, sodass er just auf dem Esstisch eingeschlafen war. Sanft rüttelte Chris an der Schulter des jungen Mannes. „Otabek, trink etwas!“, hauchte er leise und strich dem anderen eine Strähne aus der Stirn. Müde hob der Arbeiter seinen Kopf und sah recht verschlafen auf die Tassen und den Krug. „Entschuldigt, ich… muss wohl eingeschlafen sein!“, flüsterte Otabek peinlich berührt. Chris setzte sich neben ihn und schenkte beiden etwas von dem Tee ein. „Das wird dir guttun, mein Sohn! Komm erst einmal zu Kräften. Aber nun sag, was wolltest du heute in der Kirche?“, fragte der Priester nun doch, um endgültig seine Neugierde zu stillen. Otabek sah errötet hinab auf seine Tasse und musste unwillkürlich etwas Lächeln. „Ich sehe doch, dir liegt etwas auf dem Herzen. Dieses Mädchen. Was also ist nun mit ihr, dass du solche Zweifel hegst?“, bohrte Chris geschwind nach. Das entlockte Otabek zunächst wieder ein verzweifeltes Seufzen. „Habt ihr einmal etwas gesehen, so schön wie die Eiskristalle an den Kirchenfenstern im Winter? So perfekt und einzigartig.“, begann er zögerlich. „Als wenn jede Sekunde alle Sterne vom Himmel fallen würden, nur um diesem Engel zu huldigen?“ Chris musste beherzt lachen und klopfte dem Arbeiter sanft auf die Schulter. „Kind, du bist wahrlich verliebt! Solche Worte aus deinem Mund erscheinen mir gar wie ein Wunder.“ Doch Otabeks Blick verfiel in eine unnahbare Trauer. „Aber Father, es wird nie ein gutes Ende nehmen. Nein, nicht in diesem Leben.“ Chris sah ihn betrübt an, schwieg und stützte seinen Kopf mit dem Arm auf den Tisch. „Sie ist keine sie und was noch viel schlimmer ist… Jeans Eigentum.“, brachte Otabek letztendlich sein Geheimnis hervor. Für einen Moment herrschte eine gespenstische Stille und er hatte Angst, dass der Priester ihn hinauswerfen würde. Dieser jedoch strahlte ihn an und nahm die Hand des Arbeiters in seine beiden. „Mein Sohn, Gott gibt uns, was wir uns wünschen und nichts kann daran falsch sein. Wir alle sind seine Kinder und wenn wir lieben, dann ist es gewollt. Allerdings… macht mir etwas anderes Sorgen. Du hättest dir ja nicht gleich die Hölle als Gegner suchen müssen, oder?“ Otabek musste bei den fast liebevollen Worten schwer schlucken. Auch, wenn er dem Priester blind vertraute, so hatte er doch Angst vor dessen Reaktion. Ein seichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen und er nickte langsam. „Gut… Jean also. Weißt du mehr über deinen Liebsten? Wo er herkommt, wie alt er ist? Irgendetwas?“, hakte der Blonde nach, doch Otabek verneinte. „Nur seinen Namen. Yura.“ Er sprach ihn so sanft aus, dass der Priester abermals schmunzeln musste. „Aber Father, ich… ich möchte ihn so gerne wiedersehen. Was soll ich nur tun?“ Angst schwang in den Worten des jungen Mannes mit. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen die Brust und verursachte unwillkürlich einen erneuten Hustenanfall. Mit zittriger Hand umfasste er die Tasse und trank den Tee Schluck für Schluck. Die heiße Flüssigkeit beruhigte den Hustenreiz und er atmete tief ein. Chris hielt noch immer besorgt seine Hand. „Mein Sohn, du bist krank. Du weißt, was Dr. Lee gesagt hat. Du musst dich jetzt schonen und bei Gott, ich werde auf dich aufpassen. Wir werden schon einen  Weg finden.“, beschwichtigte ihn der Priester umsorgend. Doch Otabek fühlte sich rastlos mit all dem Schmerz in seinem Herzen. Er wusste wie Jean war und die Sorge um Yura, seinen Yura, wuchs von Minute zu Minute. „Dann begleitet mich. Nur einen Moment. Lasst mich nur ein paar Worte mit ihm wechseln. Bitte! Victor wird uns helfen. Ich verspreche euch, ich werde Jean nicht unter die Augen treten.“, flehte der junge Arbeiter und goss sich eine weitere Tasse Tee ein. Chris schien angestrengt zu überlegen und rieb sich die Stirn. „Gut, aber lass dich nicht sehen, Kind. Wir wissen, wo das beim letzten Mal endete. Du bist in keiner sehr kampftauglichen Verfassung und du weißt, wie sehr ich dies verachte.“ In seinen Gedanken flammte noch der Moment auf, in dem er zwischen die Beiden gesprungen war und nur mit großer Mühe Schlimmeres verhindert hatte. „Nimm deinen Mantel, wir gehen heute auf Hausbesuch.“, befahl er dann wieder freundlicher. Otabeks Miene erhellte sich und er sprang so schnell auf, dass der nächste Husten ihm klarmachte, dass er wirklich mehr Ruhe brauchte. Kapitel 5: Nur ein Tanz ----------------------- Nur ein Tanz   Otabeks Herz sprang ihm förmlich aus der Brust, als sie schon von weitem die Laternen des Etablissements sahen. Seine zitternden Hände vergrub er in den Taschen des schweren Mantels, der sein markantes Gesicht geschickt unter einer weiten Kapuze verbarg. Reverend Chris trug seine Amtstracht mit Würde, denn ein Verstecken war ohnehin nicht seine Absicht. Er würde schon dafür sorgen, dass er auffiel. Bedächtig schritten sie zum Eingang und trafen an den verzierten Flügeltüren bereits auf ein bekanntes Gesicht. Die rothaarige Dame begrüßte allerlei Gäste am Eingang und zierte sich nicht, sich selber in Szene zu setzen. Jean achtete stets darauf, dass sein Personal edel und teuer eingekleidet war, schließlich bezahlten die Kunden auch fürstlich. Ihr dunkelgrünes Kleid verbarg kaum die helle Brust, noch war es lang genug für ihre schier endlosen Beine. Mit einem stets recht gekünstelten Lächeln empfing sie jeden, der nur genug Bares in seinen Taschen hatte. Als Chris sich ihr näherte, gefror ihr Gesichtsausdruck jedoch ganz und gar. Sie wusste, dass es nie etwas Gutes mit sich brachte, wenn der Würdenträger hier erschien. „Mein Kind, in diesem Kleid holst du dir bei der Kälte doch den Tod! Ach, ich vergaß, du arbeitest ja für ihn!“, begrüßte der Blonde die Dame ohne Umschweife. Diese verzog keine Miene und hielt ihren Arm ausgestreckt nach vorne. „Ihr werdet sicher verstehen, dass ich euch keinen Einlass gewähren kann.“, entfloh es ihr deutlich gehässiger, als sie es erwartet hatte. Beschwichtigend hob der Reverend die Hände und lachte. „Aber, aber, Kind, ich komme nicht um zu streiten. Lasst einen armen Kirchenmann doch wenigstens einen Drink nehmen und sich am Anblick der Gesellschaft erfreuen.“ Mila zog eine Augenbraue hoch und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Vergesst es! Hat euer Gott euch nicht beigebracht, dass Sünde zum Fall führt?“, ätzte sie laut, doch Chris lächelte milde. „Hat mein Gott nicht auch die Sünderin zur Heiligen gemacht? Der Ehebrecherin verziehen und die Hure auf den rechten Weg gebracht?“ Die Rothaarige spuckte ihrem Gegenüber wütend vor die Füße und schrie unverhohlen: „Einen Dreck hat er!“ Scheinbar durch den Lärm gewarnt, kam eiligen Schrittes Jean aus dem Saal gerannt und schaute recht verdutzt, als er die beiden Streithähne sah. „Mila, was soll das? Begrüßt man so Gäste?“, tadelte er seine Empfangsdame scherzhaft. In kurzen Schritten stand er bei den Beiden und stemmte die Arme in die Hüfte. Just diesen Moment nutzte Otabek, der sich still im Schatten der Gasse verborgen gehalten hatte und huschte leise durch die Flügeltüren. Zumindest hatte Chris ihm so genug Zeit gegeben, um Jean nicht aufzufallen. „Ich wollte lediglich ein Glas Gin trinken, ich wusste nicht, dass ich hier Hausverbot habe?“ Mit diesem Worten verzog der Priester die Lippen und schmollte spielerisch. Jean schien einen Moment zu überlegen, antwortete dann jedoch gelassen: „Bitte, kommt herein. Das erste Glas geht auf mich. Schließlich gibt es doch etwas zu feiern, nicht wahr?“ Lachend schritt er zurück zu den Türen und verschwand im Saal. Milas Blick schwankte zwischen Argwohn und Sorge, doch der Reverend streckte ihr lediglich die Zunge heraus und folgte dem Geschäftsmann.   Yuri wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich sollte er doch ein Profi auf der Bühne sein, aber jedes Mal bekam er aufs Neue panische Angstzustände. Vorsichtig strich er über die Seiten der fein geschnitzten Geige. Seine Kartentricks waren sehr beliebt, aber noch lieber tanzte man im Saal zu den Klängen seiner irischen Volkslieder. Dennoch machte ihm jeder Auftritt Angst. Lautvoll atmete er ein und aus. Dann erhob er sich langsam, strich seine braune Lederweste zu Recht, fuhr mit den Fingern durch das schwarze, volle Haar und schloss die Augen. Viktor… Nichts als Viktor sah er vor seinem inneren Auge und es beruhigte ihn. Er wusste, dass dieser ihn immer im Blick hatte und egal, was passierte, er würde da sein. Vorsichtig verließ er die Kammer und schritt zur Bühne. Mit jedem Schritt schlug sein Herz stärker und schmerzhafter. Das Publikum an den Tischen im Saal wurde stiller, als sie den jungen Mann auf die Bühne schreiten sahen. Yuri versuchte über sie alle hinweg zu sehen, verbeugte sich langsam und setzte die Geige an sein Schlüsselbein. Noch ehe er die ersten Töne erklingen ließ, schwenkte sein Blick zur Bar hinüber und Viktors liebevolles Lächeln erwärmte sein Herz. Nichts konnte ihm passieren, solange nur sein Liebster bei ihm war. Schwungvoll stimmte er das erste Lied an, sah wie einige sich erhoben und schon alkoholgeschwängert den Damen zum Tanzen den Hof machten. Innerlich seufzte er leise und schloss für einen Moment die Augen. Die Musik sollte ihn nur ein wenig von den schweren und düsteren Gedanken in ihm ablenken.   Jean hatte sich schnell wieder zu seinen Kunden gesellt und plauderte mit einigen besonders einflussreichen Richtern über Politik. Yura stand gelangweilt daneben, tippte von einem Fuß auf den anderen und nestelte mit seinen Fingern in den blonden, langen Haaren herum. Wie ein Haustier stand er brav neben seinem Herren und schwieg, wenn er nicht gefragt wurde. Dies passierte allerdings ohnehin nicht, denn Jean vermied es lieber, damit der Junge nicht auch noch etwas Dummes sagte. Als er die Stille bemerkte und kurz darauf die  lebenslustigen, einladenden Klänge der Geige, erhellte sich sein Blick. Eilig blickte er zu Bühne und sah den Kartenspieler dort in einem besonders schönen, braunen Anzug mit feinen Goldnähten stehen. So festlich hatte er ihn noch nie gesehen. Neugierig beobachtete er das filigrane Spiel und erwischte sich dabei, wie sein Herz bei den Klängen hüpfte. Er liebte Musik einfach, schon früher konnte er stundenlang den Straßenmusikern zuhören, ohne auch nur zu bemerken, wie die Stunden verrannen. Viele tanzten bereits auf der großen, freien Fläche und die Mädchen, die er sonst anders kannte, schienen fröhlich und befreit zu sein. Sie lachten und riefen, hoben die Röcke und klatschten im Takt. Ohne darüber nachzudenken, wandte er sich an Jean und zog bestimmt an dessen Ärmel. „Ich will tanzen!“, bat er mit großen Augen, doch Jean verzog nur die Lippen. „Sei still, du siehst, dass ich mich unterhalte!“, zischte er genervt und schüttelte die Hand des Blonden ab. Traurig sah Yura zu Boden, versuchte es aber noch einmal. „Bitte! Tanz mit mir!“, bettelte er leise, doch Jean schien dies nur wütend zu machen. „Was habe ich dir gerade gesagt!? Sei endlich still oder ich schließe dich oben ein!“ Als der Geschäftsmann sich wieder seinen Gesprächen zugewandt hatte, reichte es dem Blonden endgültig. Beleidigt wandte er sich ab und hielt es nicht für nötig, länger wie eine hübsche Puppe neben Jean zu stehen. Wütend stapfte er zur Bar, setzte sich auf einen der Hocker und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Viktor sah ihn überrascht an, lächelte und fragte ihn vorsichtig: „Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?“ Doch Yura schnaubte nur und schmollte. „Nun komm schon, mir kannst du es sagen. Ich bin hier für alle da.“ Langsam hob der Blonde den Kopf und murmelte: „Mach deinen Job und gib mir einen Gin!“ Noch ehe der Barkeeper antworten konnte, vernahm der Junge eine warme Stimme hinter sich. „Bist du nicht etwas zu jung dafür?“ Ruckartig wandte Yura sich um, fiel dabei fast vom Hocker und fing sich im letzten Moment noch auf. Vor ihm stand ein Mann, nicht sehr groß gewachsen, aber seine Statur strahlte Stärke aus. Ein verschlissener Mantel mit großer Kapuze verbarg sein Gesicht. Yura wusste nicht recht, was gerade in ihm vorging. „Halt dich da raus, ich bin fast 18! Zumindest… in ein paar Monaten! Oder so…!“, keifte der Junge und stemmte die Hände in die Hüften. Die Reaktion entlockte dem Gegenüber nur ein seichtes Lachen. „Du möchtest also tanzen, richtig?“, erklang die warme Stimme erneut. Völlig perplex sah Yura den Fremden an und fragte sich, wie dieser das Gespräch mit Jean wohl mitbekommen konnte. „Ich tanze nicht mit irgendwem und vor allem nicht mit solchen wie dir!“. Verächtlich zeigte er auf die verbrauchte Kleidung. Viktor im Hintergrund musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen. Längst hatte er erkannt, wer vor ihnen stand und erfreute sich  an dem unerwarteten Besuch. Langsam, nahezu vorsichtig zog der Fremde die Kapuze ein Stück nach hinten, sodass sein Gesicht vom Kerzenlicht erhellt wurde. „Schade, dass ich dir nicht genüge. Gold reichte wohl noch nicht?“, scherzte er belustigt über den völlig verschreckten Gesichtsausdruck des Blonden. Dieser sah ihn an, als hätte er den Teufel persönlich vor sich stehen. „Willst du nun tanzen oder nicht?“, fragte Otabek ihn noch einmal eindringlich und hielt ihm seine Hand hin. Yuras Herz klopfte so laut, dass er Angst hatte, jemand anderes könnte es wahrnehmen. Vorsichtig legte er seine dürre Hand in die des anderen. Sie fühlte sich so rau und geschunden an, dass es dem Jungen im ersten Moment schmerzte, ihn vorher so beleidigt zu haben. Doch ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn Otabek zog ihn mit sich zum Tanz. „Ist junge Liebe nicht schön?“, erklang eine fröhliche Stimme neben Viktor an der Bar. Der Reverend hatte sich auf einen Hocker gesetzt und blickte den jungen Männern lächelnd hinterher. Der Barkeeper reichte ihm einen Gin hinüber. „Wem sagst du das, mein Freund, wem sagst du das.“, seufzte er und folgte dem Blick des Priesters.   Yura wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so frei gefühlt hatte. Otabek hatte seine Hand auf der Hüfte des Jungen und hielt mit der anderen die zarten Finger fest. Entgegen jeder Vernunft war es dem Arbeiter egal, ob Jean sie nun sehen würde oder nicht. Er wollte nur eines – nur bei Yura sein. Der Blonde war erstaunt, wie gut der Ältere tanzen konnte und ließ sich nur liebend gerne führen. Die Musik war schnell und abenteuerlustig, wie in einer hitzigen Nacht voller Nähe. Yura erwischte sich bei dem Gedanken, wie sein Gegenüber wohl als Liebhaber wäre, errötete jedoch leicht bei der Vorstellung. Irgendetwas an ihm zog ihn an wie das Licht die Motte. Obwohl es so gefährlich war, wollte sich kein bisschen Vernunft bei ihm einstellen. Der Blonde genoss die Blicke des anderen und konnte schwören, dass es ihm genauso erging.   Yuri atmete schwer und spürte, wie die Anstrengung der Stücke auf ihm lag. Es verging so viel Zeit, dass seine Kehle langsam austrocknete und seine Finger von den Seiten wund waren. Ein Lied, dachte er, sollte es noch sein. Sein Blick schweifte umher und nicht weit von ihm erblickte er den blonden Jungen. Fast verspielte er sich vor Schreck, als ihm gewahr wurde, mit wem dieser gerade tanzte. Ein Blinzeln holte ihn wieder in die Realität zurück. Scheinbar war den Beiden vor ihm gerade die Welt um sie herum egal. Irgendwie erinnerte es ihn an die erste Begegnung mit Viktor. Sie waren sich auf dem Marktplatz ausversehen in die Arme gerannt und hatten sich danach minutenlang nur völlig perplex angestarrt. Sie hatten nichts mehr um sich wahrgenommen, nur ihre Blicke. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er wusste, er musste es einfach tun. Vorsichtig stimmte er ein neues Lied an. Ein ruhiges Lied, das von Liebe, Fernweh, Hoffnung und Sehnsucht handelte. Er sah von der Bühne, wie Otabek Yura näher zu sich zog und seine Arme um den dürren Körper legte. Wenn Yuri sich nicht täuschte, was eigentlich nie passierte, dann hob Yura den Kopf näher zu dem des Älteren. Jeder Ton des Liedes war eindringlich und Yuri war sich sicher, dass er das Richtige getan hatte. Mit tiefer Zufriedenheit beobachtete er, wie Otabek sein Gesicht senkte, den Jungen noch näher an sich zog und… Zu Tode erschreckt verstummte das Geigenspiel, als Yuri panisch ein paar Schritte zurückwich. Ein Glas war zu Bruch gegangen, das Jean an die Wand geworfen hatte und die Stille danach war bedrohlicher denn je. Die Mädchen hielten sich gegenseitig im Arm und verkrochen sich schnell von der Tanzfläche. Sie wussten, dass Jean mehr als gefährlich sein konnte. Die Kunden schauten zwar etwas irritiert, betrachten aber weiterhin neugierig das Schauspiel. Jean schritt langsam durch den Raum, den Blick fest auf sein Eigentum geheftet, das Otabek schützend hinter sich verbarg. Der Arbeiter wusste, er war dumm und unvorsichtig gewesen, doch das sollte Yura nicht abbekommen. „Du!“, zischte der Geschäftsmann wütend. „Lass deine Finger von meinem Eigentum. Du bist nichts weiter als Dreck aus der Gosse! Du bist es nicht wert, auch nur einen Blick auf ihn zu werfen!“ Jeans Kunden johlten vor Belustigung und Hohn. „Geh zur Seite oder ich mache deinem lächerlichen Dasein ein Ende. Verstanden? Geh zurück in das Rattenloch, aus dem du gekommen bist!“ Jeans vorher wütendes Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Fratze. Yura zitterte am ganzen Körper, hatte er doch weniger Angst um sich, als um den Mann, der ihm sein Herz gestohlen hatte. Er drängte sich an dem Arbeiter vorbei zu Jean. „Lass ihn in Ruhe!“, fauchte er kämpferisch, bekam jedoch schnell die Quittung in Form einer Ohrfeige. Fast zeitgleich hatte Otabek den Arm des Geschäftsmannes gepackt, ihn festgehalten und ihm mit der Faust einen treffsicheren Schlag in den Magen versetzt. Während Jean schmerzerfüllt auf die Knie sank, betrachtete der Schwarzhaarige ihn mit Ekel. „Du kannst mich behandeln, wie du willst, aber schlägst du ihn noch einmal, dann Gnade dir Gott!“ Mit einem Fußtritt streckte Otabek seinen Gegenüber gänzlich nieder und Jean jaulte laut auf. Bevor noch mehr passieren würde oder gar jemand noch Partei für den Geschäftsmann ergriff, zog Chris Otabek am Unterarm mit sich. Beide flohen schnellen Fußes und ließen eine perplexe, verstörte Gesellschaft zurück. Yura zitterte noch immer und hielt sich die schmerzende Wange. Ängstlich sah er seinem Liebsten nach, hatte er sich doch nichts mehr gewünscht, als diesen Kuss. Doch er sollte noch lange darauf warten müssen. Kapitel 6: Tränen ----------------- Kapitel 7 Tränen   Regen peitschte gewaltsam gegen die alten Buntglasscheiben, die wie verhöhnende Augen in den Raum starrten. Drinnen knisterte das Feuer im Kamin, zischte und loderte unaufhörlich. Yura saß auf dem Boden vor dem wärmenden Platz und starrte in die orangenen und gelben Flammen. In seinen Gedanken verloren, konnte er die letzten Stunden nicht vergessen. Nachdem Otabek Jean niedergestreckt hatte, musste er um sein Leben laufen. Das wusste der Junge selber und doch schmerzte es ihn, dass sein Liebster ihn einfach zurückgelassen hatte. Alleine mit all den Gedanken, Ängsten und Bedrohungen. Ein Zittern durchfuhr den dürren Blonden und er zog die Beine näher an den Oberkörper. Immer wieder fragte er sich, warum Otabek ihn nicht einfach mitgenommen hatte. Weit fort, weg von diesem Leben. In dem Moment hatte er ihm nur kurz in die Augen gesehen und gewusst, dass er wieder alleine sein würde. Jean hatte sich nach dem Streit zwar schnell wieder aufgerafft und alles heruntergespielt, aber Yura wusste, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Tränen bahnten sich langsam den Weg über die weißen Wangen und Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er kannte diesen Mann doch gar nicht und trotzdem hatte er ihm sein Herz gestohlen. Gedankenverloren hielt der Junge seine Hand zum Feuer hin, besah das Spiel der Flammen um seine Finger und spürte die schmerzhafte Hitze. Ob es wohl mehr wehtun würde als sein Herz? Als die Tür in das Schloss fiel, erschrak Yura entsetzlich und hätte sich fast schwer verbrannt. Keuchend wandte er sich um und hielt die schmerzende Hand. Jean hatte die Kammer betreten und starrte zu ihm nach unten. Als der Blonde keinen Grund sah aufzustehen, kniete der Geschäftsmann sich zu ihm. Langsam strich er über das Halsband mit dem goldenen Anhänger und folgte den langen Bändern bis zur Brust. Sein Blick war undurchdringlich, gierig wie der eines Wolfes, der anzugreifen droht. Yura vergaß fast zu atmen, so sehr ängstigte ihn die unerwartete Nähe. „Warum?“, fragte ihn Jean fast tonlos, während seine Hand weiterhin über die Bänder strich. „Warum bist du so undankbar?“ Mit den Worten ergriff er das Halsband und zog es fest zu, sodass Yura nach Luft schnappte. „Glaubst du wirklich, er liebt dich?  Bist du so dumm? So naiv? Er kann dir nichts geben, was ich nicht auch kann.“ Langsam zog er den Blonden mit den Bändern näher zu sich. „Willst du das? Irgendwo in Armut verrecken?“ Sein Atem war heiß als er Yuras Wange mit den Lippen streifte. „Ich kann dir alles bieten und das weißt du. Eine Position in der Gesellschaft, Geld, Sicherheit. Du bist doch nicht so dumm und schlägst das aus?“ Seine Frage klang wie eine Drohung und Yura wusste, er konnte nur verlieren. Für einen Moment musste der Junge tatsächlich ein erneutes Zittern unterdrücken, doch er wusste, was zu sagen war. „Du kannst meinen Körper brechen, nicht meinen Willen. Du kannst mich haben, aber nie mein Herz. Glaubst du wirklich, ich lasse mich so einfach von dir manipulieren? Tu, was du nicht lassen kannst, aber spar dir deine widerlichen Worte!“ Damit spuckte er dem Geschäftsmann unverhohlen ins Gesicht. Perplex wich er zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. „Du bist eine Wildkatze, aber ich zähme dich schon noch. Scheinbar ist dir nicht bewusst, was deinem armen Otabek droht? Lieb ihn nur, solange er lebt. Es wird nicht lange sein!“ Schwungvoll erhob Jean sich und grinste vielsagend. Verwirrt  strich Yura sich eine Strähne aus dem Gesicht, richtete sich ebenso schnell auf und packte seinen Gegenüber am Handgelenk. „Was soll das heißen?“, schrie er verzweifelt und erhoffte sich eine schnelle Antwort. Jean lachte und schüttelte den Griff ab. „Oh, wusste das Kätzchen etwa nicht, wie krank sein Held ist? Welch Jammer, welch Schmach! Nun bin ich doch der Überbringer schlechter Nachrichten. Nun, meine Blüte, du wirst mich noch anflehen, dir eine Chance zu geben. Das weiß ich!“ Yuras Blick verschwamm augenblicklich vor Tränen, die brennend heiß ihren Weg suchten. Verzweifelt suchte er Halt, fand jedoch nichts und sank schmerzhaft auf die dünnen Knie. Warum nur hatte er ihm nichts gesagt? „Wie egoistisch, nicht wahr? Er stiehlt dir dein Herz und sagt dir nicht einmal, dass er todkrank ist. So wichtig bist du ihm also. Ich kenne ihn nur zu gut. Lass mich dir sagen, wie es ist. Er spielt mit dir, mehr nicht. Du wirst nie Teil seines Lebens sein.“ Jeans Worte durchbohrten Yura wie eine Speerspitze. Hatte er Recht? Wollte Otabek nicht, dass er etwas von ihm wusste? Warum hatte er ihm nicht die Wahrheit gesagt? „Nun weine nicht, meine Blüte! Ich werde dir keinen Grund dazu geben. Vertrau mir und du wirst glücklich sein!“ Otabek hielt sich die schmerzende Brust. Kaum konnte er ausreichend Luft holen, begann der Husten erneut. Seine Lunge fühlte sich an als wäre sie von Nägeln durchbohrt und der kalte Schweiß auf seiner Stirn verriet ihm, dass sich das Fieber wieder eingestellt hatte. Chris brachte eine neue Kanne Tee und sah ihn besorgt an. „Kind, du darfst dich nicht so überanstrengen! Hast du wirklich geglaubt, dass du in dem Zustand ein solches Wegstück rennen könntest? Was hast du dir nur wieder bei allem gedacht. Herr im Himmel, schicke diesem Jungen endlich einen Funken Vernunft!“, maulte er und tupfte dem Arbeiter mit einem nasse Tuch die Stirn ab. Ein entschuldigender Blick war alles, was Otabek erwidern konnte. Der heiße Tee tat gut und er kam langsam wieder zu Kräften. „Musstest du wieder den Helden spielen, ja? Ach, Herr, was hast du mich mit diesem törichten Wicht gestraft!“, tadelte der Reverend weiter. „Gott stellt die Menschen vor viele Aufgaben, aber du, mein Kind, bist lebensmüde.“ Er seufzte und goss Tee nach. Otabek kannte die melodramatischen Anfälle des Priesters zur Genüge und konnte es einfach nicht ernst nehmen. „Father, ich weiß selber, dass es dumm war. Aber… aber diese Augen, diese unglaublichen, starken Augen.“ Er seufzte und sein Blick schweifte ab. „Wie kann ich sie vergessen, wenn sie in mein Herz gesehen haben? Was soll ich nur tun?“ Die Stimme des Arbeiters klang verzweifelt, doch  Chris schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Der Herr hat für uns alle einen Weg, mein Sohn. Und ich habe einen direkten Weg!“ Damit zauberte er einen Bund Schlüssel hervor. „Den wird man hoffentlich nicht zu schnell dort vermissen.“ Otabeks Blick muss unbeschreiblich gewesen sein, denn der Priester musste sofort lauthals lachen. Völlig perplex starrte der Arbeiter auf die Schlüssel. „Nun ruhen wir uns aber erst einmal aus. Wenn der neue Tag anbricht, können wir uns Gedanken machen. Leg dich ruhig in der Kammer hinten schlafen, heute musst du nicht mehr nach Hause laufen.“   Der nächste Tag brachte seichte Sonnenstrahlen, doch die Kälte kroch weiterhin in jede Ritze. Noch schlaftrunken blinzelte Yura und zog die feine Samtdecke enger um sich. Erst langsam wurde ihm gewahr, dass er nicht alleine war. Lange Finger streichelten Strähne für Strähne sein Haar und er traute sich kaum zu atmen. Vorsichtig öffnete er die Augen gänzlich und sah, wie Jean nur kaum bekleidet neben ihm am Bettrand saß.  Verschreckt setzte er sich auf und wich etwas zurück. „Guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Mein Bett scheint dir ja zu gefallen!“, raunte der Geschäftsmann vielsagend. Yura schluckte ängstlich und versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern. Panisch sammelte er jeden Gedankenfetzen, den er finden konnte. „Ich konnte dich doch so traurig nicht dort unten hocken lassen. Hat dir die Nacht in meinem Arm etwa missfallen?“ Langsam konnte der Junge wieder alles zuordnen. Völlig erschöpft hatte er sich an Jeans Brust in den Schlaf geweint. Als könnte sein Gegenüber Gedankenlesen, schmunzelte er. „Keine Sorge, ich habe das nicht ausgenutzt. Hier, ich habe dir ein Frühstück zubereiten lassen.“ Anstatt sich artig zu bedanken, verzog der Junge nur angewidert das Gesicht. „Ich will deine Gunst nicht, lass mich!“, keifte er, doch Jean hob beschwichtigend die Hände. „Wie du willst. Zieh dich an! Wir gehen in die Stadt und kaufen dir etwas Schönes. Klingt das besser?“, versuchte er es noch einmal. Yura wollte wieder protestieren, doch er wusste, dass er keine Wahl hatte. Mit gesenktem Blick nickte er und erhob sich lautlos. Es dauerte nicht lange, da hatte er sich gewaschen, sein Oberhaar am Hinterkopf zusammengebunden und sich angekleidet. Er mochte die Stücke, die Jean ihm stets hinlegte, gerne, aber das würde er nicht zugeben.  So trug er heute eine schwarze Hose mit fliederfarbenem Hemd, den Kragen mit einer schmalen Samtschleife gebunden. Darüber trug der Junge eine schwarze, kurze Weste mit Rückenschnürung aus silbernen Bändern. Während er noch gedankenverloren durch seine Haare strich, legte Jean seine Hände auf die schmalen Schultern. „Du bist wunderschön. Ich weiß, warum ich dich wollte!“, hauchte er ihm unverhohlen ins Ohr. „Und ich bekomme immer, was ich will!“   Die seichten Sonnenstrahlen wärmten kaum, sodass Yura seinen Mantel mit dem Pelzbesatz trug, um nicht bei der Kutschfahrt zu frieren. Jean hielt ihn fest im Arm, während er die Pferde mit der anderen Hand lenkte. Die schwarzen Rösser flogen geradezu durch die Gassen. „Für den nahenden Winter sollten wir die geschlossene Kutsche anspannen lassen oder was denkst du, meine Blüte?“, fragte der Schwarzhaarige ohne wirkliches Interesse an einer Antwort. Darum nickte Yura auch nur kurz, denn ihm war nicht nach einer Konversation zumute. In der Stadt war allerhand los, die Menschen eilten rastlos von einem Geschäft zum anderen. Die industrielle Revolution hatte die Spanne zwischen arm und reich noch deutlich erhöht und die wohlhabenden Familien brachten ihr Geld gerne in die Läden. Als Jean die Pferde ordentlich angebunden hatte und einem Mann wenige Geldstücke für das Aufpassen gegeben hatte, wandte er sich an seine junge Begleitung. „Was wünscht du dir? Ein paar neue Kleider? Schmuck? Sag es mir nur, es soll dir gehören.“ Doch Yuras Blick war gesenkt. Er wollte nichts anderes, als sein geliebtes Goldarmband von Otabek tragen. Nichts auf der weiten Welt könnte dies übertreffen. Jean legte den Kopf schief und seufzte. Dieser Junge würde ihm noch graue Haare bescheren. „Jetzt benimm dich ordentlich und heb den Kopf. Habe ich dir nicht ausreichend Manieren beigebracht?!“, fragte er wütend. Der Blonde hob brav den Kopf, wandte aber die Augen ab. „Nun komm, ich zeige dir etwas!“ Jean nahm ihn fest bei der Hand und zog ihn schmerzhaft hinter sich her. Ein Geschäft nach dem anderen musste der Junge über sich ergehen lassen. Es gab feine Bekleidung, einen neuen Wintermantel, eine goldene Spange für sein Haar. All dies konnte sein Gemüt nicht erhellen. Als sie nach einiger Zeit an einem kleinen Laden vorbeikamen, blieb Yuras Blick daran hängen. Ohne zu fragen, eilte er hinein und Jean folgte ihm mit fragendem Blick. Aus den Regalen drang ein seltsamer Geruch, den Yura nicht kannte. Seine Finger strichen über die Einbände in allen nur erdenklichen Farben. Das Leder fühlte sich hart an und die geprägten Buchstaben zogen ihn in ihren Bann. Ein Buch faszinierte ihn besonders, denn darauf waren Blumen jeder Art geprägt. Die Blüten waren goldverziert und mit feinen Linien umwoben. Jean stand mittlerweile hinter ihm. „Was willst du damit?“, fragte er etwas genervt. „Ich mag es!“, entfuhr es Yura leise, doch Jean lachte laut. „Du kannst ja nicht lesen, warum willst du ein Buch?“ Traurig sah er Jean in die Augen und erhoffte sich dennoch, dass er ihn verstand. „Liest du es mir vor?“, bat er vorsichtig, doch das führte nur zu noch mehr Belustigung. „Sehe ich aus, als wenn ich für solche Kindereien Zeit hätte?“, mahnte ihn der Geschäftsmann und schüttelte den Kopf. Enttäuscht verzog Yura das Gesicht. „Du hast mich gefragt, was ich will und ich will dieses Buch! Stehst du nicht zu deinem Wort?“, fragte er schließlich frech. Dies ließ der Andere nicht auf sich sitzen, entriss ihm das Buch und bezahlte es eilig. Fast angeekelt ließ er es wieder in Yuras Hände gleiten. „Nimm es, aber sei dann endlich dankbar!“, tadelte er. Ein kleines Lächeln stahl sich auf die Lippen des Jungen. Fest umklammerte er den Einband und ließ ihn auch die gesamte Rückfahrt nicht los. Als er endlich wieder in der Kammer war, ließ er sich auf das große Bett sinken und öffnete das Buch. Bedächtig strich er über die erste Seite. Die Buchstaben waren in einem dunklen Goldton gedruckt und schön geschwungen. Vorsichtig versuchte er, das größte Wort ganz oben zu lesen. „G..Ge…“, entfuhr es ihm, doch schon bei dem dritten Buchstaben wusste er nicht weiter. Traurig blätterte er in dem Buch herum, besah die schönen Blütenlithografien und versuchte hin und wieder ein paar Buchstaben zu erkennen. Unwillkürlich fragte er sich, ob Otabek wohl lesen konnte? Bei dem Gedanken an den Mann erhitzen sich seine Wangen wieder und er musste mit den Tränen kämpfen. Ob er ihn jemals wiedersehen würde? Kapitel 7: Poesie ----------------- Kapitel 8 Poesie   Otabek polierte den letzten Altarleuchter, stellte ihn vorsichtig ab und betrachtete seine rauen Hände. Ein leises Seufzen ging über seine Lippen. Was sollte er nur tun? Auf dem Tisch vor ihm lag der Schlüsselbund zu seinem Glück. Oder würde es ihn gar in die Verdammung bringen? Verzweifelt strich er sich die dunklen Haare zurück und legte den Kopf in den Nacken. Der Kirchenraum war nur von wenigen Kerzen erleuchtet und die Schatten des großen Kreuzes fielen auf ihn. Bisher hatte er nie an dem gezweifelt, was er getan hatte. Nichts hatte ihn von seinem Weg abbringen können. Doch nun stand seine ganze Welt Kopf. Langsam ging er auf das von der Decke hängende Kreuz zu und kniete sich auf den harten Steinboden. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“, betete er leise und faltete die Hände. Doch so sehr er sich auch konzentrieren wollte, der bittere Geschmack der Niederlage vergiftete seine Gedanken. Warum war ausgerechnet ihm das Glück vergönnt? Was hatte er der Welt getan, dass er so grausam gestraft wurde. Wütend erhob er sich und seine Augen richteten sich zur Decke. Die Hände zu Fäusten geballt, gab er seinem Frust nach. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, schrie er gen Himmel. „Was habe ich falsch gemacht!? Womit habe ich das verdient!?“ Noch wütender schlug er den kargen Blumenschmuck vom Altar, der in seine Einzelteile zerbarst. „Wieso?! Dir ist es doch völlig egal, wie wir leiden! Jeden verdammten Tag habe ich an dich verschwendet! Und soll ich nun in die Hölle kommen, so mag es mein Schicksal sein!“ Ein Messkelch flog klirrend gegen die schlichte Steinwand. „Hörst du mich!? Bin ich nur ein Staubkorn in deinen Augen, wertlos und nicht mehr als ein Wimpernschlag in deinem Plan!?“ Er stieß kraftvoll mit dem Fuß die kleine Kniebank vor dem Altar um, sodass sie einige Meter flog und das Holz lautstark zerbrach. Atemlos sank er zurück auf die Knie und verbarg das Gesicht mit den Händen. Keine Träne konnte ihren Weg finden, auch wenn es noch so sehr schmerzte. Chris stand im Schatten der alten Säulen und besah seinen Schützling sorgenvoll. Mit jeder Faser seines Körpers konnte er die Zweifel des jungen Arbeiters verstehen. Nachdenklich blickte er zum Kreuz auf und suchte nach den passenden Worten. Doch ehe er sich noch bemerkbar machen konnte, wurde eine der großen Kirchentüren leise geöffnet. Schritte hallten über den Gang und Otabek blickte sich erschrocken um. „Ich wusste, ich würde dich hier finden.“, zischte eine unangenehme Stimme und lachte leise. Der Mann trug einen schweren Ledermantel und eine Eisenkette raschelte in seinen Händen. „Schau an, was verschafft mir das Vergnügen, Georgi? Jean traut sich also selber nicht hierher?“ Otabek ging langsam um den Altar herum und die Stufen zum Gang hinunter. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und erklärte ausschweifend: „Otabek, Otabek, was fühlst du dich doch wichtig! Nein, ich komme nicht deswegen. Ich habe eine Nachricht für dich. Dein Werben ist leider nutzlos, der Junge hat kein Interesse an dir. Du sollst ihn in Ruhe lassen. Er möchte nicht noch einmal von dir belästigt werden.“ Die Eisenkette raschelte unheilvoll. Otabek verzog das Gesicht und verschränkte die Arme vor dem Körper. „So und das hat er dir persönlich gesagt, ja? Deine billigen Tricks kannst du dir sparen.“ Georgi lachte hysterisch, was Otabek ein mehr als ungutes Gefühl im Magen verschaffte. „Nun, ich habe es auf die vernünftige Art versucht. Du lernst wohl nie?“ Mit den Worten stürzte er auf den Arbeiter zu, die Kette als Peitsche gespannt. Etwas unbeholfen wich Otabek aus, fand jedoch keinen Halt und stürzte. Georgi nutzte den Moment und schlug mit dem Eisen aus. Schützend hielt Otabek den Arm vor sein Gesicht, doch nichts berührte ihn. Anstelle dessen klirrten die Ketten auf etwas Metallisches. Perplex besah der Arbeiter die Szene, in der Chris dem Angreifer einen der schweren Altarleuchter entgegengehalten hatte. Der Priester reagierte schnell, zog Georgi kraftvoll zur Seite und wehrte ihn ab. „Otabek, der Stab!“, rief der Reverend nur hastig und zeigte auf den langen Stock, der dem Entzünden der obersten Kerzen diente. Eilig sprang der junge Mann auf, ergriff den Stab und konnte gerade noch einen weiteren Schlag mit der Eisenkette abwehren. Schwungvoll ließ er den Stab kurz kreisen, versetzte seinem Widersachen zwei Stöße in die Rippen und schlug ihm in dem Überraschungsmoment die Beine unter dem Körper weg. Georgi ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden und blieb keuchend liegen. Grinsend drückte Otabek ihm die schwere Stange in die Rippen. „Ich glaube, du bist derjenige, der seine Lektion nicht lernt!“, spottete er amüsiert. „Los, verschwinde, bevor ich es mir anders überlege!“ Georgi ließ es sich nicht zweimal sagen und rannte winselnd wie ein Hund davon. Der junge Arbeiter wandte sich an den Priester: „Ich danke euch, ihr seid mein Schutzengel!“ Der Angesprochene musste grinsen. „Nun, dein Gott hat dich nicht verlassen, mein Sohn!“ Chris musste lachen, als er sah, wie der Andere errötete. „Ihr.. ihr habt meine Worte gehört? Oh…“ Peinlich berührt rieb er sich den Nacken. „Die Kniebank baust du aber wieder zusammen, Kind!“, tadelte der Priester ihn zum Spaß und versuchte, ein ernstes Gesicht aufzusetzen. „Aber das kannst du machen, wenn du wiederkommst!“ Mit diesen Worten drückte er dem Jüngeren die Schlüssel in die Hand. „Geh, aber sei vorsichtig!“   Mila rannte die Treppe hinauf und seufzte laut. Der Saal war bis oben hin voll und ausgerechnet sie musste schon wieder nach diesem Jungen schauen. Warum konnte er nicht einfach einmal gehorchen? Eilig öffnete sie die Tür zur Kammer und erwartete schon wieder eine Schimpftirade, doch Stille schlug ihr entgegen. Besorgt durchschritt sie den Raum und entdeckte eine zusammengerollte Gestalt auf dem großen Bett. „Yura? Ist alles ok?“, fragte sie vorsichtig und das Knäuel bewegte sich. Der Junge schien noch blasser als sonst zu sein. Behutsam setzte sich die Empfangsdame zu ihm und strich ihm über die Wange. „Du glühst ja?! Himmel, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen und getrunken?“, fragte sie erschrocken und besah das noch immer unangerührte Frühstück. Innerlich schimpfte sie auf Jean, dass er sich so wenig um den Jungen kümmerte. Die Augen ihres Gegenübers sahen müde und abgekämpft aus. Mit einem milden Lächeln strich die Rothaarige ein paar Strähnen aus dem feinen Gesicht. „Ich hole eine Schüssel Wasser und ein Tuch für deine Stirn. Dann schäle ich dir ein paar Früchte, keine Widerrede! Victor werde ich nach Tee fragen, irgendwo muss noch ein Kessel sein.“ Yura fehlte die Kraft zum Protestieren, also rollte er sich wieder auf dem Bett ein. Es brauchte nicht lange, da kam Mila mit allem wieder. Der Tee roch bitter und scharf. Vorsichtig setzte sie sich zu dem Jungen und begann, ein paar Früchte mit einem alten Messer zu schälen und in kleine Stücke zu schneiden. „Iss!“, befahl sie sanft. Vorsichtig richtete der Blonde sich auf und aß einige Bissen der süßen Köstlichkeiten. Es schmeckte herrlich und er spürte, wie der Schmerz in seinem Magen nachließ. Auch den Tee musste er in kleinen Schlucken trinken. „Der schmeckt widerlich!“, bemerkte er kühl und streckte die Zunge heraus. „Sei nicht so verzogen. Salbeitee ist das Beste bei Fieber! Die Blätter habe ich immer bei mir verwahrt. Für den Notfall!“ Liebevoll tupfte sie ihm die Stirn und die Wangen mit dem kühlen Tuch ab. Er ließ es geschehen und legte sich wieder in die weichen Kissen. „Du willst uns doch wohl nicht an gebrochenem Herzen sterben? Keine Sorge, ich kümmere mich schon um dich.“ Mit einem Lächeln legte sie sich zu ihm und tupfte weiterhin seine Stirn ab. Yura verstand nicht, warum sie auf einmal so nett zu ihm war, aber er genoss ihre Nähe enorm. Vorsichtig legte er seinen Kopf auf ihren Schoß, während ihre zarten Finger durch seine Haare fuhren. „Ich gebe dir einen Rat. Jeder von uns weiß, wie es ist, wenn man verliebt ist. Aber hier, in dieser Welt, zählt das nicht. Du wirst lernen müssen, ihn zu vergessen.“, raunte sie mahnend. Doch Yura hob den Kopf und protestierte: „Ich will aber mit ihm zusammen sein!“ Sanft drückte sie ihn wieder zurück nach unten und kraulte seinen Kopf. „Du musst es lernen, Yura. Du gehörst Jean und je mehr du ihn wütend machst, desto härter wird dein Leben. Nutze weise, was du hast. Gib ihm das Gefühl, dass du sein bist und die Welt steht dir offen. Mach dich nicht selber unglücklich.“ Yura war so elendig zumute, dass er lieber auf der Stelle eingehen wollte, als diesem Mann hörig zu sein. Doch die Kraft reichte nicht zum Widersprechen. Seine Augen fielen zu und er versank in einen traumlosen Schlaf. Als Mila ihm noch einmal ein frisches Tuch auf die Stirn gelegt hatte, wandte sie sich zum Gehen. Just in dem Moment klickte der Schlüssel in der Tür und sie erwartete Jean, doch da sollte sie eines Besseren belehrt werden. Perplex standen sich in dem Moment Otabek und die Rothaarige gegenüber, nicht wissend, wie sie gerade reagieren sollten. „Du…!“, entfloh es beiden zeitgleich. „Bist du denn nun endgültig lebensmüde?!“, zischte Mila und entdeckte ausgerechnet ihren Schlüsselbund in seinen Händen. „Ich sollte dich direkt an Jean verpfeifen!“, keifte sie leise, doch wandte ihren Blick dann zum Bett. „Aber ich bin nicht herzlos, auch wenn du das von mir denkst.“ Otabek hatte bisher geschwiegen, doch auch nun wusste er nicht recht, was er dazu sagen sollte. „Ich möchte keinen Ärger machen. Bitte, lass mich zu ihm. Nur ein paar Momente!“, bat er und senkte ergeben den Kopf. „Ich flehe dich an!“ Mila wusste, dass sie einen großen Fehler beging und dieser sogar ihr Leben kosten könnte. Doch sie hatte den Jungen in ihr Herz geschlossen. Sie hatte Otabek versprochen, ein Auge auf Jean zu haben, damit sie ungestört waren. Der Arbeiter hatte sich auf den Bettrand gesetzt und nahm sorgenvoll das mittlerweile erhitzte Tuch von der Stirn des Blonden. Ein leises Murren zeigte ihm, dass er wohl noch schlief. „Yura?“, flüsterte er leise, doch der Junge schlief ruhig weiter. Nur hin und wieder zuckte er leicht. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Otabeks Lippen, als er ihn im Schlaf beobachtete. Vorsichtig beugte er sich über ihn und entdeckte neben dem zarten Körper ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Bett lag. Neugierig hob er es an und blätterte darin. Es war ein kunstvoller Gedichtband mit allerlei schönen und melancholischen Worten. An einer Seite blieb sein Blick besonders haften und er las laut vor:   An Ihn    (von Louise Aston) Kann ich lindern dieses Sehnen, Das mich träumend Dir vereint? Dir verhaßt sind diese Thränen, Die der blasse Kummer weint; Die ein Opfer des Geschickes Weint am Grab entschwund'nen Glückes! - »Ihre Todten zu begraben, Laß' die Todten sich bemüh'n! Doch des Lebens reichste Gaben Mögen den Lebend'gen blüh'n.   Ewig soll's im Herzen lenzen, Neue Triebe, neue Kraft! Und mit frischen Blüthenkränzen Schmücke sich die Leidenschaft! Was im Sturm der Zeit verloren, Sei verjüngt und neugeboren! Wenn der Sonne Glanz versunken, Wenn verglüht des Tages Pracht; Steige auf, von Wonne trunken, Gluterfüllte Liebesnacht!«   Otabek musste schlucken, fiel sein Blick doch immer wieder auf den feinen Körper, der ihn so lustvoll anzog. Warum kamen ihm solche Ideen, wo er doch wusste, dass es sich nie erfüllen würde? Noch in seinen Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie sein Liebster erwachte. Völlig verschreckt entwich Yura ein kleiner Schrei, den Otabek mit der Handfläche erstickte. „Psst! Nicht schreien, man könnte uns hören!“, mahnte er ernst, ließ dann aber seine Hand sinken. Der Junge wusste nicht, was er gerade fühlen sollte. Wut, Freude, Sehnsucht, Trauer. Alles ging ihm durch Herz und Kopf. Was ihm blieb, waren Tränen, die unverhohlen seine Wangen entlangrannen. Von den Gefühlen übermannt, schlug er mit den Fäusten gegen Otabeks starken Brustkorb. Fragend ließ der Arbeiter die eher leichten Schläge über sich ergehen. „Ich hasse dich! Ich hasse dich!“, keuchte der Jüngere und sein Gegenüber verstand die Welt nicht mehr. Kapitel 8: Nachtgebet --------------------- Ich entschuldige mich schon einmal im Voraus für den Schluss!   Nachtgebet   Noch immer ließ Otabek eine ganze Schar von Beschimpfungen über sich ergehen. Was genau den Jungen so wütend machte, verstand er allerdings noch immer nicht. Zielsicher ergriff er die beiden schmalen Handgelenke. Ein kurzes, bestimmtes „Stop“ brachte seinen Gegenüber zum Schweigen. „Kannst du mir mal erklären, warum ich hier gerade so wüst von dir beschimpft werde, obwohl ich mein Leben für dich riskiere?“, fragte der Ältere kalt. Yura blickte ihn entgeistert an und schien einen Moment nachdenken zu müssen. Dann fasste er sich wieder und zeterte weiter: „Das fragst du mich!? Du hast mich einfach hier alleine gelassen! Außerdem… belügst du mich!“ Der Schwarzhaarige schaute nun doch recht verdutzt rein und lockerte den Griff. „Ich… bitte was!?“, fragte er ungläubig nach und erhielt prompt die Quittung. „Du wolltest mir ja erst gar nicht sagen, dass du so krank bist! Meinst du wirklich, ich bin nur ein Spielzeug auf Zeit? Ich hasse dich! Ich hasse dich!“ Yura versuchte sich zu befreien, während Otabek noch immer versuchte, sich einen Reim auf alles zu machen. „Warte… woher weißt du das?“, fragte er dann doch irritiert, konnte sich die Antwort allerdings denken. Als Yura nur ein eingeschnapptes Schnauben von sich gab, ergriff er noch einmal das Wort. „Was auch immer er dir erzählt hat, es ist nicht wahr! Ja, ich bin krank, aber ich habe keineswegs vor, diese Welt vorzeitig zu verlassen. Ich mag mir einen anderen Job suchen müssen, aber auch das wird mich nicht umbringen!“, bezeugte er mit Nachdruck und zog den Jungen näher zu sich. „Bist du so wütend, weil du Angst um mich hattest?“, fragte er und drückte die Handgelenke fester. Ein kleines Ächzen kam von Yura und er verzog das Gesicht. „Und wenn schon!“, keifte er und zappelte. Doch was er tat, er konnte seine Handgelenke nicht lösen. Nun musste Otabek doch grinsen. Sein Liebster war also in Sorge um ihn. Der Gedanke gefiel ihm ausnehmend gut. „Grins nicht so blöd!“, schnaubte der Blonde und schaute wirklich wütend drein. So eine Frechheit durfte sich bei ihm niemand erlauben. Das führte allerdings dazu, dass sein Gegenüber nur noch mehr grinsen musste. „Du bist ganz schön frech für einen so hübschen Jungen.“ Völlig aus dem Konzept gebracht, sah Yura ihn an und bekam seinen Mund kaum zu. Noch ehe er wieder protestieren konnte, packte der Ältere ihn und schulterte den zarten Körper. „Ich glaube, du brauchst mal frische Luft!“, bemerkte er nur knapp und ging mit dem zappelnden Jungen zum Fenster. Geschickt öffnete er es und sah hinaus auf den schmalen Sims. „Sollte reichen.“, stellte er eiskalt fest und hob den dürren Körper über die Schulter aus dem Fenster. Ängstlich krallte Yura sich an den Arbeiter, spürte aber tatsächlich den Fenstersims unter sich und fand Halt. „Was machst du mit mir?“, fragte er doch sorgenvoller als erwartet. Otabek grinste wieder. „Ich zeige dir etwas, komm!“ Mit den Worten kletterte er ihm hinterher und fand schnell weitere Abstiegsmöglichkeiten zum Hinterhof hin. Behutsam kletterten sie hinunter, während der Ältere stets auf seinen Freund achtete. Für einen Moment überlegte Otabek, wie er es anstellen sollte, dann trat er auf die Pferde zu, die Jean sorgsam angebunden hatte. Sofort schmiegten sie ihre Köpfe an den Arbeiter, der ihnen liebevoll die Ohren kraulte. Yura sah ihm staunend dabei zu, waren die Tiere bei Jean doch immer ungnädig und wild. Ohne Umschweife band der Ältere eines los, legte das Zaumzeug um und schwang sich auf den Rücken des schwarzen Rosses. „Steig auf!“, befahl er dem Blonden und hielt ihm eine Hand hin. Zögerlich ließ er sich auf das Tier ziehen und klammerte sich fest an den Rücken seines Entführers. Galoppierend preschte das Tier durch die schmalen Gassen und Yura hatte immer wieder schrecklich Angst, dass er fallen könnte. Andererseits genoss er die Nähe zu Otabek, seine Körperwärme und die Stärke, die er ausstrahlte. Es dauerte nicht lange, da hatten sie eine alte Kirche erreicht. Sie sah marode und verlassen aus. „Was wollen wir hier?“, fragte der Jüngere erstaunt. Das ganze Viertel war heruntergekommen und der bittere Geruch von Verfaultem lag in der Luft. Angeekelt hielt Yura sich die Hand vor den Mund, als Otabek vom Pferd stieg und ihm danach half. „Das ist eben nicht deine schöne Kammer mit dem Samtsofa und den vielen feinen Sachen. Das ist die Realität!“ Er band das Pferd sorgsam an. „Komm mit!“, befahl er in einem sanfteren Ton und zog seinen Liebsten mit sich zur Kirche. Zuerst sträubte Yura sich, ließ sich dann aber mitziehen. Vorsichtig erklommen sie die Stufen zum Kirchturm. Man musste gut auspassen, wohin man trat, denn einige Stellen waren so vermodert, dass ein Einstürzen drohte. Als sie das Ende des Turmes erreicht hatten, schob Otabek den dürren Körper zu einem Überstand. Von dort aus konnte man über ganz London sehen. Überall brannten kleine Lichter und von oben sah alles aus, wie ein verwunschenes Gemälde. Yuras Mund stand offen, während er kaum zu atmen wagte. So etwas Beeindruckendes hatte er noch nie gesehen. Er hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie groß die Stadt eigentlich war. Nur Otabek riss ihn aus seinen Gedanken, denn er legte ihm von hinten beide Arme um den Körper und zog ihn sanft an sich. Der Ältere wollte ihm so nah wie möglich sein, genoss den Duft von Flieder und Rosenholz, der von seinem Liebsten ausging. Liebevoll küsste er den Nacken des Jungen und ein Schauer ging durch Yuras schmalen Körper. Noch nie hatte jemand ihn so berührt. Irritiert wandte er sich in der Umarmung um und blickte dem Arbeiter nun direkt in die Augen. Sein Herz raste und kein vernünftiger Gedanke ließ sich in seinem Kopf nieder. Minutenlang starrten sie sich nur an, dann zog der Ältere Yura abermals näher an sich und versiegelte endlich seine Lippen mit den eigenen. Für Beide blieb jedes Zeitgefühl aus, während sie sich zuerst zaghaft, dann leidenschaftlicher küssten. Nach Luft schnappend mussten sie sich schließlich lösen, doch Yura blieb nicht verborgen, wie Otabek ihn ansah. Seine Augen waren strikt auf ihn gerichtet, der Blick verklärt und lustvoll. Yura drückte ihn augenblicklich von sich weg und wandte sich ab. Perplex ließ Otabek ihn gewähren. „Habe ich etwas Falsches getan? Habe ich dich verletzt? Bitte, sag es mir!“, flehte er und kam einen Schritt auf ihn zu. Yura biss sich auf die Unterlippe und verschränkte die dürren Arme vor dem Körper. Die Kälte der Nacht kroch ihm überall hin und ließ ihn zittern. „Du bist genau wie er!“, raunte er leise, doch hörbar. Den Älteren durchfuhr es wie ein Blitz. Was hatte er sich nur dabei gedacht, es so zu überstürzen. „Darum geht es mir nicht! Du bist kein Spielzeug für mich! Ich… habe Gefühle für dich!“, begann der Ältere verzweifelt. „Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich nur deine Augen vor mir. Diesen starken, kämpferischen Blick. Dein Name begleitet mich am Tage und in der Nacht. Wann immer ich in die Sterne sehe, sehe ich das Leuchten deiner Augen. Jede Kerzenflamme scheint deinen  Namen zu wispern. Ich bitte dich, glaube mir!“ Yura spürte, wie sein Herz wieder zu rasen begann. So etwas hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Jean sprach immer nur über seinen Körper, seine Schönheit, seine Haut, seine Lenden. Er hatte Otabek Unrecht getan und es tat ihm von Herzen leid. „Es tut mir Leid!“, murmelte der Junge traurig, hatte er doch den schönen Moment zerstört. Wieder überkam ihn das Zittern durch die Kälte. Ehe er noch den Halt seiner Beine verlor, hatte Otabek beide Arme fest um ihn gelegt. „Du frierst ja! Ich bringe dich zurück nach Hause!“, sagte er mit trauriger Stimme und drückte den zarten Körper an sich. Doch Yura protestierte: „Ich will nicht zurück! Bitte, ich möchte noch bei dir bleiben!“ Sanft küsste der Arbeiter die Stirn seines Liebsten. „Gut, ich nehme dich mit zu mir. Aber nur für ein paar Stunden. Ich möchte nicht, dass du bei Jean in Ungnade fällst.“ Yura passte diese Aussage gar nicht, aber es war besser als nichts.   Otabeks Wohnung war kahl eingerichtet und erstreckte sich über zwei kleine Zimmer mit einem Ofen. Die wenigen Kerzen waren fast hinuntergebrannt und sonst blieb nur der Feuerschein der knisternden Wärmequelle. Der Ältere hatte seinen Freund in einige Wolldecken eingewickelt und hatte sich zu ihm gelegt. Das Bett war lediglich eine Holzpritsche, aber es reichte für sie beide. Sanft streichelte er mit den Fingern den dürren Hals entlang. Er wagte es kaum zu atmen, als seine Hand über die schmale Brust strich und dabei jeden Knopf des Hemdes passierte. Yura beobachtete ihn gespannt dabei. Otabek traute sich nicht, das Hemd zu öffnen. Er hatte Sorge, dass der Blonde ihn sonst wieder für unehrenhaft hielt. Doch überraschenderweise war es eben jener, der sich selber geschickt die Knöpfe öffnete und seinem Liebsten den Blick auf die weiße Haut freigab. Mit stockendem Atem strich Otabek über die Schlüsselbeine, die Brust entlang bis zum Bauch. Belustigt sah der Blonde die roten Wangen des Arbeiters und kam sich auf einmal viel erwachsener vor. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte er keck und schob die Wolldecken etwas beiseite. Verschreckt zog der Ältere die Hand zurück und schaute ziemlich verdutzt. Vorhin hatte der Andere ihn doch nur wegen eines Blickes schon abgewiesen und nun schien er ihn geradezu reizen zu wollen. Er war wirklich wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Yura räkelte sich etwas und strich ein paar Strähnen hinter sein Ohr. „Hast du jetzt deine Stimme verloren?“, neckte er weiter. Doch schnell wurde seine freche Art quittiert und Otabek saß blitzschnell über ihn gebeugt. Etwas irritiert sah der Jüngere zu seinem Liebsten auf. „Ich bin nicht auf deinen Körper aus. Ja, ich kann mich kaum beherrschen, wenn du so bei mir liegst. Und ja, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich zu berühren und zu spüren. Aber…“ Er beugte sich zu ihm herab und küsste ihn sanft. „…das ist nicht, was ich hiermit bezwecken will.“ Yura sah ihn erstaunt an und verstand die Welt nicht mehr. „Ich möchte nur deine Nähe und was noch viel wichtiger ist… deine Liebe!“, bestärkte Otabek seine Position und legte sich zurück neben ihn. Der Jüngere wusste nicht, ob er sich über die Worte freuen sollte, oder aber sauer deswegen war, weil der Andere seinen Körper ausschlug. Unentschlossen setzte er sich auf. „Aber.. warum willst du meinen Körper dann nicht?“, fragte er erstaunt. Otabek holte tief Luft, kämpfte er doch wahrlich mit den Symptomen seiner eigenen Lust. „Weil ich nicht wie Jean bin. Ich will dich kennen lernen, alles über dich wissen. Du sollst nie das Gefühl haben, dass ich dich nur deswegen liebe.“ Yura versuchte, sich das alles zu erklären. In der Welt, in der er lebte, zählten solche Dinge nicht. Trotzdem erwärmte es sein Herz auf eine Art und Weise, wie er es nie für möglich gehalten hätte. War das Liebe? Er hatte dieses Wort schon in so vielen Zusammenhängen gehört, aber nie verstanden. Liebevoll küsste er den Älteren und schmiegte sich an ihn. „Das gefällt mir!“, bemerkte er mit einem seichten Lächeln. Innerlich betete Otabek das fünfte Vater Unser, nur um auf anständige Gedanken zu kommen. Dieser Junge würde ihn eines Tages seinen gesamten Anstand kosten, da war er sich sicher. Doch auch dem Anderen war es nicht entgangen. Belustigt nahm Yura es zum Anlass und ließ seine Hand über die schwere Leinenkleidung gleiten. Otabeks Körper erzitterte unter der ungewohnten Berührung. Für den Jüngeren war es ein Spiel, das er nur zu gerne gewann. Langsam nestelten seine Finger das Hemd auf, strichen über die muskulöse Brust und glitten zu den herausstehenden Hüftknochen. Dabei fuhr seine Zunge kaum merklich über die vollen Lippen. Die Geste war Otabek nicht entgangen und ehe er nur gänzlich den Verstand verlor, ergriff er die Hand des Jüngeren und zog ihn in eine Umarmung. Ihm würde nun vermutlich nicht einmal ein Bad in der Themse helfen.   Die Stunden vergingen, in denen sie sich innig küssten, berührten und aneinander schmiegten. Doch Otabek wusste, dass ihnen die Zeit davon lief. Entgegen seiner eigenen Gefühle musste er seinen Liebsten zurückbringen. Mühsam knöpfte er sein Hemd zu und erhob sich von dem Nachtlager. Yura sah ihn nun wieder wütend an. „Ich gehe nicht zurück!“, protestierte er und setzte sich auf. Doch Otabek wusste, dass es ihr beider Tod sein konnte. „Ich werde mir etwas überlegen, das verspreche ich dir! Aber für heute darfst du keinen Verdacht aufkommen lassen, versprich es mir!“ Otabek strich seinem Liebsten ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Yura wusste, was ihm drohen würde, wenn Jean es erfahren würde und nickte. Gemeinsam bestiegen sie das Pferd und ritten bedeutend langsamer als vorher zurück. Otabek half dem Jungen wieder zum Fenster hinauf, blieb aber auf dem Sims stehen. „Versprich mir, dass du ihm nicht nachgibst. Mein Herz würde zerbrechen, wenn du sein wärst!“, schwor er den Jungen ein und dieser antwortete mit einem innigen Kuss. Ein Lächeln legte sich beim Abschied auf die Lippen der Beiden und Otabek kletterte geschickt hinunter. Noch einmal sah er hinauf zu seinem Yura, der ihn so gefühlvoll beobachtete. Noch ehe er ein „Ich liebe dich“ aussprechen konnte, durchzog ein höllischer Schmerz seinen Körper. Keuchend ging er zu Boden und wurde augenblicklich ohnmächtig. Yura schrie nur erstickt und sah, wie Georgie mit einem langen Eisenstab neben dem Schwarzhaarigen stand. „Schauen wir mal, ob du danach noch aufstehst!“, gab er lachend von sich und besah sich die seltsam verkrümmten Beine des Arbeiters. „Damit kannst du immerhin demnächst betteln gehen!“ Sein Blick ging hinauf zum offenen Fenster. „Entschuldige, mein Kind, aber Jean hatte noch eine Rechnung offen. Wenn du nicht brav bist, breche ich dir gerne auch die Beine!“ Das gellende, schrille Lachen erfüllte die Gasse und Yura sank im Zimmer zusammen. Seine letzte Kraft hatte ihn verlassen. Kapitel 9: Verliere nicht den Mut --------------------------------- Huhuuuu~ Heute muss ich leider einen etwas längeren Kommentar schreiben. Momentan schwanke ich zwischen zwei Handlungssträngen, die unterschiedlich lang sein würden. Da ich schwer einschätzen kann, wie viele diese Geschichte verfolgen, wäre es toll, wenn ihr mir ein kurzes Feedback geben könntet, ob ihr die Geschichte noch in längerer Form verfolgen würdet. Herzlichst     Verliere nicht den Mut     //Was ist passiert? Wieso ist es so dunkel? Wo ist das Licht? Yura? Yura, sprich mit mir! Bitte! Ich weiß, du bist hier irgendwo. Bitte! Wieso kann ich dich nicht finden? Ich höre den Regen an den Kirchenfenstern. Genau so klingt er, wenn er gegen die bunten Scheiben schlägt. Father? Seid ihr hier? War das eine Stimme? Wer bist du? Sprichst du zu mir? Mein Körper… ich will aufstehen, aber ich spüre nichts. Was ist nur? Hilf mir! Yura! Bitte! Diese Stimmen… Worüber sprecht ihr? Ich kann euch nicht verstehen! Mein Kopf schmerzt, die Augen brennen wie Feuer. Mir ist so schwindelig. Bitte, helft mir! Bitte!// Besorgnis, Beunruhigung, Hoffnung, Hilflosigkeit, Anspannung. Mit ernstem Gesicht sahen die Anwesenden immer wieder einander an. „Und es wird funktionieren?“ „Ja, ich kenne ähnliche Fälle bereits aus Paris.“ „Aber es wird nie so wie vorher?“ „Nein, das nicht. Aber es ist ein Anfang!“ Ein Seufzen ging durch die Reihe der Männer. „Das Laudanum wird noch eine Weile den Schmerz unterdrücken, dann wird sich zeigen, ob es gelungen ist.“ Dr. Lee stellte ein Fläschchen auf den Tisch. „Die Dosis sollte so gering wie möglich gehalten werden. Es wird eine lange und schmerzhafte Zeit!“ Reverend Chris massierte sich die schmerzende Stirn und seufzte erneut. Ihm lag mehr an seinem Schützling, als er es gerne zugeben mochte. Ermunternd legte Victor ihm die Hand auf die Schulter. „Es wird alles gut, ganz sicher!“, sagte er mit dennoch besorgter Stimme. Dr. Lee fühlte zum wiederholten Male den Puls seines Patienten. Genervt und gleichzeitig besorgt, schritt Michele die gefühlte hundertste Runde um den Altar, der kurzfristig zum OP-Tisch umfunktioniert wurde. „Wir warten jetzt seit Stunden, dass er aufwacht! Das macht mich verrückt!“, schnaubte der Kunstschmied und rieb sich den Nacken. Der besonnene Arzt ignorierte das Gezeter der Männer gekonnt und kontrollierte die Fäden, die die raue Haut zierten. „Michele, du machst es auch nicht besser!“, mahnte Victor ihn freundlich und versuchte seine eigene Unsicherheit zu überspielen. Es verging eine weitere halbe Stunde mit dem ständigen Fluchen des Schmieds, bis sich schlussendlich etwas regte. Es war nur ein leichtes Zucken der schmalen Lippen, nur eine hauchfeine Bewegung der Finger, aber alle standen gebannt um den Altar herum. Dr. Lee tupfte die Stirn noch einmal vorsichtig ab. „Mister Altin?“, fragte er bestimmt und wartete auf eine Reaktion. Langsam, schwerfällig, öffneten sich die Augen des jungen Arbeiters. Ihm war so schwindelig, dass er Angst hatte, sich jeden Moment erbrechen zu müssen. Sein Körper fühlte sich dumpf und unwirklich an, doch das Kerzenlicht schmerzte so sehr in seinen Augen, dass er leise aufstöhnte. Michele packte ihn unsanft am Arm und rief mehrmals seinen Namen, bis Victor ihn grob wegzog. „Mister Crispino, wenn sie sich nicht zusammenreißen können, dann verlassen sie bitte das Gebäude!“, warnte der Arzt im schärferen Ton. Chris hielt derweil die Hand seines Schützlings. „Otabek? Bitte, sag ein  Wort!“ Seine Augen waren so voll Sorge, dass er wirkte, wie das Lamm auf der Schlachtbank. Das einzige Wort, das Otabek über die Lippen kam, war „Yura“. Der Reverend seufzte wieder laut. „Herr im Himmel! Der Junge bringt mich ins Grab!“ Dennoch lächelte er glücklich darüber, dass Otabek scheinbar ganz der Alte war. Es dauerte noch eine volle Stunde, bis der junge Patient einigermaßen gut ansprechbar war. Das Laudanum schlug ihm immer noch schwer auf den Magen, darum vermied er viel Bewegung. Er hatte sich etwas aufgesetzt und besah sich seine Beine. Nur dumpf konnte er sich an alles erinnern. „Wenn ich ihnen erläutern darf, Mister Altin. Beide Kniescheiben waren zertrümmert, ebenso fand ich schwere Frakturen an den Schienbeinen. Es wäre schlicht unmöglich gewesen, die Knochenteile alleine wieder zusammenzusetzen.“, erklärte Dr. Lee und zeigte auf die jeweiligen Partien. Otabek verstand nicht wirklich, was genau er nun damit meinte und schaute recht fragend. „Nun, wir mussten zur Fixierung der durchtrennten Knochenteile Fremdmaterial benutzen. Leider ist unsere Medizin nicht auf diesem Erforschungsstand, allerdings las ich mehrere Abhandlungen über die Knochenstabilisierung mit Metallen, die erfolgreich in Frankreich durchgeführt wurden.“ Otabek schaute noch immer völlig verwirrt und war sich sicher, dass das Laudanum ihm nicht dabei half, klar zu denken. Aufgekratzt sprang Michele neben den Arzt. „Aber wo findet man den besten Kunstschmied des Landes? Hm? Na, mein Freund, gut, dass du mich hast!“ Der Arzt sah den jungen Hitzkopf etwas genervt an und erklärte dann weiter: „Mister Crispino war so freundlich, die benötigten Stücke passgenau anzufertigen und so war es mir möglich, die Frakturen nahezu perfekt miteinander zu verbinden. Es wird natürlich kein vollends zufriedenstellendes Ergebnis sein und das Laufen müssen sie neu erlernen, aber sie werden zukünftig auf keinerlei Hilfe angewiesen sein.“ Otabek wusste nicht, was er denken sollte. Träumte er gerade all dies? Tränen bahnten ihren Weg über die eingefallenen Wangen. Wut vernebelte seine Gedanken. Seine Freunde hatten ihn gerettet und er konnte gerade nichts, als weinen wie ein Kind? Hastig wischte er die Tränen mit dem Handrücken ab. „Ich… bin euch zu Dank verpflichtet. Ich werde das nie wieder gutmachen können und was noch schlimmer ist… ich kann euch nicht dafür bezahlen.“ Scham erdrückte seine Stimme. Michele schaute beleidigt und tadelte ihn sofort: „Du bist ja verrückt! Du hast so viel für unsere Familie getan!“ Doch Otabeks Blick fiel auf den Arzt. Dr. Lee packte sorgfältig seine Tasche zusammen und wandte sich dann erst um. „Ach, kommen sie erst auf die Beine, Mister Altin. Dann arbeiten sie es einfach im Krankenhaus ab. Ich brauche einen tüchtigen jungen Mann dort, der mir mit den Gerätschaften hilft. Bei Gefallen werde ich mich gerne zu einer Festanstellung hinreißen lassen.“ Dem jungen Arbeiter blieben die Worte im Hals stecken. Hatte er ihm gerade eine neue Arbeitsstelle gegeben? Ihm, der doch nichts weiter war, als ein schmutziger Fabrikarbeiter? „Sie brauchen mir nicht zu danken, ich erwarte sie dann in einigen Tagen zur Nachkontrolle im Krankenhaus!“ Victor konnte schwören, dass er ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht des besonnenen Arztes erkennen konnte, während Otabek immer noch mit offenem Mund dasaß. Die ersten Tage waren mehr als frustrierend. Immer wieder versuchte Otabek alleine nur aufzustehen und fiel auf der Stelle zu Boden. Chris stand im stets zur Seite und half ihm, wo er nur konnte. Doch der junge Arbeiter war so verhärtet in seinem Herzen, dass er niemanden an sich heran ließ. Immer wieder geriet er in Rage über seinen Zustand und wollte am liebsten alles aufgeben, doch der Priester hatte Geduld und hörte ihm einfach zu, während er sich den Schmerz von der Seele sprach. Nach etwas mehr als einer Woche schaffte er es schlussendlich, auf den eigenen Beinen zu stehen. Doch jeder noch so besondere Erfolg schien ihm nichtig und klein. Nachts lag er wach, vom Laudanum betäubt und dachte nur an eines: seinen Yura. Er wollte ihn sehen, ihm sagen, dass er nicht aufgab, ihn umarmen, küssen, nur bei sich haben. Doch Victor hatte es ihm ausgeredet. Er hielt es für besser, wenn Otabek erst zu Kräften käme. Bisweilen würde er auf den Jungen aufpassen. Weitere drei Wochen vergingen, der Winter hatte sich mit aller Härte eingestellt und die Kälte durchzog die alten Gemäuer der Kirche. Otabek war nicht in seine Wohnung zurückgekehrt, denn alleine konnte er die Stufen nicht laufen. Der Reverend hatte ihm einen Platz bei sich angeboten und konnte so jederzeit mit ihm das Laufen üben. Sie verbrachten manchmal Stunden nur mit den Versuchen, ein Bein vor das andere zu stellen. Die Kraft kam mit der Zeit langsam, aber stetig wieder. Es waren nur noch 10 Tage bis Weihnachten und in dem Haus am Ende der Gasse wurde fleißig geschmückt. Mila hatte die Aufgabe übernommen, alles zu dekorieren und scheuchte die Mädchen mit dem Weihnachtsschmuck durch die Zimmer. Victor hatte mit Yuri eine große Tanne im Wald geschlagen und befestigte sie ausreichend mit den Gewichten am Boden. Der Weihnachtsbaum sollte mitten in der großen Halle stehen. Hunderte besonders feine, mundgeblasene Kugeln in zarten Pastellfarben und Gold standen in Kisten bereit. Das goldene Lametta  und die Kerzenaufhänger waren ebenfalls sorgsam vorsortiert. Yuri band mit in der Zwischenzeit Tannenzweige an den Handlauf der langen Treppe und fragte sich, ob diese Arbeit je ein Ende nehmen würde. Erschöpft wischte er sich den Schweiß von der Stirn und band fleißig weiter. Immer wieder schenkte er Victor ein Lächeln, dessen Herz wohl merklich einen großen Sprung machte. Beide freuten sich auf das erste gemeinsame Weihnachtsfest, das sie miteinander verbringen konnten. Nur eine laute Stimme störte die gemütliche Atmosphäre: „Ich will mehr goldene Schleifen! Sind wir hier im Armenhaus?“ Der Besitzer der Stimme rümpfte die Nase und schritt an Yuri vorbei die Treppe hinab. Das blonde Haar glänzte aufgrund der feinen, goldenen Haarspange noch mehr als sonst. Um die zarten Schultern lag ein großer Fellkragen, der mit einer edlen Schließe verbunden war. Victors Blick verdunkelte sich sofort, als er Yura hörte und sah. Sein Magen zog sich zusammen. Seit dem Tage, als der Barkeeper Otabek aus der Gasse gerettet hatte, war der Junge ein anderer Mensch. Tagelang hatte niemand ihn gesehen oder etwas von ihm gehört. Erst nach einiger Zeit war er wieder an Jeans Seite und wirkte stets wie ausgewechselt. Keiner konnte es ihm recht machen und ausgerechnet Jean unterstützte ihn bei seinen Allüren aufs Schärfste. Auch Mila, die gerade eine Kiste mit goldenen Äpfeln und Nüssen brachte, schnaubte genervt. „Verhalte dich nicht ständig wie die Prinzessin des Hauses! Du bist nichts mehr wert als wir!“, fauchte sie und ließ die Kiste geräuschvoll vor seine Füße fallen. Yura verzog verächtlich die Lippen. „An deiner Stelle wäre ich ganz leise! Wenn ich es will, dann kannst du Weihnachten auf der Straße verbringen!“ Ein hämisches Lächeln legte sich auf die zarten Lippen und er tippte mit dem dünnen Finger gegen den Anhänger an seinem Hals. Victor sah besorgt zu Yuri hinauf, der den Blick genauso niedergeschlagen erwiderte. So oft schon hatten beide versucht, das Gespräch mit dem Jungen zu suchen, doch jedes Mal wurden sie eiskalt zurückgewiesen. Der Barkeeper wusste, dass er Otabek nicht mehr lange belügen konnte. Während Yura sich selber daran machte, den Weihnachtsbaum zu schmücken, kam Jean eilig zur großen Eingangstür hinein. Mit allerlei Tüten bepackt, folgte ihm Georgi stets wie ein braver Hund. Fröhlich pfiff der Geschäftsmann ein Weihnachtslied und begrüßte zuerst seinen liebsten Besitz. Mit einem schnellen Kuss auf die Lippen des Jungen, besah er sich den bisherigen Stand des Baumes. „Nun, meinst du nicht, dass noch etwas mehr Platz daran ist?“, fragte er wohlwissend. Yura lehnte sich an ihn und nickte eifrig. „Ja, hast du etwas gekauft? Für mich?“, fragte der Junge neugierig. Mit einem Wink brachte Georgi die Tüten heran. „Schau hinein!“, befahl Jean und grinste erfreut über die Reaktion. Yura kniete sich neben die Einkäufe und wühlte in den Tüten herum. Ein erfreutes Quietschen zeigte Jean, dass er mit Geld eben doch alles erreichen konnte. Eifrig holte der Blonde die Baumanhänger heraus und besah sie sich genau. Es waren feine, handgefertigte Papierfiguren in Katzenform, eine schöner verziert als die andere. Mit einer kindlichen Freude hängte Yura sie alle in den Baum, während der Geschäftsmann selber eine Schachtel aus seiner Jackentasche zog. Kurz öffnete er sie, besah sich den Inhalt und ließ sie dann wieder in der Tasche verschwinden. Weihnachten sollte ein ganz besonderes Fest werden, da war er sich sicher. „Meine Blüte, ich lasse dich dann weiter schmücken, ich habe noch einiges zu erledigen. Ich bin in der Kammer, wenn du mich suchst!“ Mit einem weiteren Kuss verabschiedete er sich in seine Gemächer. Victor musste wirklich jeden Kommentar unterdrücken. Wut stieg immer wieder in ihm auf, wenn er sich dieses Schauspiel ansehen musste. Wenn Otabek wüsste, was hier vor sich ginge, dann würde er wohl an gebrochenem Herzen sterben. Irgendetwas stimmte doch mit Yura nicht und der Barkeeper schwor, dass er es herausfinden würde. Komme, was wolle! „Du scheinst glücklich zu sein.“, bemerkte er trocken und besah den noch immer ambitioniert schmückenden Blonden. Seine Aussage wurde nur mit einem „Mhm!“ quittiert. „Seltsam, wo du dich immer noch sein Armband trägst.“ Die Aussage saß punktgenau und Yura wandte sich wütend zu ihm. „Halt den Mund und nerv mich nicht ständig! Oder willst du auch deinen Job verlieren?“ Eine teure Kugel flog Victor entgegen, der geschickt auswich. Das feine Glas zersprang auf dem Holzboden. Yuri sah von der Treppe zu beiden hinüber und verzog besorgt das Gesicht. Seine Lippen formten ein stilles „Lass es sein“ in Victors Richtung. „Yura, bitte. Hör mir doch nur einen Moment zu!“ Wieder flog eine Glaskugel, dieses Mal war es deutlich knapper an dem Gesicht des Silberhaarigen vorbei. „Ist ja gut, ich habe es verstanden!“, gab dieser schließlich auf. Irgendwie musste er doch an den Jungen herankommen. Vielleicht sollte er einmal mit Chris über alles sprechen, der hatte schließlich fast immer einen guten Rat. Allerdings würden dem die Neuigkeiten wohl auch arge Kopfschmerzen bereiten. Was war nur passiert?   Kapitel 10: Wiedersehen ----------------------- Kapitel 11 Wiedersehen   Nur noch drei Tage trennte das aufgewühlte London von den festlichen Weihnachtstagen. Überall waren die Menschen im Stress und auch im Haus am Ende der Gasse konnte keiner die Vorweihnachtszeit als besonders entspannend bezeichnen. Yuri erneuerte die Seiten seiner Geige und stimmte sie zärtlich für die feinen Weihnachtslieder. Schließlich sollte der erste Weihnachtstag etwas ganz Besonderes werden. Jean hatte ihm zig Mal eingebläut, dass er ja nicht auf die Idee kommen sollte, etwas nicht Traditionelles zu spielen. Viktor durfte derweil mit Mila Ausschau nach den feinsten Gänsen der Stadt halten. Schließlich sollte das alljährliche Weihnachtsfestmahl auch in diesem Jahr wieder alle Kunden überzeugen und die Geldbörsen lockern. Jean ließ sich den Abend selbstverständlich fürstlich bezahlen. Während Yuri leise die ersten Töne von „Once in Royal David's City“ anstimmte, gesellte sich eine zarte Gestalt zu ihm. Er nahm Yura nur aus dem Augenwinkel wahr, doch ließ sich nicht davon beirren. Der Blonde ließ sich lautlos neben ihm nieder und horchte den schönen Klängen der Geige. Mit leicht angewinkeltem Kopf und großen Augen lauschte er. Auch als das Lied verstummte, blieb er still bei dem Kartenspieler sitzen und sah ihn nur neugierig an. Etwas unangenehm war es Yuri schon, dass der Junge ihn so erwartungsvoll anstarrte, also legte er den Bogen erneut an und spielte etwas lauter „O Come All Ye Faithful“. Yuras Augen leuchteten förmlich dabei und ein Lächeln stahl sich auf die zarten Lippen. Dies blieb dem Musiker nicht verborgen und er fragte sich, ob der Blonde wohl etwas mit diesem Liedern verband. Es dauerte eine ganze Zeit und viele weitere Lieder, bis Yuras Aufmerksamkeit schließlich eingefordert wurde. Jean hatte ihn von der Treppe aus gerufen. Eilig lief er zu ihm und Yuri hätte zu gerne gewusst, was die Beiden zu besprechen hatten. Traurig besah er ihre vertrauten Berührungen und musste unweigerlich an Otabek denken. Der junge Arbeiter kämpfte jeden Tag so hart dafür, dass er endlich nur ein paar Schritte sicher laufen konnte. Viktor hatte Yuri gestern mit zur Kirche genommen und er konnte endlich selber mit ihm sprechen. Sorgenvoll hatten sie beim kargen Abendessen mit Chris und ihm zusammengesessen. Dennoch verlor Otabek kein böses Wort, sondern zeigte sich kämpferisch und stark. Yuri freute sich aus tiefstem Herzen, denn auch Viktor machte sich noch immer viele Gedanken. Nach wie vor hatten sie nicht mit ihm über die Situation hier gesprochen. Die Gedanken des Kartenspielers wurden jäh durchbrochen. „Du, Nichtsnutz! Komm her!“, befahl Jean ihm unfreundlich. „Begleite mein Kätzchen in die Stadt, aber wehe, ich höre nachher Klagen!“ Völlig perplex blinzelte Yuri und rückte seine Nickelbrille zurecht. Hatte er gerade richtig gehört? Er sollte Yura in die Stadt begleiten? Das letzte Mal war es ein absolutes Desaster und hatte erst zu all dem geführt, was gerade passierte. Als der Blonde ihm schmerzhaft den Ellbogen in die Seite rammte, japste er kurz und nickte untergeben. „Nimm die Kutsche, die Pferde sind angespannt. Georgi wartet!“, warf ihnen Jean nach, ehe Yura schon seinen Pelzmantel geschnappt hatte und den armen Kartenspieler mit sich zog. Der Weg war nicht sonderlich lang, doch sie verloren kein einziges Wort. Yuri wusste nicht, was er hätte sagen können oder sollen. Sein Gegenüber starrte ohnehin nur in die verschneite Welt außerhalb der Kutsche. Beim Aussteigen traute sich der Schwarzhaarige doch endlich zu fragen: „Was genau sollen wir denn hier?“ Ein paar schneidend-grüne Augen fokussierten ihn sofort. Schon tat dem armen Yuri seine Frage furchtbar leid. Doch er erhielt überraschenderweise eine Antwort. „Ich brauche etwas Feines zum Anziehen für den Weihnachtstag.“, stellte der Junge  tatsächlich wenig erfreut fest. Hier draußen, in der verschneiten und überfüllten Stadt, wirkte Yura auf einmal gar nicht mehr so angepasst, wie in der letzten Zeit. Seine Stimme war kühl, aber nicht mehr herrisch, wie sie alle es mittlerweile gewohnt waren von ihm. Sein leerer Blick wanderte über den Platz, der so festlich geschmückt war, dass jeder nur staunend stehen blieb. Yuri seufzte leise. Sollte er ihn auf Otabek ansprechen? Viktor würde ihn sehr tadeln, würde er den Jungen jetzt wieder verärgern. Vorerst beließ er es also lieber bei einem einfachen Gespräch. „Gut, wo möchtest du hin?“, fragte er mit einem aufmunternden Lächeln. Yura senkte den Blick und atmete tief ein. Die Kälte tat in den Lungen weh, aber sie konnte nicht überdecken, was in ihm vorging. „Können wir… vielleicht… etwas trinken? Eine warme Schokolade?“ Die Stimme des Jungen klang bittend, fast bettelnd. Zu seiner Überraschung musste der Kartenspieler kurz noch mehr Lächeln, stimmte dann aber gerne zu. Sie suchten sich ein nahegelegenes, kleines Wirtshaus und Yura streifte schnell den schweren Mantel ab. Er hasste ihn. Der Duft nach Orangen und Zimt füllte den ganzen Raum. Unweit von ihnen saß ein Mann am Klavier und spielte „The Holly and the Ivy“. Yura liebte diese Lieder, erinnerten sie ihn doch an seinen geliebten Großvater, den er schmerzlich vermisste. Der Kartenspieler bestellte ihnen eilig zwei heiße Getränke und sah seinen Gegenüber dann fragend an. Irgendetwas ging doch in ihm vor? Noch immer schweigend tranken sie die süße, heiße Flüssigkeit, die so angenehm wärmte. „Yuri?“, begann der Junge dann zögerlich. Vorsichtig nestelte er an dem Goldarmband herum, das um sein schmales Handgelenk gebunden war. „Wie geht es ihm?“ Perplex verschluckte sich Yuri an der heißen Schokolade. Hustend klopfte er sich selber auf die Brust. Hatte er gerade wirklich nach Otabek gefragt? Scheinbar schien der Andere seine Frage schon zu bereuen, denn sein Blick ging sofort zu Boden. „Ähm… er…er wird wieder gesund!“, versuchte Yuri die Situation zu retten und erntete große, hoffnungsvolle Augen. Sorgsam begann er, alles zu erzählen, was er wusste. Yura hörte ihm mit geöffnetem Mund zu und man spürte die Anspannung in seinem Körper. Seine Hände zitterten und immer wieder dachte Yuri, er würde Tränen in seinen Augen entdecken. „Du siehst, es wird alles gut. Also… fast..“, endete Yuri mit hochgezogener Augenbraue. Es gab kein Zurück mehr. „Was soll das mit Jean?“, erzürnte er sich doch schlussendlich. Yura wich verschreckt zurück und nun bildeten sich wahrlich Tränen in seinen Augen. Verzweifelt hielt er die Hände vor das Gesicht und schluchzte herzzerreißend. Sofort tat dem Kartenspieler seine scharfe Ansprache leid. „So.. so war das nicht gemeint! Bitte, weine nicht!“, versuchte er den Jungen zu beruhigen. Noch mit gebrochener Stimme gab Yura schlussendlich sein Geheimnis preis: „Ich muss es doch tun. Wenn ich ihm nicht gehorche, dann wird er Otabek etwas antun. Du musst mir schwören, bei allem, was dir heilig ist, dass du das niemanden erzählst! Niemandem!“ Die dürren Hände des Jungen umklammerten Yuris fest. „Bitte! Mein Herz würde sterben, wenn ihm etwas zustoßen würde! Lieber bin ich von ihm getrennt, aber ich weiß, dass es ihm gut geht!“, flehte er noch immer unter Tränen. Yuri hatte keine Wahl. Er konnte ihn nicht hintergehen. Mit einem langen Seufzen versprach er ihm, sein Geheimnis zu hüten. Noch lange saßen sie gemeinsam im Wirtshaus und sprachen über Otabek, denn Yura wollte alles genau wissen. Schließlich erinnerte die Dämmerung sie daran, dass sie eigentlich eine andere Aufgabe hatten. Eilig verließen sie die warme Stube und merkten, dass noch immer ein reges Gedrängel vor den Geschäften herrschte. Genervt bahnte Yura sich den Weg zu einem seiner liebsten Schneider. Kurz vor dessen Laden herrschte an einem anderen Schaufenster ein enormes Treiben. Familien mit Kindern drückten sich die Nasen an der Scheibe platt. Der große Spielwarenladen war so herrlich geschmückt, dass auch die beiden jungen Männer kurz stehen blieben. In Hülle und Fülle waren Teddybären, Porzellanpuppen und viele Blechspielzeuge ausgestellt. Das Kerzenlicht glitzerte dazwischen wie kleine Feenkugeln. Es war beeindruckend für Yura, all die glücklichen Familien zu sehen, die mit ihren Kindern dort einkauften oder nur bedächtig die vielen teuren Stücke besahen. Unweigerlich stellte er sich vor, wie es wäre, eine Familie zu haben. Peinlich berührt von seinen Gedanken errötete er und wollte schon weitereilen, da rannte er fast jemandem in die Arme. Yuri quietschte erschrocken. „Mein Sohn! So schnell sieht man sich wieder!“, erklang die gewohnt fröhliche Stimme. Dabei ignorierte der Reverend gekonnt Yura, der einen Schritt zur Seite gesprungen war und begrüßte den Kartenspieler, der sich von dem Schreck zu erholen schien. „Oh, Father! Guten Abend! Wir… wollten nur noch schnell zum Schneider.“, versuchte Yuri ein ausschweifenderes Gespräch zu verhindern. „Aber, aber! Was ist denn das für eine Begrüßung! Wenn ihr beim Schneider ward, kommt doch wenigstens einen armen und einsamen Kirchenmann besuchen. Almosen nehmen wir übrigens gerne von den feinen Herrschaften für die armen Kinder!“ Sein Blick blieb auf Yura hängen, der nur die Lippen verzog und eilig den Weg zum Schneider suchte. Der Kartenspieler hingegen blieb bei dem Priester stehen. Ein vielsagender Blick des Reverends brachte  ihn in Bedrängnis. „Ich… ich kann ihn dazu nicht überreden! Bitte, versteht es. Richtet Otabek bitte meine Grüße aus, aber manche Dinge liegen nicht in unserer Macht.“ Yuri wollte dem Jungen in das Geschäft folgen, doch Chris hielt ihn am Arm fest. „Dann sorg dafür, dass es in eurer Macht steht!“, befahl er trocken. „Was soll ich Otabek sagen?! Soll ich ihm sagen, dass er sein ganzes Leben für Nichts geopfert hat?!“, setzte er wütend nach. Yuri begann zu zittern, wusste er doch nicht, was er tun sollte. Schließlich hatte er dem Jungen versprochen, sein Geheimnis zu wahren. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. „Bitte, ich kann nicht, wirklich! Es ist besser so!“, bettelte er und wollte sich losreißen, doch der Griff des Priesters war ungnädig. „Dann soll er es ihm gefälligst selber sagen!“, raunte Chris ungeduldig. „Was soll wer wem selber sagen?“, erklang eine ruhige Stimme hinter ihnen und beide schreckten auf. Otabek stand, vorsichtig auf eine Krücke gestützt, nicht weit von ihnen. „Ich dachte, wir sollten nur schnell die Einkäufe erledigen?“, fragte er irritiert, als er auch Yuri sah. Chris ließ den Kartenspieler los und räusperte sich. Noch ehe einer der Beiden ein Wort sagen konnte, war Yura mit seiner Bestellung fertig und eilte aus dem Laden. Perplex blieb er neben Yuri stehen und brachte nur einen erschreckten Ton heraus. Otabek stand nur wenige Meter vor ihm und starrte ihn genauso entsetzt an. Der Reverend durchbrach die Stille: „Ich sagte nur gerade zu Yuri, dass dein Liebster dir bestimmt gerne selber sagen möchte, warum du nichts von ihm gehört hast!“ Der Kartenspieler verbarg resigniert das Gesicht in den Händen. Warum zog er das Pech nur jedes Mal an? Otabek betrachtete Yura skeptisch. Er sah fein angezogen aus, die goldene Spange reflektierte das Kerzenlicht der Schaufenster und seine ganze Erscheinung kam ihm so fremd vor. War das wirklich der Junge, für den er alles gegeben hatte? Die Kälte, die von ihm ausging, ließ ihn erschaudern. Er musste wissen, was passiert war! „Auf ein Wort!“, befahl er nur knapp und deutete zur Kirche hin. Yura wusste, dass egal, was er ihm jetzt an den Kopf werfen würde, er würde es als Lüge erkennen. Folgsam begleitete er die anderen zum großen Gebäude. Chris und Yuri zogen sich in die Kirchenstube zurück, während Otabek Yura den Weg zur Kammer wies: „Setz dich!“ Als der Junge jedoch keine Anstalten machte, wurde der Ton schärfer. „Ich sagte, setz dich!“ Langsam ließ Yura sich auf einen Stuhl sinken, streifte den Pelzmantel ab und sah zu Boden. Mühsam ließ sich Otabek auf dem Lager nieder. „Es tut mir Leid, dass du mich so sehen musst.“, begann er dann zögerlicher, doch Yura hob protestierend den Kopf. „Sag nicht so etwas!“, platzte es aus ihm heraus. Überrascht wartete der junge Arbeiter, ob sein Gegenüber von sich aus weiterspräche, doch er senkte wieder den Kopf. „Nun, gut. Wirst du mir jetzt endlich sagen, warum ich nicht ein Wort von dir gehört habe? Hat Jean dir wehgetan? Was ist passiert?“ Er griff nach dem Kinn des Jungen und hob das zarte Gesicht an. „Yura,  bitte! Sprich mit mir!“ Doch der Junge wusste, er durfte nicht nachgeben. „Lass mich bitte in Ruhe.“, presste er unter Tränen hervor. Perplex starrte Otabek ihn an. „Ich möchte dich nicht mehr sehen! Jean ist der Mann an meiner Seite und ich…“ Seine Stimme brach. Zitternd rang er um Fassung. „Ich möchte einen Mann, der mir etwas bieten kann und der mich mit zu Gesellschaften nimmt. Ich möchte nicht hungern müssen oder so hausen.“ Otabek blinzelte ein paar Mal. Zu Yuras völligem Erstaunen brach er in Gelächter aus, das er schon mit der Hand unterdrücken musste. „Herrje, du bist der schlechteste Schauspieler, den ich je gesehen habe! Also damit machst du keine Karriere!“, brachte Otabek gerade so hervor. Beleidigt über diese enorme Belustigung verzog Yura das Gesicht. „Ich hasse dich!“, fauchte er und erntete nur noch mehr Gelächter. „Nein, mein Herz, das tust du nicht!“ Damit beugte sich der Schwarzhaarige nach vorne, zog den Blonden kraftvoll zu sich auf das Lager und küsste ihn voller Zuneigung. Zuerst wehrte sich Yura mit Händen und Füßen, aber der Kuss war zu schön, um sich ihm nicht hinzugeben. Schwer atmend lösten sie sich nach ein paar Minuten und schauten einander still an. Otabek hatte Recht. Yura konnte nicht ohne ihn leben. Jede Faser seines Körpers zeigte es ihm. „Du musst mich gehen lassen! Bitte! Jean wird dir etwas antun!“ Langsam begriff der Arbeiter, was seinen Liebsten so quälte. „Jean hat dir gedroht, nicht wahr?“, fragte er eindringlich und Yura nickte bedrückt. Sanft zog er den Jungen wieder in einen Kuss. „Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde. Aber du darfst mir nicht verbieten, dich zu sehen. Das würde mein Herz nicht aushalten!“ Gerade als Yura antworten wollte, hörte er Yuris Stimme nach ihm rufen. Er hatte völlig die Zeit vergessen und nun würden sie beide sicherlich eine Menge Ärger von Jean bekommen. Hastig sprang der Blonde von dem Lager, gab Otabek noch einen letzten Kuss und stürmte zum Kirchenraum. „Ich gebe dich nicht auf…!“, flüsterte der Arbeiter und ließ sich erschöpft zurück in die Decken sinken. Kapitel 11: Stille Nacht, Heilige Nacht --------------------------------------- Kapitel 12 Stille Nacht, Heilige Nacht   //We three kings of Orient are; bearing gifts we traverse afar, field and fountain, moor and mountain, following yonder star.   O star of wonder, star of night, star with royal beauty bright, westward leading, still proceeding, guide us to thy perfect light.//   Yura sang leise vor dem Spiegel sein liebstes Weihnachtslied und kämmte das glänzende Haar. Jean hatte ihm ein teures Öl geschenkt, das die engelsgleichen Wellen aus fließendem Gold noch mehr zum Strahlen brachte. Immer wieder durchbrachen die Drahtzacken den schimmernden Fluss und gedankenverloren starrte sein Spiegelbild ihn an.   // Born a King on Bethlehem’s plain gold I bring to crown him again, King forever, ceasing never, over us all to reign.//   Erst spät bemerkte er, wie eine Hand sich vorsichtig auf seine Schulter legte. Zuerst rechnete er mit Jean, der in letzter Zeit bedrohlich oft seine Nähe suchte, doch er konnte erleichtert aufatmen. Mila stand hinter ihm und strich mit den langen Fingernägeln durch seine Haare. „Du siehst schön aus!“, flüsterte sie und lächelte sanft. In den letzten Tagen waren beide wieder besser aufeinander zu sprechen gewesen, nicht zuletzt, da Yura sich ihr gegenüber fortan mit mehr Respekt verhalten hatte. Seit dem Wiedersehen mit Otabek war das Herz des Jungen erfüllt von tiefer Zufriedenheit und einer Ruhe, die er noch die verspürt hatte. „Weißt du, was noch fehlt?“, holte ihn die Rothaarige aus seinen Gedanken. Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Ich flechte dir die Strähnen hier hoch und dann würde dir ein schöner Ohrring sehr stehen.“ Etwas irritiert legte Yura den Kopf schief. Er hatte Mila immer bewundert für die schönen Stücke, die sie stets trug. Allerdings war er nie auf die Idee gekommen, dass ihm so etwas auch stehen würde. „Wie willst du das denn machen?“, fragte er, schwankend zwischen Neugierde und Sorge. Lachend flocht ihm seine schöne Gesprächspartnerin ein paar Strähnen auf der linken Seite über das Ohr und befestigte alles sorgsam mit einer kleinen Spange. „Ach, das tut nicht weh! Versprochen! Lass mich mal machen!“ Geschickt griff sie in eine der Schreibtischschubladen, holte ein kleines Nähkästchen heraus und suchte nach der passenden Nadel. Ängstlich weiteten sich die Augen des Jungen und er sprang auf. „Damit kommst du mir nicht zu nahe! Ich meine es ernst, Finger weg!“, fauchte er und stolperte noch ein paar Schritte zurück. „Komm schon, du willst doch schön aussehen! Morgen ist Heilig Abend und am ersten Weihnachtstag haben wir viel einflussreichen Besuch. Nun zier dich nicht! Hinsetzen!“, lachte Mila zuerst, wurde dann aber ernster und zeigte mit dem Finger auf den Platz am Spiegel. Noch immer blieb Yura ein ganzes Stück von ihr entfernt. „Vergiss es! Niemals!“, kam von ihm nur genauso ernst zurück. Mila lachte wieder und spielte dann ihren Trumpf. „Ich bin mir sicher, dein Otabek wird dich noch schöner finden.“, schnurrte sie und hielt die Nadel vorsorglich schon einmal in die Kerzenflamme. Die Worte hallten immer wieder in Yuras Kopf. Ob sie Recht hatte? Sie wusste, wie man jeden Mann verführt und war es nicht das, was er auch wollte? Otabek sollte nur Augen für ihn haben. Langsam und tief atmend schlich er zurück zu dem Platz. Wie schlimm konnte es schon werden? Viktor goss vorsichtig das Wasser in die Ginflaschen zum Strecken und musste dabei sehr genau aufpassen, um nichts zu verschütten. Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Halle, die Wasserflasche rutschte ab, der Gin lief über und zu allem Unglück war die ganze, frischgeputzte Bar wieder bekleckert. Völlig perplex starrte der Barkeeper zu Yuri, der beinahe vor Schreck alle Karten fallen ließ, die er kunstvoll in den Händen mischte. Alarmiert stürmten beide nach oben, denn sie befürchteten das Schlimmste. Nun standen sie dort, in Jean Gemach, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ein Schwein am Fenster vorbeigeflogen. Yura hockte in einer Ecke, quietsche noch immer und weinte bittere Tränen, während er sein Ohr hielt. Mila verdrehte die Augen und zog entschuldigend beide Schultern hoch. „Soooo schlimm tut es nun auch nicht weh!“, erklärte sie und hielt die blutige Nadel hoch. Yuri musste erst nur schlucken, doch der Anblick von Blut ließ ihn kreidebleich anlaufen. Viktor jedoch brach in schallendes Gelächter aus. Er kannte Mila und ihre Methoden zu gut.   Es brauchte eine gute halbe Stunde, bis Yura sich soweit beruhigt hatte, dass er nicht jeden sofort anfiel. Noch immer mit schmerzerfülltem Gesicht, ließ er sich einen schimmernden Perlenohrring von Mila einsetzen. „Nun komm schon, schau nicht so verbittert! Du bist wunderschön!“ Mila hob das Kinn des Jungen an, sodass er sich direkt im Spiegel anschauen musste. Zu seiner Verwunderung hatte sie Recht. Das geflochtene Haar wirkte wie ein Rahmen für den zierlichen Schmuck. Mit einem erfreuten Blick wandte sich die Rothaarige an Viktor. „Ich glaube, du kannst es ihm jetzt sagen.“ Perplex wandte Yura sich um und brachte nur ein atemloses „Was!?“ hervor. Viktor kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. „Nun… Jean besucht jedes Jahr an Heilig Abend seine große Familie. Allerdings musst du dir keine Hoffnung machen, dass er dich mitnehmen möchte.“ Sein Gegenüber schien nicht zu begreifen. „Wir haben auch alle unseren freien Abend. Jean hatte Sorge, dass du hier alleine bist. Wir konnten ihm aber versichern, dass wir dennoch eine geeignete Betreuung für dich haben.“ Lachend zeigte der Barkeeper auf sich und Yuri. Noch immer verstand der Junge nicht, was genau man von ihm wollte. „Dummerchen!“, seufzte Mila. „Du wirst uns zum Essen begleiten. Wir alle haben keine Familie, aber wir haben uns. Darum treffen wir alle Freunde zum großen Essen in der Kirche. Der Reverend lädt ein.“, erläuterte Yuri freundlicherweise. Mila verdrehte die Augen, denn sie teilte die Sympathie für den Geistlichen nicht. Sie würde wie immer mit den anderen Mädchen zusammen im Pub feiern. Yura erhob sich rasch und packte Yuri mit geweiteten Augen am Kragen. „Ich darf mit?“, keuchte er und konnte sein Glück kaum fassen. Vorsichtig löste Viktor den Griff der zarten Hände an seinem Liebsten. „Nun mal langsam. Jean ist nicht dumm! Georgi wird dich nicht unbeobachtet lassen. Allerdings darf er dir auch nicht in die Kammer folgen. Du wirst ihm glaubhaft machen müssen, dass du dich mit Kopfschmerzen zurückziehen möchtest und dann sorgsam abschließen. Den Weg aus dem Fenster kennst du. Georgi trinkt sehr gerne mal einen über den Durst und ich werde mich persönlich um einen schönen Trunk für ihn kümmern. Das sollte uns einen ruhigen Abend verschaffen.“ Der Silberhaarige grinste verschmitzt. „Mann, so eine Nummer hätte ich dir gar nicht zugetraut.“, gab Yura kleinlaut zu. Doch in seinem Inneren brannte schon die irre Freude des Wiedersehens. Was sollte er anziehen? Würde er Otabek gefallen? Würde er ihn wieder küssen? Mila schien seine Gedanken zu lesen. „Keine Sorge, ich nehme mir morgen viel Zeit für dich. Aber nun ist es spät und Jean wird bald nach Hause kommen. Sei brav und lass dir nichts anmerken.“ Damit schob sie ihn Richtung Bett. Schnell verabschiedeten sich seine Verbündeten und er ließ sich auf die weichen Samtlaken sinken. Jean würde sicher bald hier sein und er wollte sich lieber schlafend stellen. So konnte er sich zumindest einen Moment vor den Avancen des stürmischen Geschäftsmannes schützen. Aller Hoffnung zum Trotz wusste er jedoch, dass er irgendwann nicht mehr ausweichen konnte. Doch dieser Tag sollte ihn jetzt nicht ängstigen. Er konnte nur an den morgigen Abend denken und an seinen Otabek. Schlaftrunken kuschelte er sich in die vielen Kissen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.   Zu Yuras Überraschung wachte er am Morgen alleine auf. Jeans Mantel lag auf dem Sofa und seine gepackte Tasche stand neben dem Schreibtisch, doch er selber schien bereits in der Halle zu sein. Müde rieb der Blonde sich die Augen und streckte sich ausgiebig. Die Freude in ihm flammte erneut auf, als ihm bewusst wurde, dass es nur wenige Stunden bis zu dem Wiedersehen waren.  Beflügelt sprang er aus dem Bett und suchte ein paar Sachen zusammen. Mila würde ihm später ohnehin helfen. Achtlos band er die Haare zurück, schlüpfte in eine schlichte Hose und warf sich ein einfaches Hemd über. Nichts sollte Jeans Misstrauen wecken. Eilig und mit nackten Füßen rannte er aus der Kammer und die Treppe hinunter. Wie er es geahnt hatte, stand Jean unten und gab seinen Angestellten letzte Anweisungen. „Ich bin morgen in aller Frühe wieder zurück. Bis zum großen Abendessen haben wir dann ausreichend Zeit. Geschmückt ist alles, die Gänse sind bestellt und das Haus geputzt.“ Sein Blick fiel auf Yura, der sich ihm langsam näherte. Ein erstes Lächeln wich einer hochgezogenen Augenbraue. „Wie siehst du heute Morgen schon wieder aus?“ Jean schüttelte den Kopf. Dann bemerkte er den neuen Schmuck an seinem Eigentum. „Mila!? Das ist doch dein Werk!“, fauchte er die rothaarige Schönheit an. Yura wollte gerade protestieren, doch er wurde grob von Jean an der Schulter gepackt. „Leg das ab! Du siehst ordinär und billig aus! Geh hoch und mach dich fertig!“ Mit einem groben Stoß schubste er Yura zur Treppe hin. Mila warf ihm noch einen entschuldigenden Blick nach, ehe er in der Kammer verschwand. Was genau wollte Jean denn jetzt noch von ihm? Wütend trat er die Reisetasche des Geschäftsmannes zur Seite. Doch noch ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, war sein Herr ihm in das Zimmer gefolgt. „Was bildest du dir eigentlich ein?“, schrie er ihn an und ließ kein Ausweichen zu. Yura begann zu zittern und hielt  vorsorglich die Arme schützend vor sich. Doch Jean schlug ihn nicht, er stand einfach vor ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam entspannte der Junge sich und fasste etwas Mut. „Sie hat es gut gemeint. Es… es sollte dir nur gefallen. Bitte entschuldige!“, log er mit unschuldiger Miene. Jeans Grinsen kehrte zurück und Yura atmete erleichtert ein. „Nun gut, wenn es dir gefällt, dann will ich mal nicht so sein! Aber morgen erwarte ich eine ordentliche Erscheinung, denn meine Kunden sind hochrangige Richter, Geschäftsleute und Fabrikbesitzer. Da möchte ich nicht, dass du aussiehst, wie eine dahergelaufene Hure, verstanden?“ Jeans Worte verletzten den Jungen zutiefst, doch er nickte ergeben. Es würde der Tag kommen, an dem er ihn für all das zur Rechenschaft zog. Darauf würde er warten. „Möchtest du dann meine Kleidung wählen? Nicht, dass ich dich wieder verärgere. Ich werde morgen früh hier auf dich warten.“, flüsterte er leise und senkte den Kopf. „So ist es brav! Sei lieb und benimm dich heute Abend, ich möchte keine Klagen von Georgi hören. Bis morgen, meine Blüte!“ Gewaltsam drückte er dem Blonden einen Kuss auf die Lippen, nahm seine Tasche sowie den Mantel und verschwand eilig. Nur wenige Sekunden nachdem Yura alleine war, verzog er angeekelt das Gesicht. „Du wirst sehen, wie brav ich sein kann.“, sprach er zu sich selber und schob noch ein verächtliches „Bei einem anderen Mann!“ hinterher. Nun wollte er sich aber nicht die Vorfreude nehmen lassen und zog hoffnungsvoll diverse Kleidungsstücke aus dem Schrank. Dabei fiel sein Blick auf die neuen Stücke, die er extra beim Schneider in Auftrag gegeben hatte. Sie waren sorgsam mit einem Leinenbeutel umspannt. Jean hatte sie ihm für den morgigen Abend gekauft. Eigentlich wäre es doch zu schade, wenn sie nur dafür dienen würden?   Über den Tag hinweg ließ sich Georgi immer mal bei Yura blicken, klopfte fest gegen die Tür und erwartete, dass der Junge öffnete. Pflichtbewusst tat er es, versuchte jedoch mit jedem Mal wehleidiger zu schauen und immer mal eine Bemerkung über seine beginnenden Kopfschmerzen zu machen. Dem Wächter erschien das wohl plausibel genug, um ihm etwas mehr Ruhe zu gönnen. Mila jedenfalls kam wie versprochen gegen Abend und begann beherzt, das goldene Haar zu entwirren und in feine Strähnen zu legen. „Möchtest du es offen tragen? Oder soll ich dir das Oberhaar flechten?“, fragte sie neugierig und hielt probeweise ein paar Strähnen nach hinten. Yura überlegte angestrengt. „Ein paar Strähnen sind ok, der Rest soll so bleiben.“, entschied er nach einer halben Ewigkeit. „Zeigst du mir, was du anziehen möchtest?“, wollte die Rothaarige wissen, als sie mit ihrem Werk zufrieden war. Etwas verlegen zeigte Yura auf den Leinensack. Ganz vorsichtig öffnete Mila die Bänder daran und bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Unter dem groben Stoff verbarg sich eine dunkelrot schimmernde Samtjacke mit zwei goldenen Knopfreihen und verschiedenen Ornamenten. „Das ist ja unglaublich schön!“, hauchte sie verliebt und strich über das weiche Material. Etwas verlegen rieb sich Yura den Nacken und seufzte. „Soll ich es anziehen?“, fragte er unentschlossen und erntete nur ein heftiges Nicken. Nachdem Mila noch eine passende schwarze Hose und ein ebenso dunkles Hemd aus dem Schrank gesucht und er alles angezogen hatte, zupfte sie an dem Jungen herum, wie an einer Puppe. „Du siehst umwerfend aus, prächtig, wunderschön!“, zählte sie verträumt auf und konnte sich eine hastige Umarmung nicht verkneifen. „Du wirst ihm so gut gefallen, das verspreche ich dir!“ Yuras Blick erhellte sich noch mehr und er wollte ihr antworten, doch vor der Tür gab es einen dumpfen Aufprall. Irritiert sahen beide sich an und beschlossen nachzusehen. Vorsichtig öffnete Mila die Tür und musste sich ein Lachen verkneifen. Georgi lag laut schnarchend auf dem Flur und schien ziemlich weggetreten zu sein. Viktor hatte also sein Wort gehalten. „Nun aber husch, husch! Schließ die Tür von innen zu und dann klettere hinaus. Sonst kommst du noch zu spät.“ Mit einem Arm wurde Yura von ihr zurück in die Kammer geschoben und konnte gerade noch ein schnelles „Ich danke dir!“ zurückwerfen, da wurde die Tür schon zugezogen. Mit klopfendem Herzen schloss er zweimal ab und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Heute Abend würde er einmal frei sein können, auch wenn es nur für den Moment war.   Flink kletterte er hinab und freute sich, dass Viktor und Yuri bereits auf ihn warteten. Jedoch standen sie neben nur einem Pferd. Selbst Yura war klar, dass dies nicht funktionieren würde. Bevor er noch fragen konnte, hörte er das Klappern von Hufen auf den unebenen Pflastersteinen. Viktor konnte sich mal wieder das Grinsen nicht verkneifen, half Yuri auf das Pferd und sprang selber hinter ihm auf. In der Dunkelheit der Gasse konnte Yura kaum etwas erkennen, spürte jedoch, wie er an der Taille hochgezogen wurde. Das schwarze Pferd schnaubte laut und stieg etwas, doch eine feste Umarmung hielt den Jungen. Er kannte dieses Gefühl genau und lehnte sich sachte nach hinten. „Otabek…“, hauchte er glücklich und schmiegte die Wange an die Brust. Während des Rittes verloren die Männer kein Wort, denn jeder war froh, dass er bei den eiskalten Temperaturen schnell ins Warme konnte. Der Schnee fiel noch immer unaufhaltsam und peitschte wie Nadelstiche in die Gesichter. Rasch brachten sie die Tiere in einen Unterstand, damit auch sie nicht unter dem Wetter leiden mussten. Yura war überrascht, wie gut Otabek mittlerweile zurechtkam, dennoch sah er ihm die große Anstrengung an. Vorsichtig stützte er ihn beim Gehen, damit er etwas entlastet wurde. „Ich danke dir!“, hauchte der Arbeiter ihm einen Kuss auf die Stirn. In der Kirche duftete es herrlich nach Lorbeeren und Orangen, während die vielen Kerzen ein festliches Licht ausstrahlten. So etwas Schönes hatte Yura noch nie gesehen. Die große Halle wirkte wie ein Festsaal angesichts des langen Tisches mit dem herrlichen Naturschmuck. Tannenzweige und Zapfen waren als Tischschmuck gebunden und wie ein Läufer in der Mitte der Tafel angeordnet. Dazwischen lagen feine Äpfel in Goldpapier gewickelt und waren mit Strohsternen vollendet. Otabek hatte Yuras staunendes Gesicht bemerkt und lächelte gütig. „Es gefällt dir also?“, fragte er vorsichtig und stützte sich auf einer der Bänke ab. Noch ehe der Junge antworten konnte, wurden sie stürmisch begrüßt. „Meine Kinder!“, rief der Reverend erfreut. „Kommt herein, kommt herein! Setzt euch! Ach, was für eine Weihnachtsfreude!“ Hastig umarmte er Viktor und Yuri gleichzeitig. Dabei schnürte er ihnen fast die Luft ab. Dann erst wandte er sich an Yura. „Hast du nun doch den Weg zurück auf die tugendhaften Pfade gefunden?“, wollte er mehr scherzhaft wissen und ignorierte Otabeks warnenden Blick. „Nun gut, Gott vergibt den Sündern!“ Yura musste sich zusammenreißen, um nicht ein würgendes Geräusch von sich zu geben, aber er wollte sich für Otabek Mühe geben. Dieser würdigte es mit einem Lächeln, kannte er doch die Allüren des Priesters zu gut. „Hey, fangt nicht ohne uns an!“, schimpfte Michele, der gerade mit zwei weiteren Männern den Kirchenraum betrat. Chris quietsche vor Freude und stürmte zu ihnen. „Leo, was habe ich dich lange nicht gesehen!? Wie laufen die Geschäfte in Übersee? Hast du uns neue Geschichten zu erzählen? Ach und Emil! Emil, sag schon, wie lange warst du nicht mehr hier?“, plapperte der Priester vor sich hin. Yura trat einen Schritt näher an Otabek heran, hatte er doch noch etwas Angst vor Michele. Schließlich hatte er nie die Gelegenheit oder gar Lust gehabt, sich für seinen Diebstahl zu entschuldigen. Es war also vorerst besser, in Otabeks Nähe zu bleiben. Yuri schien sich ebenfalls sehr zu freuen, denn er sprach angeregt mit dem Fruchthändler vom Markt. Diesen hatte Yura vor kurzem erst bei Jean gesehen, als der für das Weihnachtsfestmahl besondere Orangen haben wollte. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Festtafel gezogen und er sah dort kleine Karten liegen, die scheinbar beschriftet waren. Ehrfürchtig nahm er eine davon hoch und kniff angestrengt die Augen zusammen. Warum nur hatte er nie lesen gelernt? Die Schrift sah so schön verschnörkelt aus und war mit feinster Tinte auf dickes Papier geschrieben. „Gefällt dir das?“, fragte Otabek sanft als er sich zu ihm gesellte. Verschreckt und verschämt nickte Yura. „Ähm… ja… Ich finde es wundervoll!“ Er zwang sich zu einem Lächeln. Otabek schien also wirklich lesen zu können und nun wollte er auf gar keinen Fall auffliegen. „Reverend Chris lässt es sich nie entgehen, die Menükarte zu schreiben, auch wenn es wie jedes Jahr nur Gänsereste gibt.  Aber wir sind eben keine feinen Leute, entschuldige!“, erklärte der Ältere weiter. „Was sagst du zur Beilage?“ Yura schluckte. Beilage? Stand das auf dem Zettel? Hastig suchten seine Augen nach Buchstaben, die er kannte und vielleicht zu einem Wort zusammensetzen konnte. Ein vielsagendes Lächeln legte sich auf Otabeks Lippen. „Nun…“ begann der Blonde zögerlich. Er konnte keinen einzigen der furchtbar verworrenen Buchstaben enträtseln. „Das!“ Er zeigt einfach auf ein Wort in der Hoffnung dieses würde Sinn ergeben. „Ah!“, entfuhr es Otabek und er sah sogar für einen Moment so aus, als hätte Yura genau das Richtige getroffen. Dann jedoch musste er lachen, wobei der Junge den Grund dafür überhaupt nicht verstand. „So, du würdest also Licht als Beilage bevorzugen?“ Yura verstand noch immer nicht, doch Otabek nahm ihm den Zettel aus der Hand, drehte ihn einmal um 180 Grad und drückte ihn ihm wieder in die feinen Finger. „Erstens, du hältst es falsch herum und zweitens, da steht der diesjährige Segenswunsch des Reverends geschrieben: In der Heiligen Nacht möge Frieden dein Gast sein und das Licht der Weihnachtskerzen weise dem Glück den Weg zu deinem Haus.“ Der Junge lief knallrot an und schämte sich dafür, dass er glaubte, dass Otabek nichts merken würde. Traurig senkte er den Blick und wünschte sich wieder in seine einsame Kammer zurück. „Yura, nun sei nicht traurig! Du musst dich für mich nicht verstellen. Es ist nicht schlimm, dass du nicht lesen kannst.“, versuchte der Arbeiter ihn zu ermuntern. „Ich kann es dir beibringen, wenn du magst!“ Sofort fiel ihm der Jüngere in den Arm und schmiegte sich fest an ihn. Diese Antwort genügte dem Dunkelhaarigen und er gab ihm einen sanften Kuss auf das seidige Haar. „Kinder, setzt euch! Viktor, hilf mir mit den Schüsseln und Yuri, gieß allen einen kräftigen Schluck Gin ein!“ Der Priester rieb sich kurz die Hände und erhob dann beide Arme zum Gebet. Vorsichtig hielten sie alle sich an den Händen und lauschten den Worten des Geistlichen. „…und schlussendlich hat uns der Herr zusammengeführt. Wir danken für das reiche Mahl und das Geschenk des Miteinanders. Amen.“ Yura konnte dem ganzen Geschwafel wenig abgewinnen, doch Otabek schien es sehr wichtig zu sein und so wollte er ihn nicht enttäuschen. Dem Festmahl stand nun nichts mehr im Wege und jeder bediente sich am reichlichen Ausmaß. Neben den Gänseresten, die mit Lorbeeren und Orangensaft gebraten wurden, gab es den traditionellen Christmas Pudding, eine Art Serviettenkloß mit Trockenfrüchten und Tierfett. Zudem standen verschiedene Beilagen mit frischem Gemüse und Wurzeln auf der Tafel. Yura wusste gar nicht, wie ein richtiges Weihnachtsfest gefeiert wurde und war völlig perplex von all diesem Glanz. Alle plauderten ausgelassen miteinander und schienen so befreit wie sonst nie. Erst Otabeks Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Du siehst wunderschön aus! Welch ein Glück, dass es dir an nichts mangelt.“ Irgendetwas an der Tonlage gefiel Yura gar nicht. „Was meinst du damit?“, fragte er gereizt. Otabek hob entschuldigend die Hände. „Nichts, wirklich! Ich habe nur das Gefühl, dass du diesem Leben nicht gerade abgeneigt bist.“ War der Arbeiter etwa eifersüchtig? Wieso sagte er dies gerade jetzt zu ihm. Yura legte den Kopf etwas schief. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es direkt!“, fauchte er leise, damit die anderen die Situation nicht mitbekamen. Sein Liebster seufzte. „Nun sei mir nicht böse. Ich kann mich damit einfach nicht arrangieren. Du gehörst nicht ihm, du gehörst zu mir.“ Ruckartig erhob sich der Junge und es wurde still in der Runde. Sorgenvoll blickte Chris zu dem jungen Gespann. „Ich brauche kurz frische Luft.“, verabschiedete sich der Blonde nur knapp und lief zum Portal heraus. Otabek rieb sich mit einem Seufzen die Stirn. „Ist schon in Ordnung!“, entschuldigte er sich ebenfalls und versuchte mühevoll, dem Jungen zu folgen. Zu seinem Glück stand dieser tatsächlich nur vor den Türen in der Winterkälte. „Merk dir eines: Ich gehöre niemandem. Ich bin kein Spielzeug, das einfach den Besitzer wechselt. Wenn du und Jean eure Egokämpfe austragen wollt, bitte! Aber ich bin nicht der Preis, den der Gewinner bekommt!“, keifte Yura enttäuscht. Otabek sah ihn verzweifelt an, hielt jedoch Abstand. „Yura, das meinte ich damit nicht. Ich... ich bin nur so verzweifelt. Wenn ich nur daran denke, dass er ständig in deiner Nähe ist. Ich möchte nichts mehr, als dich bei mir haben, in meinen Armen.“ Er ging einen Schritt näher auf den Blonden zu. „Wenn ich nur könnte, wie ich wollte, dann würde ich dir ein anderes Leben bieten.“ Langsam dämmerte Yura, was genau seinen Liebsten quälte. „Du meinst also, ich würde das alles nicht sofort hinter mir lassen? Denkst du wirklich, dass Schmuck, Kleidung, Bedienung und gesellschaftliche Konversationen das sind, was ich will?“ Er war völlig schockiert, dass Otabek ihn so einschätzte. „Nein, das ist es nicht. Aber ich möchte, dass du sicher bist.“, erwiderte dieser leise. Sie standen sich eine ganze Weile gegenüber, bevor Otabek das Schweigen wieder brach. „Ich weiß selber nicht, was ich denken soll. Aber bitte, lass uns nur einmal, nur für diesen Abend vor der Realität fliehen. Ich möchte nichts mehr als deine Nähe, deine Liebe. Auch wenn es nur für diesen Moment ist.“ Er hatte Recht und das wusste Yura. Jetzt war kein Zeitpunkt für verletzende Worte oder falsche Schlüsse. Mit einem leichten Lächeln nickte der Blonde, ergriff Otabeks Arm und half ihm zurück zum Tisch. Während ihrer Abwesenheit hatte Yuri seine Geige gestimmt und stand auf einer der Bänke. Freudig legte er den Bogen an und spielte ein irisches Weihnachtslied nach dem anderen. Viktor, der schon mehr als genug Gin getrunken hatte, tanzte mit Chris wild zu den Klängen, während Phichit und Leo im Takt klatschten. Yura fand das alles so seltsam, dass er fast vor Lachen weinen musste. Otabek genoss es, wie frei und fröhlich der Junge sein konnte. Für seine ernsten Worte hätte er sich im Nachhinein doch lieber geohrfeigt. Der Tag würde kommen, an dem sie sprechen mussten, doch heute, heute sollten sie frei sein. Der Rest des Abends verging in Tanz, Gesang und Freude. Hin und wieder tauschte das junge Paar verstohlene Küsse aus, die Körper eng aneinander geschmiegt. Doch auch die zauberhafteste Nacht musste einmal enden… Kapitel 12: Kein Entkommen -------------------------- Entschuldigt bitte, dass es so lange gedauert hat! Leider hatte ich viel zu viel Arbeit um die Ohren. Ich hoffe, ihr hasst mich nicht für dieses Kapitel, aber ein wenig könnte ich es verstehen. Aber keine Sorge, die Geschichte wird nicht traurig enden!   Viel Spaß!   Kein Entkommen   Yura seufzte leise in das weiche Kissen und rollte sich wohlig ein. Er war erst tief in der Nacht wieder durch das Fenster in die Kammer geklettert. Georgi hielt auch zu diesem Zeitpunkt noch einen traumlosen Schlaf und der Junge hatte damit nichts zu befürchten. Die Wintersonne schien immer wärmer auf sein Gesicht und zeichnete die feinen Wangenknochen nach. Wieder entwich ihm ein zufriedenes Seufzen, während er mit seinen Fingern über die noch immer vom vielen Küssen glühenden Lippen strich. Nichts würde ihm diesen Moment nehmen können, nichts und niemand. Mit einem lauten Knall schlug die alte Tür auf und Yura erschrak sich so sehr, dass er fast bäuchlings auf dem Boden gelandet wäre. Verwirrt kletterte er aus dem Bett und besah sich das Schauspiel vor seinen Augen. Jean schmiss seine Reisetasche in eine Ecke und lockerte seinen Kragen genervt. In seinem Schlepptau warteten Mila und Sara, beide mit gesenktem Blick. „Stehst du wohl endlich auf? Ich will nicht, dass du heute Abend herumläufst wie ein Gossengör. Mila, Sara, ich überlasse euch das!“ Jean sah seinen Besitz nur abschätzig an und verließ den Raum eilig. Yura verstand überhaupt nicht, was er jetzt schon wieder an ihm auszusetzen hatte. Doch der traurige Blick der beiden Damen versetzte ihn in einen nicht geahnten Schrecken.   Zufrieden lächelnd entzündete Otabek die Kerzen auf dem riesigen Kranz, der den Altar für die Weihnachtsmesse schmückte. Der vorherige Abend dämmerte noch wie ein glühender Traum in seinen Gedanken. Yura war so schön gewesen, so anmutig und so zart. Ein leises Seufzen entwich den schmalen Lippen des Arbeiters. Was hätte er darum gegeben, auch die Nacht mit ihm teilen zu können. In der Nähe des schönen Jungen musste er sich fast schmerzhaft zusammenreißen, doch er wusste, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde. Gedankenverloren zupfte er am Altartuch, als er plötzlich Stimmen vernahm. „Ihr müsst es ihm sagen!“ „Du kannst doch nicht mit der Tür ins Haus fallen, Kind! Dazu gehört Einfühlungsv…“ Chris und Michele blieben wie angewurzelt stehen als sie Otabek neben dem Altar bemerkten. „Oh, mein Sohn, ich habe nicht gewusst, dass du hier bist!“ Der Revernd verzog angestrengt das Gesicht zu einem Lächeln. Mit finsterer Miene stand der Goldschmied neben ihm und verschränkte die Arme. „Jetzt!“, keifte er genervt. Otabek zog eine Augenbraue hoch. „Ihr wollt mir etwas sagen, Father?“, hakte er mit fester Stimme nach. Der Angesprochene räusperte sich und rieb sich den Nacken. „Nun, Kind… Ich bin erfreut, dass dir der gestrige Abend so gut in Erinnerung zu sein scheint… Deine Genesung ist übrigens erstaunlich, wirklich!“ Michele schnaubte laut. „Father! Die Sache mit dem Ring!“, warnte er ein letztes Mal. Otabek wurde hellhörig. „Ring?“ Sorgenvoll ballte er die Fäuste und ging einen Schritt auf den Blonden zu. Dieser wich ihm etwas aus und zupfte scheu an seinem Gewand. „Nun… da wäre noch ein kleines Detail…Du weißt, nicht alles liegt in unserer Hand. Gott sieht manchmal andere Wege vor…“, begann er wieder stockend. Michele riss endgültig der Geduldsfaden. „Verdammt nochmal! Jean hat bei Vater einen Ring anfertigen lassen, schon vor einiger Zeit. Einen feinen Goldring mit Rubin.“ Er fuchtelte mit den Händen als würde er hoffen, dass Otabek von alleine auf den Rest der Misere kam. Dieser verengte ungläubig die Augen. „Du denkst…?“, begann er und die beiden Männer ihm gegenüber nickten eifrig. Für einen Moment schien alles um Otabek still zu stehen. Seine Gedanken zerrissen in tausend schmerzhafte Fetzen. Yura würde doch niemals zustimmen! Oder… etwa doch? Der Altar, an den sich Otabek die ganze Zeit gestützt hatte, wirkte nun nicht mehr so sicher und fest. Seine Hand glitt an dem glatten Material entlang, verlor den Halt und entnahm ihm jegliche Stütze. Unsanft sank er zu Boden, doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, was in seinem Herzen wütete. Michele und Chris eilten zu ihm und halfen ihm auf. „Otabek… du musst akzeptieren, was du nicht ändern kannst.“ Die Stimme des Reverends hallte in seinen Gedanken wieder. Wütend riss er sich von beiden los. „Ich muss überhaupt nichts akzeptieren!“, schrie er den Priester an. „Jean hat nicht das Recht dazu! Niemand hat es! Yura gehört nicht ihm!“ Verzweifelt hielt er sich an einer der Bänke fest, um nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren. Michele seufzte. „Doch und genau dagegen können wir alle nichts tun. Wenn ich könnte, dann würde ich ihn als erstes umbringen und das weißt du! Er hat mir meine Sara weggenommen!“ Micheles Augen füllten sich mit Tränen. Chris Hand auf seiner Schulter beruhigte ihn für einen kurzen Moment. „Wir alle müssen im Leben Dinge ertragen, die uns verzweifeln lassen. Aber Gott bürgt uns nur so viel auf, wie wir auch tragen können!“, beschwichtigte der Geistliche die beiden jungen Männer. Doch Otabek schlug mit der Faust auf das harte Holz. „Wenn Gott uns so quält, dann kann es kein guter Gott sein!“, protestierte er und wollte nicht noch weitere Belehrungen von dem Geistlichen hören, der doch immer nur die gleichen Phrasen sprach. „Für mich gibt es keinen Gott mehr!“, setzte er nach und wandte sich ab. Er wollte nur noch alleine sein. Chris blieb erschrocken zurück und sah ihm voller Trauer nach. „Lasst ihn. Er wird es irgendwann akzeptieren!“, schnaubte der Goldschmied neben ihm und seine Stimme war so voll Bitterkeit, dass der Geistliche erschauderte.   Yura starrte in den Spiegel vor sich. Zurück starrte ein fein herausgeputztes Püppchen, schön, aber innerlich leer. Die Augen waren so seelenlos, dass Mila beim Kämmen des Haares angst und bange wurde. So hatte sie den Jungen noch nie gesehen. Sein Wille war gebrochen und nichts würde diese Smaragde wieder zum Leuchten bringen. „Los, kämm weiter oder bist du schwachsinnig, dass du so starrst!?“ Eine tiefe, rauchige Stimme durchbrach die Stille. „Nein, Madame Lilia! Entschuldigt bitte!“ Mila erschrak und widmete sich wieder ihrer Aufgabe. Lilia stand mit strengem Blick neben ihr. Sie war die Zuchtdame des Hauses und hatte bisher jedes der Mädchen akkurat erzogen. Yura hatte sich schon den halben Tag zur Wehr gesetzt, doch am Ende kläglich verloren. Nun saß er dort nur, die Hände im Schoß gefaltet und sah in den Spiegel. Kein einziges Wort hatte in der letzten Stunde seine Lippen verlassen. „Das genügt! Geh, hol etwas von dem Öl!“, befahl die dürre Schwarzhaarige. Sie griff nach Yuras Kinn und drehte das zarte Gesicht von einer Seite zur anderen. „Hm… Bring auch gleich das Puder mit! Und du, Kind, steh auf!“ Yura erhob sich ergeben. Wie bei einer Tierschau umkreiste die Zuchtdame den zierlichen Jungen. „Wann sagst du etwas?“, hakte sie nach und bekam prompt ein „Nur, wenn ich gefragt werde.“ als Antwort. „Wie sprichst du mit dem Herrn des Hauses?“ „Respektvoll und ergeben.“ Mila kam gerade zurück und musste bei dem Kreuzverhör die Tränen unterdrücken. Es tat ihr im Herzen so weh, den Jungen endgültig gebrochen zu sehen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihm helfen zu können. Lilia erhob wieder die Stimme. „Was sagst du, wenn er dich fragt?“ Yura verzog kaum merklich die Lippen und ballte die Fäuste. „Hör zu! Was sagst du, wenn er dich fragt!? Antworte gefälligst!“, wiederholte die Schwarzhaarige ihre Worte. Traurig senkte der Junge den Kopf. „Ja.“ Lilia schnaubte wütend und Yura seufzte. „Steh gerade dabei. Schau nach oben und lächle! Du kannst dankbar für ein solches Angebot sein!“, tadelte sie ihn abermals.   Die kalte Luft des anbrechendes Abends erfüllte die Straßen als die ersten Gäste eintrafen. Jean stand fein herausgeputzt im Saal und begrüßte alle ausschweifend mit Namen und Titel. Lautes Geschwätz  und Gelächter füllte den Raum nach und nach. Victor polierte mit gesenktem Kopf die teuren, geschliffenen Kristallgläser, die extra für diesen Abend aus dem Schrank geholt wurden. Direkt bei ihm an der Bar saß Yuri, die Geige bereits in den Händen. „Glaubst du, er sagt ja?“, fragte er vorsichtig und suchte den Blick des Barkeepers. Dieser verzog die zarten Lippen und wich dem Blick aus. „Victor! Du glaubst es doch nicht oder?“, wollte der Jüngere noch einmal wissen, erhielt jedoch wieder keine Antwort. Traurig senkte er den Blick und spürte, wie ihm langsam die Tränen kamen. Ihn nahm das alles so sehr mit, dass er am liebsten gar nicht aufgetreten wäre. Ihm war kein bisschen nach Weihnachtsliedern und Feiern zumute. „Yuri?“ Victors Stimme holte ihn aus den Gedanken. „Manchmal ist das Leben nicht fair. Es ist grausam. Es ist bitterkalt.“ Die Stimme des Barkeepers klang auf einmal gar nicht mehr so fröhlich wie sonst. „Warum habt ihr es ihnen nicht gesagt?“, hakte der Schwarzhaarige nach und seine Stimme war schwer vor Enttäuschung über das Handeln seines Liebsten. „Ihr habt es gewusst und ihnen nichts gesagt! Ihr habt ihnen keine Wahl gelassen!“, setzte er nach und musste wieder die Tränen unterdrücken. Victor lachte. Ein bitteres, ernstes, kaltes Lachen. „Wenn wir etwas hätten ändern können, dann hätten wir es getan. Verurteile mich ruhig! Ich ertrage dieses Verderben genauso wenig. Auch, wenn du mich nun hasst, aber uns sind die Hände gebunden. Siehst du all diese Männer hier? Richter, Polizisten, Geschäftsmänner und Politiker. Jean hat mehr Macht als es uns allen lieb ist.“ Yuri folgte den Worten und blickte sich um. Noch ehe er antworten konnte, setzte Jean zu einer Rede an. Er erhob sich von der riesigen Festtafel, hielt sein Glas in die Höhe und tat das, was er am besten konnte: „Meine Herren, meine Gäste, werte Freunde! Auch in diesem Jahr darf ich Sie hier begrüßen! Was wäre denn der Weihnachtstag ohne ein wahres Festmahl in bester Gesellschaft. Ein Mann ist doch nur so schön wie sein Geld, nicht wahr, werte Damen?“ Die Mädchen zwangen sich zu einem aparten Lächeln und die Gesellschaft grölte. „Aber, aber… Auch ein Lebemensch wie ich möchte doch einmal sesshaft werden.“ Die Männerschar johlte ein „Hört, hört!“ und applaudierte. Yuri überkam der Drang, sich zu übergeben. Dass er das gerade mit anhören musste, war einfach zu viel für ihn. Doch Victor griff nach seiner Hand und drückte sie fest. „Man sagte mir, Wildkatzen seien nicht zu zähmen, aber auch aus dem wildesten Biest kann eine brave Hauskatze werden. Wenn es jemandem gelänge, so wohl mir. Das Resultat…“ Seine Hand wanderte in Richtung Treppe. Lilia stand am oberen Geländer und mit ihr Yura. Das Haar in langen Strähnen auf eine Seite gelegt, die goldene Spange kunstvoll darin verwoben, umschmeichelte der Fluss aus Gold das blasse Gesicht. Stille legte sich auf die staunende Meute. Die rote Samtjacke mit den teuren Goldknöpfen schimmerte erhaben zu den sonst dunklen Kleidungsstücken und den feinen, roten Schnürstiefeln. Jean gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er zu ihm kommen sollte. Yuras Herz brannte und jeder seiner Schritte war wackelig, nahezu unsicher. Mit einem undurchdringbaren Blick stellte er sich brav neben den Geschäftsmann, während in der Gästeschar immer mehr Getuschel ausbrach. Sätze, wie „Welch ein gut erzogenes Spielzeug!“, „Ein braver Bursche!“ oder „Ich sollte den Preis erfragen!“ drangen an Yuras Ohr und er wollte in dem Moment nichts mehr als sterben. Niemand würde ihm jetzt helfen. Er war alleine. Jean legte grob den Arm um die zarte Hüfte. „Meine Herren, meine Herren. Keine Gratisproben hier!“, amüsierte er sich scheinbar köstlich über das rege Interesse. Dann griff er in die Tasche seiner bestickten Jacke und holte ein kleines Kästchen hervor. Schwungvoll öffnete er es und ließ zuerst seine Gäste einen staunenden Blick darauf werfen. Yura überlegte noch, ob er nicht irgendwie an eines der Messer auf dem Tisch herankam, um diesem Schicksal ein Ende zu setzen, aber er stand zu weit abseits. Traurig suchte Yuri den Blick des Jungen, der scheinbar auf den Tisch starrte. „Victor, bitte! Wir müssen etwas tun!“, flehte er noch einmal, erntete jedoch nur ein ermüdetes Kopfschütteln. Yuri erschrak als er eine ihm bekannte Stimme hörte. „Yura, nicht!“ Otabek, schwach und blass, stand im Eingang zur Halle und stützte sich am Pfeiler. Schneller, als er reagieren konnte, hatte Georgi ihn schon gepackt und hielt ihn unausweichlich fest. Jeans Grinsen wurde breiter. „Schau an! Mit dir hatte ich ja fast gerechnet! Schön, dann kannst du gleich mitansehen, was dir verwehrt bleibt.“ Ein Lachen ging durch die Reihen, viele tuschelten amüsiert. Verzweifelt versuchte der Arbeiter sich zu befreien, doch Georgi hatte ihn fest im Griff. Jean wandte sich Yura zu, der mit gesenktem Blick noch immer regungslos neben ihm stand. „Meine Blüte…“ Er nahm den Ring aus dem Kästchen. „Wirst du mein sein bis an das Ende deiner Tage?“ Schmerzhaft griff er nach dem Handgelenk des Blonden und hob seine zierlichen Finger an. Schluchzend wandte Yuri sich ab und verbarg sein Gesicht mit den Händen, während Victor den Blick gänzlich zu Boden senkte. Otabek konnte nicht glauben, was gerade vor seinen Augen passierte. Yura ließ sich den Ring überstreifen und seine leeren Augen blickten in Jeans hämisches Grinsen. „Ja.“ Unter tosendem Applaus zog Jean den Jungen in einen nicht erwiderten Kuss. Otabek wusste, er hatte verloren. „Lass mich los, Georgi. Ich biete dir keine Gegenwehr. Lass mich nur gehen.“ Mit den leisen Worten verließ er das Geschehen und ließ sich draußen in der Dunkelheit in den Schnee sinken. Für ihn gab es keinen Sinn mehr in seinem Leben. Kapitel 13: Vergiss mein nicht ------------------------------ Ahhhhhhh, es ist zum verrückt werden! Da hatte ich schon fast alles fertig, da gab mein Laptop das Leben auf. Die Tastatur ist komplett hinüber... Nun habe ich brav auf dem Tablet geschrieben und es war... der HORROR! Entschuldigt bitte ;.;         Vergiss mein nicht       Der Geist der Weihnacht schwebte ersterbend über London. Die Kerzen brannten aus, der prächtige Schmuck wurde feinsäuberlich weggeräumt und das sich hinraffende Jahr näherte sich dem letzten Tag. Der Reverend strich behutsam das Altartuch glatt und verlor sich für einen Moment in seinen Gedanken. Erst eine sorgenvolle Stimme ließ ihn aufschauen. „Gibt es Neuigkeiten?“ Das wohlbekannte Gesicht Victors sah blasser aus als sonst und seine Augen hatten einen seltsamen Schimmer. Chris lächelte leicht, schüttelte jedoch den Kopf. „Nein. Ich habe mit allen gesprochen, doch niemand hat ihn gesehen. Es sieht ihm gar nicht ähnlich.“ Die besorgten Worte des Priesters hallten durch den Kirchenraum. Vorsichtig ging er ein paar Schritte auf Victor zu, der sich langsam auf eine der Bänke sinken ließ. „Es ist unsere Schuld.“ Er wusste, dass er aussprach, was ihnen allen in den letzten Tagen durch den Kopf ging. Sie hätten nicht tatenlos zusehen dürfen. „Wir haben nur an unser eigenes Wohl gedacht. Unsere eigene Zukunft.“ Victor atmete tief ein und faltete die Hände auf den Knien. „Ich wünschte, ich könnte dir widersprechen.“, erwiderte Chris nachdenklich. Doch auch er fühlte sich schlecht, denn Otabek hätte sie gebraucht. „Wie oft war er für uns da? Egal, wie schlecht es ihm selber ging, er hat nie an sich gedacht.“ Der Priester musste unwiderruflich schluchzen. Zu sehr traf ihn der Schmerz des Verlustes. Seit dem schicksalsschweren Abend machte er sich jede Sekunde Vorwürfe. „Wir müssen ihn finden! Die Winde werden zum Jahresende immer kälter und der Schnee ist ein grausamer Bettgeselle.“, unterbrach eine weitere Stimme die Stille zwischen beiden. Michele hatte den Raum betreten, den frischen Schnee von sich geschüttelt und zitterte am ganzen Körper. „Ich bin noch durch die Westviertel geritten, aber auch heute habe ich keine guten Nachrichten!“, berichtete er weiter. Victors Augen glitzerten unheilvoll. Langsam bildeten sich kleine Perlen, Elfentropfen von einem unwirklichen Glanz. Vorsichtig wischte er mit den zarten Händen über seine Wangen und sprach aus, was sich keiner traute zu denken: „Und wenn er tot ist!?“ Eine gespenstische Stille legte sich über den Kirchenraum und Chris suchte Halt an einer der Bänke. „Das darf nicht sein!“, erhob er seine Stimme. Michele ballte die Fäuste und verzog das schmale Gesicht schmerzvoll. „Wenn Victor aber recht hat? Wenn ich dieses Gör dafür erwische, was er ihm angetan hat! Ich werde ihn eigenhändig in der Themse versenken!“ Kaum ausgesprochen, hatte Victor ihn schon am Hals gepackt. „Hüte deine Zunge!“, zischte er und seine Augen funkelten voll Zorn. „Hört auf!“, mischte der Priester sich lautstark ein. „Ihr Narren! Was bringt es, wenn ihr euch nun gegenseitig angeht!?“ Der Barkeeper ließ von seinem Freund ab. „Es tut mir leid! Nur.. gib Yura nicht die Schuld dafür. Er hat doch genau wie wir keine Chance gegen Jean.“, gab der Silberhaarige nur zähneknirschend von sich. Michele rümpfte die Nase und wandte sich ab. „Ich reite wieder los. Einer muss ja wenigstens nach ihm suchen!“ Damit verschwand der Goldschmied wieder in der Kälte. Chris warf seinem Freund einen entschuldigenden Blick zu, doch dieser wandte sich ebenfalls zum Gehen.   Im Haus am Ende der Gasse gab es ein geschäftiges Treiben. Zur Jahreswende wurde wie jedes Jahr ein prächtiger Maskenball veranstaltet, den Jean noch mehr lobte, als seine Weihnachtsfeiern. Die Halle war eingehüllt in festliche Stoffe und die Mädchen vergnügten sich beim Aufhängen von glitzernden Laternen. Mila besah sich das Schauspiel und seufzte so laut, dass Yuri neben ihr aufhorchte. „Sieh dir all diese Puten an, wie sie herumkokettieren und so tun, als wäre dieser Abend nicht unser aller Verderben. Ich hasse diesen Ball, diese lüsternen Männer und ihre Spielchen. Nichts sind wir wert, nichts!“, spie sie aus und spuckte auf den Boden vor sich. Yuri rieb sich verlegen den Nacken. „Es tut mir leid, was dort passiert. Ich wünschte, ich könnte helfen.“ Doch die Rothaarige rümpfte nur die Nase. „Yuri! Das ist, was wir sind! Wir sind keine Damen, Herrinnen oder Edelfrauen. Wir sind der Dreck auf den Straßen Londons. Kein Puder, kein Lippenstift und keine feinen Kleider können verbergen, was wir sind. Schau!“ Sie deutete auf die Treppe. An das Geländer gelehnt stand Yura, fein dressiert und aufgehübscht. „Was siehst du?“, fragte Mila den Kartenspieler. Dieser legte den Kopf schief und überlegte. „Hm… Na, Yura eben. Wie immer hübsch anzusehen.“ Doch er erntete nur ein bitteres Lachen. „Nein, mein Junge! Ich sage dir, was ich sehe. Ich sehe den Tod in ihm. Er ist nur noch wie wir. Jean hatte von ihm, was er wollte. Benutzt und weggeworfen. Eine schöne Hülle ohne Leben.“ Yuris Augen weiteten sich vor Schreck. Milas Worte hatten ihm eine ganz andere Sicht auf den Jungen gezeigt. Als hätte jemand die nebligen Schleier gelüftet, sah er nun glasklar. Yuras Augen waren dumpf und dunkel geworden. Sein Haar lag nur noch in leblosen Strähnen über den Schultern und sicherlich war er noch magerer geworden. Fast schien er um Jahre gealtert, so ergraut war die Haut. „Mila…“, begann er zögerlich. „Ich kann das nicht mitansehen. Wir müssen doch etwas tun.“ Seine Stimme klang flehend, doch die schöne Rothaarige schüttelte nur mit dem Kopf. „Zu spät!“, hauchte sie und ließ den verzweifelten Yuri völlig sich selbst überlassen stehen. Doch darauf wollte er es nicht beruhen lassen. Mit einem tiefen Atemzug suchte er nach einem Funken Mut und ging zu dem Jungen, der noch immer starr an der Treppe stand. „Yura?“, fragte er vorsichtig, erhielt aber keine Antwort. „Möchtest du, dass ich dir einen Tee mache? Es ist heute ziemlich kalt.“ Wieder keine Antwort, nur ein leichtes Kopfschütteln. „Oder vielleicht ein paar Früchte? Ich war auf dem Markt und habe noch dazu Nüsse geholt.“ Wieder nur ein Kopfschütteln. Yuri seufzte und fasste noch einmal Mut. „Hör mir bitte zu. Ich möchte dir helfen. Es gibt ein Leben weit weg von hier. Aber bitte rede mit mir.“ Zum ersten Mal blickten ihn die toten Augen an. „Danke für deine Sorgen. Aber mir geht es gut.“ Damit wandte der Junge sich ab und der Kartenspieler konnte schwören, dass ihn eine geisterhafte Aura umgab. Ihm stellten sich beim Gedanken an die Begegnung gerade schon die Nackenhaare hoch. Was war nur aus dem kämpferischen Yura geworden, der sich nie von Otabek losgesagt hätte? Was musste Jean ihm nur angetan haben? Yura schob langsam die schwere Holztür zur Kammer zu und schritt müde durch den Raum. Oft wusste er nicht, ob es Tag oder Nacht war, ob er lebte oder starb. Auf dem Bett lag sein Kostüm für den Ball. Ein feines, halbdurchsichtiges Stück aus Seide und Samt, das ihn an diesem Abend feengleich erscheinen ließe. Daneben die perlenbestickte Maske, die nur einen Blick auf die zarten Lippen unter ihr freigab. Wozu das alles, fragte er sich unweigerlich und wünschte sich einmal mehr dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sein Herz hatte doch bereits aufgehört zu schlagen. Ihm blieb nur noch die Ewigkeit in der Hölle für das, was er Otabek angetan hatte. Otabek… allein der Gedanke an ihn ließ den Jungen erschaudern. Noch immer konnte er sich genau an das Gefühl seiner Lippen erinnern, obwohl Jean diese immer wieder beschmutzt hatte. Wie sehr widerte ihn das alles an. „Otabek…“, flüsterte er leise. „Wenn du mich nur noch ein einziges Mal küssen würdest. Ich würde dir bis an das Ende der Welt folgen.“ Doch er wusste, er hatte verloren. Otabek würde ihm niemals verzeihen. Er ließ sich neben das Kostüm sinken und verfiel in einen traumlosen Schlaf.   Am letzten Abend des Jahres drängten hunderte von begeisterten Männern in die Halle. Sie alle waren fein herausgeputzt, selbst die Masken waren teuer verziert. Hier wurde gezeigt, wer Rang und Geld hatte. Jean trug einen schwarzen Mantel mit etlichen Perlen und eine ebenso schwarze Maske. Für Yuri sah er aus wie der Tod persönlich. Schaudernd stand der an der Bühne und mischte seine Karten publikumswirksam. Heute war er für das Glücksspiel zuständig und würde wieder einmal für guten Umsatz sorgen. Sein Blick fiel auf Yura, der schützend hinter dem Geschäftsmann stand. Sein Kostüm bedeckte kaum die Hüften und die dürren, nackten Beine wirkten zittrig. Der Schwarzhaarige war mehr als verwundert darüber, wie offenherzig der arme Blonde sich präsentieren musste. Schnell fand er eine Lösung für seine Verwunderung. Jean hatte Yura am Arm gepackt und zu einigen der Anwesenden geschleift. Dort ließ er ihn alleine stehen, verängstigt und schutzlos. Wie auf einem Viehmarkt betrachteten die Männer die zierliche Ware. Einer nach dem anderen konnte seine Finger nicht bei sich behalten und schlussendlich platzte Yuri der Kragen. Aufgebracht und mit unverhofft mutiger Stimme sprechend, zog er Yura mit sich. „Die Herren entschuldigen kurz?“ Eilig schleifte er den völlig perplexen Blonden an den Rand der Bar. „Bist du verrückt?“, fragte der Junge mit dünner Stimme, doch der Kartenspieler lächelte herzlich. „Ja, vermutlich! Aber ich habe dir gesagt, dass ich auf dich aufpasse und dir helfen will.“ Yuras Augen glitzerten für einen kurzen Moment dankbar. Beide sahen sich still an und noch immer hielt der Ältere die Hand des Jungen. Doch schnell fand das Treffen ein jähes Ende. „Du Miststück!“ Jean hatte Yura schmerzhaft im Nacken gepackt. „Wirst du wohl brav sein? Glaubst du, ich füttere dich hier umsonst durch?“ Yuri wollte etwas erwidern, doch die Angst vor dem Geschäftsmann lähmte ihn. „Mach deinen Job!“ Damit schubste er den Jungen von sich. „Ich habe keine Zeit für deine Kinderspielchen. Lady Isabella erwartet mich und ich werde sie nicht warten lassen. Sei froh, dass ich dich nicht hinaus werfe, du Biest! Zimmer 14! Und beweg dich endlich!“ Folgsam nickte Yura und senkte den Kopf. Der Kartenspieler neben ihm brauchte einige Zeit, bis er das eben Gesagte zu etwas Sinnvollem zusammengesetzt hatte. Hatte Jean Yura etwa aussortiert? Hatte er so schnell die Freude an ihm verloren? Das meinte Mila also mit ihren Worten, als sie sagte, er sei wie sie. Den Namen der Lady kannte der Schwarzhaarige hingegen gut. Sie war die Tochter eines reichen Fabrikbesitzers und dieser suchte zurzeit einen heiratswilligen Schwiegersohn. Jean würde mit dieser Allianz noch enorm an Einfluss gewinnen. Yura war ihm dabei wohl nun im Weg. Noch ehe der Kartenspieler wieder aus seinen Gedanken auftauchte, war der Junge verschwunden. Hatte er sich wirklich seinem Schicksal ergeben?   Leisen Schrittes öffnete Yura die Tür zum Zimmer, das nun wohl sein neues Zuhause wäre. Die feine Kammer würde er schon bald verlassen müssen. Am Fenster stand bereits die dunkle Gestalt eines stattlichen Mannes, eingehüllt in einen braunen Mantel mit allerlei Blütenbestickungen. Yura fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, alleine bei dem Gedanken an sein Schicksal. Der Mann wandte sich ihm zu, um den Hals ein glänzendes Kreuz und das Gesicht mit einer schweren Kapuze bedeckt. Darunter erkannte Yura nur eine schlichte Ledermaske und schmale, nach unten gezogene Lippen. Angst durchfuhr den Jungen und er zitterte unweigerlich. Das war also, was nun aus ihm geworden war. Eine namenlose Hülle, lediglich zu dem Schicksal verdammt. Mit wackeligem Schritt ging er auf das karge Bett zu. „Ihr wünscht?“, fragte er leise und setzte sich auf die rauen Laken. Doch der Mann schritt nur auf ihn zu und kniete sich vor ihn. „Keine Sorge, ich schreie nicht. Ich… mache, was ihr wollt.“ Wieder antwortete ihm der Fremde nicht, er strich lediglich eine der goldenen Strähnen zurück. Yura zitterte noch immer, denn die Berührung irritierte ihn. Es fühlte sich an, als hätte er all das schon einmal durchlebt. Vorsichtig zog der Fremde das Kinn des Jungen zu sich und versiegelte seine Lippen mit den eigenen. Yuras Herz schlug zum ersten Mal seit dem Weihnachtsabend wieder kräftig gegen seine zarte Brust. Das konnte doch nicht…?       Kapitel 14: Wie ein Phönix --------------------------   Huhu! Viel Spaß mit dem neuen Kapitel     Kapitel 15 Wie ein Phönix   Yura zitterte am ganzen Körper und wich ängstlich zurück. „Wer seid ihr?!“, brachte er kaum hörbar heraus und hielt die Hände schützend vor sich. Doch der Fremde griff sanft nach den zarten Fingern und hielt sie fest. „Erkennst du nicht den, dem du deine Liebe geschworen hast?“, fragte der Fremde emotionslos und verzog die Lippen. Konnte das wirklich...? Der blonde Junge bebte noch immer vor Angst, doch diese Stimme war einfach Bestätigung genug. „Otabek...“, entwich es ihm und er wurde noch bleicher. Sein Gegenüber löste seinen Griff und zog langsam die Maske hinunter. Und wahrlich, vor dem Jungen stand sein früherer Geliebter, stärker und geheimnisvoller denn je. Yuras Herz hüpfte, seine Augen begannen zu leuchten und er wollte ihm sofort in die Arme fallen. Allerdings machte sein Gegenüber einen großen Schritt zurück und zeigte ihm klar, dass er dies gerade nicht duldete. Ob er verletzt war wegen den Geschehnissen? Der Blonde konnte es wahrlich nicht einschätzen. „Willst du mich nicht wenigstens in den Arm nehmen!?“, empörte er sich beleidigt und erntete einen ziemlich überraschten Blick. Otabek zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast mich betrogen, von dir gestoßen, mein Herz zerrissen und du glaubst allen Ernstes, ich würde dich jetzt in den Arm nehmen !?“ Noch immer klang seine Stimme kalt und emotionslos. In Yuras Kopf manifestierten sich tausend Gedanken. Nie hatte er sich auch nur vorstellen können, wie es Otabek ergangen sein könnte. Hatte er ihn wirklich so sehr verletzt? Als er plötzlich den festen Griff des Arbeiters in seinen Haaren spürte, quietsche er laut auf. „Ist es das, was du wolltest?! Einen Mann, der sich einfach nimmt, was er will? Ohne Rücksicht?“ Otabek lockerte den Griff langsam. „Das bin ich nicht, Yura... Das werde ich nie sein. Ich bin nur gekommen, um dir auf Wiedersehen zu sagen.“ Seine Finger ließen das feine Haar los und strichen über die glühende Wange. „Nein, bitte! Nimm mich mit!“ Yura fiel schmerzvoll auf die Knie und hob die Hände betend empor. „Bitte, ich flehe dich an!“ Doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein, Yura. Du hast dir dein Leben selber erwählt. Nun, da es am Abgrund angekommen ist, besinnst du dich auf einmal.“ Tränen benetzten den Boden vor Yura. Die Worte seines Liebsten schmerzten mehr als das Wissen um sein zukünftiges Schicksal. „Ich flehe dich an! Nimm mich mit! Ich dachte, du liebst mich!“, schrie er verzweifelt. Doch wieder erntete er nur ein Kopfschütteln. „Oh, und wie ich dich liebe. Mehr als mein eigenes Leben. Du warst es, für den ich gestorben wäre und vermutlich würde ich es immer noch tun. Aber du wolltest es anders.“ Yura ließ sich auf den Boden sinken, rollte sich zusammen und weinte, weinte all den Schmerz der Welt aus sich heraus.   //Yura... mein Yura! Ich kann nicht ertragen, dich so zu sehen. Deine Porzellanhaut gerötet, deine zarten Lippen gerissen. Ich kann nicht mit ansehen, wie du leidest. Verzeih mir! Bitte verzeih mir! Aber du musst es lernen!//   Otabek stand nur starr vor dem Drama, das sich ihm bot. Nach einigen Minuten kniete er sich zu der dürren Gestalt, die jegliche Kraft verloren hatte. Sanft hob er den kleinen Oberkörper an und drückte ihn an sich. Yura spürte die beruhigende Wärme seines Liebsten und presste sich noch fester an ihn. Sein Gesicht lag an dem Schlüsselbein des Arbeiters und die heißen Tränen benetzten die raue Kleidung. „Es tut mir Leid.“, brachte der Junge leise hervor. „Ich weiß, du kannst mir nicht verzeihen. Das kann ich selber nicht. Ich habe es nicht besser verdient!“ Ein Rütteln erschütterte den dünnen Körper. „Rede nicht so einen Blödsinn!“, tadelte Otabek ihn harsch.Doch Yura stiegen sofort wieder die Tränen in die Augen.   //Sag es, Yura! Ich weiß, du empfindest es! Bitte! Lass mich nur diese Worte hören!//   „Aber es stimmt doch! Ich habe die ganze Zeit nur dich geliebt und ich war zu feige, dazu zu stehen. Ich hatte zu viel Angst!“ Noch bevor der Blonde weitersprechen konnte, wurden seine Lippen versiegelt. Minutenlang verwickelte ihn sein Liebster in einen sehnsuchtsvollen Kuss, sodass der Kleine die Welt nicht mehr verstand. Atemlos löste Otabek sich von ihm und sah ihm streng in die Augen. „Du willst, dass ich dich mitnehme? Mein Leben ist einfach, ich habe wenig Geld. Du wirst oft Hunger leiden, deine Kleidung wird ärmlich und einfach sein. Du wirst dir einen Job suchen, stundenlang für einen lächerlichen Lohn arbeiten. Deine Hände werden nicht mehr weich sein, dein Haar nicht mehr glänzen. Aber ich werde dir jeden Tag sagen, wie sehr ich dich liebe. Ist es dir das wert?“ Yura brauchte nicht lange für seine Antwort. „Und wenn der Himmel eines Tages über uns erstirbt, ich will nur bei dir sein!“   Eine Weile sahen sie sich nur tief in die Augen, dann nickte Otabek. „Aber wie soll ich hier entkommen? Jean wird mich nie gehen lassen!“, schluchzte der Junge erschöpft. Ausgerechnet dieses Mal lächelte Otabek und half ihm hoch. „Verlass dich auf mich! Rasch! Pack all deine Habseligkeiten ein und komm wieder.“ Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen und stolperte unsicher los zur Kammer. Dort riss er eine Leinentasche aus dem Schrank, schmiss alle Kleidungsstücke hinein, verstaute den kostbaren Schmuck und die Bürsten. Er nahm was man zu Geld machen konnte an sich. Auf dem Schreibtisch lag Jeans goldene Taschenuhr und Yura zögerte keinen Moment. „Du hast mir meine Selbstachtung genommen, meine Jugend, meinen Körper...“, spie er leise aus und ließ das teure Stück in der Tasche verschwinden. Eilig hastete er zum Zimmer zurück, vor dem sein Liebster schon wartete. Dieser hielt ihm die Hand hin und ergriff die zarten Finger sanft. Gemeinsam stiegen sie die lange Treppe hinab und im Raum wurde es ruckartig still. Yuri, der gerade ein paar Kartentricks vollführte, ließ alles vor Verwunderung fallen. Sein Blick schweifte sofort zu Victor, der mit triumphierendem Grinsen hinter der Bar den Daumen hob. Yuras Herz raste vor Angst, aber er vertraute Otabek blind.   Es dauerte nicht lange, da hatte Jean sich vor ihnen aufgebaut. Hinter ihm stand eine schöne Schwarzhaarige, die erstaunt zwischen ihrem Verehrer und dem Paar hin und her sah. „Mein Eigentum bleibt hier!“, raunte der Geschäftsmann, die Fäuste geballt. Doch Otabek lächelte nur und wandte sich an die Dame im Hintergrund. „Lady Isabella, wie schön euch wiederzusehen! Ich hoffe, eurem Vater geht es besser! Ich hörte, ihr gedenkt zu heiraten. Bitte seid euch meiner besten Wünsche sicher.“ Völlig verdutzt blickte Jean sich zu seiner Angebeteten um. „Ihr... kennt ihn!?“, entwich es ihm und die Dame lächelte freundlich. „Ich danke dir, Otabek! Du wirst sehr vermisst in der Fabrik. Vater würde sich freuen, wenn du ihn besuchen würdest. Ich hörte, dass du nun bei Dr.Lee arbeitest? Ich hoffe, dir geht es dort besser!“ Ihre warme Stimme erfüllte den Raum und brachte Victor an der Bar noch mehr zum Grinsen. Als Jean realisierte, dass er nun in der Falle saß, verlor sein Gesicht jeglichen Ausdruck. Würde er Otabek nun hier vor Lady Isabella zur Verantwortung ziehen, würde er seine Chance auf die Verlobung und damit einen Machtausbau verlieren. Zerknirscht wich er zur Seite. „Auf ein Wort!“ Damit wies er Otabek den Weg zur Tür. Mit einem freundlichen Lächeln und Yura an der Hand haltend, verabschiedete der Arbeiter sich von der Tochter seines früheren Arbeitgebers. Er folgte Jean und hörte sich seine Worte ruhigen Gewissens an. „Hör zu! Für dieses eine Mal hast du gewonnen. Nimm ihn, er soll dir gehören. Aber wag es nie wieder, dich in meine Geschäfte einzumischen! Du... wirst hoffentlich meiner Verlobung nicht im Weg stehen?“ Yura hörte zum ersten Mal eine große Unsicherheit in Jeans Stimme. Doch Otabek nickte nur. „Wenn du uns fortan in Frieden lässt, werde ich ein gutes Wort einlegen. Du hast mein Versprechen.“ Damit hielt er dem Geschäftsmann die Hand hin, die dieser eilig nahm. Schnell verschwand er wieder im Gedränge. Yura war völlig perplex und starrte ihm nur mit offenem Mund hinterher.   Es war ein längerer Ritt zu Otabeks Wohnung, aber Yura genoss die eiskalten Winde. Heute Nacht begann ein neues Jahr und ein neues Leben für ihn. Vor einem alten Backsteinhaus, das marode und verlebt wirkte, blieb das Pferd stehen und der Blonde erkannte es sofort wieder. Es war schon lange her, dass sie hier ihre ersten Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten. Noch immer war Otabeks Wohnung kahl, aber der Ofen erfüllte die beiden kleinen Zimmer mit einer heimeligen Wärme. Vorsichtig legte der Arbeiter eine Decke um den zarten Körper seines Liebsten. „Ist dir warm genug?“, fragte er besorgt, aber Yura drückte ihn nur auf das karge Bett. Ohne viele Worte zu verlieren, verwickelte er ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. So lange schon sehnte er sich nach diesem Mann, nach diesen Lippen. Niemand würde sie jetzt mehr trennen. Otabek drückte den dürren Körper über sich zur Seite und zog ihn fest an sich, ohne den Kuss zu lösen. Vorsichtig wanderten seine Finger über den zarten Rücken, die herausstehende Wirbelsäule und die schmale Hüfte. Ohne zu fragen, schob er die adrette Kleidung hoch und befühlte die weiße Haut, die unter seinen Fingern immer mehr glühte. Es mögen Stunden vergangen sein, in denen sie Kleidungsstück für Kleidungsstück zu Boden sinken ließen und die Hitze ihrer Körper aneinander genossen. Otabeks Gedanken verschwammen immer mehr und seine Selbstbeherrschung drohte einzufallen wie ein Kartenhaus. Aber er wollte Yura nicht das Gefühl geben, dass er um nichts besser war als Jean. Mit einem Mal hob der Jüngere den Kopf und stützte sich auf dem Ellbogen ab. „Willst du denn gar nicht?“, fragte er gerade heraus und klang etwas enttäuscht. Unsicher wandte Otabek sich zu ihm und strich sich durch das dunkle Haar. „Das ist es nicht, Yura. Ich kann mich kaum beherrschen! Aber ich möchte keinen falschen Eindruck hinterlassen.“ Verwundert legte der Junge den Kopf schief, besann sich aber dann. Vorsichtig wandte er sich ab und schmiegte sich mit dem zarten Körper an seinen Liebsten. Überrascht spürte Otabek die zarte Haut der Oberschenkel und der aufreizenden Hüfte an seiner Körpermitte. Sanft küsste er den Nacken und legte Yura von hinten die Arme um den Körper. So oft hatte er davon geträumt und nun fühlte er sich schrecklich unsicher. Doch Yura ließ ihm keine Ruhe, räkelte sich gekonnt und rieb sich sanft an dem starken Körper. Es entlockte Otabek ein leises Keuchen, das er durch einen leichten Biss in den Nacken des Jungen unterdrückte. Er wollte es, er wollte es wirklich, aber er hatte einfach zu viel Angst etwas Falsches zu tun. „Ich kann das nicht!“, platzte es aus ihm heraus und Yura drehte sich verwundert zu ihm um. Otabek war knallrot angelaufen und hatte sich eilig eine Decke um den Unterleib gewickelt. Der Blonde schaute ihn verständnislos an. „Was ist denn los? Ich dachte, du liebst mich! Du tust ja so, als hättest du noch nie mit jemandem geschlafen!“, entwich es ihm vorwurfsvoller als beabsichtigt. Doch Otabek errötete noch mehr und blickte zu Boden. Kapitel 15: Aller Anfang ist schwer ----------------------------------- Huhu! Es tut mir sooo Leid, dass es so lange gedauert hat! ;.; Ich bin vor zwei Wochen schwer auf dem Eis beim Sprung gestürzt und habe mein Steißbein angebrochen. Da war Sitzen absolut nicht drin! Bitte verzeiht! Kapitel 16          Aller Anfang ist schwer     Die zunächst feurige Silvesternacht hatte ihr jähes Ende gefunden, bevor Yura eigentlich wusste, was er denken sollte. Otabek hatte ihm keine Antwort geliefert und ihn nur verdutzt sitzen lassen.  Beide hatten getrennt voneinander geschlafen, Yura auf der Pritsche, sein Liebster auf dem kargen Boden. Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis er endlich eingeschlafen war. Ob Otabek Ruhe gefunden hatte, wusste er noch nicht einmal. Als die ersten Lichtstrahlen durch das fast blinde Fenster brachen, erwachte Yura mit einem beklemmenden Gefühl in seinem Inneren. So hatte er sich seine neue Freiheit nicht vorgestellt. Fragend sah er sich um, erblickte seinen Retter jedoch nirgends. Ob er wohl einer Arbeit nachging? Weit gähnend erhob er sich aus den kratzigen Decken und streckte sich ausgiebig. Es war sicher schon Zeit für das Frühstück. Neugierig suchte er nach einem Vorratsschrank, doch er wurde enttäuscht. Nirgends fand er frische Früchte oder Milch. Nur eine kleine Flasche mit abgestandenem Wasser stand auf einer kleinen Kommode. Angeekelt roch er daran und streckte die Zunge heraus. „Bääähhhh!“, entfuhr es ihm laut. Als würde er Wasser trinken, dass nicht frisch aus dem Hausbrunnen kam.  Noch immer hungrig suchte er weiter nach Vorräten. Kurz dachte er, er wäre fündig geworden – war es doch nur ein hartes Stück Brotkruste. Wieder verzog er die Lippen. Bei Jean hatte es immer frisch gebackene Brötchen gegeben mit Marmelade aus exotischen Früchten oder frischem Schinken. Bei dem Gedanken an das reichhaltige Essen knurrte ihm nur noch mehr der Magen. Irgendwo hier musste doch Geld sein, damit er etwas kaufen konnte? Eilig durchwühlte er alles, was ihm unter die dürren Finger kam. Schlussendlich erinnerte er sich an die Schmuckstücke und die Taschenuhr von Jean, die er eingepackt hatte. Die mussten doch etwas wert sein! Eilig kramte er in seiner Leinentasche und stopfte sich alles in die Jackentaschen. Hastig bürstete er sein Haar und strich die zuvor angelegte Kleidung glatt. Dann würde er eben für Geld sorgen. Könnte ja nicht so schwer werden!   Frohen Mutes stapfte er durch den Schnee zu dem Juwelier ganz in der Nähe des Marktplatzes. Als er an dem Stand mit den Früchten vorbeikam, wurden seine Augen immer größer. Wie gerne würde er jetzt sofort in so eine süße Frucht beißen.  Doch zuerst musste er Geld beschaffen. Fröhlich stolzierte er in den Laden hinein und trat dem überraschten Verkäufer gegenüber. „Hier, das möchte ich verkaufen! Ich nehme an, ihr könnt mir ein ansprechendes Angebot machen!“, profilierte der Blonde sich überzeugt. Der Juwelier betrachtete jedes Stück genau, vor allem die Taschenuhr. „Wahrlich! Feine Stücke habt ihr! Schade...“, brummte der Mann unter seinem Schnäuzer. Yura legte den Kopf schief, verstand er das Problem überhaupt nicht. „Schade, dass diese Stücke Mister Leroy gehören und nicht euch!“ Die kleinen stechenden Augen fixierten ihn unheilvoll. Panik machte sich in ihm breit. Hatte Jean den Diebstahl etwa so schnell bemerkt? „Schert euch davon, ihr kleiner Dieb oder ich sorge dafür, dass eure Finger hinter Gitter landen!“ Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen und rannte um sein Leben. Keuchend blieb er erst viele Straßen später stehen. Nun stand er wieder mit Nichts da. Otabek wäre sicher furchtbar enttäuscht! Angestrengt überlegte er, wie er jetzt noch an Geld käme. Seufzend kratzte er sich hinter dem Ohr und sah an sich herab. In all dem Stress hatte er zumindest noch die exklusive Samtjacke mitgenommen, die er zur Weihnachtsfeier hatte anfertigen lassen.  Unentschlossen sah Yuri sich um und erkannte unweit von sich den kleinen Laden des Schneiders. Ob er die Jacke wohl wieder verkaufen konnte? Eilig lief er zum Geschäft und trat nervös ein. Der Schneider, zu dem er oft wenig  freundlich gewesen war, besah ihn mit ernster Miene. „Der Herr wünscht?“, begrüßte er den Jungen nur kühl. Leise räusperte der Blonde sich und traute sich kaum zu fragen. Doch er erzählte ihm zögerlich von seiner misslichen Lage. Erstaunt lauschte der Schneider und schien dann eine ganze Weile zu überlegen. „Nun...“, begann er sichtlich amüsiert. „Ich kaufe die Jacke zurück. Sie ist ein fabelhaftes Meisterstück. Ich biete euch ein Viertel des Kaufpreises, wenn ich die Samtschuhe dazu erhalte.“ Yura blieb fast die Luft weg. Das Geld würde kaum für eine Woche reichen und die Schuhe waren die einzigen, die er besaß. Aber er wollte nicht alles auf Otabeks Schultern abladen. Traurig nickte er, legte die Jacke und die Schuhe ab. Seine nackten Füße froren auf dem kalten Steinboden und das dünne Leinenhemd wärmte in keiner Weise mehr. „Ich bedanke mich!“, flötete der Geschäftsinhaber und wies ihm den Weg zur Tür. Als Yuras Füße den Schnee berührten, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Wie sollte er es ohne Schuhe nach Hause schaffen und dazu wusste er ja nicht einmal den Weg. Aufgeschreckt von einem lauten Klang realisierte er, dass er ganz in der Nähe der Kirche sein musste. Die Neujahrsmesse musste gerade vorbei sein. Eilig rannte er in die Richtung, aus der die Glocken erklangen. Fürwahr, viele Menschen strömten aus der Kirche. Feierlich bekleidet in Pelz und Samt, schritten sie laut lachend und schwatzend die Treppe hinab. Yura stand mit seinen kaum noch spürbaren Füßen auf den untersten Stufen und fühlte sich wie durchsichtig. Niemand schien ihn zu beachten oder sehen zu wollen. Er war nicht mehr einer von ihnen. „Wie schnell aus dir doch das wurde, was du immer warst!“, hörte er plötzlich vor sich eine nur zu bekannte Stimme. Erschrocken sah er die Stufen hinauf. Dort stand Jean in Begleitung von Georgi und seiner nun Verlobten. Diese wandte sich eilig ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit anderen Damen. Georgi lachte nur bei dem Anblick des Jungen und strich sich mit der Zunge über die Lippen wie ein blutdurstiger Wolf. „Seltsam... vor Kurzem war ich dir für dein Bett aber noch gut genug!“, erwiderte Yura nach einer kurzen Bedenkzeit und schritt langsam auf ihn zu. Jean legte den Kopf schief, schaute sich um, ob Isabella ihn hören konnte und beugte sich dann langsam zu dem Jungen hinunter. „Du kannst jederzeit zu mir zurückkommen, meine Blüte. Ich werde dir nicht meine Zimmertür verschließen.“ Der heiße Atem seines früheren Herrn ließ Yura erzittern. „Lieber sterbe ich!“, zischte er wütend und spuckte dem Geschäftsmann unverhohlen vor die Füße. In dem Moment packte Georgi ihn an den Schultern und hielt ihn schmerzhaft fest. Jean jedoch lachte nur spöttisch. „Du kommst zurück! Ich weiß es!“ Damit wandte er sich ab und wies seinen Wächter an, den Jungen loszulassen. Perplex über so viel Dreistigkeit, sah er den Gestalten nach und hatte für einen Moment sogar die Schmerzen in seinen Füßen vergessen. Schnell wurde er jedoch wieder an seine Lage erinnert. Mit leidendem Gesichtsausdruck ließ er sich auf die obere Stufe sinken. Was sollte er nur jetzt tun? Wo war Otabek, den er gerade so brauchte? Heiße Tränen rannen seine Wangen hinunter und benetzten den gefrorenen Boden. Er vergaß alles um sich herum.   „Der Herr hat immer ein Dach für die Armen.“ , ertönte eine fröhliche Stimme neben ihm und ließ ihn zusammenzucken. „Und heißen Tee auch!“ Verschüchtert sah Yura zu dem Priester auf, der ihm helfend die Hand hinhielt. Langsam ließ er sich aufhelfen  und nickte zum Dank. Der Geistliche war nicht unbedingt die erste Person, an die er sich gerne wenden wollte. Aber seine Füßen taten so schrecklich weh und erfrieren wollte er auch nicht. So folgte er Chris in den hell erleuchteten Kirchenraum. Staunend besah er die vielen Kerzen, die noch von der Messe brannten.  Der Priester wies ihm den Weg hinter den Kirchenraum zu seiner Kammer. Brav setzte er sich an den Tisch und erhielt sogleich eine randvolle Tasse herrlich duftenden Tee. „Hast du Hunger?“, fragte ihn der Ältere freundlich und hielt ihm ein kleines Stück Rauchfleisch hin. Hastig griff Yura danach und stopfte es sich schnellstmöglich in den Mund. Halb kauend brachte er ein kleinlautes „Danke!“ hervor und erntete ein herzerwärmendes Lächeln. „Was machst du hier so alleine und ohne richtige Kleidung?“, hakte Chris schließlich nach. Es dauerte eine Zeit, bis Yura sich ihm öffnete: „Ich bin heute morgen alleine aufgewacht und es gab nichts zu essen. Darum wollte ich in die Stadt.“ Er erzählte vom Juwelier, dem Schneider und der Begegnung mit Jean. Der Priester hörte ruhig zu und nickte hin und wieder. „Otabek ist sicher im Krankenhaus bei Dr. Lee. Seit er wieder besser laufen kann, verbringt er viel Zeit dort. Immerhin eine gute, wenn auch harte Arbeit. Er ist wirklich herzensgut.“, schwärmte er von dem Arbeiter. „Er arbeitet dort viel mit Kindern, weißt du? Das Waisenhaus liegt direkt angebunden und sie brauchen immer jemanden, der ein offenes Herz hat.“  Yura versuchte sich vorzustellen, wie Otabek wohl mit den Kindern spielte und irgendwie versetzte es ihm einen Stich. Wünschte er sich vielleicht eine Familie? Zögerlich trank Yura wieder einen Schluck Tee. „Warum hat Otabek keine Frau?“, fragte er geradeheraus und dennoch unsicher. Chris schaute etwas irritiert und fragte sich, ob der Junge vielleicht eine Nachhilfestunde in Biologie brauchte. Aber schnell verstand er, worauf der Blonde hinaus wollte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einer Person den Hof gemacht hätte. Nein, wirklich nicht.“ Yura legte den Kopf schief. „Noch nie? Er war nie mit jemandem zusammen?“ Chris lächelte mild und erwiderte voller Überzeugung: „Oh, nicht, dass die Frauen nicht schon Schlange standen, aber er wollte einfach nicht. Du musst dir keine Sorgen machen. Ihm fehlt es an nichts.“ Wieder versank der Junge in seine Gedanken. Otabek war also wirklich noch nie mit jemandem zusammen gewesen. Aber wenn er doch eine Familie gewollt hätte, dann hätte ihm  nichts im Weg gestanden. „Ich glaube, ich weiß, was dich beschäftigt.“, weckte der Priester wieder Yuras Aufmerksamkeit. „Du hast Sorge, weil er so zurückhaltend ist, nicht wahr?“ Völlig ertappt fiel Yura die Kinnlade hinunter. Unweigerlich musste Chris lachen. „Nun... wie du ja jetzt weißt, ist er ein unbeschriebenes Blatt. Gib ihm etwas mehr Zeit, dann wird er dir schon zeigen, was in ihm vorgeht. Ich habe ihn noch nie so erlebt wie in der letzten Zeit. Du verdrehst ihm wirklich schrecklich den Kopf!“ Der Junge lief knallrot an. War er wirklich so leicht zu durchschauen? „Ich... ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich mit mir zusammen sein möchte.“, entwich es ihm doch  leise. Chris nahm die durchgefrorenen Hände des Jungen vorsichtig in die eigenen. „Dessen sind sich Himmel und Hölle sicher!“, schwor er mit einem liebevollen Lächeln. Eine Stimme durchbrach die Stille. „Darf ich fragen, was das wird?!“ Otabek stand mit skeptischem Blick im Eingang zur Kammer und versuchte das sich ihm bietende Bild zu entschlüsseln. Kapitel 16: Teilen nicht erlaubt --------------------------------   Bitte, bitte verzeiht die lange Wartezeit! Mein Laptop war ja kaputt und ich musste mich wirklich noch von dem Sturz auf dem Eis erholen. Mittlerweile habe ich das gute Stück repariert und trainiere auch wieder. Nun wollte ich euch dieses Kapitel gerne zu Weihnachten schenken! Nächstes Kapitel am 03.-05.01. Bitte seid nicht böse!     Kapitel 17 Teilen nicht erlaubt   Es dauerte nicht lange, da hatte Yura zaghaft von seinen Erlebnissen erzählt. Otabek verschränkte wütend die Arme und wollte gerade zu einer waschechten Predigt ansetzen, da winkte Chris schnell ab. „Aber, aber, Kinder! Ich bin mir sicher, dass unser junger Hitzkopf einen guten Job finden wird! Was kannst du gut?“, fragte der Priester ganz unvoreingenommen. Yura dachte nach und legte unsicher den Kopf auf die Seite. „Also ich bin gelenkig, weiß, was ich mit meinem Mund kann und außerdem....!“ Völlig errötete hielt Otabek ihm den Mund zu. „YURA!“, entfloh es ihm peinlich berührt. Chris schaute etwas irritiert, musste dann jedoch herzlich lachen. „Also eigentlich meinte ich eine anständige Arbeit! Nun, ich könnte Emil fragen, ob du ihm im Gasthaus aushelfen kannst. Adrette Bedienungen kann er immer gebrauchen!“ Otabeks Blick wanderte von dem zappelnden Jungen zu dem Priester. „Er wird nicht im Gasthaus arbeiten! Die Männer da sind... unchristlich!“ Yura konnte sich endlich aus dem Handgriff befreien und protestierte heftig: „Ich will es aber!“ Wieder tadelte Otabek ihn und stemmte die Hände in die Hüften. „Nein! Ich erlaube es nicht!“, versuchte er noch einmal seine Position klar zu stellen, doch vergeblich. Yura zog eine Schnute und streckte ihm die Zunge heraus. „Doch! Ich werde gleich hingehen!“ Ruckartig erhob er sich und stapfte durch den Kirchenraum. „Yura! Hier geblieben!“, rief der Arbeiter ihm nach und erntete ein patziges „Warum!?“. Noch immer saß der Priester grinsend am Tisch und besah sich das Schauspiel. „Erstens hast du keine Schuhe an und zweitens hast du keine Ahnung, wo du hingehen musst!“, stellte Otabek nun deutlich kühler fest. Jetzt war es um Chris geschehen. Yuras völlig verdutzter Blick ließ ihn vor Lachen aufheulen. Tränen schossen ihm in die Augen und er verschluckte sich fast an den kehligen Lauten. „Wartet, Kinder! Ich habe noch ein paar gespendete Kleidungsstücke. Lasst uns schauen, was passt!“, hustete er hilfsbereit hinaus. Schnell wischte er die Tränen aus den Augenwinkeln. Gefolgt von dem Paar, kramte er in einer Kiste mit einigen wirklich bemitleidenswert aussehenden Stücken. Yura juckte es schon bei der Vorstellung. Doch unerwartet zog der Geistliche einen kleinen Leinensack hervor, den er sorgsam öffnete. Darin waren ein paar schmale Schuhe in wenig abgewetztem Dunkelbraun mit noch ansehnlicher Schnürung. „Schau einmal, dir sollten auch Frauenschuhe passen!“ Damit hielt er dem Jungen die feinen Stücke hin, der sie ohne zu zögern überstreifte. Und wahrlich, sie passten wie angegossen. „Ein Jäckchen mag ich auch noch für dich haben.“ Zu Otabeks Erstaunen zog der Priester einen hübschen Blazer aus dem Schrank, der mutmaßlich aus Gewandstoff hergestellt war. „Krippenspiele finden ja nun nicht mehr statt, dafür fehlen uns die Gemeindemitglieder.“, stellte der Blonde seufzend fest und hielt dem Jungen die Jacke hin. „So braucht es auch keine Weisen aus dem Morgenland. Bitte, nimm es!“ Mit strahlenden Augen streifte Yura es über und betrachtete die feinen Stickereien an den Ärmeln. Es war schöner noch als seine Samtjacke. Der purpurglänzende Stoff war wahrlich eines Königs wert. Nur Otabeks Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Das können wir nicht annehmen! Es gehört der Kirche! Zieh es aus, Yura!“ Doch dieser dachte gar nicht daran. Schnellstens drehte er sich um und rannte los. Noch im Rennen wandte er sich kurz um und grinste. „Vielen Dank! Das Gasthaus werde ich alleine finden!“ Otabeks Mund stand offen, so perplex war er über diese freche Art. Doch Chris grinste tief in sich hinein. //Da soll nun endlich Leben in Otabeks Ordnung kommen.// So dachte er sich und machte sich zurück an die Arbeit, denn die Kirche musste nach den Festtagen nun wieder entschmückt werden. Das neue Jahr war gekommen und sollte viele Überraschungen bringen.   Yura liebte seinen Job im Gasthaus. Ständig bekam er Komplimente, manchmal sogar etwas Trinkgeld zugesteckt. Er war für jeden Spaß zu haben, gab sich auch die Ehre hin und wieder mit einem Gast zu tanzen oder sich die ausschweifenden Sorgen anzuhören. Emil besah sich vom Tresen das Geschehen und erfreute sich an den stets vollen Tischen. Der Frühling kündigte sich mehr und mehr an, die Menschen waren beseelt vom Duft der keimenden Knospen. Yura genoss den ausströmenden Geruch der ersten Frühblüher als er nach seiner Schicht am späten Abend vor die Türe trat. Wie immer wartete Otabek aufgewühlt vor dem Eingang. „Warum kommst du erst so spät? Ich warte schon die ganze Zeit hier. Hat dich jemand aufgehalten? Oder wollte schon wieder einer dieser Männer etwas von dir!?“ Genervt verdrehte Yura die Augen. „Nun, sie wollen bestimmt mehr von mir als du!“, antwortete er schnippisch und drückte dem Älteren einen Kuss auf die rauen Lippen. „Yura, was soll das?! Nun fängst du schon wieder damit an! Ich habe dir doch gesagt, dass...“, maulte der Dunkelhaarige entrüstet und wurde von seinem jungen Freund ergänzt: „...wir es nicht überstürzen sollten. Ja, ja! Ich weiß, ich weiß!“ Seufzend griff Yura nach der Hand seines Geliebten. „Aber ich möchte dir nah sein. Du bist so eifersüchtig wegen des Jobs, dabei bringt er uns gutes Geld und macht mir Freude. Du erzählst nie etwas von deiner Arbeit im Krankenhaus.“ Wie fast jeden Tag schwiegen sie sich auf dem Rückweg weitestgehend an. In letzter Zeit war ihre Beziehung wenig fortgeschritten, denn Otabek mochte Yuras Offenheit im Gasthaus nicht und den Jungen verletzte die zurückhaltende Art seines Partners. Dabei wollten sie beide nichts mehr, als zusammen zu sein. Doch Yuras Gedanken hingen noch verloren an einem anderen Ort. Wie mochte es Victor und Yuri ergehen? Ob Mila noch immer so viel Temperament aufbrachte? Er vermisste sie schmerzlich, doch Otabek hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er sich fern halten sollte. „Du gehst nachher mit zur Nachtmesse.“, riss ihn die sanfte Stimme neben ihm aus den Gedanken. „Ich will nicht in die Kirche! Das ist langweilig! Geh alleine.“, erwiderte er müde und antriebslos. „Das war keine Bitte!“ Otabek blieb stehen. „Yura! Es ist mir wichtig!“ Der Blonde seufzte. „Du tust ja so, als hätte ich geradewegs die Kutschfahrt in die Hölle gebucht!“ Verletzt sah er zu Boden. „Yura, du hast nicht gerade ein redliches Leben geführt und es würde dir guttun, dich Besserem zu zuwenden.“ In Yura entflammte ein ungewohntes Feuer. „Das belastet dich also? Dass ich nicht dein reines, unberührtes Täubchen bin? Was bin ich für dich!? Eine Hure?“ Ehe er sich versah, war ihm die Hand ausgerutscht und hinterließ einen gleißend roten Streifen an Otabeks Wange. Über sich selbst erschrocken, wandte er sich ab und lief los. Rannte, so lange die schmalen Beine ihn trugen. Rannte, bis er nichts mehr um sich wahrnahm und doch dort endete, wo sein Leben seinen Sinn verlor. Keuchend stand er vor den roten Laternen, die den Weg zum großen Holzportal säumten. Sie flackerten bösartig und züngelten seinen Namen im Wind. Yuuuuuraaaa.... Yuuuuraaaaa. //Das bist du und du wirst es immer bleiben. Ein Eigentum, ein Nutzen, ein Nichts.// Jeans Worte hallten in seinen Gedanken. // Du kehrst zurück zu mir. Du brauchst mich, du willst mich!// Tränen liefen die weißen Wangen hinunter, als die Laternen noch geisterhafter tanzten. //Meine Tür bleibt dir nie verschlossen. Du kehrst zurück zu mir. Ich weiß es!// Von unsichtbarer Hand getrieben, zog es ihn zum Portal. Noch ohne einen weiteren Gedanken trat er ein und die lauten Klänge, der beißende Alkoholgeruch und die tausend Augen rissen ihn mit sich.   Otabek war so wütend. Wütend auf seine eigene Eifersucht, auf seine dummen Worte und seine eigene Unfähigkeit, Yura seine Gefühle zu zeigen. Mit dem Kopf auf den Armen saß er am Tresen des Gasthauses und ließ sich von Emil den achten Gin eingießen. Seine Wangen glühten heiß, doch er wollte seine Gefühle noch tiefer ertränken. Emil schüttete großzügig nach. „Darf man erfahren, warum du dich hier volllaufen lässt, während ein Schmuckstück Zuhause auf dich wartet?“ Otabek murrte nur und kippte das Glas in einem runter. „Noch einen...!“ Emil zuckte mit den Schultern und goss nach. „Weissssss su?“, ergriff der Arbeiter betrunken das Wort. „Jeder... also wirklich... jeder... schtarrt ihn an. Du kanns ihn nischt zwei Sekunden aus den Augen lassen.“ Emil konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Aber das ist doch wunderbar. Wer schaut denn eine Rose inmitten der dornigen Hecke nicht an? Aber das heißt doch nicht, dass sie gleich jemand pflückt.“ Otabek schien nachzudenken, „Aba...!“ Sein Kopf sank wieder auf die Arme. „Warum tut es ssssso weh?“ Es dauerte eine Weile, bis Emil die richtigen Worte gefunden hatte. „Ich kenne dich jetzt schon so lange und nie hast du dich für jemanden interessiert. Es verletzt dich, dass Yura so offenherzig ist, denn es gibt dir das Gefühl, nicht sein Zentrum zu sein. Aber du irrst dich. Er redet so oft von dir, freut sich, wenn du ihn abholst. Versteh ihn doch auch. Und, mal ehrlich, mein Freund. Du bist nicht gerade der leidenschaftlichste Mensch.“ Otabeks Kopf schoss nach oben. Seine Wangen waren noch alkoholgeschwängerter und seine Lippen bebten. „Isch... wollte ihn doch nur schü...schützen.“ Ein Grinsen legte sich auf Emils Lippen. „Wovor? Du meinst, du wolltest dich davor schützen, ihm zu zeigen, was in dir vorgeht! Mein Freund, du bist auch nur ein Mann. Du kannst mir nicht erzählen, dass es dich kalt lässt, wenn ihr das Bett teilt. Welcher Mann würde da nicht auf die gewagtesten Gedanken kommen?“ Otabek seufzte laut. „Ja! Ja, ver... verdammt! Isch könnte verbrennen! Es macht misch... misch verrückt!“ Fahrig strich er ein paar Strähnen aus seiner Stirn. „Weiß... Weißu was? Isch... isch gehe jetzt na Hause und dann...!“ Siegessicher hob er den Zeigefinger und rutschte dabei fast vom Hocker, „Heude Nacht!“ Stolpernd machte er sich auf den Weg zum Ausgang und ließ einen verdutzt dreinblickenden Emil zurück. Die laue Luft verschaffte dem Arbeiter einen klareren Kopf. Ja, er würde Yura endlich zeigen, was er für ihn empfand! Heute Nacht würde er nicht wieder gegen seine Zweifel verlieren. Er würde seinem Liebsten zeigen, dass er ein Mann war und nicht nur irgendeiner. Siegessicher schloss er die Tür zu der kleinen Wohnung auf und wollte gerade seinen Gedanken Nachdruck verleihen, da erschrak er. Nirgends war eine Spur des Jungen zu sehen. Kein Licht brannte, der Ofen war ausgekühlt und das Bett leer. Sorgenvoll prasselten alle möglichen Gedanken auf den Arbeiter ein. War er wirklich gegangen? Otabek war sich so sicher gewesen, dass sein hitziger Freund nur etwas Zeit für sich brauchte, doch nun zerschlug sich all seine Hoffnung. Eilig machte er sich auf die Suche nach ihm.   Victor unterhielt sich mit Yuri über den neuesten Klatsch der Gesellschaft als Jean zu den beiden stieß. Grinsend lehnte er sich zu dem Barkeeper hinüber. „Gib mir mal zwei Gin, einen doppelt, der Abend ist gerade interessant geworden.“ Mit fragendem Blick übergab der Silberhaarige die Gläser und suchte Yuris Blick. Dieser schien ebenfalls nicht zu wissen, was den Geschäftsmann so erfreute. „Nun, dürfen wir an diesem Wissen teilhaben?“, erkundigte Victor sich forsch, erwartete jedoch keine sinnvolle Antwort. Zu seiner Überraschung grinste der Dunkelhaarige und deutete in eine Ecke. Verschüchtert und mit leerem Blick stand dort die zarte Gestalt des Blonden. Gefangen wie eine Motte im Licht, betäubt vom süßen Duft der Gefahr. Victor entglitten alle Gesichtszüge als Jean sich auf den Weg zu seinem Opfer machte. „Yuri, schnell! Lauf!“ Der Kartenspieler wusste sofort, was sein Liebster von ihm verlangte. Eilig rannte er die Treppe hinauf, benachrichtigte Mila, damit sie aufpasste und ließ sich dann elegant am Fenstersims hinuntergleiten. Er musste Otabek finden. Was auch immer hier vor sich ging, es musste enden. Nachdenklich sah er in alle Richtungen. Er konnte sich nur dunkel daran erinnern, wie er zur Kirche kam. Dort würde er Chris bitten, mit ihm nach Otabek zu suchen. Hastig stolperte er über seine eigenen Füße, fing sich gerade noch auf und setzte seinen Weg unbeirrt fort. Währenddessen beobachtete Victor das Geschehen mit Ekel. Jean lehnte an der Wand mit dem Arm über Yuras Kopf, gab ihm den doppelten Gin und stieß erfreut mit ihm an. Der Junge hatte beide Hände um das Glas geschlungen und nahm einen vorsichtigen Schluck, während der Geschäftsmann sich zu seinem Ohr hinunterbeugte und ihm womöglich allerlei Versprechungen machte. Zwischenzeitlich hatte Mila sich eilig zu dem Barkeeper gesellt und starrte ungläubig durch den Raum. „Meinst du, er ist wirklich freiwillig zurückgekommen?“, raunte sie erstaunt. Victor kratzte sich hinter dem Ohr. „Das wäre schon reine Selbstaufgabe! Ich kann es mir nicht denken!“ Jean lehnte sich mit seinem Körper nah an den des Jungen. „Du bist zurückgekehrt.“, hauchte er fast stimmlos neben seinem Ohr. Yura schluckte schmerzhaft und hielt den Atem an. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Warum hatte er so böse auf Otabeks Sorge reagiert? Er wollte doch nur sein Bestes. Nun saß er wie das arme Häschen in der Falle, umzingelt vom nach ihm trachtenden Wolf. Jeans lange Finger spielten mit dem goldenen Haar. „Dein Halsband habe ich noch immer in der Kammer. Es stand dir ausgezeichnet. Auch deine Kleider, deine Spangen, der Schmuck. Alles liegt an seinem Platz. Ich werde nicht nachtragend sein.“ Ein schummeriges Bild seines alten Lebens ohne Sorgen flackerte in den Gedanken des Jungen auf. Doch Jean hatte ihn weggeworfen. „Du könntest wieder das feine Samtbett haben, das du so mochtest. Jeden Tag frische Früchte. Kein Mann wird dich anfassen, ich gebe dir mein Wort.“ Nachdenklich legte Yura den Kopf schief. Otabek schien ihn ja doch nicht so zu wollen, wie er war. Er verlor sich in dummen Gedanken und falscher Enttäuschung. Jean hatte sich nie daran gestört. Er hatte ihm immer gesagt, dass dies ein gutes Leben war. Nie hatte er ihn dafür verurteilt. „Dein Ring, ich habe ihn noch. Komm zu mir zurück und ich öffne dir die Welt!“ Jeans Hände suchten ihren Weg über den dürren Körper. Yura erzitterte und versuchte einen vernünftigen Gedanken zu finden. Der Alkohol des schon fast geleerten Glases ließ ihn schwindelig werden. Was sollte er nur tun? Kapitel 17: Lerne aus der Vergangenheit --------------------------------------- Huhu! Okay, hier ist das neue Kapitel und ich MUSS mich direkt im Voraus entschuldigen. Ich gebe Jean wirklich gerne nach der Story zum Jagen frei, versprochen! Erwähnte ich schon, dass die Geschichte irgendwann mal gut ausgeht? ^^' Habt viel "Freude" beim Lesen! Herzlichst Kapitel 18 Lerne aus der Vergangenheit Yuri japste erschöpft. Sein Atem gelangte nur noch stoßweise und schmerzhaft nach draußen, während er sich mit den Armen auf die Oberschenkel stützte. Endlich hatte er diese verdammte Kirche gefunden. Hastig schleppte er sich die Stufen hinauf und drückte gegen das riesige Portal. Zu seinem Glück war es noch nicht verschlossen, doch der Kirchenraum war tiefdunkel und machte keinen sonderlich einladenden Eindruck. „Father?“, fragte der Kartenspieler unsicher in die Dunkelheit. „Seid ihr hier? Ich brauche eure Hilfe!“ Leise Schritte näherten sich und wurden immer lauter. Erleichtert seufzte Yuri und versuchte im Schein der auf ihn zukommenden Kerze etwas zu erkennen. „Sohn, was machst du hier um diese Uhrzeit? Ist etwas passiert? Geht es Victor gut?“ Chris besorgte Stimme wärmte das Gemüt des jungen Mannes und er erzählte ihm hastig von den Geschehnissen. „Oh, Herr, hilf! Mit wie viel Unsinn und Leichtfertigkeit hast du uns gestraft!“ Der Geistliche musste sich erst einmal setzen. „Als hätte ich es geahnt! Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen!“ Yuri sah ihn ungläubig an. „Wie meint ihr das?“, fragte er überrascht und besorgt zugleich. Doch Chris winkte nur ab und erhob sich rasch. „Darüber können wir später sprechen. Wir müssen Otabek suchen und uns einen gescheiten Plan überlegen! Aber auch du, mein Kind, weißt hoffentlich, dass es alleine Yuras Entscheidung ist, ob er wieder zurückkehrt.“ Zum ersten Mal seit er losgelaufen war, kam Yuri auf den Gedanken, dass der Junge tatsächlich aus freien Stücken zurückgekehrt war. Aber warum sollte er so etwas Dummes tun? Er rückte nachdenklich seine Nickelbrille zurecht und starrte zu Boden. „Nein, das kann nicht sein! Ich habe ihn noch nie so frei und glücklich wie mit Otabek gesehen. Er würde ihn nicht einfach verlassen. Oder?“ Tränen rannen an den großen Augen des Kartenspielers entlang. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, den Jungen wieder so verletzt zu sehen. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund war er ihnen allen an das Herz gewachsen. „Father!“ Eine laute Stimme riss den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken. Otabek stand völlig außer Atem am Eingang zum Kirchenraum. Sein Äußeres war ein Trauerspiel. Das Gesicht fahl, die Augen dunkel umrandet und das Haar zerstreut in alle Windrichtungen. Seine zerschlissene Jacke hatte er kaum richtig angezogen, das Hemd achtlos zur Hälfte in die dunkle Hose gesteckt. Chris erschrak, eilte sofort auf ihn zu und stützte ihn vorsichtig. „Sohn, bist du des Wahnsinns! Dr. Lee hat dir verboten mit deinen Beinen zu rennen. Das ist gefährlich und du solltest achtsam damit umgehen! Bitte, beruhige dich, Yuri wird dir alles erzählen!“ Doch die Worte des Kartenspielers brachten den jungen Mann nur noch mehr zur Verzweiflung. „Wieso tut er nur so etwas!? Ich habe mir doch nur Sorgen um ihn gemacht. Er sollte nicht wieder so einen Umgang pflegen!“ Otabek rieb sich die schmerzende Stirn. Der Alkohol hatte ihn wirklich ziemlich niedergestreckt. Mit hochgezogener Augenbraue wandte der Priester sich ihm zu. „Was genau hast du angestellt!? Ich habe dir doch nun oft genug gesagt, dass du ihm seine Freiheit lassen musst! Vertrauen ist wichtig, mein Kind!“ Yuri kam sich vor wie in einer Eheberatung oder zumindest stellte er sich das so ungefähr vor. Victor und er waren noch nie wirklich aneinander geraten, denn auf mysteriöse Art und Weise waren sie wie ein Ganzes. Sie ergänzten sich in allem. Bisher hätte er seine Hose darauf gewettet, dass es bei Yura und Otabek genauso war. Aber irgendwie verwunderte es ihn auch nicht, dass die beiden ziemlich ungestüm und impulsiv sein konnten. „Das bringt uns jetzt nicht weiter! Otabek, du musst mit Yura reden. So darf es doch nicht enden. Sicher, es war eine dumme Idee von ihm, ausgerechnet wieder zurück zu Jean zu gehen, aber es ist doch noch nicht das letzte Wort gesprochen.“ Der Angesprochene und der Priester schauten den Kartenspieler verdutzt an. Natürlich hatte er recht und nun galt es, sich etwas Sinnvolles zu überlegen. „Ich werde hingehen! Jetzt! Ich könnte nicht ertragen, wenn ich ihn deswegen verlieren würde.“ Otabek strich sich ergebnislos das Haar zurecht, während Chris nur mit dem Kopf schüttelte. „Du kannst da nicht schon wieder einfach hinein spazieren! Möchtest du dich wieder mit Georgi anlegen? Wir wissen, wohin das führte und dieses Mal würde es nicht so glimpflich ausgehen! Warte bis morgen früh, bis dieses unselige Etablissement geschlossen ist. Yuri wird dir sicher hinein helfen!“ In Otabeks Gedanken manifestierten sich Bilder, die er auch mit größter Kraft nicht abschütteln konnte. Was, wenn Jean...? Doch der Priester hatte recht. Es brachte nichts, nun kopflos hineinzustürmen und womöglich seines und Yuras Leben zu gefährden. Yuri versprach ihm, ihn gleich bei Morgengrauen im Hinterhof zu treffen und verschwand eilig wieder. Die Nacht über wollte Chris seinen Schützling lieber bei sich behalten, auch wenn er sich weitere Predigten sparte. Yuras Blick war schon glasig vom Gin, denn die Gläser hatte er nicht zählen können. Jean hatte akribisch darauf geachtet, dass der Junge brav trank und hielt ihn nun stützend vor dem Spiegel in der Kammer fest. „Wie schön dein Halsband wieder aussieht, meine Blume!“, sprach der Geschäftsmann das Spiegelbild des Blonden an. An seinem Hals glänzte das altbekannte schwarze Schleifenband mit dem Goldanhänger. „Und damit du nicht vergisst, wohin du gehörst...!“ Schmerzhaft ergriff Jean die langen Haare des Jungen, die sorgsam zu einem Zopf gebunden waren und riss den zarten Kopf zur Seite. Erschrocken jaulte Yura auf, fand jedoch keine eigene Kraft. „Wehe, du legst es wieder ab!“ Der Ältere griff nach einer brennenden Kerze im Kammerleuchter und hielt die Flamme direkt an die dünne Bleischließe des Schmuckstückes im Nacken des Jungen. Mit einem erstickten Schrei verformte sich die Schließe und brannte sich tief in die weiße Haut ein. Jeans Grinsen wirkte wie die verzerrte Fratze einer venezianischen Karnevalsmaske, unwirklich und vom Wahnsinn erfasst. Yura wollte nur noch wegrennen, fort von hier und diesem undurchdringlichen Schmerz, doch seine Haare waren noch immer im festen Griff. „Jetzt wirst du es nicht mehr ablegen, mein Goldstück. Sei brav und bedanke dich!“ In diesem Moment klopfte es fest gegen die Kammertür, sodass Jean von seinem wimmernden Opfer abließ. Er wandte sich nur kurz um und betrachtete seinen neugewonnenen Besitz von oben bis unten. „Warte brav, ich komme morgen früh wieder. Es gibt noch viel zu erledigen!“ Eilig griff er seine Tasche und verschwand. Zurück blieb ein kauerndes Bündel, das Haar zerrupft und mit dem unerträglichen Geruch verbrannten Fleisches. Doch es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür leise und eine schöne Gestalt betrat das Zimmer. Mila näherte sich nur langsam und scheu, wollte sie doch den Jungen nicht erschrecken. „Yura?“ Ihre Stimme ließ das Bündel kurz zusammenzucken, doch es sah sie nicht an. „Sprich mit mir, bitte!“ Doch kein Ton verließ die zarten Lippen. Als sie näher trat, nahm sie den seltsamen Geruch war und erschrak fürchterlich. Im Nacken des Jungen war das Fleisch versenkt und heißes Blei hatte seine unbarmherzigen Wurzeln hinein getrieben. Die Schließe war völlig zusammengeschmolzen. Mila konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, so schwer traf sie der Anblick. Nie hatte sie geweint, egal, was ihr angetan wurde. Doch dies zerbrach ihr das schon fast gefrorene Herz. Eilig rannte sie hinunter zu Victor, der mit Yuri die letzten Tische putzte. „Bitte, ihr müsst mich begleiten, schnell!“ Die noch immer weinende Mila sorgte bei Victor für eine Panik, die er noch nie gespürt hatte. Nach anfänglicher Verzweiflung war es doch wieder Yuri, der den klaren Kopf behielt. „Wir brauchen Jod! Sonst entzündet es sich noch. Am besten noch ein paar Leinenverbände. Los!“ Eilig, fast kopflos liefen Victor und Mila durch das ganze Gebäude und suchten. Schlussendlich fanden sie einen letzten Rest Jod und wenige Baumwollbinden, die aber auch ihren Dienst taten. „Wenn ich dir wehtue, dann sag es bitte, ja?“ Yuri legte vorsichtig das goldene Haar zur Seite, besah sich alles in Ruhe und tupfte dann vorsichtig das Jod auf. Sicherlich musste es schrecklich brennen, doch kein Ton verließ die Lippen des Jungen. Sorgsam reinigte der Kartenspieler die Porzellanhaut von etwas losem Blei, doch das Ausmaß der Verbrennung und das verschmolzene Material machten ihm Sorgen. „Victor, kannst du bitte schauen, ob Otabek schon auf dem Weg ist? Du weißt?“ Mit einem eiligen Nicken rannte der Barkeeper hinunter zur Hintertür. Und wahrlich, völlig nervös wartete dort ein sichtlich mitgenommener junge Mann und drängte sich schnell hinein. „Otabek, warte!“ Victor hielt ihn am Ärmel fest. „Ich muss dir erst etwas sagen!“ Die sonst so leuchtenden Augen des Silberhaarigen wirkten stumpft. Alleine dieses Detail ließ den Arbeiter erstarren. War Yura etwas passiert? „Wir haben nicht geahnt, dass so etwas passieren würde. Es tut m...!“ „Wo ist er!?“ Otabeks Stimme gellte durch die riesige Halle. Fahrig zeigte der Barkeeper mit seinen langen Fingern die Treppe hinauf. Immer wieder stolpernd, hastete er hinauf und traute sich kaum, die Kammer zu betreten. Noch immer saß Yuri bei dem Jungen, tupfte mit den Verbänden das Jod ab und versuchte so ruhig wie möglich auszusehen. Langsam näherte sich der Dunkelhaarige und erkannte schon von weitem das versenkte Fleisch. „Nein...!“ Schmerzhaft fiel er vor Yura auf die Knie. „Es ist meine Schuld, bitte verzeih mir!“ Sanft griff er nach dem Kinn des Jungen und hob es an, um ihm in die Augen sehen zu können. Doch seine Augen weiteten sich vor Schreck. Yuras Blick war leer, die Lippen leicht geöffnet, doch er starrte nur in die Ferne. „Yura?“, fragte er noch einmal sanft. „Er hat kein einziges Wort gesprochen. Ich habe alles versucht!“ Mila, verweint und zitternd, saß auf dem Bett und wusste selber nicht, was sie noch sagen sollte. Otabek fackelte nicht lange, er ergriff vorsichtig den dürren Körper und hob ihn auf seinen Armen hoch. „Ich bringe ihn zu Dr. Lee!“ Entschlossen wandte er sich ab. Victor warf Yuri einen schnellen Blick zu und eilte dann hinterher. „Ich begleite dich, warte!“ Victor saß auf einem alten Metallstuhl im kaum erleuchteten Krankenhausflur. Otabek schlich wie der ruhelose Tiger im Käfig umher. Warum dauerte das nur so lange? Dr. Lee hatte ihn nicht hineingelassen, was ihn wahnsinnig machte. Schlussendlich öffnete sich die kleine Tür und der Arzt bat sie hinein. Yura saß mit gesenktem Kopf auf der Liege, den Hals fest verbunden. „Nun, ich konnte das Blei restlos entfernen, es war zum Glück nur in den oberen Hautschichten. Die Verbrennung wird selbstverständlich einige Narben hinterlassen, aber auch sie wird in einigen Monaten verheilt sein. Allerdings...“ Dr. Lee sah in das besorgte Gesicht der beiden Männer vor sich. „...befürchte ich, dass es nicht bei den physischen Verletzungen geblieben ist. Das allerdings ist nicht mein Fachgebiet und ich möchte ihn ungern einweisen. Mr.Altin, sie haben mir hier immer gute Dienste getan, auch weiterhin, aber ich möchte ihn lieber entgegen meines Berufswissens in ihre Hände geben. Ich halte eine Irrenanstalt für weniger geeignet. Dennoch müssen wir das in Betracht ziehen.“ Victor beobachtete geschockt, wie Otabeks Gesichtszüge entglitten. Ihm selber fehlten die Worte, die beschreiben könnten, was gerade in ihm vorging. „Das werde ich nicht zulassen! Ich kümmere mich selber um ihn!“ Otabeks Stimme klang mit einem mal ruhig, abgeklärt. Victor war sich sicher, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. „Ich danke ihnen, Dr.Lee! Morgen bin ich pünktlich bei der Arbeit.“ Doch der Arzt winkte ab. „Aber, aber, sie haben ja noch nicht einmal frei gehabt. Nehmen sie sich ein paar Tage, alles in Ordnung!“ Dankbar nickte der Arbeiter und besah Yura. „Kannst du laufen?“ Er erhielt keine Antwort. „Yura, soll ich dich tragen?“ Wieder blieb es still. Vorsichtig hob er seinen Liebsten wieder auf seine starken Arme. „Bringen sie ihn in ein paar Tagen zur Nachuntersuchung!“, rief ihnen der Arzt noch hinterher. „Was willst du jetzt tun?“, fragte Victor traurig und strich dem Jungen eine Strähne aus dem Gesicht. „Einen Weg finden, ihn zurückzuholen. Ich weiß, dass ich ihn nicht aufgeben werde. Niemals. Aber sicherlich werde ich Jean damit nicht davonkommen lassen!“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in dem Barkeeper aus. Jean! Er hatte ganz vergessen, dass dieser die Wurzel allen Übels war. Wie würde er reagieren, wenn der Junge nun wieder weg war? Hatte er ihm das so bewusst angetan? War es nur seine Rache? Kapitel 18: Nur ein Spiel ------------------------- Huhu ~~~ Entschuldigt die Verspätung, aber ich hatte vor Kurzem wieder ein Interieurshooting in unserem Zuhause (wer schauen mag findet mich unter villa_minze_industrial bei Instagram oder FB) und es war irre viel Stress. Die Reportagen erscheinen immer in verschiedenen Wohnmagazinen. Also sooorryyyyyyyyyyy! Nun wünsche ich aber ganz viel Spaß mit dem Kapitel! Kapitel 19 Nur ein Spiel         Victors Hände zitterten, während sie das noch halb gefüllte Bleiglas umklammerten. Die alkoholgeschwängerten Wangen glühten fast schmerzhaft heiß. Seine Unterlippe bebte, während der Blick starr auf die Theke gerichtet war. Nichts, was vor wenigen Stunden geschehen war, würde mehr aus seinem Gedächtnis verschwinden können. Es hatte sich eingebrannt wie das unbarmherzige Blei in Yuras Haut. Die ersten morgendlichen Strahlen mussten draußen bereits die Welt erhellen, doch hier, an diesem unglückseligen Ort, würde kein Licht mehr scheinen. Victor hatte Yuri nach Hause geschickt. Er musste jetzt alleine sein. Es war Zeit!   Nur wenige Augenblicke später knarrte das Portal beinahe kläglich und Jean samt Mantel und Tasche betrat den düsteren Saal. Sein Blick fiel auf den Barkeeper, der wohl auf ihn zu warten schien, doch er übte sich in Ignoranz. Sorgsam verschloss er die Tür wieder und setzte seinen Weg zur Treppe fort. „Bleib stehen!“, hielt ihn die merklich raue Stimme seines Angestellten auf. Ohne sich umzublicken, ruhte er am Fuße der Treppe. „Warum!?“ Er wusste, dass Victor ihm diese Frage stellen würde. Lange hatte Jean überlegt, wie er sie beantworten würde. Seine Augen schlossen sich kurz nachdenklich. „Er ist selber Schuld. Als würde ich ihn nach all dem mit offenen Armen empfangen. Zugegeben, ich hätte mir zumindest eine Nacht nehmen sollen!“ Die eiskalte Stimme des Geschäftsmannes brachte Victors Blut zum Kochen. Ohne Nachzudenken stürmte er auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schlug ihn schmerzhaft gegen das Treppengeländer. Was er jedoch im Gesicht seines Gegenübers sah, ließ ihn erschaudern. Tränen? Langsam ließ er seine Hand sinken, hielt ihn jedoch weiterhin fest. Was passierte da gerade vor seinen Augen? Warum um Himmels Willen sah Jean ihm nicht einmal ins Gesicht? Wo war nun seine Arroganz hin? „Du würdest es nicht verstehen!“, entwich es dem Anderen erstickt. Victor ließ nun auch den Kragen los. Er musste wissen, was es damit auf sich hatte. „Erklär es mir, vielleicht verschone ich dich dann!“ Dabei hatte er sich fest vorgenommen, nicht länger zu dulden, was unter diesem Dach geschah. Ein hämisches Lächeln flog über Jeans Lippen, doch wieder glitzerten seine Augen voll heißer Tränen. „Du wirst geliebt.“ Victor verstand die Welt nicht mehr. Was sollte diese Aussage denn nun? Sein Blick musste schrecklich verwirrt ausgesehen haben, denn er bekam tatsächlich eine Erklärung. „Als ich ihn damals sah... in diesem Waisenhaus, alleine und schwach...da wollte ich ihn beschützen. Sie haben viel Geld verlangt und mir war es egal. Ich hat so, als wäre er nur einer der anderen. Aber das war er nie für mich!“ Jeans Worte hallten in Victors Gedanken nach und er begann langsam zu begreifen. „Sein Haar war wie ein Fluss aus Gold. Die Augen... oh, diese Augen! So schön und gleichzeitig so kalt. Er hat mich niemals wirklich angesehen. Jede Nacht sehe ich im Traum diese Blicke. Ich wollte ihm ein Zuhause geben.... einen Platz bei mir... an meiner Seite!“ Jean ging ein paar Schritte zur Seite, zog einen Stuhl heran und setzte sich kraftlos. „Ich habe verstanden, dass er mich auf Distanz hielt. Er hatte nie jemanden an sich heran gelassen. Ich dachte, er würde mich verstehen... mein Handeln... irgendwann würde er an meiner Seite sein. Ich dachte... hoffte... er würde auch etwas für mich empfinden... aber nein!!! Alles, was ich... ICH mir gewünscht hatte, das bekam ER!“ Wütend stieß der Dunkelhaarige mit dem Fuß einen Tisch um, der krachend zur Seite kippte. Erschrocken beobachtete Victor, wie weitere Tränen die Wangen des ewig unantastbaren Mannes hinunter liefen. „Er hatte nur Augen für ihn. Seine Blicke.... mich würde er nie so ansehen. Mir wurde klar, dass er nie etwas für mich empfinden würde. Er würde... mich nie lieben...“ Ein bitteres Lachen verklang noch in der Kehle des Mannes, der auf einmal so gebrochen wirkte, dass der Barkeeper fast Mitleid empfand. Victor stellte den Tisch wieder auf, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. Zu seiner Überraschung zog Jean seine Steinschlosspistole, die er stets mit sich trug, aus seiner Manteltasche, legte sie auf den Tisch und schob sie seinem Angestellten zu. „Das wolltest du doch oder? Nun hast du deine Antwort, also beende dein Werk! Sieh es als Genugtuung an.“ Perplex legte der Barkeeper seine langen Finger auf die Waffe, strich vorsichtig über den Lauf, besann sich dann aber und schob sie dem anderen wieder entgegen. „Nein! Du hast dir selber deine Hölle geschaffen. Das ist ausreichend Genugtuung!“ Damit stand der Silberhaarige auf, schob den Stuhl heran und wandte sich ab. Leise, kaum noch hörbar, vernahm er die Stimme hinter sich. „Ich liebe ihn noch immer.“ Das kratzende Geräusch der Waffe über dem Holz verriet Victor, was der nächste Moment bringen würde. Reflexartig wandte er sich um, ergriff eilig und gerade rechtzeitig das Handgelenk, sodass der Schuss lediglich die Raumdecke traf. Jeans zitternde Hand hielt der Umklammerung nicht lange stand und ließ die Pistole zurück auf den Tisch sinken. „Du wirst dich nicht einfach von dieser Last befreien! Dein Leben soll mit aller Schwere weiter auf dir lasten!“ Victors Worte klangen kalt, unbarmherzig. Doch er hatte nun, was er wollte. Jean war gebrochen, schwach, verletzt. Warum nur sorgte es in ihm nicht für Genugtuung? Wieso empfand er Mitleid nach all dem, was Jean seinen Freunden angetan hatte? Er musste mit Yuri sprechen. Dieser wusste immer Rat, wenn er selber verzweifelt über seinen Gedanken brütete.   Otabek verlor langsam jedes Gefühl für Zeit. Wie viele Tage starrte Yura jetzt schon die Wand an? Mittlerweile war er immer stundenweise wieder im Waisenhaus bei seiner Arbeit gewesen, auch wenn Dr. Lee ihm sicher noch länger frei gegeben hätte. Aber er ertrug diese Stille in der kleinen Wohnung nicht mehr. Er musste hinaus, arbeiten, das Lachen der Kinder hören, die ihn schon schmerzlich vermisst hatten. Wenn er wieder nach Hause kam, setzte er sich auf den Boden vor Yuras Füße, legte seinen Kopf auf den schmalen Schoß und erzählte. Erzählte vom Alltag im Krankenhaus, von den Kindern im Waisenhaus, den Ausflügen, die er mit ihnen machte, den Spielen, die er mit ihnen spielte und den Büchern, die er ihnen  vorlas. Manchmal las er Yura auch vor. Gedichte, Kurzgeschichten oder aus Bilderbüchern. Dann zeigte er auf die schwarz illustrierten Bilder, die zu den Texten gehörten, doch Yura sah in die Ferne. Er starrte nur immer mit leeren Augen ins Nichts. An einem Tag versuchte Otabek ihn mit auf den Markt zu nehmen. Er half ihm aufstehen, kleidete ihn an, führte ihn am Arm durch die Gassen und zeigte ihm allerhand Schönes an den Ständen. Doch der Blick blieb leer, die Lippen stumm. Als Otabek wieder einmal fast an der Stille erstickte, suchte er Rat in der Kirche. Chris entzündete gerade die Kerzen und beobachtete erstaunt, wie Otabek Yura auf eine der hinteren Bänke lotste und ihn dort verweilen ließ. Langsam und mit traurigem Blick näherte sich der Arbeiter dem Geistlichen. „Mein Sohn, wie geht es dir? Ich habe dich lange nicht gesehen!“ Erfreut umarmte der Blonde seinen Schützling. Doch sein Blick lag noch auf dem Jungen. „Ist er noch...?“, begann er zögerlich. Otabeks Augen schimmerten verdächtig. „Ich glaube... Dr. Lee hatte recht!“ Seufzend bat der Priester ihn, sich zu setzen. „Mein Sohn, es ist nicht deine Schuld! Nimm dir diese Bürde nicht an. Ja, es wäre möglich, dass er recht hat. Aber es liegt nicht in deiner Hand. Du hast es versucht!“ Doch Otabek rieb sich die schmerzende Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht aufgeben! Er hat es nicht verdient, in irgendeinem Zimmer in dieser Anstalt einzugehen. Er ist nicht schwachsinnig!“ Zu seinem Erschrecken lag wenig Überzeugung in seiner Stimme. Dabei war er sich so sicher. Als die Bank ein knarrendes Geräusch von sich gab, erschraken beide in der Stille. Yura hatte sich erhoben, war langsam ein paar Schritte durch den Kirchenraum auf eine Kerze zugegangen und streckte nun scheinbar neugierig die Hand danach aus. Panisch sprang Otabek auf, rannte ihm entgegen und ergriff hastig seine zarten Finger. „Nein habe ich dir gesagt! Das ist heiß!“ Yura war zu Chris völliger Überraschung wirklich fasziniert von den kleinen Flammen. „Passiert das öfter?“, fragte er neugierig und Otabek nickte. „Aber sollte er nicht gerade davor Angst haben? Es hat ihm so viele Schmerzen zugefügt.“ Der Priester löschte vorsorglich die Kerzen in der direkten Umgebung. „Dr. Lee sagt, dass es vielleicht die einzige Erinnerung ist, die er gerade hat. Den Schmerz und das Leid scheint er dabei völlig vergessen zu haben.“, erklärte Otabek mit gereizter Stimme. „Ausgerechnet auf solche Dummheiten kommt er!“ Yura starrte auf die Hand, die seine Finger hielt, zog jedoch nicht weg. „Yura, du sollst das lassen, ok? Du tust dir noch weh!“, versuchte Otabek es noch einmal mit Erklärungen, war sich aber fast sicher, dass es nicht ankam. Seine Finger lösten den Griff. Langsam tapste Yura weiter durch den Gang zum Altar hin. Dabei schien sein Blick an etwas zu haften. Überrascht beobachteten die beiden Männer, wie er ausgerechnet dort auf den Stufen einen Platz suchte und die große, fast heruntergebrannte Osterkerze des letzten Jahres betrachtete. Ihre Flamme war besonders groß und hell. Der Schein spiegelte sich in den wunderschönen Augen wider und gab ihnen für einen Moment neues Leben.   Während Otabek sich noch immer mit dem Priester beriet, was nun zu entscheiden sei, verharrte der Junge ergeben auf den Stufen. Hin und wieder sah er sogar zu den beiden hinüber und entlockte seinem Liebsten damit einen kleinen Hoffnungsschimmer. „Sag, mein Sohn, warum nimmst du ihn nicht häufiger mit? Das scheint ihm gutzutun?“ Besorgt legte Chris dem jungen Arbeiter eine Hand auf die Schulter. „Nimm ihn doch mit in das Waisenhaus, dort kann ihm ja nichts passieren.“ Otabek dachte eine Weile nach. Die Kinder könnten ihn sicher leicht überfordern, aber zu Hause wäre es nicht sicher genug auf Dauer. „Ihr mögt recht haben, Father! Ich werde es ausprobieren, wenn ich zu meiner Schicht gehen werde.“ Langsam erhob er sich, lächelte schüchtern und ergriff seinen Schatz an der Hand. „Komm, wir gehen!“ Yura erhob sich vorsichtig, sah den Priester an und folgte brav seinem Liebsten. Chris wusste nicht, ob sein Rat von großem Wert war, aber er spürte eine tiefe Zufriedenheit in sich.   Dr. Lee war nicht leicht zu überzeugen, wenn es um medizinisch nicht fundierte Versuche ging. Er wollte Otabek keine Hoffnung nehmen, sah es jedoch auch als absolut inakzeptabel an, den Jungen diesem Stress auszusetzen. Während sie noch diskutierten, sah Yura gespannt in den Garten des Waisenhauses. Immer mehr grünte die Welt der wärmeren Tage entgegen und die Kinder testeten mit Holzreifen Sprungspielchen. Neugierig weiteten die stechend grünen Augen sich, als ein Mädchen rücklings den kleinen Hügel hinunterkullerte und lachte, als wäre gerade ein weiterer Weihnachtstag. Welch Freude musste sie doch einmal empfinden in den dunklen Tagen der Einsamkeit des Waisenhauses. Nur ein paar Schritte traute der Blonde sich näher in den Garten, da erschrak er kaum merklich. Eine kleine Hand ergriff seine und schaute ihn fragend an. „Spielst du mit mir?“ Der Junge hatte fast genauso solche Smaragde als Augen wie er selber, doch sein Haar war dunkel und zerzaust. Yuras Blick schien ihn keineswegs zu irritieren, auch, dass er nicht sprach, war ihm egal. Schulterzuckend hielt er weiter die Hand fest. „Musst nichts sagen, ich erkläre es dir!“ Dann zog er ihn einfach mit sich in den Garten. Fast zeitgleich wandte Otabek den Blick zu Yura. Zumindest zu der Stelle, an der er noch vor wenigen Minuten stand. Panisch sah er sich um, entdeckte ihn jedoch nirgends. Dr. Lee zog eine Augenbraue hoch, beließ es jedoch dabei. Zu interessant war die Beobachtung der jetzigen Situation unter psychologischen Aspekten. Gestresst tigerte der junge Arbeiter durch den Garten, mit wüstem Blick wie ein Tier an den Gitterstäben entlang. „Yura? Yura!?“ Wie konnte er nur eine Antwort erwarten. „Suchst du wen?“, fragte eine neugierige Stimme neben ihm. Der Junge mit den stechenden Augen hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt. „Lio! Ich kann jetzt leider nicht mit dir spielen! Hast du einen Jungen gesehen? Blonde Haare und grüne Augen?“ Das Kind dachte auffällig gestikulierend nach. „Schon! Aber wir spielen verstecken! Du musst schon suchen!“ Otabek bekam den Mund kaum zu. „Ihr... was!?“ Verwirrt blickte er sich um. Nirgends konnte er seinen Liebsten erspähen. Lio grinste immer breiter neben ihm und zeigte dann mit dem Finger nach oben. Dort, weit in den Ästen des alten Apfelbaumes, saß Yura wie eine grazile Katze und legte den Kopf schief. „Herr im Himmel, kommst du da runter!“ Otabeks Herz blieb für einen Moment stehen. Dr. Lee, der jetzt neben ihm stand und die Situation nur mit „Faszinierend!“ kommentierte, schien wahrlich beeindruckt. Ehe die beiden Erwachsenen sich versahen, kletterte auch Lio den Baum hinauf und gesellte sich zu seinem neuen Freund. „Na, los, jetzt spielen wir fangen! Ihr müsst uns fangen!“, rief er lachend und lehnte sich an den Blonden. Langsam aber sicher verließ jede Farbe das Gesicht des Arbeiters. Er kannte Lio nur zu gut und wusste, was für ein schlauer und schneller Junge er war. „Lio, komm herunter! Ihr könnt hier unten spielen, in Ordnung?“, fragte er vorsichtig, doch das Kind lachte nur. Dr. Lee rieb sich abwartend das Kinn, sehr zum Unverständnis des Dunkelhaarigen. „Nun sagen sie doch etwas!“, flehte er verzweifelt. Ein Seufzer entwich dem Arzt. „Lio, mein Junge, komm hinunter und bring deinen Freund mit! Ich glaube, ich habe noch etwas Pudding vom Mittagessen!“ Schneller als ein Windhund standen beide hungrig dreinblickend vor dem Arzt. Lio hatte wieder Yuras Hand gegriffen und nun warteten sie gespannt auf das Essen. Otabek legte Yura sanft die Hand auf die Schulter. „Möchtest du etwas essen?“, fragte er vorsichtig und erntete prompt ein heftiges Nicken. Um seine Freudentränen zu unterdrücken, biss der Arbeiter sich kurz auf die Unterlippe. „Na gut, ihr Beiden!“, lobte der Arzt indes das gute Benehmen. „Wir gehen hinein und sehen, was sich auftreiben lässt!“ Stolz zog der Kleine seinen Freund an der Hand mit sich und hinterließ bei Otabek noch immer ein ungläubiges Lächeln. Yura verstand also sehr wohl!   Kapitel 19: Heiße Lippen ------------------------ Kapitel 20      Heiße Lippen   Die Nacht war lauer als zu dieser Zeit üblich und Otabek drehte sich schlaftrunken von einer Seite auf die andere. Im Morgengrauen würde er Yura wieder mit sich zur Arbeit nehmen, er würde die Zeit dort mit den Kindern genießen. Noch immer sprach er kein einziges Wort, aber Leben war in seinen Körper zurückgekehrt. Hin und wieder war Otabek sich sicher, dass Yura sich ihm mehr zuwandte, aber vermutlich war das sein reines Wunschdenken. Er gähnte sachte und bemerkte eine ungewohnte Wärme an seiner Seite. Der Blonde hatte sich innig an ihn gekuschelt und rieb beinahe katzenhaft seine Wange an der starken Brust. Merklich erschrocken hielt der Arbeiter die Luft an. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Liebster diese Nähe in den letzten Wochen bei ihm gesucht hatte. Zärtlich strich er ihm ein paar lange, goldene Strähnen aus dem friedlichen Gesicht und musste selber lächeln. Obwohl der Junge sicher fast ein Mann war, wirkte er so doch unendlich kindlich. Plötzlich streckte sich der dürre Körper neben ihm, gab ein leises Seufzen von sich und kuschelte sich umso mehr an den starken Dunkelhaarigen. Noch immer lächelnd gab auch Otabek sich wieder dem heilsamen Schlaf hin.   „Liiioooooooo!“ Ein lautes Schimpfen ging durch die Flure des Waisenhauses. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nichts aus der Speisekammer klauen!“ Otabek stemmte die Fäuste in die Hüften. „Die anderen Kinder wollen auch etwas von dem Schinken essen, aber wir müssen es gut aufteilen!“ Lio schnappte nach Luft und plusterte sich auf wie ein kleiner Vogel. „Ich war das ja gar nicht, Yura war das!“, protestierte er laut, während selbiger wie ein Engel dreinblickend mit dem Kopf schüttelte. „Der Herr straft die Lügner, mein Kind!“ Chris fröhliches Gesicht lugte durch die Speisekammertür. Der Priester brachte häufig Spenden, die den Kindern in aller Form zu Gute kamen. Yura versuchte ein Grinsen zu unterdrücken, doch Chris zog ihm bereits sein Ohr lang. Leicht quiekend stellte er sich auf die Zehnenspitzen. „Her mit dem Schinken!“ Folgsam zog der Junge das gute Essen unter seinem Hemd her und hielt es Otabek hin. Lio rollte nur vielsagend mit den Augen, während er die Arme verschränkte. Langsam ließ Chris das rot angelaufene Ohr los und holte tief Luft. „Oh, wanderte ich auch im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück...“ Er fuchtelte heroisch mit den Armen und setzte zu einer wohl nie endenden Predigt an, doch Lio zog seinen neuen Freund schnell hinter sich her. Offenkundig enttäuscht räusperte der Priester sich. „Nun gut, lass uns einen Tee trinken, mein Sohn. Das wäre nun eine Wohltat.“ Gemeinsam mit Dr. Lee setzten sie sich an den alten Eichentisch, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Das alte Teeservice bestand nur noch aus vereinzelten Teilen, aber die Mischung der Kräuter entschädigte für jeden optischen Mängel. Stillschweigend saßen sie beieinander, jeder in seine Gedanken versunken. Schlussendlich brach Chris das Schweigen. „Welch heitere Zeit uns doch nun wieder gegönnt wird. Ich las, dass die Textilfabriken erneut einen wunderbaren Umsatz erzielten und auch neue Geschäfte das verfallene Viertel erhellen.“ Doch der Mediziner schnaubte nur. „Nichts, was bei den Armen und Kranken ankommt. Gebt euch keiner Illusion hin, Father. Sie alle werden weiter sterben ohne ausreichende Versorgung. Uns fehlen Betten, Zimmer und Gerätschaften. Oft kann ich kaum Jod auftreiben, um Wunden zu reinigen.“ Das Gesicht des Priesters verdunkelte sich zunehmends. „Ja, ich weiß. Dennoch... ist die Hoffnung unser steter Begleiter. Wenn nicht wir die Menschen davon überzeugen können, dass es ihnen eines Tages besser gehen wird, wer dann? Wer nimmt das Leid aus den Herzen all jener, die uns anvertraut sind. Ich frage, wer kann die Dunkelheit dieses Lebens noch erhellen, wenn nicht wir?“ Otabek blickte zwischen den beiden Männer hin und her. Er selber kämpfte doch täglich mit der Angst aufzugeben. „Gebete ernähren keine Menschen... Father! Sie füllen keine leeren Schränke, sie wärmen keine ausgekühlten Körper. Sie halten die Menschen stumm, damit sie nicht ihr eigenes Elend hinausschreien. Erst gestern starb mir ein Patient, kaum 14, an einer schweren Entzündung, alleine weil es an sauberen Instrumenten scheitert. Ich will das nicht mehr länger ertragen. Ein Hurenhaus hat eine bessere Versorgung als unser Stadtkrankenhaus.“ Otabek durchzuckte es bei dem Gedanken an Jean und seine zwielichten Kontakte. Alleine der Gedanke an all das Geschehene ließ ihn unwillkürlich zittern. Doch ihm blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken, da kam Lio völlig aus der Puste in den Raum gestürzt. „Yura!“, rief er nur heiser und Otabek sprang panisch auf.   Übermütig wie er stets war, hatte Yura den Teich im Krankenhausgarten als spannend erachtet und erst zu spät herausgefunden, dass er nicht schwimmen konnte. Japsend  paddelte er herum und hielt sich eisern über Wasser. Völlig desorientiert fand er keinen Weg zum Teichrand. Otabek dachte keine Sekunde nach, sprang in das schmerzhaft kalte Wasser und zog den Jungen behutsam hinaus. Dr. Lee betrachtete beide kopfschüttelnd. „In der Kammer ist Wasser auf dem Herd, es sollte zum Aufwärmen reichen.“ Rasch vertiefte er sich wieder in sein Streitgespräch mit dem Priester. Die beiden Jüngeren verloren keine Zeit. Der Arbeiter half seinem Liebsten, der furchtbar zitterte, aus den nassen Kleidungsstücken und nahm den Kessel vom Herd. Behutsam tauschte er ein Tuch hinein und ließ das heiße Wasser über den dürren Körper laufen. Ein leises Seufzen entwich dem Blonden und seine smaragdgrün en Augen wanderten am Körper des anderen entlang. Langsam fanden seine Hände den Weg zu den Hemdknöpfen und entblößten den muskulösen Körper des Arbeiters. Otabek ließ es stillschweigend geschehen, unsicher, was Yura gerade dachte. Sie standen so nah aneinander, dass das wohltuende Wasser sie beide erreichte und wohlige Schauer über ihre Haut jagte. Yura schloss den wenigen Abstand, sein Körper stand nun eng an den des Anderen gedrückt. Für einen Moment setzte vor Schreck das Herz des Arbeiters aus, denn er traute sich nicht, irgendetwas zu tun. Er war lediglich dankbbar, dass seine Hose noch an ihrem Platz war und nicht wie Yuras Kleidung auf dem Boden lag. Seine Atmung war schwer, fast stoßartig. Langsam legten die Arme des Blonden sich um seinen Nacken, der Blick lasziv und neckend. Spielte er gerade hier mit ihm?! „Yura... nicht!“ Otabek drückte ihn sanft von sich und erntete einen beleidigten Gesichtsausdruck. Rasch legte er ihm ein großes Baumwolltuch um und wickelte ihn fest darin ein. Yura ließ es über sich ergehen, wirkte aber noch immer sauer. Ihm blieb nun aber nur Gehorsam über.   Otabek hoffte inständig, dass er sich nicht bei all dem erkältet hatte. Der Ofen brannte herrlich warm und hell  in der kleinen Wohnung, die nun so heimelig wirkte. Ein alter Topf stand darauf und die darin enthaltene Suppe köchelte munter vor sich hin. Yura hockte auf den Laken und nagte an einer Möhre, die wohl eigentlich für das Abendessen bestimmt war. „Die sollte in die Suppe, Yura!“, seufzte der Arbeiter und konnte gerade noch den Kopf zur Seite neigen, als ihm das eben beschriebene Gemüse entgegen geworfen wurde. „Warum bist du denn immer noch sauer auf mich?“ Er setzte sich zu dem Jungen auf die alten Decken, doch dieser wandte sich nur ab. „Yura, bitte! Ich wollte dich nicht abweisen, aber... ich weiß doch gar nicht, was in dir vorgeht! Was, wenn ich etwas tue, was du nicht willst?“ Der Blick des Blonden loderte, doch er erhob sich, legte seine Hände auf die starken Schultern und setzte sich breitbeinig auf den Schoß des schon wieder perplexen Arbeiters. Die grünen Augen stachen ihm förmlich in sein Herz. Yuras zartes Gesicht beugte sich langsam nach vorne, die feine Nase berührte den Wange seines Gegenübers. Überfordert wusste Otabek nicht einmal, wohin er seine eigene Arme legen sollte, da spürte er auch schon diesen atemberaubenden Kuss. Nicht zurückhaltend, nicht scheu, nicht unschuldig, nein, glühend und fordernd zeichneten sich immer mehr Linien auf seine Lippen. Die dürren Finger suchten ihren Weg am Körper des Arbeiters hinunter und endeten zielstrebig in seinem Schoß. Otabek keuchte auf, griff jedoch nach den Armen des Jungen und drückte ihn wieder von sich. „Yura, bitte! Ich... ich will dir nicht wehtun!“ Unverständnis spiegelte sich in den Augen des Blonden wider und hinterließ ein noch bittereres Gefühl  bei seinem Gegenüber. Otabek wollte ihn wirklich nicht abweisen, aber nach wie vor hatte er keinerlei Erfahrungen mit anderen. Es könnte für ihn also peinlich enden. Doch Yura ließ sich nicht davon abbringen, riss sich los, drückte den anderen fest in die Laken und beugte sich über ihn. Hilflos lag Otabek auf dem Rücken, spürte nur, wie der Körper des anderen an ihm hinunter glitt und seine Kleidung aufknöpfte. Schamesrot hielt er eine Hand vor seine Lippen und erstickte ein weiteres Keuchen, als er zarte Lippen an seinen Lenden spürte. Er sollte doch eigentlich vernünftig sein, er sollte ihm sagen, dass er aufhören soll, aber das Gefühl in ihm übermannte ihn. Die Raumdecke flimmerte merklich vor seinen Augen, während seine Muskeln sich immer mehr anspannten. Die Hitze, die ihn fast verrückt werden ließ, breitete sich in seinem Schoß immer mächtiger aus. Er verlor jedes Zeitgefühl. Sein Körper gehörte nicht mehr ihm, er gehörte diesen Lippen, dieser Zunge. Von Sinnen zuckte sein Körper ein paar Mal auf, bevor das Schwarz sich endgültig auf seine Augen legte.   Otabek wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bevor er aus der Dämmerung erwachte, doch zu seiner Überraschung hockte Yura am Ofen und aß zufrieden dreinblickend einen Teller der Suppe. Der Arbeiter blinzelte ein paar Mal und rieb sich die Stirn. Hatte er nur geträumt? Aber das konnte er sich doch nicht eingebildet haben!? Er sah an sich hinunter, aber alles war wie vorher. Keine aufgeknöpften Sachen, keine Spuren seiner Fantasie. Mit noch verklärtem Blick setzte er sich auf und weckte wohl Yuras Aufmerksamkeit. Dieser sah ihn fragend an und gab ihm dann lediglich einen Teller der Suppe hinüber. Ungläubig nahm der Arbeiter ihn an und überlegte noch, ob er das Geschehene ansprechen sollte. Aber was war, wenn er wirklich nur ein Opfer seiner eigenen Gelüste geworden war? Wenn er selber gar solche Gedanken hegte? Was, wenn er dem Jungen so Unrecht tat und ihn in diese Rolle zwang? Während er so in sich selber vertieft war, merkte er nicht, wie Yura sich wieder dem Feuer zuwandte und ein diebisches Lächeln über seine Lippen huschte.   Die Tage vergingen wie jene zuvor. Arbeiten für den kleinen Lohn, der einen ernährt und am Leben hält. Doch Otabek war damit zufrieden. Hin und wieder beobachtete er Yura dabei, wie er förmlich an Schaufenstern klebte. Feiner Schmuck, teure Mäntel, herrliche Pralinen, doch nichts davon konnte er seinem Liebsten kaufen. An manchen Tagen kam er sich so klein und unbedeutend vor, aber Yura schien nie unglücklich. Im Gegenteil, in der letzten Zeit blühte er noch viel mehr auf, half selber im Waisenhaus und fand sogar öfter einen Grund zum Lächeln. Aber noch immer irritierte den Arbeiter die offensive Art des Blonden. Hatte er sich doch das alles nicht eingebildet? Von Jean waren sie zum Glück endlich verschont geblieben, denn seine Hochzeit mit der Großbesitztochter Isabella war zum Stadtgespräch geworden. Alsbald wollten die beiden sich augenscheinlich das Ja-Wort geben. Nur Chris hatte wohl eine wenig keusche Überraschung, wie Otabek bald feststellen sollte. Dr. Lee hatte den Jungen zum Priester geschickt, um ein paar Spenden abzuholen. Eilig hatte dieser den Weg zurückgelegt und sollte zu seinem Erstaunen Kleidungsstücke zum Krankenhaus bringen. Diese sollten den Armen zu Gute kommen. Chris jedoch begrüßte ihn schon mit einem breiten Grinsen. „Mein Sohn, welch Wohltat für meine Augen! Genau für dich habe ich eine besondere Spende!“ Argwöhnisch besah Yura den Geistlichen und vermutete, dass dieser wohl den Verstand verloren hatte. Indes zupfte dieser ein unbeschreibliches Stück aus einem Leinensack. „Es gehörte einer gar berühmten Tänzerin, einer Bekannten der Königin selber! Frag nicht, Kind, wie ich daran kam, ich möchte keine Beichte ablegen.“ Er lachte albern vor sich hin und Yura war sich jetzt ganz sicher, dass er seine Sinne nicht mehr bei sich hatte. „Ich kenne nämlich den Kammerdiener, wenn du verstehst!“ Der Blick des Blonden sprach Bände. Nein, das wollte er wirklich nicht wissen. Aber das Kleidungsstück, das war mehr als anziehend. Ein Hauch von Nichts, rote Seide mit feinen Glasschliffsteinen. Als wären Engelstränen und Sterne gleichzeitig vom Himmel gefallen. „Du verstehst,  nicht wahr?“ Chris Stimme nahm einen unheimlichen Klang an. „Otabek ist auch nur ein Mann und ich bin mir sicher, es wird ihm... gefallen!“ Yura dämmerte es langsam. Otabek hatte sicherlich, fromm wie er war, Beichte abgelegt und dieser überdrehte Priester meinte auch noch, dass er wohl Nachhilfe brauchte. Ein wenig amüsant war es allerdings schon, denn Yura würde nicht geizen bei dem, was er sich wünschte. Die Gefühle, die für Otabek in der letzten Zeit fast schmerzlich brannten, wollten sich endlich ihren Weg in die Freiheit bahnen. Dankend nickte der Junge, nahm alle für ihn wichtigen Dinge an sich und machte sich gespannt auf den Rückweg. Chris hingegen grinste zufrieden, begann zu pfeifen und tänzelte gekonnt den Kirchgang entlang. „Heute Nacht, mein Sohn, heute Nacht! Und bald wird Hochzeit gefeiert!“ Kapitel 20: Sündige Meile ------------------------- Ich weiiiiiiß, ich bin schon wieder zu spät ;.; Aber mein Laptop hat kurzzeitig das Leben ausgehaucht und ließ sich nur mit großer Anstrengung wiederbeleben. Bitte nicht böse sein! Über Kommentare freue ich mich wie immer riiiiiiiesig!         Kapitel 21    Sündige Meile   Yura wusste genau, was er wollte. Aber es brachte nichts, den unbehelligten Otabek zu überfallen. Also behielt er das rote Geschenk gut versteckt hinter der kleinen Ofenbank in einer großen Metalldose und dort wartete es auf seinen Einsatz. Jeden Morgen wanderte der Blick der Smaragde zu der Kiste, um zu sehen, ob sie auch noch an Ort und Stelle stand. Otabek schien wie immer nichts mitzubekommen, aber das war wohl auch in diesem Fall besser so. Es stand noch immer schlecht um ihre Beziehung, denn der junge Arbeiter war viel zu besorgt um seinen jungen Schützling. Genervt wandte Yura sich immer mehr von ihm ab, erwartete er doch kein Wunder mehr. Das Blatt wendete sich jedoch schneller, als er es sich erträumt hatte. „Yura? Ich... wollte dich etwas fragen!“ Neugierig blickte der Angesprochene vom Ofen auf. Dort hatte er es sich mit ein paar Decken gemütlich gemacht. „Heute Abend beginnt das Hafenfest und ich dachte, du würdest gerne mit mir dorthin gehen?“ Der Port of London war schon seit langem der größte Handelshafen der Welt, nicht zuletzt wegen der perfekten Lage zur Nordsee. Jedes Jahr veranstalteten die reichsten Großfabrikbesitzer dort ein schillerndes Fest. Jean hatte Yura bereits des Öfteren davon berichtet. Nicht ohne Hintergedanken nickte der Blonde und ließ sich liebevoll über die Wange streicheln. Die perfekte Gelegenheit, endlich! Aber wie zur Hölle sollte er sich ausgehfertig machen? Hier, wo es nicht einmal einen Spiegel gab? Während Otabek sich schon zur Arbeit verabschiedete, grübelte der Junge  noch immer. Früher hatte Mila ihm doch immer geholfen. Vielleicht...? Hastig griff er nach der Dose und purzelte dabei ungestüm über seine eigenen Beine. Bäuchlings lag er mit der Überraschung in den Händen auf dem kalten Steinboden und gab nur ein gequältes Seufzen von sich. Wenn doch wenigstens seine Stimme wiederkäme. In den letzten Wochen hatte er immer mehr Erinnerungen wiedergefunden, nicht zuletzt dank des Waisenkindes Lio. Er hatte in ihm so viel hervorgerufen, dass er manchmal selber überfordert von der Realität war. Aber die beiden klebten zusammen wie Pech und Schwefel. Lio war zu seinem stetigen Begleiter geworden, wenn er Otabek bei der Arbeit half. Noch vor ein paar Tagen hatte er ihm im Garten sitzend ein paar Frühlingsblumen in das lange, goldene Haar gebunden und gesagt, dass er als Ritter nun die Prinzessin beschützen wolle. Yura wollte erst gegen seine Rolle protestieren, musste dann aber doch beinahe herzlich schmunzeln, als der kleine Junge mit einem Stock patrouillierend um ihn herum kreiste. Ja, er mochte ihn wirklich von Herzen.   Schnell schnappte Yura sich seinen Leinenbeutel, steckte ein paar Habseeligkeiten ein und verschwand in die Frühlingssonne. Herrlich warm schien sie ihm auf die weiße Porzellanhaut. Heute würde sein Tag werden, das spürte er! Eilig und mit einem breiten Grinsen rannte er über den vollen Markt und erblickte zufällig aus dem Augenwinkel Micheles Stand. Etwas argwöhnisch starrte dieser den näherkommenden Jungen an. „Du scheinst es ja eilig zu haben. Willst du etwa heute auch zum Fest?“, fragte er tadelnd und hob eine Augenbraue. Unentschlossen zog Yura die Dose aus dem Beutel und öffnete den verrosteten Deckel. Das sündhaft teure Stück kam zum Vorschein und der Kunstschmied wurde blass um die Nase. „Wow, Father Chris hat mir davon schon erzählt! Ein unglaubliches Stück! Warte...“ Hastig kramte er in einem der vielen Weidenkörbe. Mit einem begeisterten „Genau das!“ zog er eine Goldkette heraus, an deren Ende ein Stein in jeder Farbe des Regenbogens leuchtete. Yura verstand die Welt nicht mehr, als ihm das edle Stück in die Hand gedrückt wurde. „So und jetzt hol ihn dir!“ Breit grinsend schubste der Goldschmied ihn vom Stand weg und hob zum Abschied nur den Daumen in die Luft. Was war denn jetzt gerade passiert? War die ganze Welt verrückt geworden? Verwirrt strich Yura sich eine lange Strähne aus dem Gesicht. Otabek hatte wirklich seltsame Freunde.   Langsam wanderte er durch die altbekannten Gassen. Immer wieder berührte er sanft seinen Nacken, spürte das vernarbte Gewebe der Haut und erschauderte. Ihm waren nur wenige Erinnerungen an das Geschehen geblieben, aber sie waren wieder gekommen. Wie schwarze Dämonen legten sie sich über seinen Schlaf, ließen ihn nachts erwachen und stumm schreien. Jeder Gedanke an Jeans Berührungen, an die Nächte in der Samtbettwäsche, den Atem in seinem Nacken, riss alte Wunden wieder auf. Keuchend musste er sich für einige Momente an einer maroden Backsteinmauer festhalten, so sehr übermannte ihn all das Grauen. Unwillkürlich klammerte er sich an die Blechdose und unterdrückte die aufkeimende Panik. Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich wieder auf, hob den Kopf stolz nach oben und setzte den Weg schnellen Fußes fort. Jean war zur Mittagszeit immer außer Haus und der Hintereingang zur Speisekammer nur angelehnt. Wachsam huschte er hinein und stieß schmerzhaft mit jemandem zusammen. Ein lautes Quieken offenbarte dem Blonden, dass er wohl auf Yuri traf, der sich seufzend die Stirn rieb. „Was machst du denn hier,  bist du verrückt!?“ Doch Yura schnaubte nur, hielt seine Dose noch fester und stapfte genervt an dem Kartenspieler vorbei. „W...warte!“ Der Schwarzhaarige stolperte ihm hinterher in den großen Saal. Dort schaute ihn ein völlig verdutzter Victor an und erwartete eine Erklärung. Yuri zuckte mit den Achseln und sah dem stürmischen Jungen nach, der zielgenau die Treppe hochlief. Mit zwei Verfolgern im Schlepptau riss Yura die Tür zu Milas Kammer auf, die gerade ihre Haare hochband. „Raus h...! Yura?“ Sie sprang auf und warf sich augenblicklich um seinen Hals. „Mein Schatz! Oh, wie ist es dir nur ergangen? Du musst mir berichten!“ Ihre Freude war kaum zu bremsen. Doch Victor gestikulierte bereits wild im Hintergrund. „Oh... oh, ach so... Du... Sprichst du noch immer nicht?“ Sie strich ihm sanft eine Strähne aus dem Gesicht. „Egal, egal! Was machst du nur hier?“ Gespannt warteten alle auf eine plausible Antwort, wurden jedoch mehr als überrascht. Eilig zupfte Yura das Kleidungsstück aus der Dose und präsentierte mit erhabenem Grinsen das sündhaft teure Einzelstück. Victor quietschte vor Begeisterung. „Oh, mein Gott! Zeig, zeig, zeig, zeig! Ist das etwa für das Hafenfest heute? Oh, Yurilein und ich gehen auch hin! Los, los, zieh es an!“ Yura starrte den Silberhaarigen nur perplex an. Was war denn bitte in diesen Verrückten gefahren? Doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Mila knöpfte bereits an seinem Leinenhemd herum. Wild fuchtelnd schob er Victor und sein Anhängel aus dem Raum und atmete tief durch. Er würde jetzt alles Mila überlassen, denn er vertraute ihr.   Gefühlte zwei Stunden dauerte es, bis die beiden Männer unten an der Bar das Geräusch der alten Tür hörten. Neugierig starrten beide zur Treppe, gespannt auf das Ergebnis. Ihnen blieb jedoch jedes Lob im Halse stecken. Yura schritt langsam die einzelnen Stufen hinab, die porzellanweiße Hand glitt an dem Lauf entlang. Sein Haar lag lang und glänzend auf seinen Schultern, spielte an seinem Rücken hinab und schien aus fließendem Gold zu bestehen. Das Gesicht war fein gepudert, betonte aber noch mehr die vornehme Blässe. Das rote Präsent saß wie eine zweite Haut über der schwarzen, engen Hose. Es ging bis zur Mitte des Oberschenkels, gab beim Gehen durch Schlitze den Blick auf die dürren Beine frei und schimmerte dank der geschliffenen Steine wie der Sternenhimmel. Yura bemerkte den faszinierten Blick der beiden Männer und wandte ihnen vielsagend den Rücken zu. Doch genau dort war kein Millimeter Stoff. Die rote Seide begann erst kurz über dem Steißbein, sodass die hervorstehende Wirbelsäule zum Zentrum der Aufmerksamkeit wurde. Nur die faszinierende Goldkette mit dem Regenbogenstein baumelte den schmalen Rücken entlang. Während Yuri noch immer mit offenem Mund regungslos verharrte, sprang Victor auf, riss ein Tischtuch an sich und hielt es vor den offenen Rücken. „So gehst du ganz sicher nicht raus, junger Mann! Du ziehst dir auf der Stelle etwas an!“ Yura fauchte ihn förmlich mit den Augen an und wollte sich gerade zur Wehr setzen, als Mila das Wort ergriff: „Victor! Darf ich dich an deine jungen Jahre erinnern? Wir alle wissen, was du getrieben hast, also tu jetzt nicht so scheinheilig!“ Yuri blickte nun mit offenem Mund zu seinem Liebsten. Er war wirklich heillos überfordert. „Also so wird er nicht zum Fest gehen, was sollen die Leute denn denken?“ Victor verzog die Lippen, doch Mila lächelte nur verschmitzt. „Das Gleiche, was ihr beiden Vögel auch gerade gedacht habt!“ Dazu fiel dem Silberhaarigen nun wirklich nichts mehr ein. Verlegen rieb er sich den Nacken. „Aber wir begleiten ihn!“ Da gab es nun wahrlich keine Diskussion mehr.   Otabek gähnte hinter vorgehaltener Hand. Der Tag war unglaublich anstrengend gewesen und seine Hände schmerzten von dem Stapeln des Ofenholzes für das Krankenhaus. Eigentlich würde er jetzt gerne mit Yura im Arm vor dem Ofen sitzen und die Zweisamkeit genießen, aber er hatte ja den Besuch des Festes versprochen. Während er sich mit der einen Hand den schmerzenden Nacken rieb, schloss er mit der anderen die knarrende Tür zu der kleinen Wohnung auf. Zu seinem Erstaunen brannte der Ofen nicht mehr, sodass alles in Dunkelheit gehüllt war. „Yura?“, fragte er in die Stille hinein und erwartete keine Antwort. „Showtime!“, schrie eine laute Stimme in seiner Nähe und ließ sein Herz für einen Moment aussetzen. Auf dem Fenstersims saß Chris und hielt grinsend eine Kerze hoch. Otabek japste nach Luft und hielt sich am Türrahmen fest. „Was zur Hölle...?“ Doch ihm blieb keine Zeit zum Beschweren. „Nein, mein Sohn, der Himmel schickt mich! Hopp, hopp, mach dich fein für dein Rendez-vous!“ Der Priester drückte ihm seine lederne Hose und das schwarze Leinenhemd in die Hand und wartete gespannt. „Würdet ihr... euch bitte umdrehen?“, fragte der Dunkelhaarige schüchtern, doch sein Gegenüber winkte ab. „Nichts, was ich nicht kenne.“ Er kicherte albern vor sich hin, während Otabek sich möglichst schnell umkleidete. Noch ehe er sein Werk vollenden konnte, griff der Blonde schon nach seinem Hosenbund und steckte das Hemd fein säuberlich hinein. Otabeks Wangen färbten sich tiefrot, während er selber sich den breiten Gürtel schloss. „Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht?“ Wenn es um Yura ging, verstand der Arbeiter keinerlei Spaß. Der Priester ignorierte die mahnenden Worte und zupfte an den dunklen Haaren seines Schützlings herum. „Na, so sollte das schon gehen!“, bestätigte er sich selber zufrieden. Kraftvoll schob er den noch immer verdutzt schauenden jungen Mann aus der Tür. „Beeilung, du willst doch nicht zu spät kommen, mein Sohn!“ „Zu WAS denn?“   Mit wehendem Haar blickte Yura hinaus auf das Wasser. Abertausende Fackeln beleuchteten das riesige Hafenbecken von allen Seiten und malten rote Lichtreflexe auf den nackten Rücken des Jungen.  Victor und Yuri wollten schnell etwas essen, sodass ihm glücklicherweise ein wenig Zeit für sich blieb. Er war viel zu aufgeregt, um einen Bissen hinunter zu bekommen. Der Nachthimmel war übersäht mit Sternen. Es konnte eigentlich keinen schöneren Moment geben. Kurz erschrak er, als er eine Jacke auf seinen schon ausgekühlten Schulter spürte, wandte sich dann aber schnell um. So bedacht konnte doch sicher nur sein Liebster handeln. Schlagartig fiel das Kleidungsstück wieder von seinen Schultern. Dicht vor ihm, mit glänzenden Augen und weitem Grinsen, stand Jean. „Du bist noch schöner geworden, meine Blume!“ Ängstlich drückte der Junge sich gegen die kalten Stäbe des Gitters hinter ihm. Gefangen wie ein Tiger im Käfig. „Ich wünschte, du würdest dich freuen, mich zu sehen. Aber das habe ich nicht erwartet.“ Jean hob die Jacke wieder auf und legte sie abermals um die schmalen Schultern. Mit beiden Händen hielt er sie fest an dem dünnen Körper. Seine Augen wanderten an der makellosen Gestalt entlang und fanden schließlich ihren Weg in die grünen Smaragde hinein. Yura konnte sich dem Blick einfach nicht entziehen. Jeans Augen waren wie sein ganzes Wesen: stark, furchtlos, angsteinflößend und doch faszinierend. „Vermisst du mich in mancher Nacht?“ Die herrische Stimme klang leise, fast lautlos  so nah vor Yuras Gesicht. Der muskulöse Körper des Geschäftsmannes drängte sich näher an ihn und ließ sein Herz rasen. Yura wusste nicht, was er jetzt tun sollte. In Schockstarre verharrte er, schutzlos wie ein Tier vor dem Gewehr des Jägers. „Ich sehne mich nach dir, mein Herz. Und ich weiß, dass dein Körper genauso nach meinem trachtet. Spiel nicht das scheue Reh!“ Yuras Herz klopfte nunmehr schmerzhaft. Warum nur schüchterte es ihn so ein? Hatte er etwa recht? Sehnte er sich nach seiner Stärke? Nein, nein, er durfte sich nicht wieder in seine Gedanken schleichen und ihn benutzen. Er liebte Otabek doch so aufrichtig. „Ich weiß, an wen du denkst und ich weiß, dass dein Herz für ihn schlägt. Aber dein Körper weiß, was er will. Schenk mir eine Nacht und du wirst es nicht bereuen.“ Noch ehe Yura tiefer in die Schlangengrube rutschte, kam ihm das Glück entgegen. „Darf ich fragen, was das wird?“ Victors drohende Stimme erklang machtvoller als je zuvor. Yuri stand an seiner Seite, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich glaube nicht, dass wir Gesellschaft wünschen.“, entwich es dem Kartenspieler selbstbewusst, ganz zur Überraschung aller. „Wenn ich dann bitten darf!“ Victors Hand zeigte den Weg zum gut besuchten Fest zurück. Jean grinste kurz und wandte sich ein letztes Mal an den Jungen. „Du wirst kommen, ich weiß es!“ Damit verneigte er sich gekünstelt vor den beiden Männern und verschwand weiter weg in der Menge. Yura blieb völlig verunsichert an Ort und Stelle stehen, begutachtet mit besorgten Blicken. Kapitel 21: Eine unerwartete Wendung ------------------------------------ Ich weiß, ich habe mir soooo viel Zeit gelassen. Hoffentlich mögt ihr es noch lesen... Bitte verzeiht mir, aber ich musste erst für mich überlegen, ob ich die Geschichte nun enden lasse oder ob es weitergeht. Ja, es wird noch weitergehen! Über Kommentare würde ich mich riesig freuen! Kapitel 22 Eine unerwartete Wendung Victor und Yuri ließen ihren Schützling keine Sekunde mehr aus den Augen. Wie einen Schatz hüteten ihre Blicke den noch immer verunsicherten Jungen. Es war merklich abgekühlt und ein Schauer durchfuhr Yura. Der nackte Rücken seines Outfits war zwar äußerst ästhetisch, aber wenig wärmend. Hastig suchten seine Augen die großen Menschenmassen ab, fanden jedoch nicht das gesuchte Objekt der Begierde. Hatte Otabek ihre Verabredung etwa vergessen? Traurig seufzte Yura und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. So war der Abend wirklich nicht gedacht. Während Victor an einem Stand allerlei Süßes und verführerisch Duftendes kaufte und seinen Partner förmlich damit ausstopfte, rollte der Junge nur mit den Augen. Schrecklich, diese Turteltauben! So würde er nie sein wollen. Obwohl er sich etwas mehr Zuwendung wünschte. Wenn er ehrlich war, dann wäre es sogar deutlich mehr Zuwendung! Ja, Otabek war eher zurückhaltend, aber manchmal sehnte er sich nach einem lodernden Kuss, einem festen Griff oder dieser Begierde in seinem Blick. Yura verzog genervt das Gesicht als Victor hinter seinem Rücken ein überzuckertes „Yuuuuurilein!“ säuselte und seinem sichtlich peinlich berührten Partner einen Kuss auf die Lippen drückte. Wahrscheinlich hatte Jean recht. Just in dem Moment als er kurz an den Geschäftsmann dachte, legte jemand vorsichtig seine Hand in den zarten Nacken. Leicht aufgeschreckt blickte Yura zur Seite und damit direkt in diese wundervollen, warmen Augen. Otabek lächelte sanft. „Du siehst wunderschön aus, Yura!“ Vorsichtig beugte er sich zu seiner Wange und gab dem Blonden einen zart gehauchten Kuss darauf. Nicht unbedingt das, was Yura sich erhofft hatte. Allerdings hatte er ja noch diese beiden schrecklich verliebten Aufpasser an seiner Seite. Freundlich begrüßten die Otabek und seine Begleitung, Father Chris. Breit grinsend winkte dieser den Paaren zu und schloss sich ihnen für das Fest an. „Also, Kinder, mir knurrt der Magen! Lasst uns speisen und frohlocken!“ Mit diesen Worten stapfte er bereits in Richtung Speisenangebot. Die Stände waren von den Fackeln hell erleuchtet, überall rauchten Öfen und es roch nach allerlei Köstlichem. Liebevoll hatte der Arbeiter Yura an der Hand durch die Menge geführt, gefolgt von Victor und Yuri. „Du hast sicher Hunger, was möchtest du?“ Bei Otabeks Worten kamen Yura viele Dinge in den Sinn, aber nichts davon hatte etwas mit Essen zu tun. Er wollte endlich eine Reaktion! Warum blieb dieser Mann nur immer so... so gut erzogen? Da sein Gegenüber wohl keine sinnvolle Antwort erwartete, bestellte er ihm etwas, allein aus Sorge, dass sein Freund wieder zu wenig aß. Noch in Gedanken verloren, stieg Yura der herzhafte Duft einer gegrillten und marinierten Kartoffel in die Nase, die prompt vor sein Gesicht gehalten wurde. „Ich weiß, wie gerne du das isst!“ Gierig griff der Jüngere danach und biss gedankenlos hinein. Leider stellte er in Sekundenbruchteilen fest, wie heiß das frische Essen doch war. Schmerzverzerrt streckte er die Zunge hinaus und wurde mit Gelächter bestraft. Nur Otabek schüttelte lächelnd den Kopf. „Muss ich dir jetzt noch erklären, dass frisches Essen heiß ist?“ Als alle reichlich gesättigt waren und das ein oder andere Glas Bier seinen Weg gefunden hatte, saß man entspannt unter dem nächtlichen Sternenhimmel am Hafenbecken. Dort war es etwas ruhiger und man genoss die Gesellschaft der Anderen. Während Chris und Victor angeheitert über den neuesten Tratsch sprachen, legte Otabek Yura seine Arme um die Schulter. Vorsichtig zog er ihn zu sich heran. „Du siehst atemberaubend aus!“ Die beruhigende Stimme jagte Yura einen Schauer über den Rücken. „Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe, aber ich weiß, dass mich auf dieser Erde nichts von dir trennen kann. Yura...“ Otabek machte eine kurze Pause und das Herz des Blonden pochte schmerzhaft gegen seine Brust. „Möchtest du...“ Plötzlich zerschnitt ein Schuss die Stille um sie herum. Otabek hatte Yura sofort schützend gehalten, doch es schien nicht direkt in ihrer Nähe gewesen zu sein. Vom Hafenplatz erklangen Schreie. Ohne nachzudenken sprangen Otabek und Victor auf, eilten zu den Menschenmassen und verharrten erschrocken. Yura bahnte sich den Weg zu seinem Liebsten, dicht gefolgt von Yuri und Chris. Die Menschenmenge hatte eine Traube gebildet, süchtig gaffend tuschelten sie einander zu. In der Mitte des Platzes lag Jean, eine tiefe Wunde am Bauch entleerte unbarmherzig dunkles Blut. Neben ihm kniete seine Verlobte, weinte bitterlich und schrie um Hilfe. Doch niemand erhörte sie. Der Schütze stand noch immer unweit seines Opfers mit seinen Gefolgsleuten. „Meine Schwester hast du in den Selbstmord getrieben, du Schwein!“, spie er voll Ekel aus. „Verrecke an deinen eigenen Taten!“ Yuras Augen weiteten sich. Eine tiefe innere Leere machte sich in ihm breit. Warum freute er sich nicht? Er müsste doch endlich Genugtuung empfinden? Noch ehe er darüber nachdenken konnte, waren Otabek, Chris und Victor nach vorne geschnellt, hatten sich vor Jean gestellt und somit dem Angreifer Einhalt geboten. Während Victor es mit Beschwichtigungen versuchte, hatte der junge Arbeiter sich dem Paar zugewandt. Schnell kniete er sich neben den stark blutenden Jean, riss Lady Isabella ihr Tuch von den Schultern und drückte das zerknüllte Stück kräftig auf die Wunde. Chris griff die junge Dame an den Schultern, zog sie hoch und führte sie schnell zur Seite. Sie stand völlig unter Schock und ließ sich von dem Priester führen. Yuri war zu seinem Liebsten geeilt und konnte gerade noch mitverfolgen, wie die Angreifer in der Menschenmasse verschwanden. Otabek hingegen kniete weiter neben Jean, hatte dessen Kopf vorsichtig mit dem Arm gestützt und drückte weiterhin die Wunde zu. „Father, uns bleibt nicht genug Zeit zum Krankenhaus.“, rief er zu dem Priester hinüber. Dieser nickte nur eilig. Während die Menschenmassen das ihnen gebotene Spektakel wie ein Theaterstück verfolgten, riss der Blonde Lady Isabella die teure Brosche vom Kleid, brach die feine Silbernadel ab und reichte sie wiederrum dem Arbeiter. Dieser biss mit den Zähnen in seinen Ärmel, zog fest daran, bis das Leinen etwas nachgab und riss dann einen Fetzen hinunter. Sorgsam trennte er ein paar Leinenfasern ab, verknotete sie und atmete tief durch. Yura stand noch immer wie versteinert am Rand der Menschenmenge. Warum nur empfand er keine Freude über das Geschehen? Er müsste doch Luftsprünge darüber machen? Schließlich hatte Jean ihm alles genommen. Er hatte ihn benutzt, verletzt und gedehmütigt. Sogar Otabek hatte er schwer verletzt. Wieso zur Hölle konnte er sich jetzt nicht freuen? Blut rann über die rauen Finger, als der Arbeiter mit Mühe das feste Fleisch vernähte. Die Kugel saß nicht tief unter der Haut, hatte jedoch viel Gewebe zerstört. Nun lag sie verschmiert auf dem Boden neben dem zuckenden Körper. Jeans Brustkorb und Bauchdecke erzitterten bei jedem Stich. Doch würde Otabek zu lange warten, so hätte der Geschäftsmann sein Leben verwirkt. Erschöpft verknotete er die Enden, nahm einen weiteren Teil des Ärmeln und verband die Wunde provisorisch. Zitternd strich er sich den Schweiß von der Stirn. „Otabek!“ Dr. Lees Stimme erklang aus der Ferne. Hoffnungsvoll wandte der Arbeiter sich um und sah den Arzt mit seinem Koffer und zwei Helfern auf ihn zueilen. „Ein Glück! Du bist ein Held!“, rief der Schwarzhaarige aus und kniete sich zu ihm. „Den Rest übernehmen wir!“ Schwankend erhob der Arbeiter sich und war froh, dass Victor und Chris ihm eine Stütze waren. Sorgenvoll hielt er nach Yura Ausschau, doch er konnte ihn nirgends entdecken. „Yura... Wo ist Yura?“ Hastig riss er sich los, doch der Schwindel zwang ihn wieder in Chris Arme. „Mein Sohn, die brauchst Ruhe!“ Der Priester schien ernsthaft besorgt zu sein. „Keine Sorge, wir finden Yura!“, versprach Victor und schnappte sich eilig seinen Partner. Yura wusste genau, dass es falsch war. Er wusste genau, dass er dafür in die Hölle kommen würde. Vom Waisenhaus gab es einen kleinen Gang in den oberen Krankenflügel. Yura hatte beobachtet, wie sie Jean dorthin gebracht hatten. Den Gesprächen nach war sein Zustand noch nicht stabil, aber sie waren guten Mutes. So ließen sie den Geschäftsmann zur Nachtruhe alleine, denn er sollte erst einmal zu Kräften kommen. Lautlos schlich der Junge an den Türen vorbei zu dem schwach erleuchteten Zimmer. Dort war niemand außer Jean, der verschwitzt und mit noch blutigem Hemd auf dem kargen Bett lag. Langsam näherte Yura sich, betrachtete den bebenden Körper minutenlang. Dann fiel ihm die Schere auf der Ablage auf, die vermutlich für neue Verbände gedacht war. Würde er jetzt diese Fäden zerschneiden, dann... wäre er frei. Endlich frei von allem! Er würde wieder lachen können, die Schmerzen wären vergessen und er könnte endlich wieder sprechen. Diese Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er könnte endlich nur ganz an Otabeks Seite sein. Entschlossen griff er nach der kleinen Schere, die unheilvoll im Kerzenlicht schimmerte. Nur ein paar Fäden. Keiner würde etwas merken. Er würde sich von allem befreien. Leicht kratzend öffnete sich das Scherenblatt, während Yura das Hemd langsam zur Seite schob. Nur ein paar Fäden. Was hielt ihn nur zurück? Es war ganz einfach. Nur ein paar Fäden. Er atmete tief ein und setzte die Schere an. Nur ein paar Fäden. Klirrend ging die Schere zu Boden. Yuras Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte es einfach nicht. Sein Herz klopfte schmerzhaft gegen die Brust und die heißen Tropfen rannen seine Wangen hinunter. Nein, er konnte es einfach nicht. Eiligen Schrittes floh er duch die leeren Korridore in die kalte Nacht hinaus. Otabek kippte den Gin gleich aus der Flasche seine Kehle hinunter. Angeekelt verzog er das Gesicht. Chris saß neben ihm am kleinen Tisch im hinteren Kirchenzimmer und tätschelte seine Schulter. „Mein Sohn, dich schickt der Himmel. Dem ärgsten Feinde magst du noch das Leben schenken. Wahrlich, ein Held, das bist du!“ Doch Otabek wollte von all dem nichts hören. „Ich will nicht so genannt werden! Mein Herz ist schrecklich schwer. Der Abend sollte doch etwas ganz anderes hervorbringen. Ich...“ Er zögerte merklich. „Ich wollte doch um Yuras Hand anhalten!“ Noch immer zittrig zog der Arbeiter ein kleines Kästchen aus der Hosentasche und reichte es dem Priester. Dieser warf einen verstohlenen Blick hinein. „HALLELUJA!“ Doch Otabek seufzte nur laut. „Das kann ich jetzt wohl vergessen. Wohin er nur wieder verschwunden ist! Ich verstehe es nicht!“ Otabeks Worte entlockten dem Priester ein warmes Lächeln. „Mein Kind, alles im Leben hat seinen Verlauf. Nenn es Schicksal, nenn es Gottes Fügung. Aber glaube mir, eure Herzen finden sich. Sie sind einander zugehörig und nichts wird es trennen.“ Noch immer schaute der Arbeiter ungläubig, doch womöglich hatte der Blonde recht. „Ich werde jetzt nach Hause gehen und hoffen, dass Yura dort ist. Ich danke euch für eure Worte.“ Und tatsächlich, in der kleinen Wohnung lag zusammengerollt auf der Pritsche ein kleines Knäuel mit blondem Haar, eingekuschelt in die rauen Wolldecken. Erleichtert seufzte der Dunkelhaarige, zog sich das ohnehin zerrissene Hemd aus und kuschelte sich zu seinem Liebsten. Ja, alles hatte seine Zeit. Daran dachte er noch beim Einschlafen. (Yuras Traum) //Warum hast du es nicht getan?! Ich konnte nicht! Du bist feige! Du hättest alles ungeschehen machen können! Ich habe es versucht, wirklich! Nichts hast du, du Taugenichts! Du dummes Gör! Lass mich in Ruhe! Geh weg! Weißt du was? Du liebst ihn! NEIN! Du begehrst ihn! Niemals! Ich liebe nur Otabek! Lass mich in Ruhe! Dann tu es! Geh... geeeeeeehhh! Nein! Ich werde das nicht tun! Ich kann alleine einen Ausweg finden! Nichts kannst du! Du bist schwach ohne ihn, hilflos, ein Welpe, mehr nicht! Warum sagst du all diese Dinge? Ich bin deine Begierde, Yura. Ich kenne dich in deinem tiefsten Inneren. Du lügst! Lass mich in Ruhe! OTABEK! Schrei, wenn du es kannst, aber du wirst daran ersticken! Du bist alleine.// Yura schreckte schweißgebadet auf und japste nach Luft. Ängstlich griff er sich an sein Herz, das unnatürlich schnell pochte. Neben ihm war auch Otabek erwacht und sah ihn sorgenvoll an. Doch ohne etwas zu sagen, zog er den Blonden fest an sich, versiegelte seinen Lippen sehnsüchtig mit den eigenen und hielt ihn einfach nur fest. Yuras Körper entspannte sich, er ließ sich in den Kuss fallen und schließlich wusste er, was er wollte. //Weißt du was? Du hast mir nichts zu sagen. Du bist nicht das, was ich mir wünsche. Du bist das letzte bisschen Verbitterung in meinem Herzen. Aber du hast keine Kraft. Ich gebe dir keine! Mein Herz heilt. Es wird wieder so werden, wie es einmal war. Und nichts und niemand wird das ändern. Wenn ich Flügel hätte, ich flöge zur Sonne, auch wenn ich verbrennen würde. Ich will in das Licht! Nichts in mir verlangt nach dieser Dunkelheit. Mein Leben beginnt jetzt. Hier. Sofort.// „Otabek...Halt mich!“ Yuras Worte zerschnittend die Stille. Seine Stimme klang unwirklich, aber sie war ganz sicher real. Völlig perplex schaute der Arbeiter ihn mit großen Augen an. Hatte Yura gerade gesprochen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)